JHK 2006

Zum Abschied von Eugen Leviné (1916 bis 2005)

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 11-14 | Aufbau Verlag

Autor/in: Friedrich P. Kahlenberg/Hermann Weber

Im Frühjahr des Jahres 1933 emigrierte Eugen Leviné aus Berlin, über Maastricht und Paris erreicht er Anfang Juni jenes Jahres London. Dort ist er am fds das 25. Mai 2005 kurze Zeit vor seinem 89. Geburtstag verstorben. Wenige Wochen vor seinem Tod hatte er in einer öffentlichen Vortragsveranstaltung der Havering and District Humanist Society über »Siebzig Jahre als Ausländer in England« gesprochen. In der Tat war er seinem Heimatland Deutschland lebenslang zutiefst verbunden geblieben. Eugen Leviné – Genia wie ihn seine Freunde nannten – war der am 21. Juni 1916 in Heidelberg geborene Sohn des gleichnamigen tragischen Helden der Münchener Räterepublik. Dieser wurde am 5. Juni 1919 im Gefängnis München-Stadelheim nach Urteil eines Standgerichts erschossen. »Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub«, hatte der Vater unmittelbar vor seinem Tod geschrieben.


In der Erinnerung an den Vater, an dessen revolutionäres Vermächtnis, blieben Genia und seine Mutter Rosa ihr Leben lang in einer schwierigen, oft dissonanten Beziehung verbunden. Die Mutter, seit 1922 mit dem KPD-Führer Ernst Meyer (siehe den Text von Florian Wilde zu Ernst Meyer in dieser Ausgabe) verheiratet, erwartete von ihrem Sohn eine politische Karriere. Der Stiefvater sorgte für eine solide Schulbildung, die Genia ob der Turbulenzen im politischen Alltag der Weimarer Republik freilich erst 1924 beginnen konnte. Früh war Genia Mitglied sozialistischer Jugendgruppen, verbrachte mit diesen Freizeiten in Ferienlagern, setzte sich im Wettbewerb mit den gleichaltrigen Kameraden durch, beteiligte sich an sportlichen Übungen, boxte im Mittelgewicht. Als 15-jähriger leitete er eine kommunistische Jugendgruppe in Berlin und entsprach mit solchem Engagement zum letzten Mal den Hoffnungen, die seine Mutter Rosa Meyer-Leviné auf ihn setzte. Nicht seine jüdische Abstammung, sondern die Verfolgung durch die Geheime Staatspolizei wegen seiner kommunistischen Jugendarbeit zwang den 16-jährigen Gymnasiasten im Frühjahr 1933 zur Flucht aus Deutschland. Freunde hatten ihn noch rechtzeitig gewarnt. 


In England angekommen, widmete sich Eugen Leviné medizinischen Studien. Die Erziehung durch Ernst Meyer bestärkte ihn in seinem Selbstverständnis. In ihm sah er lebenslang den eigentlichen Vater, den er verehrte, ohne die Ideale eines gerechten, die Menschheit in einer freien Gesellschaft zusammenführenden Sozialismus aufzugeben, die er glaubte, von seinem leiblichen Vater geerbt zu haben.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Genia auf der Insel Man interniert, nach seiner baldigen Entlassung war er Sprecher im Deutschland-Dienst der BBC. Daneben wirkte er in einer Sozialstation in London. Nach dem Ende des Krieges fand Eugen Leviné zu seiner eigentlichen Berufung als Lehrer in naturwissenschaftlichen Colleges von London. Er unterrichtete mit Leidenschaft und in beispielhafter Zuwendung zu jungen Menschen, nicht nur dem eigenen Sohn. Bis zum Jahre 1981 übte er seinen Lehrberuf aus.

Genias Mutter, Rosa Meyer-Leviné, verzieh ihrem einzigen Kind nie dessen Bekenntnis zu bürgerlichen Tugenden und die Absage gegenüber einem Engagement im politischen Kampf. Sie selbst lebte seit Ende der 30er Jahre als Emigrantin in London. Genia litt unter der Distanz der Mutter, blieb aber seinen Grundsätzen treu und ließ es nie an Loyalität ihr gegenüber fehlen. Als sie Mitte der 70er Jahre nicht mehr in ihrer eigenen Wohnung leben konnte, nahmen er und seine Frau, die Ärztin Katie Frieth, die Mutter in ihrem Haus in Romford auf, sie starb im November 1979 in London.


Genias Verantwortung gegenüber dem Schicksal der Mutter ist es mit zu danken, dass der kleine, von ihr bis in ihre letzten Lebensjahre fortdauernd bearbeitete schriftliche Nachlass Rosa Meyer-Levinés im Bundesarchiv dauerhaft gesichert werden konnte. Nach seinem Eintritt in den Ruhestand widmete sich Genia vermehrt zeitgeschichtlichen Studien, regelmäßig besuchte er in Begleitung seiner Frau Deutschland. In den Gesprächen zeigte er sich als profunder Kenner der zeitgeschichtlichen Literatur, speziell Publikationen zur Weimarer Republik und zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. In seinen persönlichen Erinnerungen erwies er sich als ein fairer Zeuge des Geschehens in Deutschland, über seine Schulkameraden in Berlin zu Beginn der 30er Jahre sprach er trotz evidenter politischer Gegensätze verständnisvoll, ja mit Wärme. Mit Entschiedenheit grenzte er sich jedoch gegen jene ab, die sich in den Jahren der Diktatur aus opportunistischen Gründen den Nazis angeschlossen hatten. In den Jahren des Ruhestands wurde er vermehrt als Zeitzeuge zu Vorträgen eingeladen sowie in Hörfunk- und Fernsehproduktionen zum Gespräch gebeten. Unvergessen bleiben sein über viele Stunden währender Auftritt in der Geschichtswerkstatt »Revolution und Rätezeit« in München im Jahre 1989, seine Aussagen in der BBC-Fernsehserie »The Nazis: A Warning from History« im Jahre 1997, sein Gastvortrag am King’s College London im gleichen Jahr über seine Jugend in Deutschland, um nur wenige Beispiele zu nennen. Genia war der geborene Redner, er liebte,  Pointen zu setzen, Witze mit zugespitzter Aussage zu zitieren, wenig begründeten Einwänden mit spontaner Ironie und einer Gegenfrage zu begegnen. Ihn zeichnete ein unerschöpflicher Humor aus, der ihn auch in den letzten Lebensjahren bei wachsender Einschränkung körperlicher Beweglichkeit nicht verließ.


Über Jahrzehnte war Genia führendes Mitglied der Britisch Humanists Society, in der Achtung der Menschenrechte in der Gesellschaft sah er seine Aufgabe.

 

Seine kritische Wahrnehmung schloss stets die Entwicklungen in Deutschland ein, er kommentierte aktuelle Ereignisse leidenschaftlich und zupackend in zahllosen, zu fast jeder Tageszeit geführten Telefonaten in seiner Muttersprache ebenso wie im Englischen. Als wachsamer Bürger fühlte er sich dem humanistischen und sozialistischen Ideal der Eltern bis zum Lebensende verbunden. Auch seinen Freunden in unserem Lande werden seine Fragen und Kommentare fehlen.

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