Die einstigen Leiter der Hauptverwaltung A (HV A) sind heute selbstbewusst. Aus ihrer Sicht mit Recht, denn der Auslandsnachrichtendienst der DDR verfügte in der Bundesrepublik über ein Netz von zuletzt rund 1 500 Quellen. Dieses Netz versorgte die HV A über Jahrzehnte mit wichtigen Informationen. Der Einblick der DDR-Aufklärung[1] in das Bundeskanzleramt, den Bundestag, in die Spitzengremien der Parteien und selbst in den Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz war enorm. Im Rückblick ist kaum ein bundesrepublikanischer Bereich erkennbar, aus dem die HV A nicht Informationen beschaffen konnte. Deshalb verwundert es nicht, dass selbst ehemalige nachrichtendienstliche Gegner durchaus respektvoll auf diese Leistungen blicken.
Selbstkritische Akzente, die es selten genug in den Erinnerungen leitender Mitarbeiter der HV A gibt, springen dafür umso mehr ins Auge. Markus Wolf, Chef der DDR-Aufklärung von 1952 bis 1986,[2] verfasste im Jahre 1988 seine »Gedanken zur Geschichte und Tradition der Aufklärung der DDR«. Dort findet sich überraschend eine Sequenz, die aufmerken lässt: Man solle, heißt es dort, sich an Urteile nicht »sklavisch« binden, sondern stets kritisch überprüfen. Dies sei erforderlich, »um so dem Sachverhalt und den beteiligten Menschen gerecht« zu werden. Nach dieser »grundsätzlichen Ausführung« verweist er auf Bruno Haid, dem »mit der Zeit Gerechtigkeit widerfahren« sei[3]. Bruno Haid – der beinharte stellvertretende Generalstaatsanwalt der DDR (1955 bis 1958) und spätere stellvertretende Minister für Kultur (1965 bis 1973)?[4] Was verbindet Haid mit dem Auslandsnachrichtendienst der DDR?
Die Recherche führt in den Herbst 1951, als innerhalb des Instituts für wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF), des Vorläufers der HV A, die Idee umgesetzt wurde, den nachrichtendienstlichen Nachwuchs an einer eigenen Schule ausbilden zu lassen. Den ersten Kurs von April 1952 bis September 1953 an der Nachrichtendienstschule im Berliner Stadtteil Niederschönhausen besuchten rund 30 Schüler. Bruno Haid war von März bis zum 12. November 1952 der erste Leiter der Schule; sein Stellvertreter war Hans-Georg Olschewski, der zuvor Kursant und Lehrer an der SED-Parteihochschule in Kleinmachnow gewesen war[5].
Mit Bruno Haid wurde ein denkbar erfahrener Mann mit der Ausbildung betraut. Er hatte über mehrere Jahre in der Westkommission des ZK unter Franz Dahlem ein nachrichtendienstliches Netz in der Bundesrepublik und West-Berlin geführt, das den Namen »Parteiaufklärung« bzw. »Haid-Apparat« trug. Er war mit den Verhältnissen im »Operationsgebiet« bestens vertraut und mit aktuellen operativen Erfahrungen reich ausgestattet. Haid konnte darüber hinaus auf eine über 20-jährige nachrichtendienstliche Arbeit zurückblicken, teils recht erfolgreich, wie im Paris der 30er Jahre, als er die KPD-Nachrichtendienststelle, den »Abwehrapparat«, leitete.[6]
Die Übertragung der Aufgabe des Leiters der IWF-Schule war eine Degradierung Haids. Aber immerhin war zu erwarten, dass er binnen eines Jahres gut ausgebildete Mitarbeiter in das IWF entlassen würde. Doch bereits im November 1952 schied er gänzlich aus dem Dienst aus. Die Gründe dafür werden nur eingeschränkt mit Haids Charaktereigenschaften verbunden sein, obwohl Zeitgenossen diese als sperrig beschrieben.
Was waren die Hintergründe für den Absturz dieses erfahrenen Nachrichtenmannes? Mit der Gründung des IWF auf Initiative der Sowjets 1951 wurde der so genannte »Haid-Apparat« aus der SED herausgelöst und seine Quellen als Startkapital in den neuen Auslandsnachrichtendienst integriert. Haid konnte sich zweifelsohne eine Schlüsselrolle im IWF ausrechnen. Seine Teilnahme an der Konstituierung des IWF in einem kleinen, später als konspiratives Objekt genutzten Häuschen in Berlin-Bohnsdorf war somit mehr als begründet. Aber bereits im Oktober 1951 entschieden der sowjetische Berater Andrej G. Grauer[7] und der erste Leiter des IWF, Anton Ackermann, Haid von diesem durchaus erfolgreichen Netz der »Parteiaufklärung« und seinen operativen Mitarbeitern zu trennen. Haids ZK-Mitarbeiter mussten alle Unterlagen an die ersten Mitarbeiter des IWF Kurt Gailat, Herbert Müller und Elfriede Brandt (Hauptabteilung I/1/a) aushändigen, kaum dass diese vom Leiter der für politische Spionage zuständigen Hauptabteilung I des IWF, Herbert Hentschke, eingewiesen waren. Sie holten die ungeordnet wirkenden Akten am 24. Oktober 1951 vom Zentralkomitee zum IWF, arbeiteten sich ein und übten ihre ersten operativen Schritte mit den Residenten.
Die Gründe für die Trennung Haids von seinem inoffiziellen Netz liegen auch weiterhin im Dunkeln, doch ist ein Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen SED-Generalsekretär Walter Ulbricht und Politbüromitglied Franz Dahlem, als dessen Mann Haid galt, nicht ganz abwegig. Zwischen Dahlem und Ulbricht bestanden schon seit den 30er Jahren Konflikte. Diese verschärften sich, als der in der SED populäre Dahlem Anfang der 50er Jahre versuchte, sich als Nachfolger Ulbrichts zu installieren. Mithilfe der Parteiaufklärung verfügte Dahlem über ein beachtliches Informationsplus innerhalb des Politbüros in einem Moment, als der Entwicklung in der Bundesrepublik wegen deren Remilitarisierungsbemühungen außerordentliches Augenmerk widerfuhr, weshalb etwaige Lorbeeren der sowjetischen Freunde auf ihn zurückfielen bzw. zurückfallen konnten. Jedoch erhielt, nachdem die »Parteiaufklärung« in das IWF integriert war, nicht mehr Dahlem, sondern Ulbricht das Informationsaufkommen. Und spätestens ab Januar 1952 behielt Ulbricht sich, was ihm zuvor an Dahlem vorbei unmöglich war, auch das Weisungsrecht über den Nachrichtendienst vor, dem sich auch Politbürokandidat Anton Ackermann als dessen Leiter zu beugen hatte. In dieser Konstellation liegt die Annahme nahe, das – würde Haid weiterhin Zugang zu Quellen, Residenten der »Parteiaufklärung« und deren Informationen gewährt – über ihn auch Dahlem im Spiel bleiben würde. Haid selbst befand sich mit Ulbricht spätestens seit Februar 1938 im »Clinch«.[8] Die Spannungen zwischen den beiden Spitzenfunktionären Ulbricht und Dahlem endeten im Frühjahr 1953, als Dahlem kurzerhand von seinen Funktionen entbunden wurde.
Solche zwar allgemeinen existierenden, im Fall des IWF nicht belegten Konflikte in der Parteiführung wären für die Nachrichtendienstschule nicht erwähnenswert, wenn sie sich nicht in den frühen 50er Jahren zugetragen hätten. Es war nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die Schauprozesswelle, die bereits Ungarn und Bulgarien erreicht hatte, nicht auch auf die DDR übergreifen würde, insbesondere auf die Kader der »Parteiaufklärung«, da hier eine nachrichtendienstliche Unterwanderung konstruierbar war. Zudem hatte das MfS bereits bekannte westdeutsche KPD-Funktionäre wie Kurt Müller und Fritz Sperling inhaftiert. Diese hatten über Kontakte zur »Parteiaufklärung« verfügt und waren bereits zu westdeutschen Agenten stilisiert worden.[9] Die Agentenphobie bestimmte in diesen Jahren das Klima auch unter den SED-Funktionären; das konnte auch an Bruno Haid nicht spurlos vorbeigehen. Denn auch für ihn galt, dass seine Funktion lediglich ein von der Partei verliehenes Privileg war, das – würde es entzogen – auch seine physische Existenz in Frage stellen konnte. (In Ungarn und Bulgarien war es bereits zu Hinrichtungen gekommen.) Diese stille Überlebensangst empfanden in jener Zeit vor allem Kommunisten jüdischer Herkunft. Von der Sowjetunion ging im Gefolge des »Ärzteprozesses«, eines angeblichen Komplottes zur Ermordung Stalins, eine schrille antisemitische Kampagne aus, die erst mit Stalins Tod am 5. März 1953 von der KPdSU-Führung beendet wurde.
Nach der Abtrennung von seinem Netz interessierte sich Haid weiterhin für seine ehemaligen Residenten und ließ sich von diesen diskret informieren. Dies wurde im IWF aufmerksam registriert. Mit seinem Einsatz als Leiter der Schule erfolgte eine räumliche Trennung vom eigentlichen Zentrum des IWF. Eine Aufgabe, der sich Haid beugte, aber die er nicht erstrebt hatte. Es war ein Versorgungsposten. Haid sollte damit vom operativen Geschäft ferngehalten werden. Zugleich bot die Funktion für Haid die Chance, auf der Sympathiewoge ausgebildeter Nachrichtendienstkader wieder ins Institut gespült zu werden.
Vor diesem Hintergrund begrüßte er die Kursanten im Frühjahr 1952 – wurde aber mit ihnen nicht warm. Sie hatten sich noch nicht an die ungewohnt strenge Parteidisziplin und Konspiration gewöhnt. Zudem wussten sie nicht, dass sie für den Auslandsnachrichtendienst ausgebildet wurden. Haids Absichten blieben deshalb unverständlich. Zum Beispiel war es im Speisesaal, wo Dozenten zwar an einem eigenen Tisch, aber gemeinsam mit den Kursanten die Mahlzeiten einnahmen, nicht unüblich, dass Haid Sitzhaltung und Besteckführung der Kursanten harsch kritisierte, womit er an Ansehen einbüßte. Was die Kursanten nicht ahnen konnten, war, dass dies zum Ausbildungsprogramm gehörte, wonach sie »sogar gutes Benehmen, Tischsitten und Umgangsformen, wie sie in ›bürgerlichen Gesellschaften‹ gepflegt wurden«, erlernen sollten.[10]
Haids Ansehen war inzwischen auch innerhalb des IWF beachtlich gesunken. Eine relativ dichte Folge von Pannen, die von aufgeflogenen Quellen der »Parteiaufklärung« ausgingen, gab den von ihm eingebrachten Juwelen schnell eine Patina. Am 9. August 1952 stand im Büro 2 des IWF, das dem stellvertretenden IWF-Leiter Gerhard Heidenreich unterstand, die »alte Parteiaufklärung« auf der Tagesordnung. Heidenreich sowie der Leiter der 1. Abteilung (Abwehr) Gustav Szinda, der sowjetische Chefberater Grauer und ein weiterer sowjetischen Berater der 1. Abteilung entschieden, dass zu Bruno Haid »alles belastende Material zusammenzutragen« sei, »damit im geeigneten Zeitpunkt und in Übereinstimmung mit der Auffassung des MfS entweder die Verhaftung oder für weiteren Arbeitseinsatz entschieden werden kann.«[11]
Im Oktober 1952 zog sich die Schlinge um Bruno Haid zu. Nunmehr stieß die 1. Abteilung, unterstützt ausgerechnet von den Mitarbeitern, die er mit zum IWF gebracht hatte, auf manche Merkwürdigkeiten, die ihn als zwielichtig erscheinen ließen. In einer »streng geheimen«, faktisch aber einer Verdachtsberichterstattung gleichkommenden Notiz wurden Haids private Zusammenkünfte mit seinen ehemaligen westdeutschen Residenten wie Walter Vesper, Willi Grünert und Bruno Korthaus gegeißelt. Es wurde moniert, dass er die sowjetischen Berater, insbesondere Chefberater Grauer, kritisiert habe. Auch unterhalte Haid wie zuvor enge Beziehungen zu einem französischen Arzt, und schließlich – Höhepunkt der Notiz – seien die »Eltern der Frau des Gen. Haid Israeliten«. Auch verkehre bei ihm »ein junger Mensch – schwarzes Haar, Brillenträger, israelitischer Typ«.[12]
Herbert Müller, der innerhalb des IWF zuletzt mit der Abwicklung der »Parteiaufklärung« befasst war, erinnerte sich nun überraschend an ein Ereignis vom September 1951, wonach Haids Fahrer sich häufiger in West-Berlin aufgehalten und gelegentlich einer Rückkehr alkoholisiert den Wagen verunfallt habe.[13] Das gefährliche Reizwort West-Berlin speiste auch manch anderer ein, wie ein Institutsmitarbeiter, der in seiner Wohnung eine Szene der Eheleute Haids hören konnte, nach der Haid seiner Gattin vorhielt, dass sie ihre Kleidung, teils aus »schwerer Brokatseide«, bei einer Schneiderin im »Westsektor« habe fertigen lassen, was ihm Unannehmlichkeiten bereiten könnte, sie das also unterlassen solle – und von ihr unterlassen wurde.[14]
Pasquille dieser Art häuften sich und warfen stets (das entspricht ihrem Wesen) eher ein Licht auf die Autoren als auf den Denunzierten. Schulleiter Haid hatte zu den Anwürfen Stellung zu beziehen, die sich – nüchtern betrachtet – als haltlos erwiesen. Bei dem schwarzhaarigen französischen »israelitischen Typ« etwa handelte es sich um einen Cousin seiner Frau, keinem geringeren als den Pantomimen Marcel Marceaux, der bei den Berliner Festspielwochen aufgetreten war.[15]
Das Kesseltreiben ließ auch das Kollektiv an der Schule nicht unberührt. Schulisch bedingte Konflikte erhielten nun eine besondere Schärfe. Als einige Schüler von der Schule abgezogen wurden, rief dies unter den Kursanten einige Unruhe hervor. Haid machte hierfür die für Kader zuständige 3. Abteilung des IWF verantwortlich, die er auf der wöchentlichen Leitungssitzung am 2. Oktober 1952 anging: »Da kommen irgendwelche Kaderaffen her, die keine Ahnung haben, und bringen alles durcheinander.« Einmal in Fahrt gekommen, warf er dem Parteisekretär der Schule Walter Baude vor, wie dieser sich erinnerte, »die Genossen des Instituts hätten, insbesondere mich, wohl zu ihrem Bundesgenossen gemacht«, und er, Haid, habe den Eindruck gewonnen, »als hätte man an einigen Stellen bei uns auf der Schule Horchposten eingerichtet«, was auf die Sekretärin Marianne Heidenreich und gleichfalls, nicht gänzlich zu Unrecht, auf Baude anspielte.[16] Bereits wenige Wochen zuvor hatten »plötzlich« Kaderaussprachen mit den Kursanten stattgefunden,[17] deren Gründe sich ihnen nicht erschlossen, bei denen aber zweifelsohne auch Informationen zum Schulleiter zusammengetragen worden sein dürften, wenn auch das eigentliche Anliegen in eine andere Richtung ging (nämlich Kaderauswahl für das IWF, möglicher Einsatz in der Bundesrepublik usw.). Das gegen ihn gemünzte Misstrauen hatte somit auch die Schule erreicht – beim IWF war es ohnehin vorhanden. Suchte Haid das Institut gelegentlich auf, wähnte der sich auf »feindlichem Gebiet«[18].
Der Ursprung dieses Missklangs hing zweifelsfrei mit der »Parteiaufklärung« zusammen. An dieser Stelle griff Markus Wolf in das Spiel um Haid ein. Der 27jährige Wolf gehörte nach seinem Ausscheiden aus dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, für das er in der DDR-Botschaft in Moskau eingesetzt war, seit Herbst 1951 zum IWF. Er war zunächst Stellvertreter von Robert Korb, der die Hauptabteilung II aufbaute und leitete. (Zugleich war Korb Leiter des ZKAbteilung für Agitation. Erst ab April 1952 war Korb ausschließlich für das IWF tätig.) Die Hauptabteilung II bereitete die operativ beschafften Information für die Parteiführung und die sowjetische Residentur in Berlin-Karlshorst auf. Im Februar 1952 wurde Markus Wolf aus diesem Bereich abgezogen und der 1. Abteilung des IWF unter Gustav Szinda zugewiesen, die sich mit Fragen der Gegenspionage beschäftigte. Nach anfänglicher Sichtung bereits vorhandener Erkenntnisse musste sich die 1. Abteilung gänzlich mit einer möglichen Überwerbung von Quellen der ehemaligen »Parteiaufklärung« durch britische und amerikanische Dienste, aber auch durch die Organisation Gehlen befassen. Markus Wolf gelangte in einer Untersuchung über die erwähnten Pannen in der »Parteiaufklärung« zu einem vernichtenden Urteil, das jedoch in dieser Dimension unbegründet war. Die »Parteiaufklärung«, resümierte er, habe »von vornherein unter Kontrolle des Gegners« gestanden, sei »in all seinen Gliedern den Abwehrorganen des Gegners bekannt« gewesen und für eine »planmäßige Desinformierung unserer Parteiführung benutzt« worden. Ursächlich dafür sei die »absolut unzulängliche Leitung« Bruno Haids. Zugleich rückte er ihn beängstigend nahe an die Rolle eines Agenten, wenn er anführt: »Der gesamte Apparat, besonders seine Spitze, war den Parteifeinden Kurt Müller, Fritz Sperling usw. bekannt. Nach Entlarvung dieser Agenten wurden«, folglich von Bruno Haid, »keine entsprechenden Maßnahmen getroffen«. Mehr noch, seien »bei offensichtlichem Einbruch des Gegners« die »Einbruchstellen nicht sofort eingedämmt, sondern umgekehrt ausgedehnt« worden.[19]
Als Markus Wolf dieses Fazit SED-Generalsekretär Walter Ulbricht am 20. Oktober 1952 unterbreitete, war nicht nur das Schicksal der ehemaligen »Parteiaufklärung« besiegelt, sondern auch das von Bruno Haid. Wolf gab an, aus Gründen der Konspiration und seiner »noch ungeklärten Rolle«[20] sei Haid zu diesen Anwürfen nicht konsultiert worden. Ulbricht aber fällte sein drastisches Urteil, ohne dass der Betroffene gehört wurde. Allein aufgrund des Wolf-Berichtes, die sonstigen Stimmungsberichte dienten eher als interne Begleitmusik, wies Ulbricht die Entlassung Bruno Haids aus dem IWF an und degradierte ihn zum stellvertretenden Direktor des Bezirksgerichts in Chemnitz. Außerdem hatte sich das MfS mit ihm zu befassen, wozu diesem der Untersuchungsbericht überlassen wurde. Es schien so, als habe Markus Wolf mit Bruno Haid möglicherweise einen »Agenten« im IWF entlarvt, zumindest erweckt sein Engagement diesen Eindruck. Markus Wolf bedrängte den Minister für Staatssicherheit Wilhlem Zaisser und seinen Staatssekretär Erich Mielke, endlich gegen Haid tätig zu werden, was das MfS allerdings unterließ. Das MfS konnte bei Haid keine hinreichenden Gründe für eine Verhaftung erkennen.
Von einem Tag zum anderen war Bruno Haid als Leiter der Nachrichtendienstschule ausgeschieden. Mit ihm ging, wegen »Nichteignung«, auch sein Stellvertreter, der inzwischen nahezu blinde Olschewski, ohne dass den Kursanten eine Interpretationshilfe angeboten wurde. Manches sickerte sicherlich durch, da mit Marianne Heidenreich die Gattin des stellvertretenden IWF-Leiters an der Schule arbeitete und trotz üblicher Konspiration nicht gänzlich unwissend geblieben sein dürfte. Die Kursanten ahnten jedoch, erinnert sich der ehemalige Kursant Olldorf (Werner Großmann), einen Zusammenhang mit westlichen »Agenten«, da sie es mit »Schauprozessen« in Budapest und Sofia (Prag folgte im November/Dezember 1952) in Verbindung brachten.[21] So blieb ihnen der erste Leiter der Schule als »grimmig blickend«, »dogmatisch und schematisch« sowie als »wenig gefühlsbetont und kontaktarm« in Erinnerung.[22]
In der Folgezeit kamen weitere »verdächtige Momente« gegen Haid hinzu: Als im April 1953 Haids langjährige Sekretärin Charlotte Männchen dessen Panzerschrank öffnete, kamen sechs Personalausweise und ein kleiner Geldbetrag zu Tage, was im Zuge der Übergabe der Akten der »Parteiaufklärung« nicht mehr hätte in seinem Bestand sein dürfen. Markus Wolf, inzwischen Nachfolger von Ackermann als Leiter des IWF, verlieh dem ein solches Gewicht, dass er Herbert Müller anwies, dies dem Untersuchungsbericht und der Personalakte Haids beizufügen.[23] Wolf notierte – mehr als ein Jahr später, als eine mögliche überzogene Wertung hätte abgeebbt sein können: »Da ich wiederholt feststellen konnte, dass bei der weiteren Bearbeitung in der Sache nichts geschieht, habe ich öfter mit Zaisser darüber gesprochen und ihn auch schriftlich an die Angelegenheit erinnert. Dabei musste ich feststellen, dass der Untersuchungsbericht und wahrscheinlich auch eine Reihe anderer Hinweise über Haid zur Bearbeitung dem Gen. [Erich] Jamin übergeben wurden. Mir ist bekannt, dass Jamin mit Haid eng befreundet war und von Haid für die Arbeit in unserem Apparat empfohlen wurde.«[24] Diese Darlegung ließ Wolf der Zentralen Parteikontrollkommission der SED im Januar 1954 just in dem Moment zukommen, als diese dem im Juli 1953 gestürzten Minister Zaisser seinen Parteiausschluss mitteilte. Zaisser wurden Verbindungen zum gestürzten sowjetischen Innenminister Lavrentij P. Berija unterstellt, wobei dieser der britischen Spionage beschuldigt worden war. Und: Berija war im Dezember 1953 hingerichtet worden. Die Anschuldigungen Wolfs gegen Bruno Haid dürften für Zaisser nicht entlastend gewirkt haben.
Der Rauswurf Haids wird Markus Wolf später unangenehm berührt, wenn nicht beschämt haben. Er bewegte mit seinem Verhalten in den Klischees des Zeitgeistes, wird sich aber nach dem XX. Parteitag der KPdSU, der im Jahre 1956 solche Vorgehensweisen verurteilte, ernsthafte Gedanken über sein Vorgehen gemacht haben. Haid, unterdessen zum beinharten stellvertretenden Generalstaatsanwalt aufgestiegen, gehörte der zentralen Kommission an, die sich mit Opfern dieser Verfolgungen beschäftigte. Er wird sich selbst als eines der Opfer betrachtet haben – in seinem Fall durch Markus Wolf. Gelegentlich eines Empfangs, aber auch während eines Telefonats bezeichnete der stellvertretende Generalstaatsanwalt im Gespräch den Leiter des Auslandsnachrichtendienstes als einen »Mann Berijas«[25]. Das war in jenen Tagen das Synonym für »Henker in Stalins Diensten«[26] oder »Exekutor Stalinscher Verbrechen«. Haids Urteil war gewiss überzogen und weist eher auf die anhaltende Empörung über seinen Sturz im IWF hin. Allerdings wird die Annahme nicht abwegig sein, dass Wolf bis zum XX. Parteitag zu den gläubigen Stalin-Verehrern der jungen Generation zählte, deren jungerwachsene politische Militanz von älteren Genossen wie Haid nur schwer zu akzeptieren war. Haid fiel übrigens bereits 1958 erneut in Ungnade. Er wurde als stellvertretender Generalstaatsanwalt abgesetzt, da er nicht hart genug gegen die intellektuelle Opposition um Wolfgang Harich und Walter Janka vorgegangen war.
Dass Markus Wolf sein folgenreiches Urteil über Haid nachhaltig beschäftigt hat, erweist sich in seinen eingangs erwähnten zwanzigseitigen Gedanken zur Geschichte des IWF und der HV A, in denen er Haid allein zwei Seiten widmet. Darin würdigt er Haids »ziemlich starke« Parteiaufklärung mit den »beachtlichen Quellen«, von denen nur ein Bruchteil für die gegnerische Seite gearbeitet hatte. Allerdings: »Außer den überführten westdeutschen Agenten wurde keiner der Beteiligten verhaftet, aber es war für manchen Genossen sicher bitter.«[27] Das dies Zaisser und Mielke zu verdanken war, schrieb Wolf nicht. Ebenso wenig »erinnerte« er sich, dass er Haids Verhaftung betrieben hatte. Einige Jahre später, als er seine Memoiren publizierte, fand er kein Wort für Haid. Lediglich allgemein mochte er sich an diese Episode »nicht gern«[28] erinnern, die vermutlich für seine zum Jahresende 1952 erfolgte Ernennung zum Leiter des IWF grundlegend war.
[1] Die DDR-Aufklärung firmierte zunächst unter den Namen Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung (1951 bis 1953). Nach der Integration in das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) arbeitete sie als Hauptabteilung XV (1953 bis 1956), später unter der Bezeichnung Hauptverwaltung A (1956 bis 1989/90).
[2] Gelegentlich heißt es, Wolf sei erst im September 1953 an die Spitze des Dienstes berufen worden. Tatsächlich übernahm er die Führung des IWF bereits im Dezember 1952.
[3] Die Schrift wurde erst zehn Jahr später veröffentlicht. Wolf, Markus: Gedanken zur Geschichte und Tradition der Aufklärung der DDR, 1988, in: Ders.: Die Kunst der Verstellung. Dokumente. Gespräche. Interviews, Berlin 1998, S. 62–80, hier 65 u. 68.
[4] Zu Haid siehe Bruno Haid, in: Müller-Enbergs, Helmut/Wielgohs, Jan/Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Berlin 2000, S. 307 f.; Klein, Thomas/Otto, Wilfriede/Grieder, Peter: Visionen. Repressionen und Opposition in der SED (1949–1989), Frankfurt (Oder) 1996, 64 f. u. 71 f.; Hannemann, Simone: Robert Havemann und die Widerstandsgruppe »Europäische Union«, Berlin 2001. Haid war dafür zuständig zu überprüfen, ob Havemann im Widerstand mit den Nazis kollaboriert hatte.
[5] Weber, Hermann: Damals als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SED-Parteihochschule »Karl Marx« bis 1949, Berlin 2002, S. 344 f.
[6] Kaufmann, Bernd u. a.: Der Nachrichtendienst der KPD 1919–1937, Berlin 1993, S. 318–320; Walther, Henri/Schwips, Dieter: Forschungsbericht zu den Erfahrungen der KPD bei der Erkundung, Entlarvung und Abwehr der geheimen Pläne, Absichten und Machenschaften des Feindes – ihre Untersuchung als ein Beitrag für die Erhöhung der Wirksamkeit der klassenmä- ßigen tschekistischen Erziehung und Befähigung der Mitarbeiter zur Erfüllung der politischoperativen Aufgaben des MfS. Berlin 1986, Kapitel 5, S. 195.
[7] Jeder Abteilung und Hauptabteilung des IWF war ein sowjetischer Berater zugewiesen, mit dem sämtliche operativen Schritte abzustimmen waren. Leiter dieser von der sowjetischen Residentur in Berlin-Karlshorst aus operierender Berater war Chefberater Andreij G. Grauer, dem David J. Dallin den Dienstrang eines Obersten zuweist. Grauer leitete – parallel zu Walter Ulbricht – den IWF-Leiter Anton Ackermann an, wobei es zwischen beiden zu erheblichen Spannungen kam, mit der Folge, dass Ackermann um Entbindung von dieser Funktion bat, und auch Grauer im November 1952 als Berater abgezogen wurde. Dallin, David J.: Die Sowjetspionage. Prinzipien und Praktiken, Köln 1956, S. 496; Bailey, George/Kondraschow, Sergej A./Murphy, David E.: Die Unsichtbare Front : der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin, Berlin 1997, S. 181 f.; Schumann, Frank (Hrsg.): Anton Ackermann. Der deutsche Weg zum Sozialismus. Selbstzeugnisse und Dokumente eines Patrioten, Berlin 2005, S. 15.
[8] Die von Bruno Haid geführte KPD-Nachrichtenstelle wurde auf Weisung Walter Ulbrichts im Jahre 1938 aufgelöst. Siehe Kaufmann: Der Nachrichtendienst der KPD (Anm. 6), S. 437.
[9] Kurt Müller hat seine Präparierung für einen DDR-Schauprozess nach dem Muster des RajkProzesses in Ungarn eingehend beschrieben. Siehe Müller, Kurt: Ein historisches Dokument aus dem Jahre 1956. Brief an den DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, in: Dowe, Dietrich (Hrsg.): Kurt Müller (1903–1990) zum Gedenken, Bonn 1991, S. 51–86.
[10] Siehe Richter, Peter/Rösler, Klaus: Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report, Berlin 1992, S. 17.
[11] Heidenreich, Gerhard: Protokoll über die Besprechung mit der Abteilung 1 vom 9. August 1952, in: Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (im Folgenden: BStU), HA II/6 1158, Bl. 38 f.
[12] Bericht über die Genossen Bruno Haid, Vesper, Grünert und Korthaus im Fall Schlomm vom 23. Juni 1952, in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 335–337, hier 336 f.
[13] Müller, Herbert: Notiz vom 23. Oktober 1952, in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 334.
[14] Bericht über letzte Vorkommnisse bei Genossen Bruno Haid vom 28. Juli 1952, in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 295–297, hier 295 f.
[15] Haid, Bruno: [ohne Titel] vom 3. Oktober 1951, in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 560.
[16] Baude, Walter: Bericht zu dem Verhalten des Genossen Bruno Haid vom 16. Oktober 1952, in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 364 f.
[17] Siehe Großmann, Werner: Bonn im Blick. Die DDR-Aufklärung aus der Sicht ihres letzten Chefs, Berlin 2001, S. 15.
[18] Reichelt: Aktennotiz vom 1. Oktober 1952, in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 346.
[19] [Wolf, Markus]: Abteilung 1: Zusammenfassender Bericht über die Untersuchung des ehemaligen Nachrichtenapparates der Partei und über dessen Abwicklung o. D. [vom 20. Oktober 1952], in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 48–207, hier 205 f.
[20] Siehe ebenda, Bl. 49.
[21] Siehe Großmann: Bonn im Blick (Anm. 17), S. 15 f.
[22] Siehe ebenda, S. 11.
[23] Aktennotiz vom 27. April 1953, in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 348.
[24] Wolf, Markus: Stellungnahme zu dem Material der ZPKK vom 20. Januar 1954, in: BStU, HA II/6 1158, Bl. 338 f.
[25] Markus Wolf im Interview mit dem Autor vom 12. September 2005.
[26] Siehe Nekrassow, Vladimir F. (Hrsg.): Berija. Henker in Stalins Diensten. Ende einer Karriere, Berlin 1992, S. 175 f.
[27] Siehe Wolf: Gedanken zur Geschichte (Anm. 3), S. 68.
[28] Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, München 1997, S. 69.