JHK 2007

Dänemark und die Oktoberrevolution

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 245-254 | Aufbau Verlag

Autor/in: Thomas Wegener Friis/Jesper Jørgensen

Die »Große Sozialistische Oktoberrevolution« war auch für Dänemark ein entscheidendes historisches Ereignis. Sie brachte im Ostseeraum ein revolutionäres Regime an die Macht und erschütterte die Bourgeoisie der skandinavischen Länder bis ins Mark. Zudem war die Revolution Ausgangspunkt für die Spaltung der skandinavischen Arbeiterbewegung in einen revolutionär-kommunistischen und einen reformorientierten, sozialdemokratischen Teil.

In Dänemark und den übrigen nordischen Ländern prägten v. a. die Sozialdemokraten die Art und Weise, wie die Oktoberrevolution wahrgenommen und beurteilt wurde. Sie dominierten die politische Szene ab den 20er Jahren, als sie dauerhaft Regierungsverantwortung übernahmen und in eine staatstragende Funktion hineinwuchsen. Zunächst begrüßten die Sozialdemokraten die russische Revolution als Sturz des nichtreformierbaren Zarismus und als sozialistisches Experiment. Die Sympathie verflog jedoch rasch. Nach der von den Bolschewiki gewaltsam erzwungenen Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung im Januar 1918 sah man das sowjetrussische Regime kritisch, weil es einen Bruch mit der sozialdemokratischen Tradition der Demokratie und des Mehrparteiensystems vollzog. In Dänemark unterstützte in der Folge nur eine kleine linksradikale Gruppe innerhalb des sozialdemokratischen Jugendverbandes das revolutionäre Russland. Diese Gruppe bildete 1920 den Kern der als Sektion der Dritten Internationale gegründeten Kommunistischen Partei Dänemarks. In der Zwischenkriegszeit spielte sie in Dänemark allerdings nur eine untergeordnete Rolle. 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs genossen die Kommunisten v. a. auf Grund ihres maßgeblichen Beitrages zum Widerstandskampf für kurze Zeit breitere Zustimmung. Sie vermochten dabei nicht, ihre Einschätzung der Oktoberrevolution zu popularisieren. Der Beginn des Kalten Krieges und Dänemarks außenpolitischen Neuorientierung, die zur Aufgabe der Jahrhunderte alten Neutralität und dem NATO-Beitritt führten, verstärkten die negative Interpretation der Oktoberrevolution. Die sozialdemokratischen Regierungen betrachtete diese Revolution als Wurzel des Bösen. 

Aus diesem Grund wurde das Werk Pest over Europa (Pest über Europa) des sozialdemokratischen Ideologen Hartvig Frisch aus dem Jahr 1933 erneut aufgelegt. In diesem Buch beschreibt er das russische Regime als terroristisch und setzt es mit den faschistischen und nazistischen Diktaturen in Italien und Deutschland gleich. In seinem Nachwort von 1950 merkte Frisch an, dass die Welt (und die Arbeiterbewegung) sich weiterhin in einer schweren Auseinandersetzung zwischen Parlamentarismus und Diktatur befände.[1] 

Seit den 50er Jahren entstanden in Dänemark neben den Kommunisten weitere größere Parteien links von der Sozialdemokratie: die Sozialistische Volkspartei (gegründet 1959), die Linkssozialisten (1967 bis 1998) und die rot-grüne Partei Enhedslisten (Einheitsliste, gegründet 1989). Daneben existierten kleinere linke Gruppen u. a. maoistischer und trockistischer Prägung: die Dänische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten, die Sozialistische Arbeiterpartei, die Kommunistische Arbeiterpartei, Fælles Kurs (Gemeinsamer Kurs) und die Kommunistische Partei in Dänemark. Diese Parteien hielten auf unterschiedliche Weise Distanz zu den sozialistischen Regimen Osteuropas. Auch wenn sie keine Marxisten Moskauer Prägung waren, so verfügten sie doch über ein positives Bild von der Oktoberrevolution. Ihr Einfluss erhöhte sich in den 60er und 70er Jahren beträchtlich, nicht zuletzt weil sich viele linksintellektuelle Künstler, Akademiker und andere Persönlichkeiten zur »Neuen Linken« bekannten. Hinzu kam die Propaganda der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten. Sie versuchten mit so genannten »Auslandsinformationen« das Bild der Oktoberrevolution sowie der sozialistischen Staaten im Westen zu beeinflussen. Diese Bestrebungen erhielten mit der Annäherung von Ost und West in den 70er Jahren bessere Rahmenbedingungen. Die sozialistischen Staaten waren zudem bestrebt, ein Monopol über zugängliche Informationen zur Geschichte ihrer Gesellschaften auszuüben, was ihnen teilweise auch gelang. 

Die Oktoberrevolution an den dänischen Schulen

Das Ergebnis des Interpretationswettbewerbs zur Oktoberrevolution lässt sich an den dänischen Schullehrbüchern vom Ende der 70er Jahre sehr gut zeigen. Zu diesem Zeitpunkt gab der renommierte Schulbuchverlag Munksgaard eine Serie des sozialliberalen Politikers und Journalisten Sven Skovmand über die Sowjetunion heraus, die für die Grundschule konzipiert war. Skovmands Bild von der Sowjetunion war in der Tendenz positiv. Er erkannte zwar an, dass die sowjetische Gesellschaft einige Defizite aufwies, zum Beispiel die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Auf der anderen Seite hob er – analog den offiziellen sowjetischen Darstellungen – die Mängel in den westlichen Gesellschaften hervor. So schrieb er zum Beispiel »sind die meisten Betriebe in Dänemark in Privatbesitz. Das macht es für den Staat schwierig, Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb können die Russen mit einem gewissen Recht behaupten, dass ihre Verfassung die Bürger besser sichert als zum Beispiel die dänische.«[2]

60 Jahre nach der Oktoberrevolution betrachtete Skovmand das Sowjetsystem als legitimes Gesellschaftsmodell, das ungeachtet seiner Mängel dem sowjetischen Volk viele Errungenschaften gebracht hätte. Diese grundlegende Auffassung prägte auch sein Revolutionsbild. Das zaristische Russland stellte er als eine Gesellschaft dar, die unreformierbar war. Die russische Landwirtschaft war »hoffnungslos vernachlässigt« und viele Bauern standen »unter dem Einfluss der Kulaken«. Unter dem Ministerpräsidenten der Provisorischen Regierung Aleksandr Kerenskij war »das russische Reich eine verrottete Tür. Sie wartete nur darauf, eingetreten zu werden«.[3] Die Oktoberrevolution kam deswegen wie eine Befreiung über das Land. Dazu schildert Skovmand Erleichterung nach der Machtübernahme: »Als Lenin die Nachricht erhielt, dass der Winterpalast gefallen sei, trug er eine Perücke, eine Brille und hatte seinen Bart abrasiert. Er musste ja vermeiden von Kerenskijs Spionen entdeckt zu werden. Nun zog er die Perücke ab. ›Bitte gib sie mir. Es kann sein, dass du sie wieder brauchst‹, sagte ihm sein Begleiter. Viele Jahre hatten die Kommunisten die Regierung bekämpft und wurden von der Polizei verfolgt. Auf einmal stellten sie die Regierung und sollten Entscheidungen fällen. Es war ein fast unglaublicher Gedanke.«[4]

Laut Skovmand begrüßten auch die Arbeiter die Revolution, denn sie »übernahmen alle Betriebe, Eisenbahnen und Minen in Russland. Sie wünschten sich nämlich, dass das ganze Volk und nicht nur eine kleine Anzahl reicher Leute sie besitzen sollten.«[5] Lenins Machtübernahme war so gesehen ein fast demokratischer Akt. Dass sie legitim war, geht auch aus Skovmands Beschreibung der Gegner der Revolution hervor. Sie bestanden aus Ausländern, die über die Enteignungen entsetzt waren, sowie aus Konterrevolutionären, obwohl er diesen spezifischen Begriff selbst nicht verwendet. Diese Zuschreibung wird jedoch aus der Beschreibung der unmittelbaren Reaktion auf den bolschewistischen Putsch deutlich: »Schon einige Tage nach der Revolution versuchten führende Offiziere die Regierung zu stürzen. Diese Rebellion wurde jedoch schnell niedergeschlagen.«[6] Die angebliche Legitimität der bolschewistischen Regierung lässt sich hier nicht zuletzt an der Wortwahl erkennen. Waren die Gegner Lenins Rebellen, dann musste er der rechtmäßige Staatschef sein. 

Eine Revolution lässt sich nicht mit Glacéhandschuhen gewinnen, das ist bei Sven Skovmand erkennbar. So beschreibt er, wie Feliks Dzeržinskij durch ein Missverständnis 1 500 Gefangene hinrichten ließ. Dies relativiert der Verfasser jedoch gleich wieder durch eine Bildlegende, in der er Dzeržinskij wie folgt beschreibt: »[…] ein harter Mann. Er war schuld am Tod vieler Menschen, aber auch als Ehrenmann bekannt. Er setzte sich sehr dafür ein, elternlosen Kindern zu helfen. Deshalb brachte man 1962 diese Briefmarke [mit Dzeržinskij Kontervei] heraus. Auch einer der berühmten Moskauer Plätze ist nach ihm benannt, an dem das Kinderkaufhaus Detskij Mir liegt.«[7]

Auch an den dänischen Gymnasien wurden ab Ende der 60er Jahre die Oktoberrevolution und die Geschichte der Sowjetunion gelehrt. Von den 70ern bis in die 90er Jahre war die russische Revolution fester Bestandteil des dreijährigen Geschichtslehrplans der dänischen Gymnasialausbildung. 

Es gab zwei Ursachen für die Positionierung im Gymnasiallehrplan. Erstens änderte sich der Inhalt des Geschichtsunterrichts in der Nachkriegszeit. Es wurde weniger Wert auf das Lehren »historischer Fakten« gelegt, stattdessen entwickelte sich das Fach in eine diskursive und methodische Richtung. Zugleich änderte sich die zeitliche Schwerpunktsetzung: Zeitgeschichte und Gesellschaftskunde spielten eine größere Rolle. Die Schüler sollten so in die Lage versetzt werden, die Gegenwart zu verstehen. Zweitens prägte diese Zeit in Dänemark und Westeuropa ein revolutionärer Romantismus, der den Umbrüchen von 1968 folgte. Das Interesse am Marxismus und seinen verschiedenen Manifestation in Osteuropa und in der Dritten Welt verstärkte sich beträchtlich. Der Kapitalismus befand sich in einer scheinbaren Krise, was der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen Auftrieb gab. Das bedeutete nicht, dass sich die Vertreter dieser Strömungen mit dem Sowjetsozialismus identifizierten. Sie waren aber der Meinung, aus den historischen Lehren und praktischen Fehlern der KPdSU und ihrer »Bruderparteien« etwas lernen zu können.

Die Darstellung der Oktoberrevolution und der Sowjetunion folgte v. a. dem gymnasialen Standardwerk Sovjetunionens historie (Geschichte der Sowjetunion) von Erik Bach Nielsen. Es erschien zum ersten Mal 1980. Bis 1990 folgten mehrere Auflagen, und das Werk wurde bis in die 90er Jahre im Unterricht verwendet. Das Buch vertrat keine radikalen Deutungen, sondern stellte in vielerlei Hinsicht den historisch-politischen Mainstream dar. Es versuchte die Sowjetunion »objektiv« zu bewerten, indem es den Staat nicht besonders rühmte, andererseits jedoch bestrebt war, das Land in keinem allzu schlechten Licht erscheinen zu lassen. Damit sollte es die Diskussion unter den Schülern fördern. Diese Linie erwies sich jedoch als problematisch. In dem Streben, die Sowjetunion gerecht zu behandeln, ging das Buch den gleichen Weg wie die Werke von Skovmand. Zwar werden die offensichtlichen Nachteile des sowjetischen Systems benannt, die Darstellung ist aber so aufgebaut, dass andere Schwerpunkte diese Mängel überdecken. Auch Bach Nielsen beschreibt das Russland der Romanovs als »failed state« mit einem wirkungslosen Parlament. Dazu bringt er ein Beispiel für die Brutalität des Zarenregimes, das 250 Arbeiter während eines Streiks in Sibirien ermordete. Die Sowjetunion wird zudem als föderativer Staat, vergleichbar den USA oder der Bundesrepublik Deutschland, charakterisiert. Der Oberste Sowjet ist das wichtigste zentrale Staatsorgan, als Antwort auf die Kritik von Menschenrechtlern am Sowjetsystem wird die sowjetische Verfassung zitiert. Lenin wird als positive politische Persönlichkeit dargestellt, die Tscheka als Garant für den Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg kurz erwähnt. Die Repression der Geheimpolizei tritt indes nur als Randphänomen auf.

Auffallend bei dem Werk von Bach Nielsen ist die Wortwahl bei der Beurteilung der politischen Folgen der Revolution. Der Autor sät Zweifel am diktatorischen Charakter des Regimes und dessen Illegitimität, indem er schreibt: »Manche westliche Historiker behaupten, dass die Diktatur des Proletariats sich zur Diktatur der Bolschewiki entwickelte und die Räte nur einen Deckmantel für die Machtausübung der Bolschewiki darstellten. Hiergegen ist es die Auffassung der sowjetischen Historiker, dass sich Sozialrevolutionäre und Menschewiki durch die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien kompromittiert hatten.«[8] Besonders sprechend ist, dass die sowjetischen Historiker eine Auffassung vertreten, während manche im Westen etwas behaupten. Eine andere charakteristische Wortwahl ist die Beschreibung der Zwangsrequirierung von Getreide durch die Sowjetregierung. Sie wird als notwendige Maßnahme gegenüber den Bauern bezeichnet, weil diese den Städten die Nahrungsmittellieferungen verweigerten. Sie verzehrten die Früchte ihrer Arbeit stattdessen selbst oder lagerten sie ein. Seine Beschreibung der Beschlagnahme stellt nicht die Lebensverhältnisse der verarmten Landbevölkerung in den Mittelpunkt, sondern ihre Rebellion gegen die Sowjetmacht. Um die Legitimität der Regierung zu unterstreichen, werden die Widerstandsorganisationen der Bauern als »Bauernbanden« bezeichnet.[9] 

Skovmand und Bach Nielsen äußern sich kritisch zur Stalinzeit, d. h. zu Zwangskollektivierung und »Großem Terror« 1937/38. Beide Verfasser heben hervor, dass Lenin vor Stalin in seinem Testament gewarnt hat und dass Stalins Tod 1953 einen Wendepunkt in der sowjetischen Geschichte darstellte. Es entsteht der Eindruck, Stalin sei – im Gegensatz zu Lenin – ein unglückliches Missverständnis der sowjetischen Geschichte gewesen.

Beide Verfasser relativieren jedoch ihr Urteil über Stalin durch weitere Fakten: So rehabilitiert Skovmand Stalin, weil er dessen Herrschaft als Vorraussetzung für den Sieg über Hitlerdeutschland deutet.[10] Auch Bach Nielsen folgt dieser Argumentation, indem er schreibt, dass »keiner bestreiten würde, dass dies [Stalins Industrialisierung und Kollektivierung] die Gründe dafür waren, dass die Sowjetunion Hitlerdeutschland standhalten konnte.«[11] Außerdem ist Bach Nielsen relativ zurückhaltend, wenn er zum »typisch« westlichen Urteil über die StalinEpoche Stellung nimmt: »Die klassische Frage westlicher Darstellungen ist: War es die Opfer wert? Hierzu möchte ich anmerken: Die Industrialisierung verlief nun [einmal] in der Geschwindigkeit und auf eine solche Art und Weise, wie sie eben in der Sowjetunion gewählt wurde, und deshalb ist es nutzlos, die Frage zu diskutieren. Gleichwohl werden wir nie eine Antwort darauf erhalten, ob eine Generation großes Leid tragen muss, damit zukünftige Generationen besser leben können.«[12] Dass der Verfasser sich weigert, die »klassische Frage« zu stellen, hat Konsequenzen für seine Darstellung. So erkennt er an, dass der Lebensstandard der Sowjetbevölkerung in Stadt und Land in den 30er Jahren sank. Zugleich betont er, dass Stalin den Gesundheitssektor stärkte und eine bessere Sozialversicherung einführte. Er beseitigte auch die Arbeitslosigkeit. Sklavenwirtschaft und Zwangsarbeit spielen bei Bach Nielsen keine Rolle. In Bezug auf die Zwangskollektivierung nennt er kurz und unkommentiert eine Zahl zu den Menschen, die »vermutlich deportiert wurden«: 1 bis 10 Millionen. Dazu ergänzt er Folgendes: »Die Bauern reagierten sehr scharf auf die Kollektivierungen. Sie zogen es vor, die Haustiere zu schlachten, anstatt sie an die Kolchosen abzutreten […]. Mangel an Futter und Verwahrlosung in den Kolchosen könnten dafür eine Ursache sein. Besonders schlecht verlief sie [die Kollektivierung] in Kasachstan. Hier sank der Bestand an Scharfen und Ziegen von 19,2 Millionen 1928 auf 2,6 Millionen 1935. Erst 1940 erreichte der Bestand wieder 7 Millionen.«[13] Diese Beschreibung der Folgen der Zwangkollektivierung ist illustriert mit einem sowjetischen Propagandabild, auf dem ein Parteiaktivist einer Gruppe wohlgenährter und gut gekleideter Baumwollpflücker die sowjetische Verfassung erläutert. 

Die Abrechnung mit dem Stalinismus in den 80er Jahren

Die Herrschaft Stalins wurde in den 80er Jahren Ausgangspunkt für eine Debatte über das Sozialismusbild in Dänemark. Anlass war das Buch Stalinismens fascination og de danske venstreintellektuelle (Die Faszination des Stalinismus und die dänischen Linksintellektuellen) des den bürgerlichen Parteien nahestehenden Professors Bent Jensen (damals Odense Universität). In seinem Buch nahm Jensen, wie der Titel andeutet, äußerst kritisch zum Mitläufertum derjenigen Intellektuellen Stellung, die die Sowjetunion in den 30er, 40er und 50er Jahren unterstützt hatten.

Zweierlei ist charakteristisch für Jensens Kritik. Erstens richtete sie sich gegen die organisierten Sowjetbefürworter in der dänischen KP und in der dänischsowjetischen Freundschaftsgesellschaft. Zweitens griff Jensen den Teil der sowjetischen Geschichte auf, bei dessen Verurteilung bereits ein gewisser Konsens bestand. Es war sicherlich ein bewusster Schritt, dass Jensen Stalin und nicht Lenin oder die Oktoberrevolution kritisierte, die für viele immer noch ein Tabu darstellte. Wie die oben genannten Zitate zeigen, blieb aber selbst Kritik an der StalinÄra nicht unwidersprochen. Jensen wusste, dass er sich mit den Gebrauch von Begriffen wie »Massenmord« und »Vernichtungslager« auf ein vermintes Gelände wagte. Deshalb leitete er sein Buch mit den Worten ein: »Manche werden dieses Buch als einseitig und ungerecht empfinden«. Die Kritik Jensens war ein prinzipieller Angriff auf das sowjetische Projekt, seine Legitimität und die »sozialistische Revolution«. So schrieb er u. a.: »Lenin und Stalin formten den klassischen Marxismus in ein ideologisches Werkzeug für die radikale Umgestaltung der russischen Gesellschaft durch eine totalitäre Partei um.«[14]

In seinem Buch Ny Ruslandshistorie (Neue Russlandgeschichte) von 1992 kritisierte Jensen Lenin direkt. Er charakterisierte ihn als fanatischen, gläubigen Marxisten. Die Oktoberrevolution stellte er als Putsch und Ursprung allen Übels dar. Mit ihr begannen die Planwirtschaft, das Lagerregime und die Verfolgung von angeblichen »Volksfeinden« und »Schädlingen«. Auch Lev Trockij, der einigen als bessere Alternative zu Stalin galt, brandmarkte Jensen als ideologischen Hardliner und Befürworter der Zwangsarbeit. Zudem wandte sich Jensen auch gegen den Mythos von der Revolution als Befreiung der Völker des russischen Imperiums. In seiner Interpretation folgte dem zaristischen das sowjetische Imperium nach, das jede Selbstständigkeitsbestrebung der anderen Nationen und Nationalitäten niederwarf. 

Aufgrund seines Bruches mit dem politisch-historischen Konsens der 80er Jahre geriet Bent Jensen zunächst in eine isolierte Forschungsposition. Dies wurde durch seine Neigung zu moralisieren verstärkt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging er jedoch als Sieger aus der Auseinandersetzung hervor. Er ist heute einer der profiliertesten Historiker im öffentlichen Leben Dänemarks. Politisch steht Jensen der aktuellen bürgerlichen Minderheitsregierung nahe, die im Parlament von der rechtsnationalen Dänischen Volkspartei gestützt wird.

Wohin mit der Lenin-Statue? 

Die Oktoberrerolution erhielt vor wenigen Jahren erneut politische Brisanz, als das Kopenhagener Arbejdermuseet (Arbeitermuseum) zum Schauplatz für eine hitzige Diskussion um die Person Lenins wurde. Aus verschiedenen Gründen griffen die Medien die Tatsache auf, dass seit 1998 eine Lenin-Statue am Eingang des Museums stand. Die Statue, geschaffen von dem lettischen Bildhauer Otto Kaleis, kam 1985 als Geschenk der Sowjetunion an die Gewerkschaft der Seemänner nach Dänemark. Diese Gewerkschaft war eine der wenigen nichtsozialdemokratischen Gewerkschaften im dänischen Gewerkschaftsbund. Die Seemänner stellten Lenin an ihrer Ausbildungsstätte Tidens Højskole (Volkshochschule der Zeit) in Hörsholm, nördlich von Kopenhagen, auf. Dort stand sie, bis die Schule Anfang der 90er Jahre verkauft wurde. Die Statue war jedoch vom Verkauf ausgeschlossen worden, und das Arbeitermuseum erhielt sie Mitte der 90er Jahre als Geschenk. Ab 1998 war sie Teil der Dauerausstellung »Folkets århundrede« (Das Jahrhundert des Volkes).

Erst im Sommer 2004 forderten mehrere namhafte Politiker der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Parteien sowie ihnen nahestehende Persönlichkeiten, dass die Statue entfernt werden müsste, und zwar mit der Begründung, Lenin hätte die Ideen der Demokratie und des Sozialismus verraten. Alternativ schlugen sie vor, sollte der Statue ein Text mit der Aussage beigefügt werden, dass Lenin wie Stalin und Hitler ein Massenmörder gewesen sei. Die Kritiker waren sich einig, dass es »abstoßend« sei, dass »einer der größten Henker der Geschichte« in einem staatlich geförderten Museum ausgestellt wird. Die Kritik barg den Vorwurf in sich, das Museum würde mit der Statue der Person Lenin huldigen. Die den sozialdemokratischen Gewerkschaften nahestehende Museumsleitung widerstand jedoch dem Druck und entschied, dass allein das Museum seine Ausstellungspolitik festlegt. Als kleines Zugeständnis wurde ein erklärender Text neben der LeninStatue angebracht. Zudem entschied das Museum, dass die Statue nicht Bestandteil der neuen, 2007 zu eröffnenden Dauerausstellung werden soll. 

Das Museum erhielt aus den fachhistorischen und juristischen Kreisen Unterstützung für sein Argument, dass es selbst seine Ausstellungen zusammenstellt und die Ausstellungstexte verfasst. Aus einer Forschungsperspektive ist es jedoch interessant, dass sich in der Diskussion verschiedene politisch-historische Deutungen klar voneinander abgrenzten. Museumsdirektor Peter Ludvigsen vertrat in diesem Zusammenhang eine traditionelle Deutung, indem er sagte: »Wir wollen selbstverständlich sowohl die Geschichte der Statue als auch die Lenins erzählen. Er wird als derjenige beschrieben, der die russische Revolution einleitete, und als derjenige, der einen Bürgerkrieg einleitete, der so grausam wie blutig war. Er wird jedoch nicht als Massemörder und Henker bezeichnet. Ich glaube, dass Louise Frevert [Parlamentarierin der Dänischen Volkspartei und Teilnehmer in der Diskussion] Lenin mit Stalin verwechselt. Wenn wir herablassende Begriffe verwenden, verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit. Im Bürgerkrieg hat man sich gegenseitig umgebracht.«[15] Diese Auffassung von Lenins historischer Rolle ist die Fortsetzung der Auslegung der Oktoberrevolution in den 80er Jahren. Das erklärt, warum Peter Ludvigsen mit seinem Leninbild in der Debatte allein blieb. Seine Äußerungen wurden vehement, teilweise in heftigem Ton, von vielen Seiten kritisiert. Diejenigen, die fachlich-historische Argumente in der Debatte vorbrachten, betonten den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Lenin und Stalin. Stalins »Großer Terror« und der Gulag waren demnach eine Folge des Putsches vom Oktober 1917 und der Errichtung der Diktatur des Proletariats durch die Bolschewiki. 

Die Diskussion um die Lenin-Statue veranschaulicht damit, wie sich das allgemein verbreitete Bild der Oktoberrevolution in den letzten 25 Jahren erheblich verändert hatte. Wurde die Revolution früher als Anfang eines (zwar missglückten) Versuchs des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft angesehen, betrachtete man sie am Anfang des neuen Jahrtausends vornehmlich als den Beginn eines Terrorregimes.

Wer behandelt die Oktoberrevolution heute? 

Die Antwort auf diese Frage lautet: Niemand. Ein entscheidender offizieller Schritt in diese Richtung wurde mit der Ausblendung der Revolution aus dem so genannten Geschichtskanon vom Juni 2006 gemacht. Der Kanon war Teil eines Berichts über die Arbeit des Fachausschusses zur Stärkung der Geschichte in der Grundschule. Wie der Name andeutet, war der Ausschuss von der Regierung gebildet worden, um eine mögliche Antwort darauf zu geben, wie das Geschichtsverständnis der dänischen Jugend verbessert werden könnte. Der Ausschuss wählte 29 so genannte Kanonpunkte der Geschichte von der Ertebölle-Kultur (5400 bis 3900 v. Chr.) bis zur Globalisierung aus. Diese Punkte sollen die Basis für den zukünftigen Geschichtsunterricht bilden.[16] Dieses staatliche Gremium stufte die Oktoberrevolution als Ereignis ein, das für die heranwachsende Generation nicht mehr von Bedeutung sein soll. 

Das ist ein Novum in der dänischen Schule. Früher stellte die Revolution einen wichtigen Punkt im Lehrplan sowohl in der Grundschule als auch im Gymnasium dar. Und dies scheinbar mit Erfolg. In einer der wenigen Analysen zur Nachhaltigkeit des Geschichtsunterrichts wurden 15-Jährige zu ihrem historischen Wissen befragt. Sie wurden gebeten, fünf historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu benennen. Eines davon war – die Oktoberrevolution. Mit 30,6 Prozent Erinnerungsquote wurde die Revolution nur durch den Zweiten Weltkrieg mit 36,6 Prozent übertroffen, was von einer guten Kenntnis der Oktoberrevolution und von einer Sonderposition im Unterricht zeugt.[17]

Als der Bericht des Ausschusses veröffentlicht wurde, hagelte es Kritik von Historikern und Politikern. Der Unmut konzentrierte sich auf die Ereignisse, die nicht in den Kanon aufgenommen worden waren. Besonders hervorgehoben wurde das Fehlen des Ersten Weltkrieges, der Oktoberrevolution, des Nationalsozialismus und des Holocaust. Bei einer Durchsicht der Debatten fällt auf, dass bei der Kritik am Fehlen der Oktoberrevolution kein einziges Argument aufgeführt wurde, warum sie dennoch in den Kanon aufgenommen werden sollte. Hier liegt vermutlich der Grund dafür, warum die Oktoberrevolution nicht mehr als wichtiges historisches Ereignis betrachtet wird. Heute, fast 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, wird es zunehmend schwieriger, den Aktualitätsbezug der Oktoberrevolution zu erkennen. 

Dies kann sich möglicherweise wieder ändern, aber die Öffentlichkeit nimmt Lenins Revolution heute nur noch am Rande wahr. Die Schwächung der Bedeutung der Oktoberrevolution verläuft parallel zum fast vollständigen Verschwinden der russischen Sprache aus den dänischen Gymnasien. Zudem ist es symptomatisch, dass die Sowjetunion nur eine kleine Rolle in der regen dänischen Debatte über den Kalten Krieg gespielt hat. Die Position der Sowjetunion als Exponent der sozialistischen Länder ist im Wesentlichen von der DDR übernommen worden, was selbstverständlich auch der großen sprachlichen und geografischen Nähe sowie dem leichteren Quellenzugang zuzuschreiben ist. 


[1]  Frisch, Hartvig: Pest over Europa. Bolschevisme – Fascisme – Nazisme, 2. Aufl. Kopenhagen 1950, S. 328. 

[2]  Skovmand, Sven: Sovjetunionen. USSR 2, Kopenhagen 1979, S. 75.

[3]  Ebenda, S. 116.

[4]  Skovmand, Sven: Marx, Lenin og Stalin. USSR 5, Kopenhagen 1979, S. 42.

[5]  Ders.: Sovjetunion – en supermagt. USSR 6, Kopenhagen 1979, S. 13.

[6] Skovmand: Marx, Lenin og Stalin (Anm. 4), S. 42.

[7]  Ebenda, S. 49.

[8]  Bach Nielsen, Erik: Sovjetunionens historie, Kopenhagen 1980, S. 37.

[9]  Ebenda, S. 48. 

[10]  Skovmand: Marx, Lenin og Stalin (Anm. 4), S. 64. 

[11]  Bach Nielsen: Sovjetunionens historie (Anm. 8), S. 87.

[12]  Nielsen: Sovjetunionens historie (Anm. 8), S. 87.

[13] Ebenda, S. 90. 

[14]  Jensen, Bent: Stalinismens fascination og de danske venstreintellektuelle, Kopenhagen 1984, S. 12.

[15]  Jyllands-Posten vom 27. April 2004.

[16]  Rapport fra Udvalget til styrkelse af historie i folkeskolen. Undervisningsministeriet juni 2006, Kopenhagen 2006.

[17]  Angvik, Magne/Nielsen, Vagn Oluf (Hrsg.): Ungdom og historie i Norden, BergenSandviken 1999; Angvik, Magne/Borries, Bodo von (Hrsg.): Youth and History. A Comparative European Survey on Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents, Hamburg 1997.  

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