Für jeden, der sich mit der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung vertraut ist, weckt das Jahr 1956 mit dem XX. Parteitag Assoziationen an die Rede »Über den Personenkult und seine Folgen«, die der Erste Sekretär der KPdSU, Nikita Chruščev, auf einer geheimen Sitzung des Parteitags hielt.[1] Ungeachtet seiner ursprünglichen Geheimhaltung wurde der Auftritt Chruščevs sehr schnell bekannt und hatte – zuerst in der UdSSR und dann auf der ganzen Welt – die Wirkung einer explodierenden Bombe. Die Rede führte zu einer ernsthaften Krise innerhalb der KPdSU und zur Spaltung und Schwächung des Weltkommunismus. Damit wurde sie zu einem charakteristischen Wendepunkt bei der beginnenden Zersetzung des kommunistischen Wertesystems. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte nahm der Prozess der Entstalinisierung, der mit dem XX. Parteitag begonnen hatte, verschiedenartige Wendungen und entwickelte sich äußerst widersprüchlich und inkonsequent. Um die Rede über den Personenkult selbst gedieh eine Vielzahl von Mythen und Legenden.
Der Personenkult tauchte als Thema faktisch sofort nach Stalins Tod auf. Doch waren dem Thema zwei spezifische Charakteristika eigen. Erstens besetzten der Begriff »Personenkult« und der Name Stalins zwei unterschiedliche Ebenen, die sich in dieser Zeit praktisch nicht berührten. Zweitens benutzten die Nachfolger Stalins 1953 die These vom Personenkult beim Kampf um die Macht, allerdings gingen sie dabei sehr vorsichtig vor, denn sie befürchteten, sich gegenseitig der Verbreitung des »Personenkults« zu beschuldigen. Nicht zufällig unterband Georgij Malenkov, anfangs »Stalins Nachfolger Nr. 1«, entschieden die Versuche, einen Personenkult für ihn zu etablieren[2], und machte auch noch ein Zitat von Stalin selbst über die Schädlichkeit des Personenkults ausfindig. Auf dem Juli-Plenum des ZK der KPdSU 1953, als der Sturz des »Volksfeindes« Lavrentij Berija über die Bühne ging, sprachen gleich mehrere Redner, darunter Chruščev, über den Personenkult und sogar über den »Stalin-Kult« – jedoch ausschließlich in dem Sinn, dass dieser Kult künstlich von Berija initiiert worden sei, um seine »blutigen und verräterischen Ziele« zu erreichen.
Der andauernde Machtkampf auf dem politischen Olymp der Sowjetunion bestimmte die widersprüchliche Haltung zu Stalin im Zeitraum 1953/54. Einerseits fand eine relativ substantielle Korrektur der Stalinschen Innen- und Außenpolitik statt (die beginnende Rehabilitierung der Opfer der Repressionen, die Veränderung der Politik gegenüber den Bauern, die Wiederherstellung unterbrochener Kontakte mit Staaten, die Stalin nicht anerkannt hatte, der Aufbau diplomatischer Beziehungen usw.). Auf der anderen Seite blieben die Verehrung Stalins als Führer und Lehrer sowie die rituelle Beschwörung der Richtigkeit des von ihm vorgezeichneten Wegs bestehen. Für einige Sowjetführer (Vjačeslav Molotov, Lazar Kaganovič, Kliment Vorošilov) blieb Stalin nach wie vor die höchste Autorität, »die Wahrheit der letzten Instanz«. Für andere (Chruščev, Anastas Mikojan) hätte ein direkter Angriff auf Stalin in dieser Situation zu ihrem eigenen Sturz führen können.
Erst nachdem Chruščev seine Machtposition 1955 hatte festigen können, indem er seinen beiden Hauptkonkurrenten, Malenkov und Molotov, schwere Niederlagen beibrachte, erschien die Frage des »Personenkults« wieder auf der Tagesordnung – nun auch in direkter Verbindung mit Stalin. Anfangs war die Rückkehr zu diesem Thema sorgsam getarnt und konnte nur durch einzelne indirekte Anzeichen vermutet werden. Zum Beispiel wurde im Unterschied zum 5. März 1954, als die Zeitungen an Stalins Todestag mit Trauerartikeln voll waren, am 5. März 1955 in der sowjetischen Presse überhaupt nicht an den »Führer der Völker« erinnert. Als Schlüsselthema zur Delegitimierung des Stalin-Kults wurde die Verantwortung des Führers für die politischen Repressionen gewählt – eine Strategie, die in einem weitaus kleineren Maßstab schon in den politischen Auseinandersetzungen der Jahre 1953/54 erfolgreich gewesen war.
Die öffentliche Verurteilung von Stalins Verbrechen war nicht nur zur Rehabilitierung von Millionen unschuldiger Opfer nötig. In den Augen der Bevölkerungsmehrheit innerhalb und außerhalb der Sowjetunion fiel der Vergleich zwischen dem neuen Führer der Sowjetunion Chruščev und dem alten Führer Stalin offensichtlich nicht zugunsten des ersteren aus. (Das weiterhin sehr niedrige Lebensniveau in der Sowjetunion und die ernsthaften wirtschaftlichen Probleme trugen nicht unbedingt zur Popularität Chruščevs bei). Daher waren bedeutende Maßnahmen gefordert, um Stalin vom errichteten Sockel zu stürzen und der Welt zu zeigen, dass »der Gott zum schnöden Idol« geworden war.
Der XX. Parteitag sollte die von Chruščev errungenen Positionen legal untermauern (im März 1953 hatte Chruščev bei der Regelung der Nachfolge Stalins noch zu den »Benachteiligten« gehört) und gleichzeitig als Tribüne für die Verurteilung der Stalinschen Verbrechen dienen. Dies war einer der Gründe für die beschleunigte Einberufung des Parteitags. Chruščev hatte die Notwendigkeit seiner Durchführung schon Anfang April 1955 betont (also nur zweieinhalb Jahre nach Ende des vorherigen Parteitags).[3] In der Folgezeit hatte er kategorisch alle Versuche abgewehrt, den Parteitag vom Februar auf den Herbst 1956 zu verlegen, was er mit volkswirtschaftlichen Interessen rechtfertigte. Von diesem Zeitpunkt an begann man im ZK, Materialien über die Stalinschen Repressionen der 30er Jahre zu sammeln und mit der Absicht zu analysieren, sie als Hauptbeweismittel gegen Stalin zu benutzen.
Je näher der Parteitag rückte, desto mehr verstärkte sich – zeitgleich mit den gewöhnlichen Parteitagsvorbereitungen – die »Stalin-Problematik«. Im November 1955 entstand auf einer Sitzung des Präsidiums des ZK Uneinigkeit darüber, wie der herannahende Geburtstag Stalins begangen werden sollte.[4] Kurze Zeit später bekannte die Führung der KPdSU offiziell die »fehlerhafte« Zerstörung der Kommunistischen Partei Polens 1938 auf Befehl Stalins und die physische Liquidierung ihrer Führer. Besonders heftige Debatten entzündeten sich Anfang Februar 1956 im Kreml, als die Meinungen über Sinn und Ziel des Referats »Über den Personenkult« im Parteitagsrahmen und über dessen möglichen Inhalt wesentlich auseinander gingen. Der zu diesem Zeitpunkt vorgelegte Spezialbericht einer Kommission des ZK (»Pospelov-Kommission«), der zahlreiches Tatsachenmaterial über die Massenrepressionen der 30er Jahre enthielt, stellte keine der streitenden Seiten wirklich zufrieden. Die einen dachten, dass man das Referat »stärker machen« und »die ganze Wahrheit sagen« müsse. Die anderen befürchteten die Bekanntmachung so schockierender Tatsachen und warnten, dass man »das Kind nicht mit dem Bade ausschütten«[5] solle. Bis kurz vor Beginn des Parteitags blieb faktisch unentschieden, wer das Referat halten würde.
Wie die Schlusssitzung des Parteitagtreffens ausfallen würde, darüber wussten nur wenige Eingeweihte Bescheid. Deshalb sprachen die auftretenden Delegierten auf dem Parteitag noch über die »Partei Lenins und Stalins« oder über Stalin als »großen Nachfolger der Sache Marx’ und Lenins«. Dissonant erklang lediglich der Auftritt Mikojans, der an all jenen Erscheinungen Kritik übte, die bislang mit dem Namen Stalins verbunden gewesen waren, und der dabei den Namen des »Führers der Völker« nicht ein einziges Mal erwähnte. Da sich die Massenmedien auf der ganzen Welt nicht vorstellen konnten, dass dieses Referat vor Chruščevs »Geheimrede« lediglich ein Prüfstein war, beeilten sie sich zu erklären, dass die Rede vom Beginn einer Neubewertung des gesamten Stalinkurses durch die Sowjetführung zeuge. An Mikojans Adresse gingen begeisterte wie auch kritische Antworten.
Noch während des Parteitags wurde die Arbeit an der »Geheimrede« fortgesetzt. Der Text wurde mehrfach umgearbeitet. Verschiedene von Petr Pospelov und Boris Aristov erarbeitete Veränderungen, Anmerkungen und Ergänzungen von Michail Suslov und Dmitrij Šepilov, Diktate von Chruščev und sogar Auszüge aus nicht gehaltenen Redebeiträgen rehabilitierter Altbolschewiki wurden eingefügt. Nichtsdestotrotz wies die Rede über Stalin, mit der Chruščev die gesamte Versammlung am 25. Februar erschütterte, nicht unerhebliche Abweichungen von der letzten Textredaktion auf. Der Kern des Referats, der in der Enthüllung der Stalinschen Repressionen in den 30er Jahren bestand, war in seinem Umfang deutlich erweitert worden. In das Referat waren Ausführungen sowohl über Stalins Fehler in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges, als auch über die Verbrechen der Nachkriegszeit sowie über die Beziehungen zu anderen Parteiführern aufgenommen worden. Die Grundthese der Chruščev-Rede lautete: Stalin hat schreckliche Verbrechen gegen Volk und Partei begangen, von denen keiner etwas wusste (auch nicht die wichtigsten Parteibonzen), und wenn irgendjemand irgendetwas vermutete, konnte er unter den damals herrschenden Bedingungen nichts sagen. Alle übrigen Parteiführer waren angeblich an nichts schuld (außer einzelne »politische Abenteurer vom Typ Berija und Abakumov«) und waren nun gezwungen, die »unerwartet« auftauchenden Tatsachen zu veröffentlichen, um das Vertrauen der Partei nicht zu verlieren und die Wiederholung ähnlicher Ereignisse in Zukunft zu vermeiden.
So schwierig und widersprüchlich wie die Vorbereitung der »Geheimrede« war, so problematisch war auch die Geschichte ihrer Folgen. Die Rede wurde neuerlichen Redaktionen unterworfen, bevor sie einer »ausgesuchten« sowjetischen Öffentlichkeit vorgelegt wurde. Und auch die Wahl der Öffentlichkeit änderte sich: Während anfangs geplant war, den Text nur der oberen und mittleren Funktionärsebene zugänglich zu machen, konnten später sogar Komsomolzen und parteilose Aktivisten die Broschüre mit dem Aufdruck »streng geheim« lesen. In der Praxis führte dies zu einer noch weiter ausgreifenden Verbreitung des Referats: Angefangen von seiner mündlichen Nacherzählung an Personen, die der Partei gänzlich fern standen, und endend mit dem Verlust einzelner Exemplare im Zuge der »Zurkenntnisnahme«.
Ein noch größeres Durcheinander kam bei der Verbreitung des Redetextes im Ausland zustande. Auf der Geheimsitzung waren die Führer der »Bruderparteien« nicht anwesend. Ihre Bekanntschaft mit dem Referat war ein mehrstufiger Prozess. Die aus Anlass des Parteitags in Moskau anwesenden prominentesten Führer der kommunistischen Weltbewegung machten sich noch vor ihrer Abreise in groben Zügen mit den Thesen des Referats vertraut. Danach wurde eine Spezialversion des Textes für die hohen ausländischen Parteiführer erstellt (die den Text in den sowjetischen Botschaften »gegen Quittung« lasen). Die Parteimitglieder der sozialistischen Länder erhielten wiederum eine andere Textvariante. Natürlich sickerten auch hier Informationen durch. Im Westen kam eine Vielzahl von Gerüchten und Vermutungen über die geheimnisvolle Sitzung in Moskau auf. Viele erwiesen sich als so nah an der Wahrheit, dass sie bei den Kommunisten in den kapitalistischen Ländern das Gefühl von Ärger und Beleidigung hervorrief: »Vor uns haben sie geheim gehalten, was der bourgeoisen Presse schon längst bekannt ist«.[6] Die »Geheimrede« rief unter den sowjetischen Parteimitgliedern eine uneindeutige Reaktion hervor. Zunächst waren die meisten geschockt von dem Gehörten. Viele glaubten es nicht, und für einige (darunter Leute wie der Schriftsteller Aleksandr Fadeev) brachen sämtliche Orientierungspunkte im Leben zusammen. Doch die Mehrheit der Zuhörer, die seit jungen Jahren gelernt hatte, sich auf Anweisung des Kremls »nach der Parteilinie zu biegen«, und heute diejenigen für »Volksfeinde« zu halten, die sie gestern echte Leninisten genannt hatte, begrüßte Chruščevs Auftritt zumindest äußerlich. Das zu dieser Zeit beginnende »Tauwetter« und die ungewohnte Situation (schließlich war von Stalin »höchst persönlich« die Rede) bereiteten den Machthabern zahlreiche Probleme: Unruhen in Georgien, die mit Waffengewalt unterdrückt werden mussten; Redebeiträge auf Versammlungen, in denen nicht nur Stalin, sondern das System an sich kritisiert wurde; eine Reihe von Fragen, auf die die Parteiführer und vor allem die Funktionäre der mittleren Ebene keine überzeugenden Antworten hatten. Das und vieles mehr erwies sich als unerwartete und unangenehme Überraschung für die sowjetische Führung.
Die Situation verschlechterte sich aufgrund von Unstimmigkeiten innerhalb der Kremlführung über den weiteren Fortgang der Entstalinisierungspolitik. Dies zeigte sich sowohl bei der Publikation von Artikeln in der Pravda, die hinreichend gegensätzliche Ansichten über das Problem des »Personenkults« enthielten, als auch im Schicksal des Juni-Plenums des ZK der KPdSU 1956. Dazu bestimmt, in der Frage des Personenkults eine Fortsetzung des XX. Parteitags zu werden (von Šepilov und Žukov waren dazu speziell Referate verfasst worden), wurde das Plenum im letzten Moment ohne jede Erklärung abgesagt. Offenbar stockte auch die ideologische Absicherung des Entstalinisierungsprozesses. Obwohl die Sowjetführung beschlossen hatte, neue Geschichtslehrbücher sowie neue Bücher über die politische Ökonomie, Lexikonartikel usw. in Auftrag zu geben, waren sie nicht in der Lage, aktuelle Alltagsfragen operativ zu entscheiden: Was sollte mit den Stalinportraits und Stalindenkmälern geschehen? Wie sollte man sich zu Stalins Büchern und Aussprüchen verhalten? Und überhaupt: Sollte man Stalin weiterhin als Marxisten verstehen (besonders im Lichte der Umbenennung des »Marx-Engels-Lenin-Stalin-Instituts beim ZK der KPdSU« in »Institut für Marxismus-Leninismus«)? Erschwerend kam hinzu, dass die regionalen Parteibürokratien sich häufig mit Entscheidungen schwer taten und zeitweise die volle Kontrolle über die Situation verloren, weil sie keine genauen Instruktionen aus Moskau erhielten und fürchteten, entweder beim Vorantreiben der »Entstalinisierung« oder umgekehrt, bei ihrer allmählichen Rücknahme, einen falschen Schritt zu tun.
In einer noch schwierigeren Lage befanden sich die kommunistischen Führer in den anderen Ländern. Die Chruščev-Rede fügte in den Parteiorganisationen der Volksdemokratien, vor allem deren Führern, einen schweren Schlag zu, weil sie in ihrer überwiegenden Mehrheit Stalins Schützlinge gewesen waren und in ihrem Verhalten den toten Führer kopierten. Da sie sich nicht von heute auf morgen »wandeln« konnten, befanden sie sich unter einem doppelten Druck. Aus Moskau kamen Empfehlungen, dem Kurs des XX. Parteitags zu folgen. Dasselbe forderten auch ihre lokalen politischen Opponenten, indem sie sich auf das Vorbild der KPdSU beriefen. In der Mehrheit der Staaten Osteuropas verstärkten sich als Resultat zunehmend die demokratischen und antitotalitären Tendenzen. Die kommunistischen Herrscher waren demoralisiert. Die Parteitage und Plenen verwandelten sich immer mehr in Diskussionsforen. Es gab Forderungen, mit den »Nachfolgern« Stalins im eigenen Land »abzurechnen«, immer lauter waren antikommunistische und antisowjetische Losungen zu hören. Zum Symbol der »Gärung« im Frühjahr und Sommer wurden die Unruhen in Poznań (Posen), die von der polnischen Armee niedergeschlagen wurden. Im Kreml kam man den vom Verlust ihres Führers geschwächten polnischen Kommunisten zur Hilfe,[7] indem eine Reihe wichtiger politischer und wirtschaftlicher Zugeständnisse gemacht wurde. Gleichzeitig nahmen einige kommunistische Parteien, insbesondere die chinesische, gegenüber Chruščevs Referat eine kritische Position ein und erklärten sie für nicht wirklich glaubwürdig und nicht wirklich zeitgemäß.[8] Bis zu einem bestimmten Grad wurden sie dabei von einigen westlichen Kommunistischen Parteien unterstützt, die erklärten, die »Geheimrede« sei lediglich eine Sammlung von aus dem historischen Kontext gerissenen Fakten ohne den Versuch einer ernsthaften Analyse.
Der 4. Juni 1956 wurde zum Fanal der kommunistischen Hoffnungen von Millionen Menschen auf der ganzen Welt. An diesem Tag publizierte die New York Times den gesamten Text der Chruščev-Rede, der über Polen und Israel in die USA gelangt war. Im Lauf von drei Monaten wurde der Text in dutzende Sprachen übersetzt und in vielen Ländern veröffentlicht. Der KGB stellte dem ZK der KPdSU sogar eine Broschüre mit der Rückübersetzung des Textes ins Russische zur Verfügung, der in BRD herausgegeben worden war und an sowjetische Bürger weitergegeben wurde, die das Ausland besuchten. Gleichzeitig wurden vom Territorium der NATO-Staaten aus regelmäßig dutzende Luftballons mit dem Text der »Geheimrede« in Richtung Osteuropa losgelassen. Einige von ihnen fanden ihren Weg bis nach Mittelrussland.
Die Wirkung des Gelesenen war niederschmetternd. Kommunistische Parteien fielen beim bloßen Anblick auseinander. Es begann eine massenhafte Abkehr der Vertreter der westlichen Intelligenz von den Ideen des Kommunismus. Einige Parteien (insbesondere der englischsprachigen Länder) gingen nun, um irgendwie ihren Ruf zu wahren, auf antisowjetische Positionen über und kritisierten die UdSSR schärfer als die bürgerlichen Parteien. Sogar die gläubigsten Verbündeten der KPdSU – die französische und die italienische KP – hielten sich mit ihrer Kritik nicht zurück. Palmiro Togliatti, der italienische Vorsitzende, sprach dabei den aus Sicht der Moskauer Führung »aufrührerischen« Gedanken aus, dass der Personenkult Stalins aus dem Sowjetsystem selbst geboren gewesen sein könnte.
Die Rede Chruščevs provozierte zu einem großen Teil auch die antikommunistischen Massenunruhen in Polen und Ungarn im Herbst 1956, die weder die frühen orthodoxen noch die sie ablösenden liberalen KP-Führer dieser Länder verhindern konnten. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Władysław Gomułka Polen von einem antisowjetischen Aufstand abhalten konnte (obwohl Chruščev anfangs Truppen gerade dorthin entsenden wollte), während sich Imre Nagy dem Lauf der Ereignisse nicht nur nicht entgegenstellte, sondern den verzweifelten Widerstand der Ungarn gegen die sowjetische Armee anführte, die zum »Ordnung schaffen« eingesetzt war.
Die sowjetische Militäraktion in Ungarn rief auf der ganzen Welt eine Welle der Empörung hervor, provozierte eine Reihe von Boykotten und antisowjetischen Unruhen und wurde zu einem weiteren empfindlichen Schlag gegen den auf dem XX. Parteitag eingeschlagenen Kurs der Entstalinisierung. Die Aktion tauchte die leuchtenden kommunistischen Ideale endgültig in die Farbe des Bluts und stellte gleichzeitig die Mehrheit der kommunistischen Parteien in den nichtsozialistischen Ländern vor die schwere Wahl, entweder die UdSSR zu verurteilen und sich innerhalb der kommunistischen Welt zu isolieren oder aber die Abrechnung mit den »Aufständischen« zu rechtfertigen und im eigenen Land politisch isoliert zu werden. Die Invasion in Ungarn wurde von der Bevölkerung der sozialistischen Länder negativ aufgenommen. Nach der Verhaftung Imre Nagys verschlechterten sich auch die offiziellen sowjetisch-jugoslawischen Beziehungen stark, die Chruščev während der vergangenen eineinhalb Jahre sorgsam gepflegt hatte. Die außen- wie auch die innenpolitische Bilanz des Parteitages war negativ.
Anmerkung der Redaktion: Im Folgenden sind drei Dokumente zum XX. Parteitag erstmals ins Deutsche übersetzt worden. Sie geben einen Einblick in die internen Diskussionen über die Geheimrede Chruščevs vor und nach dem XX. Parteitag. Es handelt sich um zwei Arbeitsnotizprotokolle von Sitzungen des KPdSU-Präsidiums von Anfang Februar und um eine Stellungnahme Chruščevs vor dem ZK der polnischen KP im März 1956. Die Arbeitsnotizprotokolle hat der Leiter der Allgemeinen Abteilung des ZK der KPdSU V. N. Malin angefertigt. Sie überliefern die Sitzung nicht wortwörtlich, sondern geben nur stichwortartige Zusammenfassungen der Redebeiträge wieder. Daher ist der Stil der Aufzeichnungen fragmentarisch und sprunghaft. Erläuterungen der Redaktion oder des Übersetzers zum Verständnis stehen in eckigen Klammern bzw. in den Anmerkungen. Runde Klammern entstammen dem Original, ebenso die Anführungszeichen. Auslassungen wurden durch drei Punkte in eckigen Klammern gekennzeichnet. Die beiden Präsidiumsprotokolle hat Michail Prozumenščikov als Typoskripte zur Verfügung gestellt. Die Dokumentation der Dokumente folgt dem Text dieser Typoskripte.
Dokument 1[9]
Protokoll der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU Nr. 185 Sitzung vom 1. Februar 1956
Über den Fall Rodos[10]
Rudenko, Molotov, Kaganovič, Chruščev, Bulganin, Vorošilov, Pervuchin, Saburov (stellt eine
Reihe von Fragen), Mikojan, Malenkov, Pospelov, Suslov, Serov
Gen. Chruščev
GEN. MOLOTOV: Wie verhält sich Rodos jetzt?
GEN. CHRUŠČEV: Rodos weiß von der Rehabilitierung der Leute.
FRAGE DES GEN. CHRUŠČEV [gerichtet an Boris Rodos]: Erzählen Sie in Bezug auf die Genossen Postyšev und Kosior, wie Sie sie als Feinde enttarnt haben.
Die Schuldigen sitzen weiter oben.
Halbkriminelle Elemente zog man zur Ermittlung dieser Fälle heran.
Schuld ist Stalin.
ARISTOV: Gen. Chruščev, reicht uns der Mut, um die Wahrheit zu sagen?
Ėjche hat bis zuletzt [alles] abgestritten, aber sie haben ihn trotzdem erschossen.
GEN. CHRUŠČEV: Ežov hat wahrscheinlich keine Schuld, ein ehrlicher Mensch.
GEN. MIKOJAN: Das Dekret über den Kampf gegen den Terror wurde am 1. Dezember 1934 beschlossen.
GEN. POSPELOV/GEN. SEROV: Verhaftungsquoten wurden beschlossen. GEN. CHRUŠČEV: Das vielleicht noch zum Referat hinzufügen.
PERVUCHIN, BULGANIN, MIKOJAN: Stimmen zu.
GEN. CHRUŠČEV: Serov, Rudenko, die Kommission [sollen] den Fall Tuchačevskij überprüfen,
den Brief von Beneš (an Stalin) 1936/37 wegen der Gruppe Tuchačevskij (Jakir).[11] GEN. MOLOTOV: Aber Stalin muss man als großen Führer anerkennen.
MIKOJAN: Widerspricht Molotov: »Und du, Gen. Molotov, hast [ihn] unterstützt«.
GEN. KAGANOVIČ: In der jetzigen Lage kann man die Frage, die Gen. Šepilov stellt, nicht beantworten (zu den [Stalin-] Plakaten [auf dem Parteitag]), man kann [die Frage] nicht so stellen. Man muss alles zusammen nehmen, die Frage in ihrem Wesen packen. Man kann vieles überprüfen, aber Stalin stand 30 Jahre an der Spitze.
GEN. MOLOTOV: Man muss im Referat darüber sprechen, dass Stalin der große Nachfolger in der Sache Lenins war. Darauf bestehe auch ich.
GEN. MIKOJAN: Nehmt die Geschichte – es ist zum Verrücktwerden.
GEN. SABUROV: Wenn die Tatsachen stimmen, ist das etwa Kommunismus?
Das kann man nicht verzeihen.
GEN. MALENKOV: Es ist richtig, sich die Tatsachen anzusehen. Es ist richtig, die Frage zu stellen.
Man muss es der Partei sagen.
GEN. PERVUCHIN: Wussten wir Bescheid? Wir wussten Bescheid, aber es war Terror.
Damals konnten wir gar nichts tun.
Wir sind in der Pflicht, es der Partei zu erklären, es sowohl auf dem Parteitag zu sagen als auch auf dem Plenum zu sagen.
GEN. BULGANIN: Der Partei muss man die ganze Wahrheit sagen, was Stalin für eine Figur ist, man muss [so] eine Position einnehmen, dass man [am Ende] nicht als Dummkopf dasteht.
Die Mitglieder des ZK des XVII. Parteitags wurden liquidiert.
Ich bin nicht einverstanden mit Gen. Molotov, nicht einverstanden, dass er [Stalin] ein großer Nachfolger [Lenins] war.
Man muss darauf nicht eingehen – »Nachfolger«, und im Referat kommt man ohne das aus.
Stalins Persönlichkeit nicht aufblähen (auf Plakaten).
GEN. VOROŠILOV: Die Partei sollte die Wahrheit kennen, aber [man muss es der Partei so] beibringen, wie es das Leben diktiert. Die Zeiten waren von den Umständen diktiert. Aber wir haben das Land auf den Weg von Marx, Engels, Lenin und Stalin geführt. War es Stalins Schicksal? – Das war es. Viele Abscheulichkeiten gab es, Sie sagen es mit Recht, Gen. Chruščev, wir können nicht daran vorbei, aber man muss darüber nachdenken, um das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Die Sache ist ernst, allmählich [angehen].
GEN. SUSLOV: In den vergangenen Monaten haben wir entsetzliche Dinge erfahren.
Das kann mit nichts gerechtfertigt werden.
Stalin hat zu Dvinskij[12] gesagt – [wenn] 10 bis 15 Leute pro Kreis übrig blieben, dann reicht es.
Wegen Slánský (gab es einen Anruf) aus Moskau.
Keine Lobeshymnen.
Der Personenkult richtet noch [jetzt] großen Schaden an.
GEN. MOLOTOV: Ich schließe mich Gen. Vorošilov an.
Die Wahrheit wieder herstellen.
Die Wahrheit ist auch, dass unter Stalins Führung der Sozialismus siegte. Und die Unrichtigkeiten muss man ins Lot bringen, und die furchtbaren Dinge – auch die sind Tatsache.
Wir werden es kaum schaffen, es [noch] vor dem Parteitag [auf dem Plenum] zu sagen.
GEN. CHRUŠČEV: Jagoda war sicher ein sauberer Mensch. Ežov [war sicher ein sauberer Mensch].
Grundsätzlich haben sich [alle] richtig ausgesprochen.
Im Interesse der Partei lösen.
Stalin war der Sache des Sozialismus ergeben, aber ganz mit barbarischen Methoden. Er hat die Partei zerstört. Er ist kein Marxist. Alles Heilige hat er zerstört, das im Menschen ist. Alles hat er seinen Launen untergeordnet.
Auf dem Parteitag nicht über den Terror sprechen. Man muss eine Linie festlegen – Stalin seinen Platz zuweisen (die Plakate säubern, die Literatur).
[An seiner Stelle] Marx und Lenin nehmen.
Den Beschuss des Personenkults verstärken.
Der Meinungsaustausch ist beendet.
Dokument 2[13]
Protokoll der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU Nr. 187 Sitzung vom 9. Februar 1956
72. Mitteilung der Kommission des Genossen Pospelov Chruščev, Pervuchin, Mikojan
[Chruščev?]: Die Unzulänglichkeit Stalins [in seiner Funktion] als Führer ist offensichtlich.
Was ist das für ein Führer, wenn er alle vernichtet.
Man muss Mut zeigen, die Wahrheit sagen.
Meinung: Es dem Parteitag sagen, darüber nachdenken wie.
Wem muss man es sagen.
Wenn man es nicht sagt, dann zeigen wir gegenüber dem Parteitag Unehrlichkeit.
Vielleicht [sollte man] Gen. Pospelov [beauftragen,] ein Referat zusammen zu stellen und darüber zu reden. Gründe: der Personenkult, die Konzentration der Macht in den Händen eines Einzelnen. In unehrlichen Händen.
Wo: auf der Abschlusssitzung des Parteitags.
Das Testament [Lenins][14] drucken und an die Delegierten verteilen.
Den Brief [Lenins] über die Nationalitätenfrage[15] drucken und an die Delegierten verteilen. GEN. MOLOTOV: Auf dem Parteitag muss man es sagen. Aber dabei nicht allein das sagen. Und in der Nationalitätenfrage war Stalin jedoch ein Nachfolger der Sache Lenins.
Aber wir haben 30 Jahre unter der Führung Stalins gelebt – wir haben die Industrialisierung durchgesetzt.
Unter Stalin sind wir eine große Partei geworden.
Der Personenkult, aber wir sprechen über Lenin, wir sprechen über Marx.
GEN. CHRUŠČEV: [Redebeitrag nicht dokumentiert]
GEN. KAGANOVIČ: Man kann die Geschichte nicht betrügen, die Fakten kann man nicht ausstreichen.
Der Vorschlag von Gen. Chruščev, das Referat anzuhören, ist richtig.
Das Testament und den Brief über die Nationalitätenfrage [an die Delegierten] verteilen. Das Testament und den Brief über die Nationalitätenfrage den Mitgliedern des Präsidiums des ZK zukommen lassen.
Geheim.
Wir tragen Verantwortung.
Aber die Situation war so, dass wir nicht widersprechen konnten (Er spricht über seinen Bruder)[16].
Aber wir wären unehrlich, wenn wir sagen würden, dass der ganze Kampf mit den Trotzkisten unberechtigt gewesen sei.
Zeitgleich mit dem Ideenkampf ging die Vernichtung der Kader vonstatten.
Aber ich bin mit Gen. Molotov einverstanden, die Sache mit kaltem Verstand durchzuführen (wie Gen. Chruščev sagte).
Uns (mir) macht es zu schaffen, aber damit wir kein Chaos entfesseln.
Die Redaktion des Referats politisch gestalten, damit eine Periode von 30 Jahren nicht beschmiert wird, kaltblütig heran gehen.
GEN. BULGANIN: Ich halte den Vorschlag von Gen. Chruščev für richtig.
Die Parteimitglieder sehen, dass wir die Haltung zu Stalin verändert haben.
Wenn wir auf dem Parteitag nicht darüber sprechen, werden sie sagen, dass wir feige waren. Das, was entdeckt wurde – wir wussten es nicht.
Listen mit 44 Tausend – ein unglaublicher Fakt.
Näher an die Wahrheit.
[Man muss] die Rolle Stalins in zwei Phasen teilen.
Während der zweiten Phase hörte Stalin auf, Marxist zu sein. (Spricht über den Fall Svanidze.)[17] Wie soll man das sagen? Auf der Grundlage des Personenkults.
Stalin und die Partei.
Man darf es Stalin nicht zuschreiben.
GEN. VOROŠILOV: Gründlicher vorbereiten. Wir sind nicht im Urlaub. Jegliche Unbedachtsamkeit wird Folgen nach sich ziehen. Ich bin damit einverstanden, es vor die Partei (den Parteitag) zu bringen. Vorsichtig muss man sein.
GEN. CHRUŠČEV sagt, dass Gen. Vorošilov den Fall Jarošenko vor Stalin aufgeworfen hat. GEN. VOROŠILOV: fährt fort. Hier sind zwei Fälle: Der X. Parteitag, 1921, wir fuhren nach Petrograd. Der XIV. Parteitag [1925] – es gab Feinde, es gab sie.
(Im Kampf) mit den Feinden wurde Stalin zum Satan.
Dennoch war viel Menschliches in ihm.
Aber es gab auch tierische Angewohnheiten.
MIKOJAN: Wir müssen es dem Parteitag sagen. Zum ersten Mal können wir selbstständig darüber diskutieren. Wie soll man sich zur Vergangenheit verhalten?
Bis 1934 hat er sich wie ein Held benommen, nach 1934 zeigte er furchtbare Seiten.
Er hat die Macht usurpiert. Die Eroberung der Macht durch eine Person.
In Kernfragen, in theoretischen (Stalin und Lenin waren nicht einer Meinung) hat er sich schnell korrigiert.
Ich verurteile Stalin nicht, weil er den Ideenkampf gegen die Trotzkisten führte.
Aber kann man das Fiasko in der Landwirtschaft verzeihen?
Wenn die Leute leben würden, die Erfolge wären riesig.
Es dem Parteitag auf ruhige Art sagen (im Referat).
Warum will Vjačeslav [Molotov] keine Publikation [des Briefs] über die Nationalitätenfrage?
Das »Testament« und die Nationalitätenfrage publizieren.
Die Werke Lenins (4. Ausgabe), die verkürzte [Ausgabe], mit einem Zusatzband herausbringen.
GEN. PERVUCHIN: Auf dem Parteitag muss man berichten.
In diesem Referat ist es nicht erforderlich, über die positive Seite zu sprechen.
Der Stalin-Kult ist schädlich.
Sagen, wie es ist.
Er hat die Macht usurpiert, das ZK und das Politbüro liquidiert.
Er hat die Kader umgebracht, in der Schwerindustrie haben wir an Tempo verloren.
GEN. SUSLOV: Man muss den Parteitagsdelegierten alles erzählen.
Wir sprechen von kollektiver Führung, aber treiben mit dem Parteitag ein unehrliches Spiel? Der Grundton des Referats: der Kommission ist aufgetragen worden zu überprüfen, was aus den ZK-Mitgliedern des XVII. Parteitags geworden ist.
Unpassend [wäre es,] eine Charakteristik Stalins im Ganzen zu geben.
Wie viele Kader wurden 1936/37 abgeschlachtet, die [Wachstums-]Kurve [der Wirtschaft] 36/39 [zeigt] ein minimales Tempo.
Zwei Phasen Stalins – das ist grundsätzlich richtig.
Bis 1934 hatte Stalin in vielem Unrecht.
Der Beschluss des XV. Parteitags über die Publikation des »Testaments« wurde nicht umgesetzt.
Nicht zu weit vorpreschen.
GEN. MALENKOV: Ich halte den Vorschlag für richtig, es dem Parteitag zu sagen.
Wir erleben ein Gefühl des Glücks, wir sprechen die Genossen frei.
Man kann keine Erklärung für den Freispruch der Genossen geben, wenn man die Rolle Stalins nicht klärt.
Mit keinem Kampf gegen Feinde können wir erklären, dass man die Kader abgeschlachtet hat.
Der »Führer« war wirklich der » geliebte« [Führer].
Nicht in zwei Phasen teilen, [sondern] mit dem Personenkult verbinden.
Damit stellen wir Lenin wieder her, wie es sich gehört.
Bei Stalin klangen leise ungute Stimmungen gegenüber Lenin an.
Überhaupt kein Referat über Stalin machen [sondern über den Personenkult].
GEN. ARISTOV: Mit einer generellen Sache, die in den Äußerungen von Molotov, Kaganovič und Vorošilov war, bin ich nicht einverstanden – »man sollte es nicht sagen«.
Die Delegierten sind strenge Leute.
»Wir wussten es nicht« (das ist für Politbüro-Mitglieder unwürdig). Schreckliche Jahre, Jahre des Betrugs am Volk.
Ėjche war auch damals ehrlich.
Wir wollten einen Gott schaffen, und ein Teufel kam heraus.
Die Anspannung aller war ganz zu Stalins Gunsten.
Die Partei wird ihre Autorität nicht verlieren.
GEN. BELJAEV: Die Führungskader kennen diese Dokumente nicht.
Es ist seltsam, dass diese Dokumente den Führungskadern nicht bekannt sind.
Dem Parteitag muss man von diesen Dokumenten berichten.
Wie können Lenin-Dokumente verheimlicht worden sein?
Richtigerweise schlägt Gen. Chruščev vor, dem Parteitag die Dokumente öffentlich zu präsentieren.
Die Wahrheit sagen. Man äußert Vorbehalte, damit man die Großartigkeit Stalins nicht verliert.
Aber mit ihm muss man sich zurechtfinden.
Politisch erklären, natürlich, wer die Verantwortung trägt.
Das reinigt [von dem], was die Kommunisten plagt.
Anders kann man an die Kraft der Partei nicht glauben.
In diesem Sinn muss man ohne Vorbehalte reden.
GEN. ŠVERNIK: Jetzt darf das ZK nicht schweigen, sonst überlässt man der Straße das Sprechen. Dem Parteitag muss man die Wahrheit sagen, den Personenkult entlarven.
Das Referat erstellen.
Ein Alptraum – drei Mal [hat man] die Leute niedergemäht.
GEN. SABUROV: Molotov, Kaganovič und Vorošilov nehmen eine falsche Position ein, sie verfälschen. Es gab einen Stalin (nicht zwei), sein Wesen hat sich in den letzten 15 Jahren gezeigt.
Das sind keine Unzulänglichkeiten (wie Gen. Kaganovič sagt), sondern Verbrechen.
Gen. Molotov sagt, er war 30 Jahre mit uns. Aber seine Rolle im Krieg ist bekannt, in der Nachkriegsperiode – wir haben uns die Beziehungen mit allen Völkern verdorben (Ausführungen über die Meerengen).
Wir haben uns viel verdorben wegen einer dummen Politik (finnischer Krieg, Korea, Berlin). [Man muss] die ganze Wahrheit über Stalin sagen.
GEN. ŠEPILOV: Wir haben mit ganzem Herzen über Stalin geschrieben. Nach den Ereignissen von 1937 regten sich tiefe Zweifel.
Man muss es der Partei sagen, sonst verzeihen sie uns nicht.
Die Wahrheit sagen, sagen, dass die Partei nicht so ist, dass Millionen geschleift werden mussten, dass unser Staat nicht so ist, dass Hunderttausende auf das Schafott geschickt werden mussten.
Ideologisch ist das eine Frage der Erziehung der Kader.
Über die Formen nachdenken, damit kein Schaden entsteht.
GEN. KIRIČENKO: Es kann kein Schaden entstehen.
Es ist unmöglich, es nicht zu sagen, man muss es mit Verstand sagen. Man müsste sagen, wer [von] den Rehabilitierten … Einen Parteitagsbeschluss herbeiführen.
GEN. PONOMARENKO: Auf dem Parteitag sollte sich das ZK äußern.
Der Tod von Millionen Menschen hinterlässt eine unauslöschliche Spur. Nüchtern muss man über diese Zeit und die Rolle Stalins sprechen.
GEN. CHRUŠČEV: Es gibt Übereinstimmung, dass man dem Parteitag berichten muss. Es gab Schattierungen, [diese] berücksichtigen.
Wir alle haben mit Stalin zusammengearbeitet, aber das verbindet uns nicht. Wenn Tatsachen bekannt werden, muss man über sie sprechen, sonst rechtfertigen wir die Handlungen.
Man sollte auf der Rechnung nicht vergessen, dass wir drei Monate nach Stalins Tod Berija verhaftet haben, und damit sind wir zum Handeln frei geworden. Wir können mit ganzer Stimme [sprechen], wir können sagen:
»Wir schämen uns nicht«.
Keine Angst haben. Keine Spießbürger sein, nicht auskosten.
Ganz und gar die Rolle der einzelnen Person bloßstellen.
Das Referat dem Parteitag vortragen, alle Sekretäre des ZK einbeziehen.
Wer das Referat vortragen wird – überlegen.
Vielleicht auch auf dem Plenum des alten ZK ankündigen, dass wir [auf dem Parteitag] eine bestimmte Frage ansprechen wollen.
Dokument 3[18]
Rede des Genossen N. S. Chruščev auf dem Plenum des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei vom 20. März 1956
Meine Aufgabe ist schwierig, weil ich eigentlich nicht weiß, welche Fragen euch interessieren […]. Bei uns gab es einen Meinungsaustausch: Lohnt es sich, das Vergangene noch einmal hervorzuholen, weil sich doch die Menschen in Jahrzehnten daran gewöhnt hatten, [nur] eines zu denken, und [jetzt] sagen wir plötzlich, dass das hier nicht so sauber ist, dass das ein schmutziges Thema ist. Wir haben lange gestritten. Nach Stalins Tod haben wir zehntausende Menschen aus den Gefängnissen befreit, haben [sie] wieder in die Partei aufgenommen, wir haben unsere Freunde wieder [in die Partei] aufgenommen. […] Diese Leute waren jahrzehntelang Parteimitglieder, Bürgerkriegsteilnehmer, und wir sollen [jetzt] schweigen? Wenn wir nicht damit einverstanden wären, warum hätten wir sie denn freilassen und rehabilitieren sollen? Man hat uns gefragt: Wie nehmen sie es an? Sie können fragen: Und wo ward ihr? Ihr ward mit Stalin zusammen. Ja, wir waren es, wir haben gesehen. Also soll der Parteitag richten – sind wir des Vertrauens würdig oder nicht? Das ist wirklich eine Tragödie. Und der Schuldige ist natürlich Stalin, Stalin. Jetzt haben wir vor, einen Band mit Arbeiten von Lenin zu publizieren, Lenins Testament vor seinem Tod. Er hat alles durchschaut. Damals sagte er, Stalin ist ein vertrauensbrüchiger Mensch, der fähig ist, die Macht zu missbrauchen. Ihn darf man nicht Generalsekretär bleiben lassen, er ist grob und kann nicht mit den Genossen [zusammen] arbeiten […].
Als Stalin seine persönliche Stellung gefestigt hatte, hörte er auf, sich vor dem ZK der Partei verantwortlich zu fühlen und das Politbüro einzuberufen. Das Politbüro kam nur zusammen, wenn ihm langweilig war. Er sagte: So lange war schon wieder keine Sitzung! […]
Ich weiß nicht, wie man jetzt den Tod der Menschen am besten erklären kann. Zum Beispiel Kosiors Tod. Langjähriges Parteimitglied, Arbeiter, aber sie stellten ihn als Piłsudskis Kommandanten in der Ukraine hin […] sie haben ihn erschossen […] Postyšev – Parteimitglied seit 1903 oder 1905, Arbeiter, erlebte den Bürgerkrieg im Fernen Osten, dennoch wurde er als Volksfeind umgebracht. Ėjche – der wunderbare Lette. Rudzutak genoss unter Lenin Vertrauen, aber sie machten ihn zu einem Provokateur und erschossen ihn. Ein der Sache ergebener Mensch, ein echter Revolutionär und Bolschewik […].
Vor dem Parteitag haben wir Rodos [in die Sitzung des Präsidiums] geholt. Er hatte Kosior, Čubar’ und Postyšev verhört. Wir haben [ihn] gefragt: Was für Beweise hattet ihr, um sie zu Volksfeinden zu erklären? Und er sagt: Eigentlich hatten wir keine Beweise. Bei Čubar’s Verhaftung haben sie uns zum Beispiel gesagt – das ist ein Volksfeind. Das sagte die Partei, und meine Aufgabe als Ermittler war es, ihn dazu zu bringen, dass er gesteht und eigenhändig ein Geständnis schreibt. Er wurde geschlagen, bis er gestand.
Nehmt den Fall der [jüdischen] Ärzte […]. Ich habe die von Professor Vinogradov selbst gemachten Aussagen gelesen, dass er ein deutscher Spion ist. Die Protokolle habe ich gelesen, die Aussagen anderer Ärzte gegen ihn: Sie sagten, ich habe jemanden vergiftet, ich habe jemanden erstickt, und außer mir war Vinogradov beteiligt. Und ich, ich sage zu Stalin, das ist [doch] unglaubwürdig? Und er sagt zu mir: Was denkst du denn, die Leute gestehen es selbst! […] Das hier ist der Personenkult.
Ich habe Stalin etwas über die Krise in der Landwirtschaft gesagt. Er spitzte sofort die Ohren: Die Stalinepoche und auf einmal – eine Krise, so können nur Feinde sprechen. Er fragt Malenkov:
Beschaffen wir mehr Fleisch oder weniger? Malenkov antwortet: Mehr! Weil wir damals nicht [wie andere] sagen konnten, was ist das denn für ein Sozialismus, wenn der Mensch nicht [mal] einen Krug Milch mehr trinken kann! Ich konnte unter dem Kapitalismus, als ich Bergarbeiter war, so viel Milch trinken, wie ich wollte […]. Stalin sagt: Man muss eine Kommission bilden und die Sache untersuchen […]. Wir haben uns [in der Kommission] lange hin- und hergedreht, weil wir nicht wussten, wie den Vorschlag anbringen, wie sich durchzwängen, maskieren, damit es sowohl die [richtige] Form hat, als auch den [richtigen] Nutzen. Wir haben zusammengerechnet, dass es sechs oder sieben Milliarden Rubel braucht, das ist doch ein Kinderlallen. Aber Stalin stürzte sich [auf uns]: So gehen Volkstümler und Sozialrevolutionäre an die Sache heran, ihr kennt die Bauern nicht! Er sagt: Ich bringe meinen Vorschlag ein, die Steuern für Bauern um 40 Milliarden Rubel zu erhöhen. Als wir herausgingen, sage ich zu Mikojan: Es gibt nur eine Rettung – dass die Bauern einen Aufstand machen […]. Wenn Stalin nicht gestorben wäre, weiß ich nicht, wie das Ganze ausgegangen wäre. Denn er hatte ja gesagt, dass wir Volkstümler und Sozialrevolutionäre [wären], das heißt, Feinde.
Einige sagen: Was hättet ihr im Krieg ohne Stalin gemacht? Hättet ihr den Deutschen früher und mit weniger Blutvergießen besiegt? Ja, ich bin davon überzeugt. Und es könnte sein, dass es den Krieg überhaupt nicht gegeben hätte, dass wir eine klügere Politik gemacht hätten und [den Krieg] vermieden hätten.
Stalin war ein Revolutionär, aber er hatte eine Verfolgungsmanie, eine Spionenmanie, und in dieser Sache machte er vor nichts halt, er hat sogar seine Verwandten erschossen.
Übersetzung des Einführungstextes und der Dokumente aus dem Russischen von
Christian Teichmann (Humboldt-Universität Berlin)
[1] Siehe hierzu u. a. Crusius, Reinhard/Wilke, Manfred (Hrsg.): Entstalinisierung. Der 20. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt a. M. 1977; Naumov, Vladimir: Zur Geschichte der Geheimrede N. S. Chruščevs auf dem 20. Parteitag der KPdSU, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 1 (1997), H. 1, S. 137–178; Doklad N. S. Chruščeva o kul’te ličnosti Stalina na XX s’’ezde KPSS. Dokumenty [Referat N. S. Chruščevs über den Personenkult Stalins auf dem 20. Parteitag der KPdSU. Dokumente], Moskau 2002; Prezidium CK KPSS 1954–1964. Černovye zapisi zasedanij. Stenogrammy. Postanovlenija [Präsidium des ZK der KPdSU 1954–1964. Arbeitsprotokollnotizen der Sitzungen. Stenogramme. Beschlüsse]. Bd. 1, Moskau 2003.
[2] Fünf Tage nach dem Tod Stalins veröffentlichte die Pravda ein Foto, auf dem Stalin, Mao Tsetung und Malenkov zu sehen waren. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um eine Fotomontage, die aus einem Foto von 1950 hergestellt und damals in der Pravda publiziert worden war. Auf dem ursprünglichen Foto war eine Vielzahl sowjetischer und chinesischer Funktionäre abgebildet, wobei Malenkov relativ weit von Stalin und Mao entfernt stand. Daran entzündete sich ein Skandal, und der Chefredakteur der Pravda, Dmitrij Šepilov, musste sich im Präsidium des ZK für die gezeigte »Initiative« rechtfertigen.
[3] Notiz Chruščevs an die Mitglieder des Präsidiums des ZK der KPdSU über die Einberufung des 20. Parteitags vom 8. April 1955, in: Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii (Russisches Staatsarchiv der neueren Geschichte, im Folgenden: RGANI), f. 1, op. 2, d. 1, Bl. 7. Das Dokument ist veröffentlicht in Doklad N. S. Chruščeva (Anm. 1), S. 168.
[4] Arbeitsprotokollnotiz der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU vom 5. November 1955, in: RGANI, f. 3, op. 8, d. 388, Bl. 61 f. Das Dokument ist veröffentlich in Doklad N. S. Chruščeva (Anm. 1), S. 169 f.
[5] Arbeitsprotokollnotiz der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU vom 1. Februar 1956, in: RGANI, f. 3, op. 8, d. 389, Bl. 52–54. Siehe die Übersetzung des Dokuments im Anhang (Dokument 1).
[6] Brief des Sekretärs der Kommunistischen Partei Norwegens Emil Løvlien an das ZK der KPdSU über die Notwendigkeit, die norwegische Parteiführung mit dem Text der Geheimrede Chruščevs bekannt zu machen, in: RGANI f. 5, op. 28, d. 381, Bl. 95–97. Das Dokument ist veröffentlicht in Doklad N. S. Chruščeva (Anm. 1), S. 642–644.
[7] Der Führer der polnischen Kommunisten, Bolesław Bierut, starb kurz nach dem Ende des 20. Parteitags am 12. März in Moskau, was einerseits die polnische Opposition um die Möglichkeit brachte, den »Personenkult Bieruts« auszuspielen, aber andererseits die Führung der polnischen KP in einen Schockzustand versetzte, der zu den ohnehin erschütternden Nachrichten der Rede Chruščevs hinzukam. Chruščev, der sich nach Warschau aufgemacht hatte, um Bierut das letzte Geleit zu geben, sprach am 20. März 1956 auf dem Plenum der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, wo er zum ersten Mal nach dem Parteitag offiziell die Notwendigkeit der »Geheimrede« zu begründen versuchte. Auszüge dieser Rede siehe Dokument 3.
[8] Zwei Monate nach Chruščevs Rede, am 25. April 1956, sagte Mao Tse-tung, »dass kürzlich gewisse Mängel und Fehler der Sowjetunion ans Tageslicht gekommen sind, die im Laufe ihres Aufbaus des Sozialismus auftraten.« Mao kommentierte: »Wollt ihr ihren Umwegen folgen? Dadurch, dass wir Lehren aus ihren Erfahrungen gezogen haben, konnten wir früher bestimmte Umwege vermeiden. Wir haben allen Grund, jetzt erst recht so zu verfahren.« Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe. : Über die zehn wichtigsten Beziehungen, in: Ausgewählte Werke, Peking 1978, Bd. 5, 320–346, S. 320.
[9] RGANI f. 3. op. 8, d. 389, Bl. 52–54. Das Dokument ist veröffentlicht in Doklad N. S. Chruščeva (Anm. 1), 175–177 u. Artizov, A. u. a. (Hrsg.): Reabilitacija: Kak ėto bylo. Dokymenty Prezidiuma ZK KPSS i drugie materialy. Mart 1953–fevral’ 1956 [Rehabilitierung: Wie das war. Dokument des Präsidiums des ZK der KPdSU und andere Materialien. März 1953 bis Februar 1956], Moskau 2000, S. 308 f.
[10] Boris V. Rodos (1905 bis 1956), ehemaliger stellvertretender Leiter der Ermittlungsabteilung des NKVD/NKGB für außerordentliche Aufgaben. In dieser Funktion hatte er persönlich an den Verhören ranghoher Parteimitglieder teilgenommen. 1956 wurde er vom Militärkollegium des Obersten Gerichts zum Tod durch Erschießen verurteilt. Rodos war auf dieser Präsidiumssitzung anwesend. Seine Aussagen wurden in einem Extraprotokoll aufgezeichnet.
[11] Chruščev war der Ansicht, dass der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš Stalin Informationen über angebliche Verbindungen Michail Tuchačevskijs zu deutschen Geheimdiensten gegeben hatte, die Beneš von der deutschen Abwehr zugespielt worden waren. Der Brief von Beneš ist bisher nicht gefunden worden.
[12] Boris Aleksandrovič Dvinskij (1894 bis 1973) war ZK-Mitglied von 1939 bis 1950. Dvinskij gehörte in den 30er Jahren – als Mitarbeiter der Geheimabteilung des ZK – zur unmittelbaren Umgebung Stalins und diente ihm als Sekretär.
[13] RGANI f. 3, op. 8, d. 389, Bl. 56–62 verso. Das Dokument ist auf Russisch veröffentlicht in Doklad N. S. Chruščeva (Anm. 1), S. 234–237 u. Artizov: Reabilitacija (Anm. 9), S. 349–351.
[14] Gemeint ist ein Diktat Lenins vom Dezember 1922. Lenin, W. I.: Brief an den Parteitag, in: ders.: Werke, Berlin 1962, Bd. 36, S. 577–580.
[15] Dieser Text stammt vom Januar 1923. Ders.: Zur Frage der Nationalitäten oder der »Autonomisierung«, in: ebenda, S. 590–596.
[16] Michail Kaganovič entzog sich seiner Verhaftung durch Selbstmord.
[17] Aleksandr Svanidze, Stalins Schwager, war bis zu seiner Verhaftung im Dezember 1937 stellvertretender Direktor der Staatsbank. Er wurde am 20. August 1941 erschossen. Detaillierte
Darstellung in: Sebag Montefiore, Simon: Stalin. The Court of the Red Tsar. London 2003, S. 275 f. u. 389 f.
[18] RGANI, f. 52, op. 1, d. 502, Bl. 39–83, zitiert nach Izvestija vom 13. Februar 2006.