JHK 2007

»Wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige«. Der erzwungene Wandel der SED in der Revolution 1989/90 Interview mit Wolfgang Berghofer

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 396-421 | Aufbau Verlag

Autor/in: Manfred Wilke

MANFRED WILKE: Herr Berghofer, am 8. Oktober 1989 hatten Sie, damals Oberbürgermeister von Dresden, als erster SED-Funktionär den Mut mit der oppositionellen Gruppe der 20 in einen Dialog über die Situation in ihrer Stadt und im Land einzutreten. Das war ein historischer Schritt, der eine dynamische Veränderung der Kräfteverhältnisse in der DDR einleitete. Welche Entwicklungen führten zu dieser Entscheidung?[1]

WOLFGANG BERGHOFER: Die Partei war mit Honeckers Krebserkrankung seit August 1989 faktisch führungslos. Es kamen von der Zentrale keine klaren Vorgaben mehr, die die Realität im Lande widerspiegelten. Die Staats- und Parteiführung machte einfach weiter wie bisher. Das Motto lautete: »Wir feiern jetzt mit großem Pomp den 40. DDR-Geburtstag, und dann sehen wir weiter«. Aber große Teile der einfachen SED-Mitglieder fingen an zu revoltieren. Nicht wenige von ihnen waren am Ende die Demonstranten auf der Straße oder saßen in der Gruppe der 20 mit am Verhandlungstisch. Sie waren im Grunde genommen bereits zu »Gegnern« geworden, weil sie verstanden hatten, dass es mit dem Sozialismus in der DDR zu Ende ging. Es gab auch in der mittleren Ebene der Partei, vor allem aber unter den Wirtschaftsfunktionären, heftige Diskussionen. Ich habe beispielsweise im Herbst 1988 anlässlich der Leipziger Messe mit Alexander Schalck-Golodkowski die Frage diskutiert, ob ein Putsch gegen die Gerontokraten im Politbüro erfolgreich sein könnte, denn dort sahen wir das Problem. Die Antwort war eindeutig: Jeder derartige Versuch endet in Bautzen, für einen solchen Lösungsansatz fehlten uns die strukturellen Möglichkeiten. Die zweite Option, die ich ins Auge fasste, war in den Westen zu gehen. Es gab gut bezahlte Angebote, so z. B. von dem Hamburger Maschinenfabrikanten Kurt A. Körber. Aber dieser Weg kam für mich moralisch nicht in Frage. Also blieb nur, aus der Misere das Beste zu machen. Das war die bequemste der drei Optionen und scheinbar die einzig machbare.

Diese Ausgangslage innerhalb der SED erklärt unter anderem auch, warum es in der DDR während des Umbruchs 1989 nicht zu Blutvergießen kam. Große Teile des Machtgefüges übten gegenüber der Führung selbst Veränderungsdruck aus und verlangten: Hier muss etwas passieren, so kann es nicht weitergehen. Auf Grund der politischen und ökonomischen Fehlentwicklung hatte die Fluchtbewegung solche Ausmaße angenommen, dass wichtige und sensible Bereiche einer Stadt wie Dresden zusammenbrachen. So gab es z. B. fast keine Augenärzte mehr. Es brach Panik unter der Bevölkerung aus. Man fragte sich: Was wollen wir denn noch hier? Und unter dem Motto »Wir wollen hier raus!« erhielt die Entwicklung eine nicht mehr einzudämmende Dynamik. Nehmen Sie beispielsweise die Bausubstanz Dresdens, Leipzigs oder Bautzens. So wie deren historische Gebäude verfielen, so verfielen auch Identität und Bindung an die Heimat. Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Im Grunde genommen haben sie 1989 kaum noch jemanden getroffen, der leistungsfähig war und der nicht sagte: Es ist Schluss, ich gehe.

WILKE: Wie haben Sie die oppositionellen Gruppen wahrgenommen? Zum Beispiel den heutigen Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz?

BERGHOFER: Die Opposition habe ich bis zum Oktober 1989 überhaupt nicht wahrgenommen. Herrn Vaatz kannte ich nicht. Meine westlichen Gesprächspartner, z. B. Klaus von Dohnanyi, der ehemalige 1. Bürgermeister Hamburgs, und sein Nachfolger im Amt Henning Vorscherau, haben mich bei unseren Treffen nie gefragt, ob Gespräche mit Oppositionellen möglich seien. Die so genannten Dissidenten, die mir durch die Polizeirapporte und Stasi-Berichte bekannt waren, machten außer Propaganda und negativen Redensarten eigentlich nichts »staatsfeindliches«. Als reale wirkungsvolle Opposition waren für mich im Grunde genommen nur einzelne Persönlichkeiten der evangelischen Kirche erkennbar, allerdings nicht im politischen Sinne des heutigen Oppositionsbegriffes. Sie widersprachen in wichtigen gesellschaftlichen Konfliktfeldern, beispielsweise der demokratischen Entwicklung, der offiziellen Linie der SED. Mit den wichtigsten Personen, dem Landesbischof Johannes Hempel sowie dem Superintendenten und Pfarrer der Dresdener Kreuzkirche Christof Ziemer, hatte ich ein sehr gutes Verhältnis, das von beiderseitiger Achtung getragen war. Deshalb habe ich auch akzeptiert, dass sie mir schonungslos die Wahrheit ins Gesicht sagten. So hat mir Herr Ziemer schon im Mai 1989 unmittelbar nach den Kommunalwahlen gesagt: »Herr Berghofer, die Wahlen sind gefälscht. Sagen Sie mir ehrlich wie!« Natürlich konnte ich darauf nicht antworten und schwieg. Herr Ziemer sagte daraufhin: »Ihr Schweigen sagt mir, was ich zu entnehmen habe. Sie werden das bitter bezahlen«, womit er letztlich Recht behalten hat. Aber auch diese Kräfte hatten kein Interesse an staatlichen Veränderungen im Sinne einer Wiedervereinigung, sie wollten eine andere DDR. 

Hierzu noch eine Anmerkung. Ich erhielt von der MfS-Bezirksverwaltung ausgewählte Berichte über die politische Situation im Bezirk Dresden. Das war ungewöhnlich, denn meine Informations- und Entscheidungsebene war die Stadt. Für diese war die MfS-Kreisdienststelle zuständig, mit der ich aber kaum Kontakt hatte. Der MfS-Bezirkschef Generalmajor Horst Böhm veranlasste das, immer mit dem Vermerk »Lesen und sofort zurückgeben!«. Ich stand nicht auf dem Verteiler, damit ich nicht das gleiche Wissen wie Hans Modrow, der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, hatte. Das war – Wissen ist Macht – einer der Machterhaltungsgrundsätze in der SED. Warum Böhm, der dann nach seiner Entlassung im Februar 1990 Selbstmord beging, das getan hat, weiß ich nicht. Ich vermute, dass er in mir einen der Hoffnungsträger von übermorgen sah und sich auf diese Weise eine gute persönliche Beziehung aufbauen wollte. In diesen MfS-Berichten war von Opposition bis Mitte 1989 nicht die Rede, sondern nur von Rand- und Splittergruppen der Gesellschaft, die den Eindruck hinterließen, dass ihre Mitglieder in keiner Gesellschaft zurecht kommen und deshalb nicht ernst zu nehmen seien. Die eigentliche Opposition, wie sie heute mitunter verklärt dargestellt wird, entstand aus meiner Sicht erst unmittelbar um den 7. Oktober 1989 herum. Ab da nahm sie schrittweise organisatorisch klare Formen an: die Gruppe der 20 in Dresden, der Demokratische Aufbruch, die SDP in der DDR usw. 

WILKE: Die Oktobertage in Dresden haben für das Thema Umwandlung der SED in die PDS, d. h. das Ende der Diktaturpartei und den Übergang zu einer parlamentarischen Wettbewerbspartei, eine unmittelbare Bedeutung. Sie begann mit der abenteuerlichen Entscheidung von Honecker, die Botschaftsflüchtlinge aus Prag über den Dresdener Hauptbahnhof in den Westen zu schicken, damit die 40-Jahr-Feier nicht gestört wird. Es gab auf dem Dresdner Hauptbahnhof Versuche von Ausreisewilligen auf die Züge aufzuspringen. Die Polizei ging dagegen gewaltsam vor. Die Bezirkseinsatzleitung, die aus den führenden Partei-, Staats- und Sicherheitsfunktionären des Bezirkes Dresden bestand, übernahm das Kommando über die Sicherheitskräfte vor Ort, um die Unruhen zu beenden. Inwieweit waren Sie als Oberbürgermeister involviert?

BERGHOFER: Am 3. Oktober, als das Drama in Dresden losging, rief mich Modrow an. Zu ihm hatte ich ein relatives Vertrauensverhältnis aufgebaut, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Modrow sagte: »Ich übernehme jetzt über die Bezirkseinsatzleitung die Führung der Prozesse zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit in der Stadt. Du gehörst nicht dazu. Du kümmerst dich ausschließlich um eine reibungslose Versorgung der Bevölkerung und vor allem um die Vorbereitung des 40. Jahrestages!« So wurde ich aus der Arbeit der Bezirkseinsatzleitung während der Flüchtlingskrise völlig herausgehalten und erhielt auch keine detaillierten Informationen mehr. Das hatte den Vorteil, dass ich Zeit hatte, nachzudenken: Was mache ich; und wie gehe ich mit der ganzen Sache um. Was die Bezirkseinsatzleitung wirklich entschieden bzw. was sie nicht entschieden hat und was die Sicherheitsorgane selbst entschieden haben, ist bis heute strittig. Modrow stellt es so dar, als hätte die Bezirkseinsatzleitung nie getagt, und alle sicherheitsrelevanten Entscheidungen wären selbständige Entscheidungen der Polizeieinsatzkräfte und der Staatssicherheit gewesen. Also er war nicht verantwortlich und konnte demnach nicht in Verantwortung genommen werden. Dafür hat ihn Böhm, der MfS-Chef des Bezirkes, gehasst, weil diese Version natürlich nicht stimmte.

WILKE: Dann kommt das schon erwähnte Ereignis, dass einen hohen Stellenwert in Bezug auf den Prozess der Differenzierung in der SED hat, nämlich Ihre Entscheidung vom 8. Oktober; dem Rat von Christof Ziemer zu folgen, mit den Demonstranten das Gespräch aufzunehmen und die Gruppe der 20 zu empfangen. Das ist ein prinzipieller Bruch mit der damaligen Parteilinie, die für den 9. Oktober vorsah, die Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten ein für alle Mal zu beenden. Sie wussten, dass eine der Möglichkeiten, die dieser Schritt barg, Ihre Verhaftung war, und Sie gaben Ihrer Frau den Rat, sich an den Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau zu wenden, falls das geschieht. Dass heißt, Sie forderten sie zur »ungesetzlichen Verbindungsaufnahme« auf. Diese Entscheidung veränderte Sie in dieser Situation, Sie wurden ein anderer. Sie waren an einem Punkt angelangt, an dem Sie sich die Frage stellten: Geht das gewaltsam aus, oder gibt es den Weg einer friedlichen Lösung?

BERGHOFER: Die Demonstranten wie auch die Polizeieinsatzkräfte waren am Abend des 8. Oktober in einer emotionalen Verfassung, in der man mit allem rechnen musste. In dieser Situation führte ich auf Bitten von Landesbischof Hempel und Superintendent Ziemer ein folgenschweres Gespräch mit der Dresdner Kirchenspitze. Die Herren Hempel und Ziemer erschienen gegen 21.10 Uhr im Rathaus und wurden vom Oberkirchenrat Fritz begleitet. Sie kamen direkt von den Demonstranten in der Prager Straße, die mit Polizeikordons eingekesselt waren. Sie wirkten höchst angespannt und befürchteten eine Katastrophe. 

WILKE: Sprich, Pekinger Lösung. 

BERGHOFER: Ja. Meinerseits hatte ich den stellvertretenden Oberbürgermeister für Inneres Hans Jörke beauftragt, an diesem Gespräch teilzunehmen. Nun kann man heute über mögliches Blutvergießen spekulieren, wie man will. Ich war damals der Auffassung, wenn man jetzt nicht handelt, dann kann das passieren. Nur eine falsche Bewegung, ein Polizist verliert die Nerven oder ein Demonstrant wirft einen Stein, und es geht los. Ziemer schilderte die Situation auf der Prager Straße und schlug vor: »Herr Oberbürgermeister Berghofer, können Sie sich vorstellen, eine Abordnung der Demonstranten zu empfangen? Dann könnten wir dafür sorgen, dass sich die Demonstration friedlich auflöst.« Natürlich konnte ich mir das vorstellen. Das wäre ein Signal! Ziemer entwarf einen Text, den er auf der Prager Straße vorlesen wollte. Ich habe dies mit wenigen Änderungen akzeptiert. Er lautete sinngemäß, der Oberbürgermeister sei bereit, am nächsten Morgen eine Abordnung von etwa 20 Leuten zu empfangen und mit ihnen über die anstehenden Probleme zu reden, wenn die Demonstranten die Demonstration friedlich beendeten. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa noch tausend Leute im Polizeikessel.

Als wir uns einig geworden waren, sagte ich: »Meine Herren, Sie werden verstehen, dass das eine sehr weit reichende Entscheidung ist, die weit über meine Kompetenzen hinausgeht. Gestatten Sie mir eine fünfminütige Pause.« Ich ging in mein Dienstzimmer, um Hans Modrow anzurufen, den einzigen befugten Entscheidungsträger im Bezirk Dresden. Aber ich bekam nur subalterne Funktionäre an den Apparat. Modrow saß zu dieser Zeit in der Semperoper bei der zweiten Premiere der »Fidelio«-Inszenierung. Es gab daher keine Rückendeckung für mich Ich musste selbst entscheiden. Mir war klar, dass im Falle eines Scheiterns mein politisches Ende besiegelt wäre. Denn ich bewegte mich nun am Rande des Hochverrats. Jeglicher Kontakt mit oppositionellen Gruppen war den Mitarbeitern der Staatsorgane bis dahin strikt verboten.

Ich kehrte in den Sitzungsraum zurück und ließ noch Peter Klotzsche, Ratsmitglied für Verkehr, hinzubitten. Jörke und Klotzsche wies ich an, die Kirchenmänner mit meinem Dienstwagen zum Ort der Demonstration zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie die Prager Straße ungehindert betreten konnten. Jörke hatte schon während des Gesprächs in telefonischem Kontakt zu Oberst Schlaak gestanden, dem diensthabenden Offizier der Bezirksbehörde der Volkspolizei, der seinerseits den Einsatzleiter auf der Straße, Major Prager, von unserer Absicht informierte. Nun hätte dieser sagen können, das interessiert mich überhaupt nicht, ich habe andere Befehle, aber sagte, weil er es genauso sah wie ich: »Wenn die Herren auf der Prager Straße eintreffen und das Verhandlungsergebnis verkünden, handeln wir entsprechend.

Ehe die drei Unterhändler das Rathaus verließen, fragte mich Landesbischof Hempel: »Herr Berghofer, hat das alles einen Sinn, was wir hier machen?« Ich habe lange überlegt. Konnte ich dem Kirchenmann vertrauen? Ich entschied mich für schonungslose Offenheit. »Herr Bischof, wenn der Druck auf der Straße nicht größer wird, ändert sich nichts. Sie wissen gar nicht, wie schlecht die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation wirklich ist. Der Außenhandel mit der Sowjetunion funktioniert nicht mehr. Die sowjetische Wirtschaft ist in großen Schwierigkeiten. Deshalb ist auch die DDR im Grunde genommen pleite. Es muss sich etwas ändern, vieles sogar.« Der Bischof hörte aufmerksam zu, mir schien, als sei er betroffen, solche Worte von einem namhaften SED-Mann zu hören. Er schwieg. Dieses Eingeständnis hatte er nicht erwartet.

Was weiter geschah, war durch das Fenster meines Arbeitszimmers zu hören, da der Ort der Handlung nur etwa 500 Meter vom Rathaus entfernt war. Plötzlich trat Ruhe ein, dann hörte man eine Männerstimme, das war Ziemer. Zehn Minuten später kam die Mitteilung, die Polizeikordons haben sich zurückgezogen und die Demonstration hat sich aufgelöst. Die heikle, gefährliche Situation war beendet. 

Kurz vor Mitternacht, als ich schon zu Hause war, rief Modrow an. Ich setzte ihn kurz über das Gespräch und dessen Ergebnis ins Bild. Er hörte aufmerksam zu und sagte: »In Ordnung. Komm bitte morgen früh um 6.30 Uhr in die Bezirksleitung. Bis dahin lasse ich einen Text vorbereiten, den du dort verkünden musst. Ich werde die anwesenden Sekretariatsmitglieder zusammenrufen und sehen, ob wir deine Entscheidung legitimieren können.«

Ich bin am 9. Oktober früh um sechs in die SED-Bezirksleitung gefahren. Dort hatte Modrow, wie angekündigt, einen Mitarbeiter beauftragt, eine dreiseitige Erklärung aufzusetzen, die ich zu Beginn dieses Dialogs mit den Demonstranten vortragen sollte. Er hatte zu einer Sondersitzung die Mitglieder des SEDBezirkssekretariats, die im Haus waren, eingeladen. Modrow sagte: »Der Oberbürgermeister hat gestern Abend entschieden, mit den Vertretern der Demonstranten Gespräche aufzunehmen. Das ist eine weit reichende Entscheidung, die meine Zustimmung findet. Für euch besteht die Möglichkeit, diese Entscheidung mitzutragen oder euch aus der Sache herauszuhalten.« So eine Rede hatte es bis dahin in der SED nicht gegeben. Es entschied sich niemand dagegen. Es herrschte Schweigen. Ich war erleichtert, denn ich hatte nun sogar ein Mandat für das Gespräch. 

Ich nahm das vorgeschriebene Redemanuskript und fuhr abschließend ins Rathaus. Den vorgegebenen Text konnte ich nur teilweise verwenden, das war ein Honecker-Elaborat. Ich habe wesentliche Teile gekürzt, einige weggelassen und den Rest überarbeitet. Um 9 Uhr habe ich dann die 20 Abgeordneten der Demonstranten zum Gespräch im Ratssitzungssaal empfangen. Sie waren kreidebleich und voller Spannung. Sie fühlten sich nicht als Sieger. Es waren unterschiedliche Personen, die, mit wenigen Ausnahmen, im Verlauf der revolutionären Veränderungen aus der Gruppe der 20 ausgeschieden sind, darunter auch ein SED-Mitglied. Sie waren natürlich nicht organisiert und nicht in der Lage, bereits jetzt einen gemeinsamen Standpunkt vorzutragen. Aber sie hatten endlich einmal einen bekannten SED-Funktionär gezwungen, mit ihnen zu sprechen. Das war ja schon sehr viel. Meine Befindlichkeiten spielten da überhaupt keine Rolle, das konnten diese Menschen sich sicherlich nicht vorstellen. Ich habe zu diesem Gespräch mehrere meiner Ratsmitglieder hinzugezogen. Vor allem die Jüngeren, darunter der LDPD-Stadtrat für Energie Axel Viehweger, der spätere Bauminister in der Regierung Lothar de Maizière, haben mit mir versucht, die Atmosphäre zu vermenschlichen. Ungemein wichtig war die Rolle Ziemers als Moderator, ohne ihn wäre das alles gar nicht gegangen. Also wenn man jemandem ein Denkmal setzen wollte, dann ihm. Aber Ziemer ist heute in seiner Kirche verfemt, ich weiß nicht warum. 

Für mich selbst war klar: Wenn du diesen Schritt gehst, der nicht der offiziellen Linie der Parteiführung entsprach, dann ist der Ausgang ungewiss. Aber ich hatte keine Angst. Das war ja auch etwas Eigenartiges, ich stand gewissermaßen neben mir und agierte nach dem Motto: Wir müssen das jetzt machen. Ich war allein, denn ich hatte auch mein Netzwerk in Berlin im großen Parteihaus[2] nicht gefragt. Das habe ich dann erst nach dem Gespräch getan. Mir wurde hinterbracht, was Stoph gesagt hat: »Verräter«. Diese Position aus Berlin war zu erwarten, aber es geschah anschließend nichts. Mein Schritt hatte nicht die befürchteten Konsequenzen.

Beim zweiten Gespräch mit der Gruppe der 20 am 16. Oktober war die SED mit Modrow an der Spitze schon wieder soweit zu sagen, jetzt drehen wir das Ganze um und vereinnahmen es. Modrow schickte ein Fernschreiben nach Berlin, in dem stand, dass wir den Dialog begonnen haben und es ein zweites Rathausgespräch mit Berghofer gibt. In diesem Gespräch würden die Positionen der SED wie Frieden und Sozialismus – also die üblichen Worthülsen – dargelegt. Er übermittelte das an das Politbüromitglied Joachim Herrmann, so dass man nach oben abgesichert war. Aber diese eine Woche später, Leipzig war ja vorbei und die Leute wussten, dass sie gewonnen hatten, ließen sie sich keine Parteiparolen mehr unter die Nase reiben, zumal auch ich dazu überhaupt kein Verhältnis mehr hatte. 

WILKE: Es war also die Emanzipation des Funktionärs zum Bürger.


BERGHOFER: So kann man das sagen. Allein, mit wem wollte man darüber reden?

WILKE: Trotzdem, diese Schritte müssen ja noch einmal in sich bewertet werden. Ist denn die Gesprächsaufnahme in Dresden am Morgen des 9. Oktober, an dem Tag, als die entscheidende Konfrontation in Leipzig stattfinden sollte, über die Medien schon veröffentlicht worden?

BERGHOFER: Ja, auf der Kreisseite der Regionalzeitung, d. h. auf der letzten Seite, mit einem nichtssagenden Satz. Wenn Sie sich die regionalen Tageszeitungen vom 9. Oktober ansehen, gab es den Leitartikel, der auf den Platz des Himmlischen Friedens mit der Krenz-Position verwies: Wir werden mit allen Mitteln den Sozialismus verteidigen. Das hieß auf Deutsch: Wir werden schießen. Und irgendwo ganz am Ende stand verklausuliert, so, dass es keiner kapierte, da hat irgendein Blödmann in Dresden ein Gespräch begonnen. Ich übersetze das mal so profan.

WILKE: Gut, aber es gab die westdeutschen Korrespondenten. 

BERGHOFER: Die haben darüber schon berichtet.

WILKE: Und die haben an dem Tag umfangreich berichtet, denn das ist ja insofern von Bedeutung, weil dann abends in Leipzig eine vergleichbare Entwicklung einsetzte: SED-Bezirkssekretäre verfassten zusammen mit dem Leiter des Gewandhausorchesters Kurt Masur den prägenden Aufruf »Keine Gewalt!« Das war ja auch bei Ihnen im Grunde der Schlüsselsatz. 

BERGHOFER: In diesem Gespräch am Morgen des 9. Oktober schlug einer der Beteiligten vor, anschließend nach Leipzig zu fahren, um den Kollegen dort zu empfehlen, das genauso zu machen. Ich wurde gebeten, mit meinem Leipziger Amtskollegen, Bernd Seidel, Kontakt aufzunehmen und ihm zu empfehlen, dasselbe zu tun. Als das Gespräch im Dresdner Rathaus zu Ende war, fuhr tatsächlich einer aus der Gruppe der 20 nach Leipzig und teilte den Organisatoren in der Nikolai-Kirche mit, wie man es machen könnte. Und ich habe Seidel so gegen 12 Uhr angerufen. Wir kannten uns gut, er war meine Generation: »Bernd, ich schildere dir jetzt mal, wie wir das in Dresden gemacht haben. Modrow hat dem zugestimmt.« Er entgegnete: »Das kannst du vergessen, das ist in Leipzig alles überhaupt nicht möglich. Wenn ich mit so einem Vorschlag zur Bezirksleitung komme, fliege ich achtkantig raus oder geh gleich in den Kahn. Das geht nicht, also ich warte ab.« Der Modrow gleichgestellte Parteifunktionär in Leipzig war ein Hardliner. Die Veränderungen in Leipzig haben jüngere Kader eingeleitet, Roland Wötzel und Co, die erkannt hatten, wie es gehen könnte, um das Schlimmste zu verhindern. Das Problem für den Historiker heute ist, sie können das alles nicht belegen. Honecker hat hundertprozentig einen Schießbefehl und die entsprechende Direktive dazu erlassen. Auf der mittleren Ebene der Partei und der Sicherheitsorgane finden Sie die Anschlussdokumente, aus denen man ableiten kann, da muss doch vorher irgendjemand oben etwas von sich gegeben haben.

WILKE: Es ist interessant, dass in Leipzig die Unterlagen der Bezirkseinsatzleitung zufällig für Oktober fehlen.

BERGHOFER: Das ist meines Wissens auf allen Bezirksebenen der Fall. Auf der Ebene der Kreisdienststellen sowie einzelner Einheiten der Armee, der Polizei sowie des MfS sieht man aber, dass irgendwelche zentralen Direktiven erlassen worden sein müssen. Ich kann mich erinnern, dass ich am 9. Oktober nach dem Gespräch mit der Gruppe der 20 noch einmal in der SED-Bezirksleitung war, um mit Modrow abzustimmen, wie wir weitermachen. Da war ein so genannter Instrukteur des Zentralkomitees anwesend, Genosse Winkler. Man stritt sich. Modrow erklärte, das kann man doch nicht machen, und gab dann das als streng geheime Kommandosache gekennzeichnete Papier an den Instrukteur zurück. Ich nehme an, das war der entscheidende Befehl. 

Dazu müssen Sie folgendes wissen, denn das ist nicht aufgearbeitet, und es gibt dazu auch nichts an Belegen und Beweisen. – Die SED-Führung stand immer vor dem Dilemma, Dinge zu tun, die nicht mit der Verfassung in Übereinstimmung und gesetzwidrig waren oder die man aus propagandistischen Gründen nicht veröffentlichen wollte. Das heißt, sie konnte wichtige Instruktionen und Befehle nicht schriftlich festhalten, sondern nur zum Lesen und zum Vernichten weitergeben. Zu diesem Zweck gab es auf der kompletten Führungsebene der Partei und des Staates die Instrukteure. Für jede Bezirksleitung der SED gab es einen Instrukteur des Zentralkomitees, der unterstand dem Generalsekretär, also Honecker. Er wurde in der praktischen Arbeit durch das Politbüromitglied Horst Dohlus, verantwortlich für die Parteiorgane, in Bewegung gesetzt, aber disziplinarisch und inhaltlich Honecker unterstellt. Diese Instrukteure, 15 Leute, die muss es alle noch geben, waren relativ jung. Sie wissen im Grunde genommen alle Antworten auf die Fragen, die die Historiker nicht oder nur ungenau beantworten können. Man müsste sie wieder ausfindig machen und wenigstens einen zum Reden bewegen. Die ZK-Instrukteure waren in der Regel einmal in der Woche in ihrem Bezirk, meistens schlossen sich dann der 1. Sekretär und der Befehlsübermittler ein. Es folgte ein mehrstündiges Gespräch und dann wusste in unserem Falle Modrow, was der große Meister aus Berlin von ihm erwartete. Brachte der Instrukteur Dokumente mit, z. B. für die Vorbereitung der Wahlen, dann durfte der 1. Sekretär das Papier lesen, quittierte, und der Instrukteur nahm es wieder mit. Solche Dokumente wurden in Berlin gesondert archiviert. In der Übergangsphase, als ich dem Arbeitsausschuss zur Vorbereitung des SED-Sonderparteitages vom 8./9. Dezember und 16./17. Dezember 1989 angehört habe, habe ich mich natürlich dafür interessiert. Da war aber schon alles vernichtet. Insofern ist das Instrukteursystem des ZK meines Erachtens der eigentliche Schlüssel zur Ermittlung der sensibelsten Wahrheit: Was hätte die Führung unternommen, um die Macht zu erhalten, wenn man noch handlungsfähig gewesen wäre, also wenn Honecker noch bei Kräften gewesen wäre. 

WILKE: Jedenfalls begann nach dem 9. Oktober in Leipzig die Phase der Veränderung mit dem Wechsel von Honecker zu Krenz. Als Krenz nach seiner Wahl zum Generalsekretär am 18. Oktober eine »Wende« der Parteipolitik versprach, mutierte das riskante Unternehmen in Dresden vom 8. Oktober plötzlich zu einem herausragenden Beispiel der Dialogbereitschaft der SED.

BERGHOFER: Das hatte man natürlich ganz schnell erkannt unter dem Motto: Wir müssen die Demonstranten von der Straße kriegen, wir müssen das in tausend vielfältige Einzelgespräche auflösen und die Kraft der Straße brechen, dann können wir – natürlich über eine Konsolidierungsphase – wieder fest im Sattel sitzen und mit neuen Gesichtern weitermachen wie bisher. Das war zusammengefasst die Strategie von Krenz und in Variation auch die von Modrow. Also man war nicht bereit zu akzeptieren, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit ganz andere Veränderungen verlangte, vor allen Dingen wirtschaftliche. Es schossen überall von der SED organisiert Runde Tische aus dem Boden, und auch der Zentrale Runde Tisch in Berlin war zunächst von Krenz in die Diskussion gebracht worden, um wieder Herr des Verfahrens zu werden. 

WILKE: Die entscheidende Zäsur für die weitere Entwicklung ist der 9. November, der Mauerfall. Krenz hat an diesem Tag vor dem ZK – als er das Reisegesetz verlas und abnicken ließ – gesagt: Gleichgültig was die SED tut, sie macht einen Fehler. Die Öffnung der Grenze war ja auch nicht so vorgesehen, wie sie verlief. Nach dem Mauerfall, am 10. November, nominierte das ZK Modrow als Ministerpräsident der DDR, und er bildete am 17. November erstmals in der DDR eine Koalitionsregierung. In dieser Situation gab es eine bemerkenswerte und gegen die Geschichte der SED verlaufende Neuverteilung der Macht. Das einzige handlungsfähige Instrument, über das die SED noch verfügte, war der Staatsapparat. Nicht mehr das Politbüro mit Krenz, sondern Modrow wurde zur eigentlichen Zentrale der SED-Herrschaft in der DDR. Wie wurde das von Ihnen aufgenommen, reflektiert, und was hatte Modrow in dieser Situation mit seinem Oberbürgermeister vor?

BERGHOFER: An dem Tag des endgültigen Sturzes des Politbüros, am 3. Dezember, einem Sonntag, rief mich Modrow in Dresden an und sagte: »Komm bitte sofort nach Berlin. Richte dich auf einen längeren Aufenthalt ein.« Also habe ich mich von meiner Frau im Lada nach Berlin ins Haus des ZK kutschieren lassen. Ich hörte dort, dass Herbert Kroker,[3] der ehemalige Generaldirektor des Erfurter Mikrotechnologiekombinates einen Arbeitsausschuss leitete.

Es konnte mir niemand sagen, wer ihn beauftragt und legitimiert hatte. 

WILKE: Zu diesem Zeitpunkt wussten Sie, dass das Zentralkomitee geschlossen zurücktreten ist, dass Krenz nicht mehr Generalsekretär war und die SED von einem Arbeitsausschuss geleitet wurde?

BERGHOFER: Geleitet werden sollte! Und ich kam in Berlin an, als sich der Tagungsraum leerte, offensichtlich hatte es noch zwei, drei Stunden nach der Verkündung der Beschlüsse in den Foyers Diskussionen gegeben, und es rannte alles wild durch einander. Die meisten handelnden Personen kannte ich. Kroker kannte ich nicht persönlich, der war in schon relativ fortgeschrittenem Alter. Modrow sagte mir, es sei ein Arbeitsausschuss berufen worden, dem ich angehören solle. Dieser Arbeitsausschuss hat die Aufgabe, einen Sonderparteitag vorzubereiten und die Übergangslinie für die Parteiarbeit festzulegen. Wir müssen uns jetzt hinsetzen und überlegen, was zu tun ist. 

In dem großen Chaos habe ich versucht, im Hause des ZK jemanden zu finden, der sich auskannte. Man muss sich die Atmosphäre vorstellen, der alte Parteiapparat hatte zur Kenntnis genommen: Unsere Führung ist entmachtet, unsere Abteilungsleiter sind entlassen. Und was wird jetzt aus uns? Werden wir alle aufgehängt? 6 000 hauptamtliche Funktionäre im großen Haus standen plötzlich vor dem Nichts, und jeder versuchte zu retten, was zu retten ist. Zudem saß man auf hochbrisanten Archiven, jede Abteilung für sich! Man sah Leute mit Papieren durch die Gänge flitzen, man sah die grauen Gestalten, die entmachtet worden waren, in Dreiergruppen zusammenstehen, und dazwischen bewegten sich nun die Mitglieder des neuen Arbeitsstabes. Zum Beispiel Heinz Vietze[4]. Ich fragte ihn: »Was machst du denn hier?« »Na, ich bin jetzt 1. Sekretär der SEDBezirksleitung Potsdam. Wir sollen hier irgendwas erfinden.« Also Chaos, Konzeptionslosigkeit. Dann gab es die erste Zusammenkunft dieser Truppe. Da saßen Kroker, Modrow, Gregor Gysi, Markus Wolf und der Rest der Mannschaft.[5] Wolf überreichte mir bei der Gelegenheit sein Buch Die Troika mit der Widmung: »Für Werner Berghofer«. So hatte ich gleich meinen Decknamen. Kroker sagte: »Genossen, wir sollen einen Sonderparteitag vorbereiten, aber damit hier gleich klar ist: Ich stehe nicht für eine herausragende Funktion zur Verfügung. Ich leitete diesen Arbeitsausschuss, bis er seinen Auftrag erfüllt hat, und dann gehe ich zurück nach Erfurt.«

Von da an tagten wir permanent, rund um die Uhr, verschwitzt, im Sitzungssaal des Politbüros. Von überall kamen die Mitteilungen, da sind der und der zurückgetreten und dort ist wieder eine Demonstration. Die Ereignisse der Revolution im Lande stürzten auf die Mannschaft ein: Dort revoltieren die Mitarbeiter der Kreisdienststelle des MfS. »Markus, da muss’de hin und schlichten.« Hinzu kam die krampfhafte Suche nach der Antwort auf die Frage, wie es weitergehen soll. Also als erstes war die Frage zu klären, wer soll auf dem Sonderparteitag für welche Funktion kandidieren. Im Vorfeld hatte es ein Gespräch mit Modrow und Wolfgang Herger[6] gegeben. Herger kannte ich aus der FDJ-Zeit, da war er 2. Sekretär des Zentralrats. Sie sagten: »Genosse, du musst jetzt die Führung der SED übernehmen, du bist der Bekannteste, du bist populär, die Leute vertrauen dir.« Und ich habe gesagt: »Könnt ihr vergessen, ich stehe für eine hauptamtliche Funktion als Parteifunktionär hier genauso wenig wie in Dresden zur Verfügung. Das ist nicht meine Welt. Im besten Fall übernehme ich eine ehrenamtliche Funktion.« Na gut, das war erledigt. Aber im Arbeitsausschuss wiederholte sich das Ganze, weil nämlich alle 23 Personen stundenlang auf mich einredeten und sagten: »Du musst, weil …« Bis Gysi sich erhob und eine zündende Rede hielt, perfekt, wie er das kann, und die Begründungen lieferte, warum ich das machen soll. Ich hab dann gesagt: »Gregor, hervorragende Rede, setz deinen Namen ein, und dann stimmt alles.« Woraufhin Gysi sagte: »Ok, dann mach ich das.« Damit war die Machtfrage personell geregelt.

WILKE: Gysi behauptet, er habe darauf bestanden, dass er nur den Vorsitz übernimmt, wenn Sie sein Stellvertreter werden.

BERGHOFER: Ja, richtig. Er hat gesagt, er macht das unter den Bedingungen, dass die wichtigsten Personen an diesem Tisch dabei sind und das Verhältnis Staat und Partei ordentlich geklärt wird.

WILKE: Damit sind wir bei einer weiteren gravierenden Veränderung, nämlich die Staatspartei muss sich von dem Wunschbild jeder bolschewistischen Politik verabschieden: der ungeteilten Macht. Der Parteiführung war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass sie sich in Konkurrenz zu anderen Parteien Wahlen würde stellen müssen und dass sie die künftige DDR-Regierung mit Sicherheit nicht mehr führen würde. 

BERGHOFER: Das ist aus der Nachbetrachtung sicherlich richtig. In dem Moment der emotional aufgeladenen Diskussionen und der rasanten Veränderungen hat keiner in der Runde – vielleicht Modrow, aber er hat darüber nicht gesprochen – das so strategisch klar und deutlich formuliert. Modrows Grundposition war, ich leite die Regierung, ich werde es nicht dulden, dass eine neue Parteiführung in meine Regierungsarbeit hineinregiert, deshalb muss die Trennung von Partei und Staat sein.

WILKE: Muss man das so verstehen, dass Modrow als erfahrener Parteifunktionär sich sagte, der Apparat hat sowieso versagt und es kann nicht mehr geduldet werden, dass die Parteisekretäre die Regierungsarbeit kommandieren?

BERGHOFER: Das glaube ich nicht. Ich denke, Modrow hat vor allem an die Sicherung seiner eigenen Interessen gedacht. Er wurde oft unterschätzt. Meistens versteckte er sich hinter einer Leidensmine und seinem proletarischen Habitus. Im Kampf um die Macht hatte er seine eigene Strategie entwickelt. Ich habe mit ihm an mehreren Auseinandersetzungen mit unserer Obrigkeit teilgenommen. Allerdings musste ich erleben, dass wir den jeweiligen Streit mit dem Politbüro bzw. dem Ministerrat gemeinsam begannen. Wenn die Sache jedoch politisch gefährlich wurde, stand ich allein. Man musste bei ihm immer damit rechnen: Wenn es gut geht, ist er der Sieger, und wenn es schlecht geht, bin ich der Verlierer. Das werfe ich ihm vor, das ist sein eigentliches Problem, dieses Doppelspiel. In dieser Phase ging es Modrow in allererster Linie um die Sicherung seiner Interessen. Das setzte voraus, dass alle störenden Elemente weg mussten. Erstens Krenz, der war zur Belastung geworden. 

Zweitens, er wird als Ministerpräsident nicht in irgendeinem Parteigremium über seine Regierungsarbeit Bericht erstatten. Er wird ab und zu informieren, denn er brauchte die SED, um nach unten etwas durchzusetzen. Für ihn war die SED der verlängerte Arm der Regierung. Es war genau so, wie Sie es sagen, das Machtmonopol wurde umgedreht und von der Partei auf den Staatsapparat verschoben. Das wurde ganz schnell praktisch sichtbar. So nahm er beispielsweise nicht mehr ständig an den Arbeitsausschusssitzungen teil.

WILKE: Der dritte Faktor, der verschwinden musste, war die Belastung durch das MfS.

BERGHOFER: Und das möglichst mit großer Distanz und mit dem Weichmacher Markus Wolf, der in bestimmten Kreisen der Intellektuellen und auch innerhalb der Partei mit seinem angeblichen Widerstand gegen Mielke als Perestrojkaner akzeptiert war. 

Es war am 3. Dezember 1989, unmittelbar vor dem Weggang von Schalck in dem Westen. Modrow lud zum Gespräch ins Haus des Ministerrates, in sein Arbeitszimmer. Eingeladen waren Xxxx, Berghofer, Wolf und Wolfgang Pohl. Kurze Beratung, keiner wusste, worum es eigentlich geht, das war auch ein Novum: Bis dato hatten ja Parteifunktionäre die Staatsfunktionäre zum Gespräch eingeladen. Es war das erste Mal, dass führende Parteifunktionäre zum Ministerrat gingen. Modrow sagte: »Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige!« Ich fragte: »Wie stellst du dir das vor? Die Schuldigen sind wir.« »Nein, das kann man so nicht sehen. Wir brauchen Verantwortliche, zu denen es in der Gesellschaft schnell einen Konsens gibt und die Massen sagen, jawohl, das sind die Schuldigen. Das kann nicht die SED sein.« »Wer soll das sein?« »Das Ministerium für Staatssicherheit«, sagte er. Daraufhin sprang Wolf in die Höhe und sagte: »Hans, wir – Schild und Schwert der Partei – haben doch nie etwas ohne Befehle von Euch gemacht.« »Ja«, sagte er, »Mischa, bleib ruhig. Die Aufklärung des MfS halten wir selbstverständlich aus dieser Einschätzung heraus.«

»Ach so.« Wolf setzte sich wieder hin und war einverstanden.[7] Dann sagte Modrow: »Wir brauchen natürlich auch eine hauptverantwortliche Person für die Misere. Das kann nicht Honecker sein, denn er steht für die Partei. Wir müssen uns hier nicht streiten über dessen Rolle. Wir brauchen einen Schuldigen, bei dem das Volk sagt, der hat auf unsere Kosten gelebt.« »Und wer ist das?« »Das ist Alexander Schalck-Golodkowski. So wurde es verkündet. So fing die neue Partei an zu agieren. Natürlich will das heute keiner mehr wahr haben. Man findet aber in den damals nachfolgenden Aktivitäten den Beweis.

WILKE: Das DDR-Fernsehen berichtete am 2. Dezember über das Waffenlager der KoKo-Firma IMES in Kavelstorf. Damit begann die öffentliche Skandalisierung Schlacks. Nach seinem Übertritt in den Westen wurde Schlack dann am 6. Dezember wie besprochen zum Schuldigen erklärt.

BERGHOFER: Das Waffenlager wurde nicht zufällig entdeckt, das wusste doch jeder von denen da oben. Das hatte Modrow in Gang gesetzt. Das ModrowGespräch war natürlich inoffiziell. Dennoch hat sich dieser Schachzug von Modrow zur Rettung der SED als genial erwiesen, weil er funktioniert hat und bis heute funktioniert. Schuld an der Misere und dem Untergang der DDR sind scheinbar das MfS und die Figur, die am meisten Unheil angerichtet hat und auf Kosten des Proletariats in Saus und Braus gelebt hat. Daneben gab es noch ein paar Trottel in der Parteiführung, aber die waren alt und nicht mehr zurechnungsfähig. Die eigentlichen Machtstrukturen sind alle aus dem Bewusstsein verschwunden, niemand kennt sie mehr.

WILKE: So hat Modrow die MfS-Frage – wie bereits andere Fragen zuvor – taktisch gelöst, ausgehend von der Maxime: Das MfS können wir sowieso nicht mehr halten. Die Fixierung auf das MfS hatte, beginnend mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig, seinen realpolitischen Sinn in der Erfahrung der Demonstranten. Sie wussten, wenn es nicht gelingt, der SED dieses Instrument zu entwinden und einsatzunfähig zu machen, dann kann es keine wirkliche Änderung geben. Sollte es zum Eingreifen der Sowjets kommen, was zu dem Zeitpunkt im Oktober noch nicht wirklich klar war, dann würde die Rache furchtbar werden. Dieser Druck von unten und die Umkehrung von Mielkes Frage »Wer war Wer?« in der DDR zum »Wer waren die Spitzel unter uns?« waren das, was Modrow trieb. Er nutzte diesen Druck ebenso wie Krenz den Dresdener Dialog nutze, um sich als Moderator zu stilisieren. 

BERGHOFER: Ich möchte noch etwas zu Wolfgang Pohl bemerken: Eine wichtige Entscheidung, neben mir einen zweiten Stellvertreter zu etablieren, war der Tatsache geschuldet, dass sich jemand um die Finanzen, also um den parteiinternen Bereich kümmern musste. Ich habe von Vorhinein abgelehnt eine solche Aufgabe zu übernehmen, weil das nicht meinem Naturell entspricht. Ich bin kein Bürokrat. Gysi, der – wie Insider sagten – nicht in der Lage war, eine Reisekostenabrechnung auszufüllen, das soll für ihn in seiner aktiven Anwaltszeit Lothar de Maizière gemacht haben, lehnte das ebenfalls ab. Pohl war in der Bezirksleitung Magdeburg 2. Sekretär.

WILKE: Und er war gerade kurz zuvor Nachfolger von Werner Eberlein als 1. Sekretär in Magdeburg geworden.

BERGHOFER: Richtig. Als 2. Sekretär hatte u. a. er die Verantwortung für die Finanzen und brachte also eine gewisse Kompetenz mit. Wie man dann später hörte, hat er die auch schamlos genutzt. Ich kann mich vor allem an eine Episode erinnern: Mich rief Außenwirtschaftsminister Gerhard Beil an, der bis dato nie auch nur ein Wort mit mir gewechselt hatte: »Wolfgang! Kannst du nicht mal in mein Büro Unter den Linden kommen? Es gilt, eine wichtige Frage zu klären.« Also großer Honigpinsel. Ich fragte zurück: »Worum geht’s, sag mal ein Stichwort.« »Es geht um Geld.« Ich sagte ok, und Pohl und ich gingen zu ihm hinüber. Wir haben uns in Beils Arbeitszimmer gesetzt, er holte aus der Aktentasche eine blassrosa Mappe und sagte: »Also, Genossen, ich habe hier eine Bilanz über Auslandsguthaben in Höhe von 8 Mio. DM und darüber hinaus einen Depotschein über 21 Tonnen Gold. Was wollen wir denn damit machen?« Darauf habe ich gesagt: »Genosse Beil«, »ich empfehle, wenn wir jetzt das Büro hier verlassen, diesen Sachverhalt dem Vorsitzenden des Ministerrates, mitzuteilen, damit das Geld in den Staatshaushalt eingestellt wird, wie sich das gehört. Wir als Parteifunktionäre können damit gar nichts machen.« Ich habe ihn richtig abfahren lassen, habe mich erhoben und bin mit Wolfgang Pohl wieder zu Fuß Unter den Linden zurückgegangen. Dieses Gespräch war für mich ein wesentlicher Punkt bei der Antwort auf die Frage: »Wo soll meine eigene zukünftige Position in der Partei sein. Zu Wolfgang Pohl sagte ich: »Genosse Pohl, nun müssen wir uns entscheiden. Wollen wir mitschuldig werden, oder wollen wir unsere Verantwortung wahrnehmen und die Partei tatsächlich verändern?«

WILKE: Wie stand es um die Finanzen in der Partei?

BERGHOFER: Als Arbeitsausschussmitglied fing ich an die Leute über die Finanzen zu befragen. Die meisten der Finanzverantwortlichen und der für die Innereien der SED zuständigen Funktionäre der zweiten Reihe kannte ich. Sie hatten vorher, wie ich, ihre Karriere im Zentralrat der FDJ begonnen und versuchten nun Antworten zu finden: Über welche Finanzen verfügt die SED? Die erste Erkenntnis war, das kann dir keiner sagen. Es gibt die offizielle Abteilung Finanzen und Parteibetriebe, die Parteibeiträge eingenommen und die Gewinne der meisten Verlage in der DDR verwaltet hat. Aber dann kam sofort die Mitteilung, überprüfen könnten wir nichts mehr, weil die komplette zentrale Mitgliederkartei schon vernichtet worden sei. »Wer hat Euch damit beauftragt und warum?« Die Antwort lautete: »Als Schutz vor möglicher politischer Verfolgung – man kann ja nie wissen.« Es waren also Tatsachen ohne politische Entscheidungen geschaffen worden. Die zweite Erkenntnis: es gab die Westabteilung des ZK, die zu dieser Zeit als Nachfolger des 1985 geschassten Herbert Häber mein ehemaliger Chef aus der Westabteilung des FDJ-Zentralrats, Gunter Rettner, leitete. Sie verfügte völlig konspirativ über ein eigenes Budget, da hatte keine Revisionskommission und kein sonstiges Kontrollorgan Einblick. Daraus wurden u. a. Zahlungen an die befreundeten Parteien und Organisationen im Westen geleistet.

WILKE: DKP, SEW.

BERGHOFER: DKP, SEW, SDAJ, MSB Spartakus u. a. sowie entsprechende wirtschaftliche Strukturen. Niemand konnte also feststellen, wer sich dort wie bedient hatte. Überprüfbare Buchführung war nicht üblich. Man konnte bestenfalls nur feststellen, wieviel Geld per anno zur Verfügung stand, und das waren zweistellige Millionenbeträge. Darüber hinaus gab es noch die Abteilung Verkehr. Kein Mensch wäre darauf gekommen, dahinter eine Finanzabteilung zu vermuten. Mein Freund Dieter Berneking, früher Mitarbeiter in der Westabteilung des Zentralrats (Zentrale Auswertungsgruppe, ZAG), war dort tätig. Das war im Grunde die Abteilung, die Honeckers Sonderfinanzen verwaltete. Ein streng geheimer Feuerwehrfonds, falls Honecker irgendwo eingreifen wollte. Hier hatten selbst Politbüromitglieder keinerlei Einblick. Zudem existierte noch eine kleine Truppe, die sich »Sonderfinanzen« nannte. Diese leitete Ende der 80er Jahre Karl-Heinz Rümmler, genannt »Mecki«. Er war vorher Abteilungsleiter für Finanzen im Zentralrat, daher kannte ich ihn. Den Wahrheitsgehalt der folgenden Geschichte, die ich bei der Befragung gehört habe, konnte ich nie überprüfen. »Mecki« Rümmler, so wurde von ZK-Mitarbeitern gesagt, nahm zum Beispiel eine Million DDR-Mark, ging damit zur Staatsbank der DDR und ließ sie sich 1:1 in D-Mark umtauschen. Das war so vereinbart. Danach fuhr er mit einer Million Westmark nach Westberlin und tauschte sie dort zum geltenden Wechselkurs in DDR-Mark um. So erhielt er mindestens 4 Mio. Mark oder mehr. Dieses Spiel ließ sich endlos fortsetzen. Der Parteiapparat plünderte auf diese Weise mit Billigung der SED-Führung den Staatshaushalt aus, natürlich ohne Beleg. Das konnte ja keiner aufschreiben, es hätte jeder sofort die kriminellen Dimensionen erkannt. Schon bei meinen Fragen vermuteten alle im SED-Finanzreich Verrat und schrieen Zeter und Mordio. Es wurden schnell alle Spuren verwischt. Ich denke, vier Leute – Heinz Wildenhain Leiter der Abteilung Finanzen und Parteibetriebe, Karl-Heinz Rümmler, der stellvertretende Leiter der Abteilung Finanzen und Parteibetriebe Wolfgang Langnitschke und der Abteilungsleiter Verkehr Julius Cebulla – wussten über den Vermögenszustand der SED Bescheid. Ich glaube nicht, dass diese Leute Gysi die ganze Wahrheit gesagt haben. Sie haben immer nur Teilwissen, das ohnehin bekannt war, preisgegeben.

WILKE: Nämlich das, was zu beweisen war.

BERGHOFER: So war das in allen Bereichen. Es hat mich immer die Tatsache belastet, du bist verantwortlich für die Fälschung der Kommunalwahlen am 6. Mai 1989 in Dresden. Klar war, die Wahlen waren in jeder Stadt, in jedem Kreis gefälscht und die Verantwortung dafür sollte auf die lokalen Verantwortungsträger abgeschoben werden. Die Hintergründe und die zentrale Verantwortung für die Wahlfälschungen in der DDR wollte ich Anfang Dezember im Arbeitsausschuss aufklären. Ich habe einen der wichtigsten Kader in der Abteilung Staat und Recht des ZK, die Krenz unterstand und von Dr. Klaus Sorgenicht geleitet wurde, meinen vermeintlichen Freund Günter Böhme darauf angesetzt. Er war früher Sekretär im FDJ-Zentralrat, ein ehrlicher proletarischer Typ, auf den ich mich verlassen habe. Ich habe gesagt: »Günter, du musst mir helfen. Ich will alle Belege für Wahlfälschungen haben. Welche Rolle haben der Staatsrat, der Ministerrat, das Politbüro, die einzelnen Politbüromitglieder und Eure Abteilung dabei gespielt? Wie viel Zeit brauchst du dafür?« »Vier Wochen.« Ab und zu habe ich nachgefragt, wie es läuft. Die Antwort: »Ja, ja.« Als die vier Wochen um waren, meldete sich Böhme nicht. Ich versuchte, ihn ausfindig zu machen. Er wich mir aus. Als ich ihn endlich zur Rede stellen konnte, stellte er sich unwissend. Angeblich hatte er nichts gefunden, weil es nichts gäbe. Es war klar, ich hatte den Bock zum Gärtner gemacht. Böhme hat die vier Wochen genutzt – ich hab ihn später dann noch einmal ergebnislos befragt – um alle Spuren und Beweise zu beiseitigen. Und so war das überall, wo man auch hingriff: Jeder fühlte sich schuldig. Ja, wir waren schuldig! Jeder hatte Angst vor möglichen juristischen Auseinandersetzungen, jeder dachte nur an sich. Der Höhepunkt in dieser Findungsphase war für mich, als Modrow zu mir kam und sagte: »Du hast doch nicht etwa die Absicht, mich in die Wahlfälschungsprobleme hineinzuziehen!« Ich entgegnete: »Du hast mir doch den Auftrag dazu gegeben!« »Das musst du anders sehen! Das eine ist die persönliche Problematik, und das andere ist die Partei, die Zukunft des Sozialismus!« An diesem Punkt zerbrach unsere Liaison. Im Grunde genommen war es fast ausnahmslos in allen Bereichen das gleiche. Wahrscheinlich sind Menschen, die sich schuldig fühlen, so. Es war niemand bereit, die Wahrheiten offenzulegen, um darüber Veränderungen zu bewirken und Versöhnung zu ermöglichen.

WILKE: Als die Bürgerkomitees sich das MfS vornahmen, um dort die Aktenvernichtung zu beenden, war das für den Parteiapparat ein willkommenes Ablenkungsmanöver, um die SED-Geheimnisse vor ihrer Offenlegung zu schützen?

BERGHOFER: Die Aktenvernichtung war exemplarisch für alle Bereiche, wohl überlegt und wohl dosiert. Das hatte der hauptamtliche Kader der Partei von der Pike auf gelernt, er war mit Verweis auf die Geschichte der kommunistischen Partei immer auf die Illegalität vorbereitet. Die Schlagworte: »Genosse, du musst revolutionäre Wachsamkeit üben!« wurden jeden Tag dreimal formuliert und bedeuteten: Keine Information an Fremde, kein Zugriff des Gegners auf sensible Wahrheiten, nichts zu Papier bringen, was nicht unbedingt zu Papier gebracht werden muss, jedem nur soviel Wissen, wie er für die Erfüllung seiner Aufgabe braucht. Das schloss die Nutzung des erwähnten Instrukteurssystems und natürlich propagandistischer Ablenkungsmanöver, wo erforderlich, ein. Das ganze wurde theoretisch mit Lenin begründet, so dass es auch moralisch für den Einzelnen akzeptabel war.

WILKE: Die Wandlung der SED zur PDS ist eine von außen – im weitesten Sinne des Wortes – in Gang gesetzte Entwicklung, wo im Grunde im Zusammenbruch die Einen versuchten, ihre private Existenz zu retten und ein Teil des Apparates und der Parteifunktionäre, vor allen Dingen aus dem Staatsbereich, die sagten: Na, lass uns einen Neuanfang probieren. Kann man das so zusammenfassen?

BERGHOFER: Ja.

WILKE: Gysi, Berghofer und Modrow waren in dieser Konstellation Anfang Dezember die geeigneten Führungspersönlichkeiten, weil sie gesprächsfähig gegenüber den neuen Parteien und den Bürgerbewegten waren und in der DDR Positionen der sich wandelnden SED »rüberbringen« konnten. Warum wurde Wolfgang Pohl überhaupt mit in die Führungsriege aufgenommen?

BERGHOFER: Für die neue Führung gab es kein klares Personalkonzept. Personen der ersten Reihe, wie Markus Wolf, erklärten, dass sie nicht zur Verfügung standen. Jüngere Politbüromitglieder, wie Jochen Willerding und Wolfgang Herger waren an der Parteibasis nicht mehr akzeptabel. Es musste also in der zweiten Reihe nach Newcomern gesucht werden.

WILKE: Das hat Modrow in seiner Parteitagsrede auch so gesagt: Es ist die zweite und dritte Reihe gefragt. 

BERGHOFER: In dieser Zeit, als die Personalentscheidungen für den Sonderparteitag vorbereitet wurden, musste auch eine neue strategische Linie und ein Programm auf der Basis der Analyse der Situation erstellt werden. Daraus abgeleitet gab es für alle Mitglieder des Arbeitsausschusses differenzierte Aufgaben. Ich war verantwortlich für Fragen des politischen Systems. Wie soll die DDR in Zukunft aussehen, wie soll sie geführt werden? Ich war verantwortlich für Sicherheitsfragen, also welche Rolle sollten die Sicherheitsorgane, Polizei, Armee spielen – damit habe ich mich aber kaum beschäftigt – und ich war verantwortlich, weil sich alle davor drückten, für den Sonderparteitag ein Referat vorzubereiten, dass einer von uns, es stand nicht fest wer, halten sollte. Bei der Ausarbeitung dieser grundsätzlichen Dokumente begannen natürlich sofort, schon im engsten Zirkel des Arbeitsstabes, inhaltliche Auseinandersetzungen, ein Richtungsstreit, wo soll’s denn hingehen? Ich hatte z. B. alle mir bekannten Generaldirektoren und Leiter volkseigener Güter zu einem Gespräch eingeladen und habe die Frage gestellt: Wie könnte das Wirtschaftssystem einer zukünftigen DDR aussehen? Geht das mit Planwirtschaft weiter, oder werden marktwirtschaftliche Elemente eingeführt? Und von den rund 100 Kombinatsdirektoren, mit denen ich gesprochen habe, waren 99 für marktwirtschaftliche Öffnung – ohne zu definieren, was das im Einzelnen bedeutete. Das waren klare Verhältnisse. Bei dem Versuch, das Ergebnis in Form eines Referats zu Papier zu bringen, verloren wir uns in endlosen Debatten rund um die Uhr, es war einfach kein Ergebnis zu fixieren.

WILKE: Wer formulierte die Linie des Neuanfangs?

BERGHOFER: Zunächst darf man sich nicht vorstellen, dass es in dieser Zeit eine strategische Linie der Gruppe Modrow-Gysi-Berghofer gab. Gysi wäre am liebsten ohne Referat in den Parteitag gegangen und hätte die politische Orientierung aus dem Stehgreif gemacht. Am Ende war es ja fast so: Er hatte ein Referat, das las er vielleicht eine Viertelstunde vor, dann regte sich Unmut im Saal, er legte das Manuskript beiseite und entwickelte spontan seine Prognosen. Das kam natürlich an, obwohl inhaltlich dabei außer dem Satz »Wir müssen das Eigentum unserer Partei retten.« im Grunde genommen nichts Substantielles herüberkam. Die Auseinandersetzung um das zukünftige Statut fand erst mit Beginn der ersten Sitzung des Sonderparteitages statt. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet, die entsprechende Vorschläge sammelten. Damit wurde Pohl beauftragt. Eigentlich war er dafür gar nicht prädestiniert. Es war eine personelle Notlösung, denn einer musste es schließlich machen.

WILKE: Boshaft gesagt, gab es ja eine Vorlage, das Statut der SPD.

BERGHOFER: Alles Mögliche gab es. Alles, was bis dahin in der SED unterdrückt worden war, drang nun an die Oberfläche, und alle Dissidenten meldeten sich zu Wort. Tonnen von Papier landeten auf unseren Schreibtischen und sollten nun kanalisiert und berücksichtigt werden. Bei dem Versuch, mit ein paar noch klarblickenden Leuten des Apparats im Zentralkomitee ins Gespräch zu kommen, war ganz schnell klar, die Jungs wollen überhaupt nichts Neues. Es wurde alles sabotiert. Ich bekam keine Einblicke in Archive, Ich bekam keine Antworten auf gezielte Fragen zur Situation. Es wurde immer klarer, der überwiegende Teil des Parteiapparates wollte keine Veränderung im Sinne von Erneuerung. Das Handlungsmotiv dieser Zeit lautete »Wir müssen die Bevölkerung beruhigen und Zeit gewinnen« oder anders formuliert »Mit dem Gesicht zum Volke und mit dem Arsch an die Wand«. Zwar hat sich eine kleine Gruppe der zweiten und dritten Reihe bemüht. Sie fand aber nicht die Antworten, die ich mir vorgestellt habe: a) wahrheitsgetreue Abrechnung mit unserer Geschichte, um überhaupt glaubwürdig zu werden und b) daraus die schrittweise Entwicklung einer neuen Konzeption. Dieser Prozess hat sich bei mir innerhalb von vier Wochen abgespielt, mit wenig Schlaf und Arbeit rund um die Uhr. Als ich desillusioniert die Vergeblichkeit des Projekts der Parteierneuerung erkennen musste, habe ich entschieden, Leute, ich gehe zurück nach Dresden, ich stehe dafür nicht mehr zur Verfügung. Ich habe den ersten Parteitagstag noch geleitet. Als mir aber ein Berliner MfS-Oberst am Rande des Parteitages bei einer scharfen inhaltlichen Auseinandersetzung zu Schuld- und Verantwortungsfragen auch noch sagte, du wirst so lange machen, bis du einen Busunfall erleidest, war meine Entscheidung klar.

WILKE: Dresden ging im Dezember 1987 eine Städtepartnerschaft mit Hamburg ein. Der sozialdemokratische Bürgermeister Hennig Voscherau unterbreitete Ihnen einen Vorschlag, um die SED-Reform voranzubringen: Er schlug vor den Gründungsbeschluss vom SED-Vereinigungsparteitag 1946 wieder aufzuheben, um anschließend wieder KPD und SPD zu gründen.

BERGHOFER: Ich hatte mit wenigen Leuten, die die Tragweite erkannten, darüber gesprochen, z. B. mit Jochen Willerding, der gerade als Politbüromitglied zurückgetreten war und der mich in meiner Dresdner Wohnung besuchte. Wir kannten uns von der FDJ, er war Sekretär für Internationale Arbeit, ein guter, kluger Mann. Er sagte: »Ich recherchiere mal herum, sehe aber wenig Chancen.« Ich hab noch mit weiteren Leuten, vor allem aus der Wirtschaft gesprochen, im Grunde genommen hat die Tragweite und die Möglichkeit dieser Erwägungen keiner der von mir Angesprochenen verstanden. Es sprang einfach niemand darauf an, es hat niemand abgelehnt, aber auch keiner zugestimmt. Am Rande des Sonderparteitages, in einer Tagungspause, hatten wir noch ein Treffen mit Voscherau, der von mir natürlich wissen wollte, ob diese Idee, den Gründungsparteitagsbeschluss aufzuheben, tragfähig wäre. Modrow, der sich sofort wachsam einklinkte und genau verfolgte, was wir beiden da bereden wollten, verbreitete Nebel. Voscherau reiste enttäuscht ab. 

WILKE: Eine der Entscheidungen des Arbeitsausschusses war die Einrichtung eines Ältestenrates. Die wirkliche Funktion des Ältestenrates in der Partei blieb aber unklar. Muss man den Ältestenrat als die Fortsetzung dieser konspirativen Tradition der kommunistischen Partei verstehen, dass man Entscheidungsgremien installiert, die nach außen nicht so benannt und nicht als solche angesehen werden sollen?

BERGHOFER: Man muss diesem Ältestenrat zwei Funktionen zuordnen. Der Arbeitsausschuss war keine homogene Truppe, in der Arbeitsteilung und Hierarchie klar waren. Es etablierten sich in dem chaotischen Prozess hin zur ersten und zweiten Sitzung des Sonderparteitages natürlich Interessensgruppen: die einen wollten die Finanzen verschleiern, die anderen die Archive plündern, die dritten wollten wirklich etwas bewegen, ehrliche Reformen in Gang setzen und die vierten mit der strategischen Ausrichtung von Modrow, das Machtgefüge von der Partei auf den Staatsapparat verlagern. Zum Schutz letzterer Interessen sollten möglichst Verbündete wie die Blockparteien eingebunden, d. h. also Demokratie gespielt werden. Und da musste man Leute fernhalten oder eben einbinden, über die die wichtigsten Strippen in das Gestern hinein weiter funktionierten. Es war völlig klar, das Erpressungspotential des MfS war unendlich. Mischa Wolf zu verprellen und ins Abseits zu stellen, wäre natürlich nach hinten losgegangen. Die Konsequenz war: Wir binden ihn ein. Für eine offizielle Parteifunktion wollte er sich, wie gesagt, nicht zur Verfügung stellen, verständlicherweise.

WILKE: Das hat er bei der großen Demo am 4. November auf dem Alexanderplatz gemerkt, dass das nicht geht.

BERGHOFER: Und das hat er an vielen anderen Stellen gemerkt, auch im Dialog mit seinen eigenen Truppen. Deshalb übernahm er eine neutrale Position im Ältestenrat. Diese hatte etwas Repräsentatives und bot ihm die Plattform, als erfahrener und weiser Gutmensch entsprechende Ratschläge zu erteilen. Des Weiteren konnte man über diesen Weg, ohne irgendwelche großartigen Beschlüsse zu fassen, wichtige Dinge kanalisieren und auch veranlassen, dass sie umgesetzt werden. Es wurden für die Einrichtung des Ältestenrates fadenscheinige Begründungen ins Feld geführt: Wir brauchen einen Ältestenrat für die Veteranen der Partei, die jetzt alle nicht mehr klarkommen und die zum Teil entwurzelt sind. Auch um deren Renten müssen wir uns kümmern. Die scheinbar ehrliche Fürsorge wurde zum offiziellen Aufhänger. Das akzeptierte natürlich jeder, aber der eigentliche Hintergrund waren die Fäden ins Gestern. Der Ältestenrat verschwand sehr schnell aus dem Blickfeld des Arbeitsausschusses. Danach saßen die Alten bei Gysi oder bei Modrow, und der Arbeitsausschuss hat davon nichts mehr erfahren, das war erledigt.

WILKE: Ihre Formulierung finde ich geradezu genial treffend, das waren die Verbindungen in das Gestern, die aber gebraucht wurden, um das Morgen überhaupt möglich zu machen. Auf der Tagesordnung der ersten Sitzung des Parteitages standen drei Themen: Erstens wollte Modrow die DDR als eigenständigen Staat retten; zweitens um dieses Ziel zu erreichen, musste die Auflösung der Partei unter allen Umständen verhindert werden; und drittens– auch hier war das Gestern gegenwärtig – für die Zukunft von Staat und Partei brauchte die SED weiter die Sowjetunion. 

BERGHOFER: Diese Zielsetzung muss man noch fortführen. Weil sie eindeutig war, standen wir vor der Frage, sollte man die SED umbenennen, um sich so formal vom Makel des Gestern zu befreien – was Modrow nicht wollte, er hätte sie weiter SED genannt. Das vierte Ziel: Es muss alles daran gesetzt werden, die Leute von der Straße zu kriegen. Wenn Sie sich ansehen, was damals entschieden wurde, dann waren das alles keine grundsätzlichen Entscheidungen, um die Wirtschaft in Gang zu kriegen oder die Staatsverschuldung abzubauen, sondern es waren politisch-ideologische Erwägungen. Wie wird die Stimmung beruhigt, wie kanalisiert man den Unmut der Leute, wie wird an runden Tischen und sonstigen Dialogveranstaltungen die Demonstrationsbereitschaft der Bürger zerfasert.

Was die SU betrifft kann ich mich an einen wichtigen Kontakt mit sowjetischem Führungspersonal in der Zeit nach dem ersten Sonderparteitags erinnern. Die rechte Hand von Gorbatschow, sein wichtigster Berater, das Politbüromitglied Alexander Jakowlew, besuchte uns in der Parteizentrale. Er hatte lange Gespräche mit Gysi und auch mit mir und Jochen Willerding. Mein Russisch ist nicht so gut, dass ich ein kompliziertes politisches Gespräch führen konnte, deswegen hat Willerding als Dolmetscher fungiert. Jakowlew hat klipp und klar gesagt: Genossen, Ihr seid auf dem richtigen Weg. Wir billigen die Reformansätze zur Erneuerung einer sozialistischen Partei. Die Frage, wie sich die Sowjetunion zu den Entwicklungen in der DDR verhält, war für mich in den Oktober/Novembertagen bis zur Öffnung der Mauer unklar, danach jedoch eindeutig. Ich hatte zudem auch mit meinem Amtskollegen in Leningrad gesprochen, der sagte, ein militärisches Eingreifen sei ausgeschlossen. Die politische Führung unter Gorbatschow will das nicht. Das sahen die Sicherheitskräfte – Armee, KGB, der Militärgeheimdienst GRU usw. – zwar anders, weil das für sie nicht nur eine Machtfrage, sondern eine Frage der Ehre war. Die Helden des Krieges, die zu Göttern hochstilisiert worden waren, fühlten sich 40 Jahre nach dem Krieg als Verlierer. Das ist immer gefährlich. 

WILKE: Nachdem sich die SED/PDS auf dem Sonderparteitag theatralisch beim Volk, für alles, was angerichtet wurde, entschuldigt hatte, war die neue Parteiführung der Meinung, man habe die Lage stabilisiert und könne die historische Defensive, in der man seit dem September gewesen ist, durch eine Ersatzoffensive überwinden. Ich denke an die Vorgänge im Treptower Park, als am 28. Dezember 1989 Hakenkreuze und andere Schmierereien, die auf NeonaziAktivitäten hinwiesen, am sowjetischen Ehrenmal gefunden wurden. Das war eine Provokation an dem symbolischen Ort, um die sowjetische Aufmerksamkeit zu erregen. Am Runden Tisch sind dann zwei Dinge diskutiert worden. Zum einen antifaschistische Aktionsbündnisse, also im Prinzip Wiederbelebung des DDR-Antifaschismus. Zum zweiten war mit der »Neonazi-Bedrohung« ein Argument gefunden, um das MfS, das damalige Amt für Nationale Sicherheit, in einen Verfassungsschutz umzuwandeln. 

BERGHOFER: Ich saß damals mit am Runden Tisch, als die Wogen hochschlugen. Gysi war der Hauptredner zum Thema Treptow. Seine Ausführungen waren klar strukturiert, d. h. er war nicht unvorbereitet zu diesem Thema. Daraus schloss ich, er hatte sich schon länger damit beschäftigt. Ich wusste davon überhaupt nichts, es war völlig an mir vorbeigegangen, und ich habe sofort gefragt: Sind das wirklich Neonazis oder sind das die Abgesandten der Stasi, die eine Situation schaffen wollen, um Moskau zu aktivieren und uns die Plattform zu geben, wieder zurückzuschlagen. Ich habe empfohlen: »Gregor, halt dich raus, das kann nicht gut gehen. Wir stellen alles, was jetzt an Reformschrittchen eingeleitet worden ist, damit in Frage!« »Nein, das darfst du nicht so sehen. Das ist echt, nazistisches Gedankengut. Hier soll versucht werden, die Stimmung im Volke so aufzuheizen, dass es doch noch zur Gewalt kommt.« Dann erhob er sich, mitten in der Debatte, verließ den runden Tisch und begab sich nach Treptow zu der Protestdemonstration. Die Berichte, die er dann gab, was sich dort abgespielt hatte, waren für mich eindeutig. Das war eine Provokation der eigenen Truppen aus der Normannenstraße. Das war ein weiterer wesentlicher Punkt zu sagen: Das kann doch wohl nicht wahr sein! Es sind von Oktober 1989 bis Januar 1990 wenige Monate vergangen. Nach der tiefen Depression und ohne Lösungen für die tatsächlichen Probleme tun wir plötzlich wieder so, als wäre das jetzt vorbei und wir reißen wieder die Herrschaft über den öffentlichen Diskurs an uns: Seht ihr, das ist die Konsequenz, ihr lieben Bürger der DDR, wenn ihr uns nicht habt, dann erhebt der Faschismus das Haupt. Das führte natürlich sofort zu verheerenden Reaktionen der politischen Gegner, die das durchschauten. Treptow war für mich der letzte organisierte Versuch der Gestrigen, das Ganze noch einmal umzudrehen und es war der letzte Punkt, der mich schließlich bewogen hat zu sagen, macht euren Dreck alleine weiter. Ich steh nicht mehr zur Verfügung.

WILKE: Diese Entscheidung von Ihnen, am 20. Januar 1990 mit anderen aus der SED/PDS auszutreten, fiel ungefähr mit dem Sturm auf die MfS-Zentrale in der Normannenstraße am 15. Januar zusammen, als die Bürgerbewegung durchsetzte, das alle Spielchen, das MfS weiterzuführen, zu Ende sind. Danach fiel der Auflösungsbeschluss. Ihr Austritt war ein Signal, dass auch eine Erneuerung der SED/PDS zu einer demokratisch-sozialistischen Partei für Sie gescheitert war. Es gab dazu noch ein Nachspiel. In dem Gespräch mit Gorbatschow am 2. Februar berichtete Gysi, dass Ihr Austritt der Partei schweren Schaden zugefügt habe. Er sagte nicht, worin der bestand. Gorbatschows Gegenfrage ist besonders interessant: Steckt hinter dieser Geschichte eine Absprache zwischen Berghofer und der SPD?

BERGHOFER: Ich habe für diesen Schritt lange gebraucht und muss dazu etwas zu meiner Biographie ausführen. Ich war immerhin 25 Jahre SED-Mitglied, und ich bin nicht Parteimitglied aus Karrieregründen geworden. Ich war ein junger Facharbeiter im Betrieb, ohne politische Ambitionen, das hat sich alles schrittweise entwickelt. Eigentlich war ich von meiner Biographie her überhaupt nicht geeignet, SED-Kader zu werden, denn wenige Monate, nachdem ich 18 Jahre alt geworden war, verließ meine Mutter die DDR über die noch offene Grenze nach Westberlin. Aber nicht, weil sie etwas gegen die DDR hatte, sondern weil sie schon immer im Westteil der Stadt gewohnt hatte. Ein Teil unserer Verwandtschaft war in Berlin zu Hause. So habe ich meine großen Ferien im Sommer und die Weihnachtszeit immer in Berlin-Kreuzberg, im Kietz Lübbener Straße, Skalitzer Straße, Schlesisches Tor, verbracht, habe aber damals nie eine Bindung an den Moloch Berlin gefunden. Ich bin bei der Großmutter auf dem Dorf groß geworden und um nichts in der Welt hätte ich hierher gewollt. Mit dem Weggang meiner Mutter waren zunächst alle Karrieremöglichkeiten in der DDR beendet. Ich hatte mich freiwillig zur Armee gemeldet. Die NVA wollte mich nun nicht mehr. Ich war ausgebildet als Auslandsmonteur, in einem volkseigenen Betrieb der polygraphischen Industrie. Auslandsmontage konnte ich vergessen. Ich war plötzlich der letzte Dreck, so dass mir eigentlich gar nichts weiter übrigblieb, als in allen Bereichen, in denen ich tätig war, im Sport, im Betrieb, in der FDJ immer der Beste zu sein, damit ich wenigstens als Mittelmaß akzeptiert wurde. Ich bin dann aus tiefer Überzeugung in die SED gegangen, denn die Leute, die mich dazu bewegt haben, waren keine Parteiapparatschiks, vertrauensvolle Fachleute im Betrieb, die stets sagten: Wenn du was ändern willst, womit du nicht einverstanden bist, dann musst du natürlich mitmachen. So bin ich langsam hineingewachsen. Am Ende durfte ich als Abteilungsleiter des FDJ-Zentralrats oder Oberbürgermeister Einsicht in viele Staatsgeheimnisse nehmen. Dabei erlebte ich den allseitigen Widersinn der DDR-Wirklichkeit. Ich musste erklären, dass ich zu meiner Mutter keinen Kontakt mehr pflegte. Das fiel mir nicht schwer, denn ich habe ihren Weggang natürlich nicht begrüßt, er war für mich nur von Nachteil. 

WILKE: Sie waren im FDJ-Zentralrat u. a. der Organisator von Massenveranstaltungen, z. B. der Weltfestspiele der Jugend 1973. Ab 1976 nahmen Sie diese Aufgabe dauerhaft wahr. Zu diesem Zeitpunkt, 1976, tat sich in der DDR ideologisch eine Menge. Die Ausbürgerung von Wolf Biermann, eine Konferenz kommunistischer Parteien in Ost-Berlin, auf der der Vorsitzende der schwedischen Linkspartei vom sowjetischen Partei- und Staatschef Breschnew und den anderen KP-Führern die Demokratisierung der sozialistischen Staaten einforderte, weil die Zukunft des Sozialismus davon abhängen würde. Das war im Neuen Deutschland nachzulesen. Diese Kritik nahm Robert Havemann auf und schrieb ein Aktionsprogramm für die Demokratisierung der DDR. Nach der Biermann-Ausbürgerung gab es den Protest von namhaften parteitreuen Schriftstellern, die die Partei mit der Austreibung der Künstler-Elite aus der DDR beantwortete. Diese Vorgänge müssen jemanden wie Sie beschäftigt haben.

BERGHOFER: Da muss ich antworten: wenig. Damit hatte ich als Cheforganisator großer Veranstaltungen nichts zu tun, aber selbstverständlich hat mich die Entscheidung dazu erreicht, zumal ich ja in meinen ersten Jahren im Zentralrat Westarbeit gemacht habe und dadurch Zugang zu allen Medien des Westens hatte, also relativ viel wusste. Aber, ich muss heute ehrlich sagen, es hat mich damals nicht wirklich innerlich berührt. Es gab andere Prioritäten, Dinge die wichtiger erschienen. Die Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung waren bekannt. Aber meine Generation hatte in den 70ern zumindest mit dem Machtantritt von Honecker das Gefühl, die Entwicklung in den Griff zu bekommen. Wir regeln unsere Probleme erfolgreich selbst. Die Biermänner und die Havemänner sind nur störendes Beiwerk. Die gesamte Dialektik des Problems dieser Menschen haben wir gar nicht wahrgenommen, damit habe ich mich erst Mitte der 80er Jahre beschäftigt. Was hat der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Bahro denn eigentlich Schlimmes verbrochen, das uns veranlasst hat, ihn so zu verdammen. Nichts. Er hat die Dinge ziemlich unmissverständlich beim Namen genannt. Aber das hat mich damals, in den 70er Jahren, nicht ernsthaft berührt.

Zur Beschäftigung mit diesen Fragen hat auch ein Erlebnis mit Horst Sindermann, Mitglied des Politbüros und Präsident der Volkskammer der DDR, 1982 in Görlitz am Rande des Treffens junger Parlamentarier der DDR und der VR Polen beigetragen. Wir kamen ins Gespräch, ich, der junge FDJ-Funktionär, Ende 30, und er, der gestandene SED-Funktionär. Sindermann fing an zu reden, monologisierte über den Zustand des Sozialismus und sagte, der Sozialismus ist in großer Gefahr. Er ist in Ungarn kurz vor dem Scheitern, er ist in Polen gefährdet und in Rumänien bedroht. Er ging alle Bruderländer durch. Der letzte Hort des Sozialismus war die DDR. Das wirkte geradezu depressiv. Und dann erinnerte sich Sindermann plötzlich, dass ich ja mit am Tisch saß, beendete den Monolog und ging. Es hat mich tief bewegt und beeindruckt. Also meines Erachtens wussten die »führenden Genossen« vom Politbüro, wie die Lage war, international, im Rahmen des Warschauer Vertrages, und sie kannten auch die in der DDR. WILKE: Wer entschied dann: Berghofer wird Oberbürgermeister von Dresden?

BERGHOFER: Ich stand am 8. Mai 1985 vor dem Palast der Republik, im Blauhemd, also schon als »alter Mann« immer noch Berufs-FDJler. Krenz lief vorbei und sagte: »Wie lange willst du denn noch im Blauhemd rumlaufen, du gehst nach Dresden!« Sagte es und verschwand. Nun, wusste ich nicht warum und was ich in Dresden sollte, aber so lief das eben, in der Diktatur. Danach wurde alles entsprechend den geltenden Formalien vorbereitet, im Politbüro beschlossen und Anfang 1986 trat ich das Amt des Dresdner Oberbürgermeisters an. Die Freude über diese scheinbar attraktive Aufgabe hielt nur kurze Zeit an. Je tiefer ich in die Probleme einer DDR-Großstadt eindrang, um so widersprüchlicher wurde das Verhältnis zwischen Realität und Parteipolitik. Um so komplizierter wurde es aber auch, sich selbst zu motivieren. Schon nach wenigen Monaten in Dresden war mir klar, die Probleme der Stadt sind mit den ökonomischen und finanziellen Mitteln der DDR nicht lösbar. 

Ich habe Ende 1989/Anfang 1990 wochenlang überlegt, was die Alternative zur SED ist. Ich habe nicht nur mit Hennig Voscherau, sondern auch mit Egon Bahr darüber gesprochen, macht es Sinn die SED zu verlassen und in die SPD einzutreten. Leute, die mich kannten, wie diese beiden und Klaus von Dohnanyi hätten das unterstützt. Bahr allerdings mit dem Hinweis: Überlegen Sie sich das genau. Sehen Sie sich die Parallelen in der Geschichte an, z. B. Herbert Wehner. Wenn Sie das machen, gelten Sie in Deutschland als Wendehals. 

Ich habe auch mit Ibrahim Böhme gesprochen, da wusste ich noch nicht, dass der auf der falschen Seite kämpft, der sagte, ja, Sie würden wir gerne nehmen. Er hat mich dann auch mal mit Markus Meckel und Martin Gutzeit und anderen über dieses Thema im Gartenhaus von Manfred von Ardenne reden lassen. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass ein Eintritt von mir in die SPD automatisch dazu führen wird, dass große Teile der SED, die sich zur SPD hingezogen fühlen, das Gleiche tun werden, d. h. ein großer Teil der SED/PDS-Mitglieder wird mit mir die Partei verlassen – was mit 500 000 SED-Mitgliedern tatsächlich der Fall war – und wiederum ein großer Teil davon wird an einer Mitgliedschaft in der SPD interessiert sein. Die Botschaft an mich lautete: Wenn Sie allein kommen würden, kann man darüber reden, wenn der Austritt jedoch mit einem Aufruf an die SED/PDS-Mitglieder verbunden ist, dann haben wir kein Interesse. Die Frage eines möglichen Übertritts löste innerhalb der SPD eine Grundsatzdebatte aus. Der damalige Parteivorsitzende der SPD Hans-Jochen Vogel lehnte meinen Beitritt aus Gründen der politischen Hygiene ab. Auch innerhalb der SPD der DDR wurde dies für undurchführbar gehalten, mit der Erklärung: Wenn das passiert, dann sitzen ja wieder Kompetenzträger in unseren Reihen, die in kurzer Zeit die Schaltstellen erobern, und wir haben wieder nichts zu sagen. Unter meinen politischen Gefährten in Dresden, z. B. Friedrich Wokurka, Jochen Hahn, dem Nachfolger von Modrow als 1. Sekretär der SED/PDS-Bezirksleitung, und den anderen, die mit mir geschlossen aus der Partei austraten, gab es natürlich auch solche Überlegungen. Uns war klar, dass der geschlossene Austritt aus der SED/PDS die Partei schwer erschüttern und dazu führen wird, dass ein großer Teil ihrer Mitglieder diesen Anlass nutzen wird, den gleichen Weg zu gehen. Denn damit war die moralische Auflassung erteilt, »die Treue zur Partei der Arbeiterklasse« zu kappen. Ich hörte damals oft und viele schrieben mir: Wenn du gehst, dann sind wir auch moralisch berechtigt zu gehen. Heute ist es überhaupt kein Problem, eine Partei zu verlassen und in die nächste einzutreten. Nach dem Wertekatalog der SED war das höchster Verrat. Das konnte ich dann auch jeden Tag in meinem Briefkasten lesen: »Arbeiterverräter, wir hängen dich auf!« Die das schrieben, waren SED-Mitglieder, die völlig die Fassung verloren haben. Gysi fühlte sich verraten, Modrow hielt sich zurück. Er hat diesen Schritt nie zum Gegenstand einer Auseinandersetzung gemacht, was seine politische Cleverness unterstreicht. Ich hab mich schließlich entschieden, und entsprechend war unser Statement zum Austritt formuliert: Wir streben nicht nach Mitgliedschaft in einer anderen Partei, wir streben nicht nach politischen Ämtern. Wir haben nur begriffen, dass die Erneuerung der SED/PDS gescheitert ist, und deshalb haben wir keine Motivation mehr, dabeizubleiben.

WILKE: Herr Berghofer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch fand am 16. und 17. August 2006 in Berlin statt.

 


[1]  Das Gespräch bezieht sich auf den Zeitraum von Oktober 1989 bis Januar 1990. Es behandelt im Wesentlichen die Transformation der SED. Zudem geht Wolfgang Berghofer auf seine politischen Werdegang als SED-Funktionär in den 70er und 80er Jahren ein. 

[2]  Parteijargon für den Sitz des ZK der SED in Berlin.

[3]  Kroker war im November zum 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Erfurt gewählt worden. 

[4]  Heute parlamentarischer Geschäftsführer der Linkspartei/PDS im Brandenburger Landtag.

[5]  Heinz Albrecht, Hans-Jürgen Audehm, Lothar Bisky, Ellen Brombacher, Roland Claus, Hans-

Joachim Hahn, Klaus Höpcke, Dagmar Hülsenberg, Norbert Kertscher, Dieter Klein, Herbert Kroker, Eva Maleck-Lewy, Bernd Meier, Peter Pechauf, Ulrich Peck, Wolfgang Pohl, Erich Postler, Gerd Schulz, Wolfgang Thiel, Roland Wötzel und Brigitte Zimmermann.

[6]  Leiter der ZK-Abteilung Sicherheitsfragen, im November/Dezember 1989 Mitglied des letzten Politbüros und ZK-Sekretär für Recht und Sicherheit, danach bis 1990 Mitarbeiter des SED/PDS-Parteivorstandes. 

[7]  In seiner Rede auf dem Sonderparteitag nahm Gysi genau diese Differenzierung vor. Er führte aus: »Wie stehen wir zum Amt für Nationale Sicherheit? Es gilt festzustellen, dass […] [es] auch Aufgabenstellungen gab, ja, die unvertretbar sind und die erklären, wie es zur gegenwärtigen, demonstrativen Ablehnung dieser Einrichtung kommt. Die Aufgabenstellung umfasste die Abwehr der ideologischen Diversion. Weil diese nach den vorgegebenen Maßstäben über Funk und Fernsehen praktisch in jedem Haushalt stattfindet, musste dies zu einer flächendeckenden Tätigkeit führen, die die Menschen als Bespitzelung empfanden. Die große Macht dieser Einrichtung führte bei einem Teil der Mitarbeiter auch zu einem entsprechenden Auftreten.« Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Partei des Demokratischen Sozialismus. 8./9. Dezember und 16./17. Dezember 1989. Materialien, Berlin 1990, S. 26. 

Inhalt – JHK 2007

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