Unter dem Schwerpunkt »Fünfzig Jahre XX. Parteitag, Polnische Krise und Ungarische Revolution« widmet sich das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung in dieser Ausgabe dem Jahr 1956 und seiner Bedeutung für die internationale kommunistische Bewegung. In seinem Einführungsbeitrag stellt der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk die widersprüchlichen internationalen Prozesse des Jahres 1956 in den Mittelpunkt und verfolgt den Widerhall, den sie in der DDR unter Ulbricht erzeugten. Zwei Zeitzeugen, Ralph Giordano und Wolfgang Leonhard, erinnern sich in einem Interview an die Erwartungen und Enttäuschungen damaliger kritischer Kommunisten.
Erstmals hat das Jahrbuch für diese Ausgabe Protokolle der Sitzungen des KPdSU-Präsidiums von Anfang Februar 1956 ins Deutsche übersetzen lassen. Auf diesen Sitzungen wurde die Geheimrede über den »Personenkult« vorbesprochen. Die Protokolle geben Einblick in den Machtkampf innerhalb der Parteispitze und verdeutlichen die Scheinheiligkeit, mit der sich die poststalinsche »kollektive Führung« aus der direkten Mitverantwortung für die Verbrechen der Stalinschen Epoche herauswand (siehe den Beitrag von Michail Prozumenščikov, stellvertretender Direktor des Russischen Staatsarchivs für neuere Geschichte).
Der 50. Jahrestag der ungarischen Revolution ist dem Direktor des 1956er Instituts in Budapest, János M. Rainer, Anlass für einen Rückblick auf die sowjetisch dominierte Epoche Ungarns. Er stellt dabei vor allem das machtpolitische Agieren der Kádár-Führung heraus, die mehr als 30 Jahre den sowjetischen Erwartungen entsprach, zugleich aber die ungarische Gesellschaft unter dem Motto »Wer nicht gegen uns ist, ist für uns« ruhig stellte. Árpád von Klimó untersucht in seinem Beitrag, welche Rolle die Rezeption der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 für die Durchsetzung von Demokratie und Meinungsfreiheit in Ungarn 1989 spielte. Den Schwerpunkt zu 1956 runden zwei Beiträge aus Polen von Małgorzata Ruchniewicz und Łukasz Kamiński ab, die sich mit der Rückkehr von 5 700 Polen aus sowjetischer Haft nach Polen 1955 und den Auswirkungen des XX. Parteitags, des Posener Aufstands und der polnischen Herbstkrise in Niederschlesien befassen.
Für den zweiten Schwerpunkt des Jahrbuchs konnten wir namhafte Forscher aus dem In- und Ausland gewinnen, in einem Essay anlässlich des 70. Jahrestages des Beginns der Moskauer Schauprozesse 1936 den Stalinschen Terror gegen Partei und Gesellschaft zu analysieren. Der Reiz der Beiträge von Nikolas Werth aus Frankreich, Robert V. Daniels und Fridrikh Firsov aus den USA sowie Leonid Luks aus Deutschland liegt für den Leser im Vergleich der unterschiedlichen Begriffe, Schwerpunkte und Positionen der Autoren zum selben Thema.
Die Rubriken »Abhandlungen«, »Dokumentation« und »Biographische Skizzen« bieten wie jedes Jahr Raum für neue Forschungsergebnisse der historischen Kommunismusforschung. Hervorzuheben sind v. a. die biographischen Beiträge zu Harry Schmitt und Bruno Haid. Hermann Weber beschreibt die Biographie von Harry Schmitt alias »Ralph Forster«, Leiter der militärischen Sabotageorganisation der DKP in der Bundesrepublik (1970 bis 1989), und beziffert erstmals die enormen Summen, mit der die SED dessen Tätigkeit finanzierte. Helmut MüllerEnbergs zeichnet den Fall des Leiters der Nachrichtendienstschule der DDR Bruno Haid nach, dessen Absetzung 1952 auch von Markus Wolf betrieben worden war. Das Jahrbuch enthält zudem die Rubrik »Sammelrezensionen« und den International Newsletter of Communist Studies XII (2006), no 19, der von Bernhard H. Bayerlein herausgegeben und redaktionell betreut wird.
Zum ersten Mal erscheint das Jahrbuch mit Abbildungen. Die Veröffentlichung von Fotos und Faksimiles werden wir auch in den folgenden Jahrbüchern fortsetzen. Wir bedanken uns v. a. bei den Mitarbeitern des Bundesarchivs in Koblenz für die Unterstützung. Wir danken zudem der Gerda-und-HermannWeber-Stiftung (Berlin) und der Hermann-Weber-Stiftung (Mannheim), die die Finanzierung der zahlreichen Übersetzungen aus dem Ungarischen, Polnischen, Russischen und Englischen ermöglicht hat.
Zum Schluss müssen wir eine traurige Mitteilung machen. Aleksandr Jakovlev, Mitglied unseres wissenschaftlichen Beirats, ist am 18. Oktober 2005 in Moskau verstorben. Damit verliert die Aufarbeitung des Kommunismus in Russland einen herausragenden Wissenschaftler. Jakovlev war in der Gorbačev-Ära Politbüromitglied und galt als »geistiger Vater« der Perestrojka. Die Verbrechen der Partei hat er deutlich wie kein anderes ranghohes Mitglied der Sowjetnomenklatur verurteilt. Bis zu seinem Tod war er als engagierter Vorsitzender der Rehabilitierungskommission für die Opfer der politischen Repressionen beim Präsidenten der Russischen Föderation tätig. Die (zugänglichen) Dokumente zu Terror und Repression veröffentlichte Jakovlev seit 1997 in der Reihe »Rossija. XX. vek« (Russland. Das 20. Jahrhundert) mit Hilfe seiner Internationalen Stiftung »Demokratie«. Die Serie umfasst mehrere Dutzend, für die Forschung unverzichtbare Bände. Wir hoffen sehr, dass es seiner Tochter Natalja Ušackaja gelingt, die Arbeit des Vaters in der Stiftung fortzusetzen.
Berlin, Ende März 2006 Die Herausgeber