JHK 2006

Leben und Sterben unter Stalin oder warum Historiker Biografien schreiben müssen

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 379-392 | Aufbau Verlag

Autor/in: Jörg Baberowski

Service, Robert: Stalin. A Biography, London: Macmillan 2004, XI S.+715 S.,  ISBN 0-333-72672-8

 

Sebag Montefiore, Simon: Stalin. Am Hof des roten Zaren, Frankfurt am Main: S. Fischer 2005, 874 S., ISBN 3-10-050607-3

 

Overy, Richard, Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Russland, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2005, 1023 S., ISBN 3-421-05466-5

 

Im Sommer und Herbst 1918 hielt sich Stalin in Caricyn auf, dem späteren Stalingrad. Er war im Auftrag des Zentralkomitees in die Region entsandt worden, um die Versorgung der Roten Armee mit Lebensmitteln zu organisieren. Der Kommandeur der bolschewistischen Truppen im Nordkaukasus, der frühere zarische General Andrej Snesarev, sollte ihn bei der Erledigung dieser Aufgabe unterstützen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Caricyn vergaß Stalin bereits, was die Zentrale in Moskau ihm aufgetragen hatte. Er mischte sich in Fragen der militärischen Führung ein, er ließ General Snesarev und dutzende ehemaliger zarischer Offiziere als vermeintliche Verräter verhaften und auf einem Wolgaschiff einsperren, das er mitsamt den Gefangenen im Fluss versenken lassen wollte. Nur eine Intervention aus Moskau rettete die Offiziere vor dem Tod. Und auch die Bauern bekamen die Gewalt des jungen Stalin zu spüren, als er »zur Abschreckung« Dörfer niederbrennen ließ. Im Mai 1919 wurde er an die Westfront abkommandiert, wo er ebenfalls Furcht und Schrecken verbreitete. Er habe Abweichler und Verräter verhaften und öffentlich erschießen lassen, so teilte Stalin dem Zentralkomitee in einem Brief mit.[1] Stalin gefiel es, Gewalt auszuüben, es machte ihm Freude, Terror gegen jedermann zu entfachen. Nur als Herr über Leben und Tod war er ein glücklicher Mensch.

Warum geht uns diese Geschichte etwas an? Weil wir eine Antwort auf die Frage, was der Stalinismus war, nur bekommen werden, wenn wir wissen, wie Stalin als Mensch gewesen ist. Denn niemand wird heute noch in Abrede stellen wollen, was in der Geschichtsschreibung über die Sowjetunion vor 15 Jahren noch bestritten werden konnte: dass es ohne Stalin keinen Stalinismus gegeben hätte. Wenn es noch einen Zweifel gab, dass Stalin der Urheber der monströsen Gewaltexzesse war, so wurde er nach Öffnung der sowjetischen Archive zu Beginn der 1990er Jahre endgültig zerstreut.[2] 

Was aber ist über den Diktator noch zu sagen, was nicht schon tausendfach gesagt worden ist, in zahlreichen Aufsätzen, Essays und Büchern über die Gewaltherrschaft, die die Historiker Stalinismus nennen? Und warum sollen wir uns mit Stalin überhaupt beschäftigen? Die Antwort ist einfach und eindeutig. Wir werden, wenn wir uns Stalin und seinen Helfern als Menschen zuwenden, die Rationalität der destruktiven Gewalt besser als bisher verstehen. Denn sie liegt immer noch im Verborgenen. Warum? Weil die Historiker stets an der wichtigsten Frage vorbei gesehen haben: wie verschiedene Menschen beschaffen sind und wie sie in der Kommunikation mit anderen Menschen eine Welt errichten, in der sie sich zu Hause fühlen. Zu zeigen, wie der individuelle Mensch als Schöpfer und Geschöpf seiner Umgebung gewesen ist, das ist die eigentliche Aufgabe des Historikers, denn wir wollen nicht wissen, wie die Welt ist, sondern wie sie von den historischen Menschen gesehen wurde. Allein auf diese Weise werden wir verstehen, wer Stalin und was der Stalinismus war. Die Historiker haben stattdessen von Strukturen gesprochen, von der Allmacht bürokratischer Apparate und Ideologien, wenn sie ihre Leser über den totalitären Charakter des bolschewistischen Regimes aufklären wollten. Im »Jahrhundert der Ideologien« (Karl-Dietrich Bracher) wurden Menschen von Apparaten regiert und als Individuen ausgelöscht. Aber wer regierte in diesen Apparaten und wie konnte es geschehen, dass der exzessive Terror mit dem Tod des Diktators zu einem Ende kam? Darauf hatten weder die Ideologiehistoriker noch die so genannten Revisionisten eine Antwort. Letztere konfrontierten in den 1980er und 1990er Jahren ihre Leser mit der Entdeckung, die Exzesse der Stalin-Ära seien ein Resultat ungesteuerter und unkontrollierbarer Konflikte zwischen konkurrierenden Behörden und sozialen Gruppen gewesen. J. Arch Getty sprach davon, die Parteiführung habe die Sicherheitsorgane noch 1937, im ersten Jahr des Großen Terrors, ermahnen müssen, dass Exzesse nicht erlaubt seien. Wo sie dennoch vorgekommen seien, müsse man sie dem Eifer lokaler Parteisekretäre zuschreiben.[3] 

Hier wie dort erlagen die Historiker aber vor allem den Selbstinszenierungen des Regimes. Über das Leben, das sich hinter diesen monolithischen Fassaden verbarg, hatten sie nichts mitzuteilen. Und weil sich natürlich auch die politischen Führer in der Öffentlichkeit über die Welt stets nur im Stil der staatlichen Propaganda auszudrücken wussten, erfuhr man über sie auch nicht mehr, als dass sie im Meinungsdienst einer Ideologie standen.[4] Es gibt aber weder einen »Marxismus« noch einen »Kommunismus«, der aus den Texten unvermittelt zu uns spricht. Darin aber, dass Menschen verschieden sind, dass sie unterschiedlichen Milieus und Kulturen angehören, nehmen Ideen in ihren Köpfen unterschiedliche Gestalt an. Aber die bolschewistischen Führer produzierten nicht nur Ideen. Sie waren Männer, sie pflegten Freundschaften, sie hassten und sie liebten, sie hatten Neurosen und sie waren Gewalttäter. Wir werden die gewalttätigen Exzesse im Jahrhundert der Ideologien nicht verstehen, wenn wir nicht verstanden haben, wie Stalin und seine Gefolgsleute als Menschen gewesen sind. 

Seit der Öffnung der sowjetischen Archive in den frühen 1990er Jahren sind ungezählte wissenschaftliche Abhandlungen, Memoiren und Quellendokumentationen über Stalin und den Stalinismus in englischer, deutscher und russischer Sprache erschienen, die uns die Sowjetunion der Stalin-Ära in anderem Licht gezeigt haben.[5] Und auch über Stalin sind in den letzten Jahren mehrere Bücher geschrieben worden, die auf verschiedene Weise versucht haben, auf alte Fragen neue Antworten zu geben.[6]

Wenngleich auch Robert Service,[7] Historiker am St. Anthony’s College in Oxford, in Stalin. A Biography keine Sensationen über das Leben Stalins mitteilt, die uns dazu veranlassen müssten, alle früher gewonnen Urteile zu revidieren, so führt seine Biografie doch vor, welche Geschichten noch über den Diktator erzählt werden können. Service interessiert vor allem, wie Stalin als Politiker gewesen ist, wie es ihm gelang, die Macht nicht nur zu erwerben, sondern auch zu behalten und welche gesellschaftlichen Umstände seinen Aufstieg ermöglichten. Vieles, was über den Diktator zusammengetragen werden könnte, wird nicht erzählt. Dafür ist der Leser dankbar, denn er bekommt eine Geschichte präsentiert, die ihn in das politische Geschehen der Stalin-Zeit versetzt und ihn über die historische Forschung über Stalin und den Stalinismus informiert. Service erzählt manches Bekannte so, dass man es gern noch einmal liest, vor allem dort, wo er die Ereignisse in anderem Licht zeigt, als es die Historiker vor ihm getan haben. Das gilt vor allem für die Darstellung des jungen Stalin, von dem es doch stets hieß, er sei ein ungebildeter Barbar gewesen, der von den intellektuellen Bolschewiki für seine Ignoranz verachtet worden sei. Man erfährt, dass der junge Stalin im Priesterseminar Griechisch und Russisch lernte, dass er eine fundierte theologische Ausbildung erhielt und dass er ein Kenner der georgischen Dichtkunst war. Stalin versuchte sich selbst als Dichter und er stand, wie viele intellektuelle Autodidakten im Kaukasus, im Kontakt mit den geistigen Lichtgestalten der nationalen Emanzipationsbewegung. 

Wie Stalin zu den Bolschewiki kam, das kann auch Service nicht zufrieden stellend beantworten, aber er widerlegt all jene, die behaupteten, der zukünftige Diktator sei vor der Revolution eine unbedeutende Randfigur in der bolschewistischen Partei gewesen. Im Gegenteil: Service zeigt, dass Stalin zu den wichtigsten Aktivisten der revolutionären Bewegung im Kaukasus gehörte. Sowohl in Tiflis und Batumi als auch in Baku übernahm er wichtige Funktionen in der Untergrundorganisation der Bolschewiki. Deshalb wurde Lenin bereits früh auf den jungen Revolutionär aus dem Kaukasus aufmerksam, 1905 sah er ihn zum ersten Mal in Finnland, er traf ihn später wieder in Krakau, und er beauftragte Stalin damit, eine Abhandlung über die nationale Frage im Zarenreich zu schreiben. 1912 bestand er darauf, dass Stalin, der in Sibirien in der Verbannung lebte, in das Zentralkomitee kooptiert wurde. 

Stalin strahlte aus, was Lenin und den Seinen fehlte. Er kam vom Rand des Imperiums, er war ein Mann von proletarischem Aussehen und mit proletarischem Benehmen, jemand, der über die Gewalt der revolutionären Massen nicht nur schreiben konnte, sondern der sie auch auszuüben verstand. Insgeheim aber verachtete Lenin den Mann von der Peripherie, der in seiner Gegenwart fluchte, Alkohol trank, rauchte und sich nicht auf angemessene Weise auszudrücken verstand.

Er habe, so Service, Stalin für einen ungebildeten »Asiaten« gehalten. (S. 191 f.) 

Stalin litt nicht an Minderwertigkeitsgefühlen. Er hielt sich im Gegenteil für berufen, zu tun, wozu die Salonsozialisten in der Emigration nicht imstande waren. Service erzählt von einem Stalin, der überhaupt nicht daran dachte, sich als Kopie des Revolutionsführers zu repräsentieren, wie Robert Tucker in seiner Biografie Stalins behauptet hatte.[8] Stalin wollte kein zweiter Lenin werden, er wollte sich ihm nicht einmal unterordnen. Wenn er anderer Meinung war, dann widersetzte er sich ihm. Lenin hielt an Stalin nur fest, weil er dessen Rücksichtslosigkeit und Organisationstalent schätzte und nicht, weil dieser sich in Verstellung übte und sich ihm bedingungslos unterwarf. 

In den älteren Biografien konnte man lesen, Stalin habe an der Überwindung seiner Herkunft gearbeitet, er habe sich als Russe neu entwerfen und sich assimilieren wollen. Wer genau hinschaut, wird jedoch erkennen, dass Stalin keineswegs an seiner Selbstüberwindung arbeitete. Seine Herkunft war sichtbar: in der Physiognomie und im Habitus. Und wenn Stalin Russisch sprach, dann konnte man auch hören, woher er kam. Service erzählt von einem Stalin, der sich zu seiner georgischen Herkunft bekannte und sich in der Partei auch nach Lenins Tod als Mann der Peripherie repräsentierte. Hätte Stalin ein Russe werden wollen – er hätte aufgehört, über die nationale Frage zu sprechen und zu schreiben. (S. 85)

Stalins Aufstieg zum Alleinherrscher schreibt Service dem Zufall zu. Nach Lenins Tod hätten sich die Konkurrenten im Politbüro gegenseitig blockiert, und weil sie den Schein wahren mussten und deshalb die Einheit der Partei öffentlich nicht in Frage stellen durften, sei es Stalin gelungen, im Amt zu bleiben und seine Widersacher gegeneinander auszuspielen. Zinov’ev, Kamenev und Trockij wären allerdings im Einsatz perfider Methoden nicht weniger skrupellos als Stalin gewesen. Aber sie unterlagen, weil Stalin es verstand, sich von den Ereignissen treiben zu lassen. Stalin war demnach nicht Herr der Umstände, sondern ihr Profiteur.

Im zweiten Teil der Biografie, die Stalin an der Macht zeigt, beruft sich Service nicht mehr auf das Archiv, sondern auf die Erinnerungen der Stalinschen Helfer: auf Chruščev, Mikojan, Molotov, Kaganovič, auf den Sohn Berijas, Sergo, und, wo er Stalins Rolle während des Zweiten Weltkrieges beschreibt, auf Žukov. In diesen Rechtfertigungsschriften aber tritt uns Stalin entweder als Dämon (Chruščev), als Freund und weiser Führer (Molotov, Kaganovič) oder als verständiger Kriegsherr (Žukov) entgegen, der sich dem Rat kompetenter Generäle nicht verschloss. (S. 439–448) Da aber auch alle anderen Biographen vor Service diesen Erinnerungen den Wert einer Wahrheitsquelle zugeschrieben haben, kommt die Erzählung im zweiten Teil des Buches über die bekannten Interpretationen nicht hinaus. 

Stalin war aber weder ein treuer Freund noch ein verständiger Kriegsherr, auch wenn der Sieg über Deutschland eine solche Interpretation ex post plausibel erscheinen lässt. Vor allem aber entwickelt Service kein Gespür für die Bedeutung der Gewalt im Leben und in der Herrschaftspraxis Stalins. Denn Stalin war ein Gewalttäter, der keine Skrupel hatte, beim geringsten Anlass Menschen töten zu lassen. Schon während des Bürgerkrieges verbreitete er Furcht und Schrecken. Wo er Möglichkeiten erkannte, Gewalt auszuüben, löste sich der Terror rasch von den Anlässen. Stalin war, wenn er Gewalt ausüben durfte, ganz bei sich, er schien dann überhaupt zu vergessen, welchem Zweck diese Gewalt diente. Service erzählt von dieser Prädisposition nur auf wenigen Seiten, im zweiten Teil der Biografie aber erwähnt er sie überhaupt nicht mehr. Wie aber lassen sich die Deportation und Ermordung der Kulaken und die Inszenierung surrealer Schauprozesse verstehen, wie kann man dann die Ereignisse der Jahre 1937/38 erklären, wenn man nichts über Stalins Verständnis von der Gewalt erfährt? 

Service erklärt die Gewaltexzesse mit dem Hinweis auf das kulturelle Milieu, in dem der Diktator aufwuchs. Er behauptet, Stalin habe sich mit dem Zaren Ivan IV. identifiziert und sei überzeugt gewesen, von Feinden umgeben zu sein, die im Inland und im Ausland an der Destruktion der Sowjetunion arbeiteten. (S. 299–309 u. 336–345). Aber ist mit solchen Hinweisen wirklich alles über die Ursachen der Gewaltexzesse gesagt? Niemand wird bestreiten, dass Stalin von der Existenz innerer und äußerer Feinde überzeugt war. Aber warum zog er daraus den Schluss, mehrere Millionen Menschen müssten getötet oder deportiert werden? Wer diese Frage mit dem Hinweis beantwortet, Stalin sei ideologisch verblendet gewesen, verwechselt die Ursache der Gewalt mit ihrer Rechtfertigung. Denn die Täter, mit denen Stalin sich umgab, waren Techniker der

Gewalt, keine Ideologen, denen die heiligen Texte wirklich etwas bedeuteten.[9]

Vom Leben und vom Milieu, in dem sich Stalin und seine Gefolgsleute bewegten, spricht das Buch Stalin. Am Hof des roten Zaren des britischen Journalisten Simon Sebag Montefiore, das allen Darstellungen, die von professionellen Historikern über den Stalinismus verfasst worden sind, schon darin überlegen ist, das es in einer schönen Sprache auftritt. Aber das Buch vermag auch Neues mitzuteilen. Es präsentiert Stalin und seine Paladine nicht nur als Urheber des Massenterrors und der Gewalt, sondern zeigt sie auch als lebendige Menschen, die sich über das, was sie anderen antaten, verständigten, die einander Briefe schrieben, miteinander aßen und tranken und gemeinsam den Urlaub verbrachten.

Eine solche Alltagsgeschichte des Stalinschen Hofes hätte vor zehn Jahren noch nicht erzählt werden können. Seit dem Ende der 1990er Jahre wurden die persönlichen Archive Stalins und seiner Gefolgsleute Kaganovič, Molotov, Vorošilov, Ordžonikidze, Kirov, Malenkov, Mikojan und Andreev für die wissenschaftliche Öffentlichkeit zugänglich. Von unschätzbarem Wert sind auch die Interviews, die Sebag Montefiore mit den Nachkommen der »Magnaten« – wie Sebag Montefiore die Mitglieder der Hofkamarilla nennt – und den wenigen Überlebenden, die Stalin noch gekannt haben, führen konnte. Und natürlich stehen dafür auch die unveröffentlichten Tagebücher und Aufzeichnungen der georgischen Freunde Stalins, Tscharkwiani und Kavtaradze, die Tagebücher von Marschall Budennyj und von Maria Svanidses, die das Milieu und die Atmosphäre am Hof des Despoten erhellen.

Sebag Montefiore portraitiert Stalin nicht nur als Politiker, sondern auch als Vater und Ehemann, als Liebhaber, als Gastgeber und Urlauber. Man mag es kaum glauben: aber Stalin liebte seine Frau Nadja, seine Söhne Vasilij und Jakov und seine Tochter Svetlana, er mochte die Kinder seiner Gefolgsleute, mit denen er spielte, er pflegte Freundschaften, und er konnte, wenn er gut aufgelegt war, ein liebenswürdiger und charmanter Unterhalter sein. Davon haben nicht zuletzt auch manche ausländische Besucher berichtet, die sich nicht erklären konnten, wie ein Mensch, der ihnen freundlich erschien, zugleich ein Mörder und Verbrecher sein konnte. Die Ehefrau Kavtaradses, eines Jugendfreundes von Stalin, erinnerte sich an einen Besuch des Diktators in ihrer Wohnung 1939, kurz nachdem sie und ihr Ehemann aus dem Lager entlassen worden waren. Sie berichtet, dass Stalin Delikatessen aus einem georgischen Feinschmeckerrestaurant kommen ließ und georgische Lieder sang. Stalin hatte sie und ihren Ehemann einsperren und foltern, ihren Schwager töten lassen. Und jetzt saß er in ihrer Wohnung und sang in einem »lieblichen Tenor« georgische Lieder. »Er sang so schön.« (S. 365)

Stalin sang nicht nur schön, er war auch misstrauisch und gewalttätig, er litt an Verfolgungswahn, und er hatte keine Skrupel, selbst Menschen aus seiner Umgebung zu verstoßen und ermorden zu lassen. Nicht einmal die engsten Verwandten waren vor der Rachsucht und dem Misstrauen des Despoten sicher. Robert Tucker hat in seiner Stalin-Biografie davon gesprochen, der Diktator sei psychisch krank gewesen, habe unter den Schlägen des Vaters gelitten und deshalb Minderwertigkeitsgefühle kompensieren müssen. So aber spricht nur, wer die Welt nicht versteht, aus der Stalin und seine Gefolgsleute kamen und in der sie sich bewegten.[10] Stalins kleine Welt bestand aus Freunden, die sich auf Gedeih und Verderb die Treue hielten. In einem politischen System, das durch persönliche Beziehungen strukturiert und durch Freundschaften stabilisiert wurde, kam es darauf an, dass die politischen Führer einander vertrauten und sich aufeinander verlassen konnten. Zu den Freunden gehörte, wer in der Nähe des Diktators lebte und jederzeit Zugang zu ihm erhielt. Sebag Montefiore beschreibt die Nähe zwischen Stalin und den Magnaten, die Tür an Tür auf dem Gelände des Kremls wohnten und die ihre freie Zeit miteinander verbrachten. Nach dem Krieg, als das Zentralkomitee und das Politbüro schon nicht mehr zu regulären Sitzungen zusammentraten, gehörte zum engsten Führungskreis, wer eingeladen wurde, mit Stalin Filme im Kremlkino anzusehen, an Stalins Tafel zu speisen und mit ihm in den Urlaub zu fahren. Man könnte auch sagen, dass Stalin seine Vorstellung von Freundschaft und Ehre, wie er sie aus seiner georgischen Heimat kannte, zum Regierungsprinzip erhob. Davon sprechen nicht zuletzt die Photographien, die den Text des Buches wundervoll illustrieren und das Gesagte bekräftigen. Wer genau hinsieht, wird auf ihnen die für den westlichen Kosmos ganz untypische körperliche Nähe zwischen den Männern aus dem inneren Kreis der Macht bemerken. Stalins Autorität zeigt sich auf diesen Fotos in einer ungewohnten Körpersprache, die über die politische Kultur der Bolschewiki mehr verrät als manche Texte, die uns die führenden Kommunisten hinterlassen haben.

Die Nähe zum Diktator konnte aber auch tödlich sein, denn wo politische Entscheidungen von der persönlichen Loyalität der Gefolgsleute abhingen, kam es darauf an, sich der gegenseitigen Freundschaft stets neu zu versichern. Nur am Hof waren die Magnaten unter der Kontrolle des Diktators, hier konnten sie gegeneinander ausgespielt, bespitzelt und überwacht werden. Stalin stellte sie auf die Probe. Er ließ ihre Ehefrauen verhaften, wie es Kalinin und Molotov widerfuhr, er ließ die Brüder seiner engsten Freunde, Kaganovič, Ordžonikidze und Mikojan, erschießen, um herauszufinden, ob sie ihrer Freundschaft zum Diktator Freunde und Verwandte zu opfern bereit waren. Während der Kollektivierung und auf dem Höhepunkt des Großen Terrors entsandte Stalin die Gefolgsleute in die Provinz, um Bauern deportieren und scheinbar illoyale Kommunisten und ihre Gefolgschaften töten zu lassen. Stalins Arm reichte in alle Regionen der Sowjetunion, und es gab keine bürokratischen Prozeduren, die ihn an seinem Werk der Zerstörung hätten hindern können. Beklemmend sind die Briefe des Politbüromitglieds Andrej Andreev, aus denen Sebag Montefiore zitiert. Aus Voronež schickte er Stalin ein Telegramm, in dem er stolz verkündete: »Hier existiert kein Büro mehr. Alle Kader sind als Volksfeinde verhaftet. Jetzt weiter nach Rostov«. Während Menschen starben und manche Kommunisten vor Angst vergingen, schickte Andreev seiner Familie Ansichtskarten aus den Regionen, in denen er gerade sein blutiges Handwerk betrieb. (S. 290) 

Gewalttaten waren Treuebeweise. Als Anastas Mikojan Zweifel an der Schuld von Verhafteten äußerte, beauftrage Stalin ihn damit, die Führung der Kommunistischen Partei Armeniens nach Volksfeinden abzusuchen. Mikojan reiste nach Armenien und richtete unter Aufsicht Lavrentij Berijas, den Stalin als Aufpasser entsandt hatte, ein Massaker unter den armenischen Kommunisten an. Danach konnte Stalin sich wieder auf seinen Gefolgsmann verlassen.

Wo Stalin Illoyalität und Verrat witterte, starben nicht nur jene, die in Ungnade gefallen waren, sondern auch ihre Verwandten und Vertrauten. Es lag in der Logik des Klientelwesens und des Patronagesystems, dass Machtstrukturen nur zerstört werden konnten, wenn die Personenverbände zerschlagen wurden, die sie konstituierten. In Stalins Welt konnte nur überleben, wer sich den Regeln unterwarf, die in ihr galten. Aus diesem Teufelskreis scheinen die Gefolgsleute erst in den letzten Lebensjahren des Diktators ausgebrochen zu sein, als Stalin ihnen allen nach dem Leben trachtete. Als Molotov und Mikojan in Ungnade fielen, Berija in Verdacht geriet, überwanden die Höflinge ihre gegenseitige Feindschaft und das Misstrauen. Möglicherweise waren die letzten Lebensjahre Stalins der Anfang jener kollektiven Führung, wie sie die Nachfolger des Despoten bis zum Ende der Sowjetunion pflegten.[11]

Stalin und seine Gefolgsleute lebten in einer Symbiose, in einem hermetisch abgeriegelten Raum, zu dem Fremde keinen Zutritt bekamen, aus dem sich die Mitglieder dieses inneren Kreises der Macht aber auch selbst nicht hinausbegaben. So errichteten sie sich eine Welt mit Bedeutungen, die ihnen zur Wirklichkeit wurden und der sie nicht mehr entkamen. Was uns als paranoid oder absurd erscheinen mag, war im Horizont Stalins und seines Hofes normal. Alle Höflinge mussten sich dem Arbeitsrhythmus des Diktators unterwerfen, der erst am frühen Morgen zu Bett ging und mittags aufstand. Erst wenn Stalins Sekretär Poskrebyšev das Signal gegeben hatte, dass Stalin nun nicht mehr anrufen werde und sich schlafen gelegt habe, durften auch die Mitglieder der Führung und die Minister ins Bett gehen. Alle Mitglieder des Hofes lebten auf Abruf, sie ruinierten ihre Gesundheit, sie übten sich im Überlebenstraining, und sie konnten unter diesen Umständen von der Welt, in der die anderen lebten, nur wenig noch in Erfahrung bringen. Darin mag nicht zuletzt die groteske Realitätsverweigerung begründet liegen, die das späte Stalin-System auszeichnete. Sebag Montefiore zitiert aus den Erinnerungen von Milovan Đilas, der während einer Kinoaufführung beobachtete, dass Stalin das Geschehen auf der Leinwand, es handelte sich um einen amerikanischen Western, wie ein Kind kommentierte, das den Unterschied zwischen Fiktion und Realität nicht zu erkennen vermochte.

Sebag Montefiore zeigt uns Stalin und seine Höflinge auch als Gewalttäter. Stalin trug militärische Kleidung, er besaß einen Revolver und wurde von Leibwächtern bewacht, die den Machokult der Gewalt pflegten. Lazar Kaganovič und Sergo Ordžonikidze schlugen ihre Untergebenen, die Chefs des NKVD, Nikolaj Ežov, Lavrentij Berija und ihre Helfer: Frinovskij, Berman, Kobulov, Cereteli und Abakumov folterten ihre Opfer selbst, brachen ihnen die Knochen oder töteten sie mit Genickschüssen. Unvorstellbar, dass Reinhard Heydrich, Heinrich Himmler oder Adolf Eichmann in die Gestapokeller hinabgestiegen wären, um zu foltern und zu töten. Stalin aber umgab sich nur mit solchen Männern, denen die Hand nicht zitterte und die, wenn es darauf ankam, kaltblütig zu morden verstanden. Als Berija nach dem Sturz Ežovs dessen Gefolgsleute zu töten begann, legte Stalin seine schützende Hand über den Henker Blochin, der in der Lubjanka für die Ermordung der Todeskandidaten verantwortlich war. Blochin war es auch, der 1940 mit seinen Gehilfen an mehreren Abenden tausende polnischer Offiziere erschoss, die dann im Wald von Katyn verscharrt wurden. Stalin schätzte diese Arbeit, und so kam es, dass Blochin sein Handwerk auch unter Berija fortsetzen konnte. 

Nach der Hinrichtung Zinov’evs und Kamenevs 1936 trafen sich Stalin und seine Freunde zu einem Gelage, in dessen Verlauf der Chef der Stalinschen Leibwache, der ungarische Friseur Karl Pauker, davon erzählte, wie Zinov’ev auf Knien um sein Leben gefleht habe. Stalins Höflinge waren amüsiert. Stalin selbst konnte nicht aufhören zu lachen, so sehr gefiel ihm die Parodie, und er musste Pauker bitten, aufzuhören, um nicht an einem Lachanfall zu ersticken. Stalin liebte die Gewalt und wer die persönlichen Papiere der Satrapen in den Archiven gesehen und ihre Sprache vernommen hat, versteht, wie am Hof Stalins gesprochen werden musste. Der Stalinismus war Repräsentation gewordene Gewalt.

Nicht einmal im Krieg mochte Stalin davon absehen, Krisen durch den Einsatz brutaler Gewalt zu beheben. Während des finnisch-sowjetischen Winterkrieges 1939/40 entsandte er den Chef der politischen Verwaltung der Roten Armee und militärischen Laien, Lev Mechlis, an die Front. Er wusste den Offizieren keinen militärischen Rat zu geben. Er ließ sie stattdessen erschießen, wo sich ihm keine Erfolge zeigten. So verfuhr Stalin auch nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion. Die Dokumente aus dem Archiv des Verteidigungsministeriums, aus denen Sebag Montefiore zitiert, belegen, dass Stalin auch jetzt der Gewalt den Vorzug gegenüber anderen Lösungen gab. Generäle und Offiziere wurden getötet, Familienmitglieder von gefangenen Sowjetsoldaten als Geiseln genommen und bis zum Ende des Jahres 1941 mehr als 150 000 Soldaten als vermeintliche Deserteure und Feiglinge erschossen. Niemand wird jetzt noch vom gelehrigen Schüler sprechen können, der dem Urteil seiner Generäle vertraute.

Auch über Stalins Herkunft hat Sebag Montefiore mehr zu sagen als die professionellen Historiker, die diese Seite Stalins entweder für bedeutungslos gehalten oder ignoriert haben. Stalin war stolz auf seine Herkunft, er trank georgischen Wein, aß georgische Speisen und sang Lieder aus seiner Heimat. An seiner Tafel mussten die Kaukasier Ordžonikdze und Mikojan die Funktion des Tamada übernehmen, der Trinksprüche auszubringen hat. Stalin und Mikojan tanzten zu den Klängen georgischer Volksmusik, und wenn Stalin, umgeben von georgischen Leibwächtern, nach Abchasien in den Urlaub fuhr, lud er Freunde aus seiner Heimat in sein Landhaus ein, damit sie mit ihm die Ferien verbrachten: Lakoba, Tscharkwiani und Mgeladse, die Parteichefs von Georgien und Abchasien, und andere, die auf georgische Weise zu feiern und zu singen verstanden und die dem Diktator jeden Wunsch von den Lippen ablasen. 

Stalin teilte die konservativen Auffassungen des georgischen Milieus, in dem er aufgewachsen war. Frauen sollten keine »Ideen« haben, scheu sein, ihre Körper bedecken und sich den Männern unterordnen. Stalin achtete darauf, dass keiner der Günstlinge am Hof gegen die patriarchalischen Familientraditionen verstieß. Die Frau seines Sohnes Jakov fütterte Stalin mit der Gabel, wie es die Patriarchen in georgischen Dörfern tun, wenn sie der Schwiegertochter ihre Zuneigung zeigen, er gab den Kindern der Höflinge Wein aus Fingerhüten zu trinken und kritisierte Gefolgsleute, die ihren Eltern nicht den gebührenden Respekt entgegenbrachten. Das System der Freundschaft, der Ehre, der Männerbünde und der Blutrache – all das kam aus Stalins Heimat. Sebag Montefiore sagt, dass am Ende der 1930er Jahre, mit der Ankunft Berijas, der Hof Stalins eine kaukasische Färbung angenommen habe. 

Stalin pflegte Ressentiments gegen ethnische Gruppen, gegen Ukrainer, Polen, Juden und Muslime. Während des finnisch-sowjetischen Krieges fand Stalin einmal eine eigenwillige Erklärung für das Versagen seiner Armee: in ihr dienten zu viele Ukrainer, deshalb gebe es Niederlagen. Die Ethnisierung der Sowjetunion verkörperte sich in Stalin, der nicht verschwieg, dass er vom Rand des Vielvölkerreiches kam.

Jeder, der über Stalin schreibt, spricht von der Ideologie, Sebag Montefiore nicht. Zwar stößt der Leser an zwei Stellen des Buches auf die Behauptung, Stalin sei ein fanatischer Marxist gewesen, aber dann taucht dieser Bezug überhaupt nicht mehr auf. Nirgendwo, wo Sebag Montefiore von der Gewalt und den Beziehungen zwischen den Höflingen spricht, ist überhaupt vom Marxismus die Rede. Die Gefolgsleute unterhielten sich nicht über den Kommunismus und die Auslegung der Klassiker. Sie lösten Probleme, und in den meisten Fällen taten sie es mit Gewalt. Aber niemand braucht, um dies zu tun, einen Verweis auf die heiligen Schriften. Sebag Montefiore beschreibt die Gewalt, und er kommt dabei ohne einen Hinweis auf die Ideologie aus. Und man versteht, wenn man seine Geschichten liest, warum man solch einen Hinweis nicht braucht. Wer Stalin und den Stalinismus verstehen will, wird in den kanonischen Texten nichts finden, was ihm die Gewalt erklärt. Wer verstehen will, muss sich über die Kultur und das Milieu der Täter Klarheit verschaffen. Darin, dass es uns mit diesem Milieu vertraut macht, hat Sebag Montefiore der Stalinismus-Forschung einen unschätzbaren Dienst erwiesen. 

Richard Overys Buch Die Diktatoren, das der Autor besser »Die Diktaturen« genannt hätte, weil es nur am Rand von Hitler und Stalin als Personen spricht, leistet keinen Beitrag zur Erforschung des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Overy, der vor allem durch seine Bücher zur Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges bekannt geworden ist, ist ein Meister der Synthese.[12] Diese Meisterschaft führt er seinen Lesern auch in seinem Buch über die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts wieder vor. In kaum einer anderen Darstellung wird man zuverlässiger über die NSDAP und die Kommunistische Partei, über die Liturgie der Diktaturen, über ihre Wirtschaft und Kriegführung, über ihre Freunde und Feinde, informiert. Wer wissen will, was in der englisch- und deutschsprachigen Forschung über den Nationalsozialismus und den Stalinismus gesagt worden ist, wird von diesem Buch nicht enttäuscht werden. Aber ist es wirklich vertretbar, von der historischen Forschung in Russland zu schweigen, wenn vom Stalinismus die Rede ist? Overy beruft sich weder auf russische Dokumente noch auf Darstellungen in russischer Sprache. So hatte er es schon in seinem Buch über Russland im Krieg gehalten, das vor zwei Jahren erschienen ist und das vor allem dadurch auffiel, dass es über den russischen Kontext wenig zu sagen hatte. Overy trägt zusammen, was er in der westlichen Literatur über den Stalinismus finden konnte, für den historischen Ort aber entwickelt er kein Gespür. Namen werden falsch geschrieben, Lev Kamenev gilt Overy als »Vorsitzender des Zentralkomitees« (S. 30), Lazar Kaganovič wird zu einem »Schuhmacher aus Innerasien« (S. 124) und im Kapitel über das moralische Universum der Diktaturen redet er seinen Lesern ein, im Zarenreich seien »sozial gefährliche Elemente« vor den Gerichten nach dem Analogieprinzip abgeurteilt worden, wie es Praxis in der Stalinschen Justiz war. (S. 396). Man könnte noch weitere Beispiele dieser Ahnungslosigkeit nennen. Das alles fiele nicht ins Gewicht, wenn es Overy gelungen wäre, Nationalsozialismus und Stalinismus auf angemessene Weise miteinander zu vergleichen.

Das Verfahren, dessen sich Overy bedient, ist einfach. Er gliedert sein Buch in mehrere Abschnitte, in denen er die Fragen, die die historische Forschung über den Nationalsozialismus an ihren Gegenstand gestellt hat, nun auch auf den Stalinismus anwendet. Und weil es Overy vor allem darauf ankommt, die ideologische Nähe der beiden Systeme nachzuweisen, kommt er von der Absicht des Vergleiches wieder ab.[13] Er sucht nach Ähnlichkeiten, deshalb werden nur solche Geschichten erzählt, die dem Leser suggerieren, die Systeme seien in ihrer Praxis ähnlich gewesen. Nationalsozialismus wie Stalinismus müssten als Ausdruck des modernen Glaubens an die wissenschaftlich begründete Machbarkeit der Welt verstanden werden. Sie seien von einer kollektivistischen Mission besessen gewesen und hätten die liberale Idee von der Souveränität des Einzelnen und der Zulassung von Vielfalt abgelehnt. Kennzeichen holistischer totalitärer Systeme mit absolutem Geltungsanspruch sei es, dass sie immun gegen Einflüsse von außen, dass sie unbelehrbar seien. Im Zentrum beider Systeme hätten Diktatoren gestanden, die vom Hass beseelt gewesen seien. Zur Ausstattung beider Diktaturen gehörte der Kult des Hasses. Er habe, so Overy, das moralische Empfinden abstumpfen lassen. Und noch etwas kommt hinzu: der metaphorische Charakter der Regime, der Wahrheit in Lüge und Lüge in Wahrheit verwandelt habe. In dieser Welt der Lüge und der kollektiven Wirklichkeitsverdrehung hätten sich am Ende Führer wie Geführte auf Dauer eingerichtet.

Overys Ähnlichkeitsnachweis gründet sich auf unausgesprochene Voraussetzungen, vor allem aber auf den Glauben, dass die Diktaturen modernen Typs sich dadurch auszeichnen, dass sie die Unterstützung der Bevölkerung genießen. »Für alle holistischen Diktaturen […] gilt, dass sie auf Akzeptanz angewiesen sind, während sie zugleich eine ausgewählte Minderheit isolieren und zerstören.« Und weiter heißt es: »Die Regime Hitlers und Stalins waren populistische Diktaturen, gestützt und am Leben erhalten durch die Akklamation und Teilhabe der Massen, wie auch durch die Faszination, die von schrankenloser Macht ausgeht.« (S. 862) Und so wird Kapitel für Kapitel nachgewiesen, welche Wirkungen vom Personenkult ausgingen (er war angeblich ein Ergebnis des messianischen Kultes, der im Deutschland wie im Russland des 19. Jahrhunderts verbreitet gewesen sei), wie die Diktaturen mit der Zustimmung der Mehrheit Minderheiten ausgrenzten und terrorisierten, wie Staat und Partei die Massen mobilisierten und die Kriegswirtschaft in Gang hielten. Beide Systeme schufen neue Menschen und sie stritten auf ihre Weise gegen Kirchen und Religionen. Mit Erstaunen liest man dann, dass Hitler wie Stalin Verfassungen außer Kraft gesetzt hätten, in der Sowjetunion Terror aber stets auf rechtsverbindlicher Grundlage ausgeübt worden sei. Über das Leben in den Diktaturen erfahren wir von Overy, der sich darin auf den Stalinismus-Historiker Igal Halfin beruft, dass »sehr viele Menschen in beiden Systemen keinen konkreten Grund hatten, der Realität, die ihnen präsentiert wurde, zu misstrauen.« (S. 861)[14] Es ist wahr, dass die Untertanen keine Möglichkeit hatten, auf den Seiten der Pravda über ihr Leid zu klagen. Aber ist das ein Beleg dafür, dass hungernde Bauern der Behauptung der Propaganda, sie lebten im Überfluss, Glauben schenkten? Und warum sollten die Nachgeborenen solch einen Unfug glauben? Wenn es regnet, die Regierung aber behauptet, das die Sonne scheint, dann wird die Regierung von allen, die im Regen stehen, als Lügnerin entlarvt. Diese Regel können auch Diktaturen nicht außer Kraft setzen. Sie können es ihren Untertanen allenfalls verbieten, über die Lüge öffentlich zu sprechen. Wieso können Diktaturen ihre Herrschaft nur mit der und nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen? Und warum werden in diesen Diktaturen Minderheiten von Mehrheiten terrorisiert? War die Kollektivierung der Landwirtschaft und der blutige Massenterror der Jahre 1937/38 ein Krieg des Staates, der im Namen der Mehrheit gegen Minderheiten geführt wurde? Darauf gibt das Buch keine Antwort.

Nationalsozialismus und Stalinismus waren in ihrer Zerstörungswut und Destruktivität zweifellos unerreicht, aber sie waren es auf unterschiedliche Weise. Die Sowjetunion war ein multiethnischer Agrarstaat, Deutschland ein ethnisch homogener Industriestaat, Stalins Regime war ein Personenverbandsstaat, Hitlers Deutschland wurde von bürokratischen Apparaten regiert. Es gab in der Sowjetunion keine Verfassungswirklichkeit, die Stalin erst außer Kraft setzen musste, um allein zu regieren. Es war überhaupt das Kennzeichen der stalinistischen Diktatur, dass sie sich nicht auf das Recht berief, wenn sie ihre Feinde beseitigte. Die Kommunistische Partei war ein Instrument zur Mobilisierung und Erziehung einer Bevölkerung, die das Regime nicht erreichen konnte. Das aber trifft für die NSDAP nicht zu. Nicht einmal über die Rolle und das Milieu der Diktatoren ließe sich wirklich sagen, sie seien ähnlich gewesen. Kurz: die modernen Ideologien fielen in Deutschland und in der Sowjetunion in jeweils verschiedene Kontexte, und sie entfalteten in ihnen auch unterschiedliche Wirkungen. Nationalsozialismus und Stalinismus waren monströse Gewaltdiktaturen, aber sie waren es auf verschiedene Weise.

Overys Buch schließt mit drei Kapiteln über den Totalen Krieg, über Rassen und Nationen und über die Welt der Lager. Auch hier stellt er Geschichten nebeneinander und bringt sich damit um die Möglichkeit, die Regime in ihrer Konfrontation zu zeigen. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges begegneten Nationalsozialisten und Stalinisten einander auf den Schlachtfeldern, sie lernten voneinander. Man könnte auch sagen, dass Nationalsozialisten und Bolschewiki bei der Verfestigung ihrer Feindbilder einander zuarbeiteten. Sie bestätigten einander, dass die Feinde, von denen sie sprachen, tatsächlich existierten. Der Zweite Weltkrieg war das Experimentierfeld und die Bewährungsprobe der totalitären Diktaturen.[15] Sie in ihrer blutigen Verschränkung zu zeigen – das wäre eine Aufgabe, deren Bewältigung uns über den Charakter der modernen Diktaturen mehr verraten würde als Aufzählungen von vermeintlichen Ähnlichkeiten, die sich als Vergleiche ausgeben.

 

 


[1]  Bol’ševistskoe rukovodstvo. Perepiska 1912–1927 [Die bolschewistische Führung. Korrespondenz 1912–1927], Moskau 1996, S. 51 f.; Izvestija CK KPSS 1989, H. 11, S. 157; Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii (Russisches Staatsarchiv der Sozial-Politischen Geschichte, RGASPI), f. 558, o. 11, d. 627, Bl. 1.

[2]  Siehe Wolkogonov, Dmitri: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Portrait, Düsseldorf 1989; Jansen, Marc/Petrov, Nikita: Stalin’s Loyal Executioner. People’s Commissar. Nikolai Ezhov 1895–1940, Stanford 2002; Baberowski, Jörg: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl. München 2004. 

[3]  Getty, J. Arch: »Excesses are not permitted«. Mass Terror and Stalinist Governance in the Late 1930s, in: The Russian Review 61 (2002), S. 113–138.

[4]  Das zeigt sich bei manchen stalinistischen Funktionären sogar noch in ihren privaten Aufzeichnungen. Siehe Dimitroff, Georgi: Tagebücher 1933–1943. Hrsg. von Bernhard H. Bayerlein. 2 Bde., Berlin 2000.

[5]  Siehe u. a. Getty, J. Arch/Naumov, Oleg V.: The Road to Terror. Stalin and the Self-Destructuion of the Bolsheviks, 1932–1939, New Haven 1999; Chaustov, V N./Naumov, V. P. (Hrsg.): Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD [Lubljanka. Stalin und das VČK-GPU-OGPU-

NKVD], Moskau 2003; Josif Stalin v ob-jatijach sem’i. Iz ličnogo archiva [Josif Stalin in den Armen der Familie. Aus dem Privatarchiv], Moskau 1993; Pis’ma vo vlast’ 1917–1927 [Briefe an die Regierung 1917–1927], Moskau 1998; Pis’ma vo vlast’ 1928–1939 [Briefe an die Regierung 1928–1939], Moskau 2002; Lih, Lars T./Naumov, Oleg (Hrsg.): Stalin. Briefe an Molotov 1925–1936, Berlin 1996; Chlevnjuk, O. V. (Hrsg.): Stalin i Kaganovič. Perepiska 1931–1936 gg. [Stalin und Kagaonovič. Korrepondenz 1931–1936], Moskau 2001; Mikojan, A. I.: Tak bylo. Razmyšlenija o minuvšem [So war es. Gedanken über das Vergangene], Moskau 1999.

[6]  Siehe u. a. Löwe, Heinz-Dietrich: Stalin. Der entfesselte Revolutionär. 2 Bde., Göttingen 2002; Apor, Balázs u. a. (Hrsg): The Leader Cult in Communist Dictatorships. Stalin and the Eastern Bloc, New York 2004; Rayfield, Donald: Stalin und seine Henker, München 2004; Wolkow, Solomon: Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler, Berlin 2004; Kellmann, Klaus: Stalin. Eine Biographie, Darmstadt 2005. Siehe zu letzterem die zu Recht sehr kritische Rezension von Andreas Oberender in: H-Soz-u-Kult vom 8. Dezember 2005, <http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-147>

[7] Von diesem Russland-Historiker sind zuletzt erschienen Service, Robert: Lenin. Eine Biographie, München 2000; Ders.: Russia. Experiment with a People. From 1991 to the Present, London 2002; Ders.: A History of Modern Russia. From Nicholas II to Vladimir Putin, Cambridge, MA 2005.

[8]  Tucker, Robert C.: Stalin in Power. The Revolution from Above, 1928–1941, New York 1990, S. 7 f. u. 533–539.

[9]  Siehe dazu Jansen/Petrov: Stalin’s Loyal Exexutioner (Anm. 2)

[10]  Tucker: Stalin in Power (Anm. 8), S. 4. Dagegen Suny, Ronald Grigor: Beyond Psychohistory. The Young Stalin in Georgia, in: Slavic Review 50 (1991) S. 48–58; Baberowski, Jörg: Zivilisation der Gewalt. Die kulturellen Ursprünge des Stalinismus, in: Historische Zeitschrift 281 (2005), S. 59–102.

[11]  Siehe dazu Gorlizki, Yoram/Khlevniuk, Oleg: Cold Peace. Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945–1953, Oxford 2004.

[12]  Overy, Richard: Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Stuttgart/München 2001; Ders.: Verhöre. Die NS-Eliten in den Händen der Alliierten 1945, München 2002; Ders.: Russlands Krieg, Reinbek 2003.

[13]  Ein erster, wenngleich misslungener Versuch des Vergleichs: Kershaw, Ian/Lewin, Moshe: Stalinism and Nazism. Dictatorships in Comparison, Cambridge 1997.

[14]  Halfin, Igal: Poetics in the Archives: the Quest for »True Bolshevik Documents«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51 (2003), S. 84–89. Ähnlich in Ders.: From Darkness to Light. Class, Consciousness and Salvation in Revolutionary Russia, Pittsburgh 2000.

[15]  Berkhoff, Karel: Harvest of Despair. Life and Death in Ukraine under Nazi Rule, Cambridge, MA 2004; Shepherd, Ben: War in the Wild East. The German Army and Soviet Partisans, Cambridge, MA 2005; Baberowski, Jörg: Ordnung durch Terror: Stalinismus im sowjetischen Vielvölkerreich, in: Heinemann, Isabell/Wagner, Patrick (Hrsg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung, Stuttgart 2005, S. 145–172; Ders.: Kriege in staatsfernen Räumen. Das Zarenreich und die Sowjetunion 1905–1950, in: Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Kriegstypologien, (im Druck). 

 

 

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