JHK 2007

Zwangskoloniserung, Scheinurbanisierung und Seuchen. Zur Demographie der Nordregion im Stalinschen Totalitarismus 1929 bis 1941

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 255-275 | Aufbau Verlag

Autor/in: Vladimir I. Korotaev

Das Phänomen des Totalitarismus wird von russischen Wissenschaftlern bis heute diskutiert. Schon Nikolaj Berdjaev, Nikolaj Losskij und Georgij Fedotov schreiben den Russen einen Hang zum totalitären Denken zu. Die Neigung zum Totalitären wird in den Übergangsperioden der russischen Geschichte wie den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts besonders deutlich. Daher ist es selbstverständlich, dass Forscher den Begriff »Totalitarismus« gebrauchen oder ihn durch einen ähnlichen Begriff umschreiben, der ihrer Weltanschauung besser entspricht. Generell gibt es jedoch wenig Zweifel daran, dass man den Begriff auf die Stalinsche Epoche anwenden kann. So bezeichnete der Direktor des Instituts für Russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Aleksej N. Sacharov, das Stalinsche Regime als »neues totalitäres System«.[1] Diese Tatsachen erlauben es, den Begriff »Totalitarismus« in Bezug auf die 30er Jahre zu verwenden, da er eine treffende und dem Geist dieser Jahre entsprechende Bezeichnung ist. Der sowjetische Totalitarismus beruhte strukturell auf der Formel des russischen Bildungsministers Sergej Uvarov (im Amt 1833 bis 1849) »Orthodoxie – Autokratie – Volkstum« (pravoslavie – samoderžavie – narodnost’), denn seine Grundlagen waren die orthodoxe Lehre des Marxismus-Leninismus, der Stalin-Kult und das sowjetische Volk, das im Geiste der Lehre und des StalinKults erzogen wurde.

Der Begriff »Stalinscher Totalitarismus« würde ohne die Untersuchung seiner sozialen Basis und v. a. ohne die Erforschung der Marginalisierten unvollständig sein. Die Marginalisierten waren in ihrer Mehrheit Bauern, die während der Kollektivierung von ihrem Land und ihrer traditionellen Kultur getrennt worden waren. Freiwillig oder gezwungenermaßen wurden sie auf Initiative des Zentralkomitees der VKP (b) in neue Siedlungsgebiete verschickt. Auch die entstehende sowjetische Massengesellschaft wurde von den Marginalisierten gebildet, deren Werte die neue Gesellschaft prägten. Diese gingen auf die vorindustrielle traditionelle Gesellschaft zurück und umfassten die nivellierende Güterverteilung, den Kollektivismus, die gegenseitige Unterstützung bei der Arbeit und eine aufopferungsvolle Askese.[2] Dagegen stützte sich der Prozess der sowjetischen Industrialisierung auf die Aneignung von Wissenschaft, Technik und Technologie der führenden westlichen Länder. Er war eine forcierte und aufholende Modernisierung, um auf dieser Grundlage die Volkswirtschaft selbstständig weiterzuentwickeln.

Demographische Aspekte des Stalinschen Totalitarismus sind für Historiker relativ neue Forschungsgegenstände. Das Thema wurde bisher v. a. von Geographen, Demographen und Ökonomen behandelt. Die historische Demographie ist erst in der Entstehung begriffen. In den 90er Jahren wurde durch die Historische Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften der »Wissenschaftliche Beirat für historische Demographie« ins Leben gerufen, der 2000 und 2001 zwei Bände unter dem Titel Die Bevölkerung Russlands im 20. Jahrhundert herausgegeben hat. Hier wurden Fragen der historischen Demographie in einer wesentlich breiteren thematischen Vielfalt dargestellt als in früheren Publikationen.[3]

Neben demographischen Aspekten werden in der folgenden Darstellung auch andere Begriffe eine Rolle spielen, die einer kurzen Erläuterung bedürfen. »Demographische Krise« wird die größtmögliche Verschlechterung demographischer Indikatoren im Vergleich zur Normalsituation genannt. Jedoch sollte man eine demographische Krise nicht als unumkehrbare Sackgasse oder eine gesellschaftliche Degradation verstehen. Sie ist eines der Stadien im demographischen Prozess. Sie entsteht, wenn eine stabile Entwicklung gestört wird und eine Korrektur der demographischen Politik erforderlich ist. Sie ist genau wie der Anstieg, der Fall oder die Stagnation ein »natürliches« Stadium in der sozialen Entwicklung. Anatolij Višnevskij hat festgestellt, dass in der Sowjetunion bis zum Beginn der 60er Jahre »die Frage nach der Notwendigkeit einer spezifischen demographischen Politik nicht gesehen wurde«. Erst nach der Verschärfung der demographischen Situation – besonders wegen des Geburtenrückgangs zu Beginn der 60er Jahre – sah sich die sowjetische Führung zur Formulierung einer »demographischen Politik« gezwungen.[4] Auch wenn es bis in die 60er Jahre keine demographische Politik gab, heißt das jedoch nicht, dass der Staat keinen Einfluss auf demographische Prozesse nahm. Er nahm mit Sozialpolitik, Umsiedlung, Deportationen und anderen Maßnahmen mittelbar und unsystematisch darauf Einfluss.

Andere Schlüsselbegriffe für die vorliegende Arbeit sind »Kolonisierung« und »Zwangskolonisierung« (speckolonizacija, wörtlich: Spezialkolonisierung). Der erste Begriff ist selbsterklärend, der zweite bedarf einer Erläuterung. Der Begriff tauchte zuerst 1929/30 in offiziellen, aber geheim gehaltenen Dokumenten auf. »Zwangskolonisierung« bezeichnet die erzwungene Kolonisierung der nördlichen und nordöstlichen Randzonen der Sowjetunion durch Deportierte und Häftlinge (analog zu Aleksandr S. Achiezers Begriff »Zwangsmigration«). Die Kolonisierung der sowjetischen Randgebiete war eine Einwirkung staatlicher Politik auf bestimmte Bevölkerungsgruppen mit der Zielsetzung, Migrationsbewegungen in die »richtige« Richtung zu lenken. In den 20er Jahren geschah dies v. a. durch verwaltungstechnische und wirtschaftliche Maßnahmen, seit Ende der 20er Jahre verstärkt durch repressives staatliches Handeln. Diese Feststellung erlaubt, unsere Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Zwangskolonisierung zu richten, die ein wichtiges Instrument des Stalinschen Totalitarismus darstellte, aber gleichfalls im historischen Kontext der staatlichen Kolonisierungs- und Umsiedlungspolitik zu betrachten ist. 

Die Nordregion (Severnyj kraj) wurde 1929 als administrative Einheit der RSFSR geschaffen und bestand aus den Gouvernements (gubernii) Archangel’sk, Vologda und Severnodvinsk sowie dem Autonomen Bezirk der Komi. 1936 wurde der Autonome Bezirk Komi aus der Nordregion ausgegliedert und erhielt den Status einer Autonomen Republik (ASSR). Im Jahr 1937 wurde die Nordregion bereits wieder aufgelöst und in die Gebiete (oblasti) Archangel’sk und Vologda zerlegt. Die Nordregion bestand also nur acht, für unseren Betrachtungszeitraum allerdings entscheidende Jahre. Bei der Erläuterung der Vorgeschichte und der Folgen der demographischen Krise der 30er Jahre wird deshalb neben Nordregion auch die Bezeichnung »russischer Norden« benutzt, die in Russland allgemein üblich ist.

Im »russischen Norden« war an der Wende zum 20. Jahrhundert eine ungewöhnlich hohe Bevölkerungszunahme in den Arbeitersiedlungen und Städten zu beobachten. Zugleich stagnierten das Wachstum der Landwirtschaft und der traditionellen Gewerbe. Neben die freiwillige Zuwanderung trat ab 1930 die staatlich erzwungene Migration (Zwangskolonisierung und die Inhaftierung in den Lagern des GULag). Dies konnte nur zu einer demographischen Krise führen, da die natürlichen Reproduktionsprozesse der Bevölkerung gestört wurden. Die »Bevölkerungsexplosion« der 30er Jahre hätte allerdings nicht zu einer demographischen Katastrophe führen müssen. Warum dies trotzdem geschah, ist Thema der folgenden Ausführungen.

Die sowjetische Wirtschaftspolitik folgte dem Muster der aufholenden Modernisierung. Das Moskauer Zentrum orientierte sich am Entwicklungsstand des Westens und diktierte der Peripherie sein Programm. Die Peripherie ist nach Vladimir Kaganskij eine Rohstoffquelle und der Ort, an dem die vom Zentrum gestellten Aufgaben ausgeführt werden.[5] Diese regionalen Aufgaben, die v. a. durch das Zentralkomitee der VKP (b) festgelegt wurden, waren an die für den gesamten Staat formulierten Planaufgaben gekoppelt. So erhielt die Nordregion den Status einer »Abteilung für Valutabeschaffung«. Sie diente dazu, Devisen zur Finanzierung der Industrialisierung zu erwirtschaften. Die Hauptquelle der Valutaeinnahmen stellte der Export von Holz und anderen Erzeugnissen des »holzindustriellen Komplexes« dar. Das Stalinsche Regime machte sich auch hier die imperiale Tradition zu eigen, eigenmächtigen Entscheidungen des Selbstherrschers den Vorzug zu geben. Sie erhielten normativen Charakter und wurden ohne Skrupel mit Zwang und Repressionen durchgesetzt. Statt eines natürlichen Urbanisierungsprozesses konnten so seit Ende der 20er Jahre nur »Oasen« der Urbanisierung entstehen. Dies geschah in der Regel im Zuge der Errichtung von Betrieben der Holzindustrie und von Anlagen für die Schifffahrt. In den 30er Jahren kamen Zellulosekombinate und andere Großbetriebe hinzu, die mit Hilfe der Zwangsarbeit von Deportierten errichtet wurden. Daher rührt die spezifische Natur der Urbanisierung in der Nordregion, die sie von den zentralen Regionen der Sowjetunion unterscheidet.

Demographische Lage in den Städten der Nordregion

Beginnen wir unsere Betrachtung der demographischen Situation in der Nordregion nicht mit dem Jahr ihrer administrativen Gründung 1929, sondern mit der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP). Die NĖP – beschlossen 1921 – begann faktisch erst nach Ende des Bürgerkriegs 1922 und war eine Politik wirtschaftlicher Liberalisierung. Zwischen 1923 und 1925 hatte sie positive Auswirkungen auf die demographische Situation im Norden. Dies galt v. a. für die Stadt Archangel’sk. Zunächst kehrten die Rotarmisten und Stadtbewohner zurück, die Archangel’sk zwischen 1914 und 1922 verlassen hatten. Saisonarbeiter nahmen erneut ihre Tätigkeit in den wiedereröffneten Fabriken und im Transportwesen auf. Dies führte zu einem starken natürlichen und mechanischen Bevölkerungszuwachs. Allerdings fiel der natürliche Bevölkerungszuwachs im Gouvernement Archangel’sk in der Mitte der 20er Jahre geringer aus als in den benachbarten Gouvernements. Nach der Volkszählung von 1926 betrug er im Gouvernement Archangel’sk 19,4 je 1 000 Einwohner, im Gouvernement Vologda 23,3 und im nördlichen Teil des Gouvernements Severodvinsk 24,1. Der Durchschnitt des europäischen Teils Russlands betrug 23,0 Einwohner je 1 000 Einwohner.[6]

Die Liberalisierung im Wirtschaftssektor war nicht von Dauer. Schon seit Mitte der 20er Jahre setzte das ZK der VKP (b) auf eine »Rationalisierungspolitik«, die die Geldakkumulation für die Industrialisierung zum Ziel hatte. Diese Politik hatte sofortige Rückwirkungen auf das Lebensniveau der Bevölkerung. In der Stadt Archangel’sk fiel das natürliche Bevölkerungswachstum von 18,0 je 1 000 Einwohner (1926) auf nur noch 5,0 (1929). Die Nordregion wurde 1929 von einer demographischen Krise erfasst, deren gesamtes Ausmaß erst am Beginn der 30er Jahre sichtbar wurde. Dazu trug v. a. die epidemiologische Situation bei. Sie führte zu einem schnellen Anstieg der Sterblichkeit in der Gesamtbevölkerung, besonders unter den »Spezialumsiedler« (specpereselency) genannten und in die Nordregion  deportierten Zwangskolonisten (im Unterschied zu den Häftlingen des Gulag). Im Zeitraum von 1926 bis 1930 stieg die Sterblichkeit der Bevölkerung von Archangel’sk um das 1,8-fache. Die Kindersterblichkeit wuchs innerhalb des Jahres 1929/30 auf  das Doppelte (von 140 auf 280 je 1 000 Geburten). Besonders hoch war die Sterblichkeit im Kreis Majmaksa, wo ein großer Teil der Holzfabriken des Gouvernements Archangel’sk angesiedelt war: Innerhalb von sieben Monaten stieg im Jahr 1931 dort die Sterblichkeit von 300 auf 350 je 1 000 Geburten.[7]

In diesem Zeitraum wuchs die Bevölkerung durch die Deportationen in erster Linie mechanisch. In dieser Hinsicht ist das Urbanisierungsphänomen Murmansk bezeichnend. Seine Bevölkerung nahm binnen zwölf Jahren zwischen 1926 und 1937 um das Zehnfache zu, v. a. aufgrund der Zuwanderung von Spezialumsiedlern und Häftlingen.[8] 

Das erstaunliche Bevölkerungswachstum in Murmansk war durch die Entwicklung der Stadt zu einem Zentrum der Hochseefischerei bedingt. Seit Beginn der 30er Jahre vergrößerte sich die Bevölkerung des Kreises Murmansk ebenfalls schnell. Nach den Angaben von Viktor Šaškov wanderten in den Jahren 1930 und 1931 mindestens 40 000 Spezialumsiedler zu.[9]

Verglichen mit Murmansk wuchs die Bevölkerung von Archangel’sk langsamer, doch wesentlich schneller als in den anderen Städten der Nordregion. Nach einer auffälligen Verkleinerung der Einwohnerzahl nach der Oktoberrevolution (1917 65 600 Einwohner; 1920 50 500) erholte sich Archangel’sk bis in die Mitte der 20er Jahre (1926 75 500). 1929 begann ein explosionsartiges Wachstum. 1931 hatte die Stadt 141 000, 1935 244 800 und 1939 bereits 281 100 Einwohner. Nach den Berechnungen von Valtentina Žiromskaja wuchs die Einwohnerzahl der Stadt zwischen 1926 und 1937 auf das 3,2-fache an, was mit unseren Daten übereinstimmt. In Vologda wuchs sie dagegen im selben Zeitraum nur auf das 1,5-fache (von 57 100 auf 84 500 Einwohner).[10]

An dieser Stelle lohnt es sich, auf die Frage der saisonalen Arbeitsmigration in die Hafenstädte der Nordregion einzugehen. Saisonarbeiter prägten Städte wie Archangel’sk, Onega, Mezen’ und Nar’jan-Mar. Diese Bevölkerungsgruppe hatte wesentlichen Einfluss auf die Größe der Stadtbevölkerung, insbesondere in Archangel’sk. Wie auch in früheren Tagen gab es während der Wintermonate, wenn die Fabriken und die Schifffahrt nur mit halber Kraft arbeiteten, erheblich weniger Saisonarbeiter als in den Sommermonaten. Doch für Archangel’sk war der seit 1929 stark anwachsende Migrantenstrom etwas Neues. Eine lokale Volkszählung am 15. Juli 1930 ergab, dass es in der Stadt 48 233 permanente Einwohner gab. Davon waren 23 380 Arbeiter (48,5 Prozent). Am Tag des Zensus wurden jedoch 84 362 Menschen »angetroffen«, wie es in den Statistiken heißt, davon 54 875 Arbeiter (63,8 Prozent).[11] Wie schon gesagt, erreichte die Einwohnerzahl von Archangel’sk ihren Tiefpunkt 1920, als dort nur 45 266 Menschen lebten (ohne Vororte). Die Einwohnerschaft bestand aus Menschen, die den Kontakt zu ihren Heimatdörfern aufgegeben hatten und darum auch während der Hungerperioden in der Stadt verbleiben mussten. 

Während eines Jahrzehnts hatte sich bis zum Jahr 1930 die Einwohnerzahl von Archangel’sk mindestens verdoppelt, wobei ehemalige Saisonarbeiter und andere Migranten aus den Nachbarkreisen und aus anderen Regionen den Löwenanteil ausmachten. Sie waren mehrheitlich Städter in der ersten Generation. Die schnelle Bevölkerungszunahme in den Städten setzte sich auch danach fort, und man kann daher mit Achiezer annehmen, dass bis zum Ende der 30er Jahre eine »Archaisierung« der Städte stattfand, weil die urbane Lebensweise von den bäuerlichen Zuwanderern untergraben wurde. Dies betraf insbesondere auf die neuen Stadtteile zu, in denen es faktisch keine urbanen Strukturen gab. Die Arbeiterviertel hatten lediglich die Funktion, die Arbeitskraft der Arbeiter zu bündeln und zu regenerieren. Der Aufbau und die Finanzierung einer urbanen Infrastruktur genossen dagegen keine Priorität. Die Mehrheit der Arbeitersiedlungen erinnerte in den 30er Jahren an Behelfskonstrukte, die nur zur Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse bestimmt waren. Dies war besonders charakteristisch für die Eisenbahnersiedlungen und die Knotenpunkte von Wasserwegen. 

Tabelle 1:  Bevölkerungswachstum in den Arbeitersiedlungen der Nordregion[12]

 

1926

1931

Zuwachs in Prozent 

Kotlasskie Zatony

400

3 000

750,0

Station Obozerskaja

500

1 800

360,0

Station Konoša

500

2 600

520,0

Station Emca

400

1 200

300,0

Station Suchona (mit Fabriken)

600

1 900

316,6

Station Charovskaja (mit Fabriken)

1 000

2 800

280,0

Arbeitersiedlung Sokol

5 900

9 800

183,0


Dagegen wuchsen die ehemaligen Gouvernementhauptstädte Vologda und Velikij Ustjug, wo es weder wichtige Fabriken noch Großbaustellen gab, sowie die ehemaligen Kreisstädte (Sol’vyšegodsk, Grjazovec, Tot’ma usw. – siehe Tabelle 2) langsam und nur aufgrund des natürlichen Bevölkerungszuwachses, egal ob sie nah oder weit entfernt von Transportmagistralen lagen. Auch blieb die Bevölkerung dort oft bei ihren traditionellen Gewerben. In Vologda, das nach Archangel’sk die zweitgrößte Stadt der Region war, verlief die Bevölkerungszunahme organischer und ohne heftige Verwerfungen. Wie am Beginn des 20. Jahrhunderts war Vologda in den 30er Jahren eine typische Transitstation für Migranten, deren Hauptstrom entweder nach Karelien oder in Richtung Archangel’sk und Syktyvkar floss. In den Jahren 1926 bis 1933 betrug der Bevölkerungszuwachs hier 13 700 Menschen, das heißt im Vergleich zu Archangel’sk 12,3 Mal weniger. Dieser Unterschied im Bevölkerungswachstum zwischen Archangel’sk und Vologda ist mit dem zwischen Murmansk (hohes Wachstum) und Petrozavodsk (niedriges Wachstum) in Karelien vergleichbar, weil Volodga und Petrozavodsk strukturell ähnliche Funktion als Transitstationen besaßen.

Tabelle 2:  Bevölkerungsentwicklung in den ehemaligen Gouvernement- und Kreisstädten der Nordregion[13]

 

1926

1931

1934

Zuwachs in Prozent

Vologda

81 500

86 400

95 000

106,0

Velikij Ustjug

19 200

23 400

23 600

121,8

Ust’sysol’sk

5 100

 

22 800

447,1

Sol’vyčegodsk

2 100

2 500

 

 

Grjazovec

5 200

5 800

 

 

Tot’ma

5 500

6 000

 

 

Mezen’

3 000

3 200

 

 

Kargopol’

3 400

3 900

 

 

Vel’sk

3 500

3 500

 

 

Kotlas

4 300

5 500

 

 


Besondere Aufmerksamkeit sollte in diesem Zusammenhang auf die Städte Velikij Ustjug und Ust’sysol’sk gerichtet werden. Velikij Ustjug war am Ende des 19. Jahrhunderts die drittgrößte Stadt der Nordregion. Als sie 1921 den Status einer Gouvernementstadt erlangte, schöpfte der Ort neue Kräfte. Zwischen 1926 und 1931 vergrößerte sich die Bevölkerung auf das 1,6-fache, nämlich von 19 200 auf 23 400 Bewohner. Nachdem sie jedoch auf den Status einer Kreisstadt zurückgestuft worden war, wurde diese Entwicklung unterbrochen. Auch das Tempo des natürlichen Bevölkerungswachstums verringerte sich. 1931 wuchs die Bevölkerung nur um 200 Menschen (von 23 400 auf 23 600 Bewohner). Ust’sysol’sk entwickelte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg langsam und v. a. aufgrund des natürlichen Bevölkerungszuwachses. Während der Bürgerkriegsjahre verringerte sich die Stadtbevölkerung fast um die Hälfte auf 2 800 Einwohner im Jahr 1920. Als 1921 der Autonome Bezirk Komi geschaffen wurde, begann eine schrittweise Erholung (1926 hatte die Stadt 5 070 Einwohner).[14] Während der ersten Fünfjahrpläne begann die Bevölkerung dann schnell zu wachsen. Im Zeitraum zwischen 1. Januar 1934 und 1. Januar 1935 erhöhte sich ihre Zahl um 18 Prozent (von 22 800 auf 26 900 Einwohner).[15]

Bis Mitte der 30er Jahre hielten nicht alle der sich noch bis vor kurzem schnell entwickelnden Eisenbahnstationen mit dem hohen Bevölkerungswachstum mit. Einige, wie zum Beispiel Konoša, verharrten auf demselben Niveau. Wo es Transportknotenpunkte und industrielle Entwicklung gab (wie zum Beispiel in Kotlas) oder wo sich große Fabriken befanden (wie in Sokol), vergrößerte sich die Bevölkerung schnell. Kreisstädte, die in ländlichen Regionen lagen, wuchsen wie vorher nur im Rahmen der natürlichen Bevölkerungszunahme. Nach den Daten der Volkszählungen wuchs der Anteil der Stadtbevölkerung in der Nordregion zwischen 1897 und 1939 von 5,6 Prozent auf 23,6 Prozent (in absoluten Zahlen von 94 916 auf 749 434 Menschen). Dabei war der Anstieg in den 30er Jahren am höchsten, als die Gesamtbevölkerung der Region auf das 1,9-fache anwuchs.[16] Die Ursachen für den Zuwachs lagen in der aufholenden Modernisierung und dem damit verbundenen mechanischen Bevölkerungszuwachs durch Zuwanderung.

Die demographische Situation in der Nordregion zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kann damit insgesamt als angespannt qualifiziert werden. Sie stand immer am Rand einer Krise und entwickelte sich in den 30er Jahren zu einer solchen. Die Gründe lagen in der einseitigen wirtschaftlichen Entwicklung der Region, die sie von äußeren Faktoren (insbesondere den Exportmärkten) und von der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Zentrums abhängig machte.

Deportation, Zwangskolonisierung, Zwangsarbeit

Anfang 1929 entschied sich das Zentralkomitee der VKP (b) – unter ungünstigen demographischen Bedingungen –, das Problem des Arbeitskräftemangels zu lösen. Die Arbeitskraft sollte dabei möglichst kostengünstig eingesetzt werden. Im Machtapparat kursierten alle möglichen Projekte. Am 13. April 1929, als der erste Fünfjahrplan beschlossen wurde, erläuterten die Volkskommissariate für Justiz und Inneres sowie der Geheimdienst OGPU (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung) dem Ministerrat der RSFSR in einem Bericht, dass die Einrichtung von Konzentrationslagern unabdingbar sei, in denen die Arbeitskraft von Häftlingen eingesetzt werden könne.[17] Auf Grundlage dieses Berichts beschloss das Politbüro am 29. Juni 1929 die Entschließung »Über den Gebrauch der Arbeitskraft von Strafgefangenen«. Im Anhang zu diesem Beschluss wurde angeordnet, »die bestehenden Konzentrationslager zu vergrößern und neue zu organisieren (in Usta und anderen abgelegenen Gebieten) mit dem Ziel der Kolonisierung und der Ausbeutung ihrer Naturreichtümer durch die Heranziehung der Arbeitskraft von Häftlingen«.[18] 

Schon drei Tage nach Absendung dieses Berichts schrieb der stellvertretende Vorsitzende des OGPU, Genrich Jagoda, einen Brief an Ejchmanis, Mejer und andere verantwortliche Mitarbeiter des OGPU, der eine Begründung für die Notwendigkeit der Kolonisierung neuer Gebiete durch Häftlinge enthielt. Dabei schlug er vor, »die Lager noch vor Ablauf der Strafe in Kolonistendörfer umzuwandeln«. Der Inhalt des Briefes ließ an Klarheit und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Wir müssen den Norden im schnellsten Tempo kolonisieren.«[19] Die Parteiführung und das OGPU handelten im Einverständnis und hielten es für notwendig, den Norden mit Gefangenen ohne Rückkehrrecht in die Heimat zu besiedeln. Die Direktive über die Zwangskolonisierung des Nordens nahm mit dem Beschluss des Ministerrats der RSFSR »Über Maßnahmen zur speziellen Kolonisierung der Nordregion, Sibiriens und des Uralgebiets« vom 18. August 1930 Gesetzesform an.[20] Der Beschluss wurde während der Kollektivierungskampagne gefasst. Daraus wird ersichtlich, wie eng beide Prozesse miteinander verbunden waren. 

Für »Kulaken« der zweiten Kategorie war von Beginn der Kollektivierungskampagne an geplant, sie in den Norden, den Ural oder weiter nach Osten zu verschicken. Der genannte Ministerrats-Beschluss forderte, »die Arbeitskraft der Spezialumsiedler maximal bei der Holzverarbeitung, in der fischverarbeitenden Industrie und anderen Industriezweigen der abgelegenen Gebiete zu benutzen, die dringend Arbeitskraft benötigen«[21]. Der Nordregion wurde als »Abteilung zur Valutabeschaffung« besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Sie lag näher als andere periphere Rohstoffregionen an den ausländischen Märkten und hatte erstklassige Meereshäfen, über die ein Großteil des Holzexports abgewickelt wurde. Mit der Durchführung der Zwangskollektivierung und der Kulakendeportationen (»Entkulakisierung«) schuf das Zentrum neben politischen und kriminellen Häftlingen, die bis 1929 das Gros der Zwangsmigranten in der Nordregion bildeten, eine neue Kategorie von Deportierten. Diese Spezialumsiedler (specpereselency) sollten nach dem Willen der Machthaber den Kolonisierungsprozess in den nördlichen und östlichen Randgebieten der Sowjetunion entscheidend vorantreiben. 

Das Gebietsparteikomitee der Nordregion war ebenfalls daran interessiert, Zwangsarbeit zu nutzen und damit die Kolonisierung der Region zu beschleunigen. Am 27. Januar 1930 kam das Komitee zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen und behandelte den Tagesordnungspunkt »Über die Aufnahme und Verteilung der entkulakisierten Familien innerhalb der Region«. Auf Beschluss des Komitees wurde eine Kommission gebildet, der aufgetragen wurde, »auf der Grundlage des Vorschlags des Bevollmächtigten Vertreters des OGPU und der Ausführungen, die im Namen des Zentralkomitees in dieser Frage gemacht wurden, einen konkreten Plan zur Nutzung der erwachsenen arbeitsfähigen Bevölkerung aus den Reihen der Umgesiedelten zu erstellen und deren Verschickung in die Gebiete der ständigen Ansiedlung zu planen.«[22] Die Kommission erarbeitete den »Plan zur Ansiedlung der Kulakenschaft in der Nordregion«, der am 31. Januar 1930 beschlossen wurde. Neben der Verschickung der Deportierten war darin festgelegt, dass zur »Ausstattung der Baracken« »kein besonderer Aufwand mit Baumaterialien betrieben werden« und aus den »Vorräten auf den lokalen Märkten« bewusst nur Holz »der schlechtesten Qualität« zur Verfügung gestellt werden solle.[23]

Nach Ansicht des Gebietsparteikomitees der Nordregion sollte die Kolonisation »in erster Linie industriellen Charakter« haben. Die Deportierten figurierten dabei als »Kader für die verstärkte Beschaffung von Holz«, an der Nordmeerküste sollten sie in der »Jod- und Fischindustrie« arbeiten.[24] Diese Arbeitskräfte sollten mit Brot, Kartoffeln und Kohl versorgt werden, wobei 1 300 Kalorien je Arbeiter vorgesehen waren. Diese Hungernorm war vom Volkskommissariat für Handel der RSFSR festgelegt und vom Büro des Gebietsparteikomitees am 15. Mai 1930 bestätigt worden.[25] Die »entkulakisierten« Bauern wurden als verfügbare und günstige Arbeitskraft betrachtet, um die man sich nicht weiter kümmern musste. Erst Monate nach der Verschickung begannen die lokalen Funktionäre, sich um die Effektivität der Arbeit und das Überleben der Deportierten zu kümmern.

Am Ende der 20er Jahre war der Übergang von der freiwilligen, aber ineffektiven Besiedlung der Nordregion zur erzwungenen Kolonisierung vollzogen. Dieser Übergang zu neuen Methoden war unausweichlich, weil er durch die extremen Vorhaben des Zentrums, die mit herkömmlichen Methoden unerfüllbar waren, ausgelöst wurde. Die lokale Bevölkerung erwies sich in ihrer Mehrheit als leidensfähig und opferbereit für die »große Zukunft« der Region und des ganzen Landes. 1927 gab es nur 300 Umsiedler in der Nordregion, 1928 500 und 1929 2 700. Im Jahr 1930 schnellte ihre Zahl durch die Spezialumsiedler auf 146 400 in die Höhe.[26] Mit dem Beginn des Ersten Fünfjahrplans hatte sich die Zuwanderung von Migranten verstärkt: 1927/28 um 66,7 Prozent, 1928/29 auf das 5,4-fache, 1929/30 auf das 54,2-fache. Trotz dieser Zahlen war die Zuwanderung nicht ausreichend. Viele blieben nicht für längere Zeit, sondern wandten sich dorthin, wo man ihrer Meinung nach besser verdienen und besser leben könne. In der Nordregion hielten sich am 29. November 1929 in der Zuständigkeit des OGPU 2 858 Deportierte auf, davon 2 455 (85,9 Prozent) »Kulaken und sozial schädliche Elemente«, 100 »Geistliche und Sektenmitglieder« sowie 62 »antisowjetisch eingestellte« Intelligenzler. Hinzu kamen noch circa 2 000 »verbannte Straftäter«, für die das Volkskommissariat für Inneres zuständig war.[27] Dieser Personenkreis war 1929 schon 1,8-mal so groß wie die Zahl der freiwillig Umgesiedelten. Nach den Angaben des OGPU lehnten die »politischen« Häftlinge Arbeitstätigkeiten nicht ab, nur die Strafgefangenen müssten zur Arbeit gezwungen werden. »Politische« gab es zu wenige, und die Strafgefangenen waren nur unter Schwierigkeiten zur Arbeit zu bewegen. Letztere wurde v. a. zu schwerer Arbeit herangezogen, für die dann in der Regel »entkulakisierte« Deportierte »einspringen« mussten.

Die massenhafte Deportationen »entkulakisierter« Bauern in die Nordregion begann im Frühjahr 1930. Noch Mitte Januar 1930 berieten die Gebietsfunktionäre über die Art des Arbeitseinsatzes für die circa 5 000 Deportierten – ob sie nur zu Hilfsarbeiten herangezogen oder selbstständig zu schweren Arbeiten eingesetzt werden sollten. Am 16. Januar 1930 entschied das Büro des Gebietsparteikomitees in dieser Frage »die auf administrativem Weg Verschickten von selbstständigen Tätigkeiten in den Fabriken und aus Wohnheimen für Arbeiter auszuschließen« und sie nur zu einfachen schwersten Tätigkeiten in den Fabriken unter Isolation von normalen Arbeitern heranzuziehen.[28] Als dann eine große Zahl »Entkulakisierter« eingetroffen war, wandte sich das Gebietsparteikomitee am 19. Juni 1930 mit der Bitte an das Moskauer Arbeitsministerium, »unserem Gebiet sofort 4 000 Arbeiter zu überstellen«.[29] Der Ausschluss von »Zeitarbeitern« oder »Hilfsarbeitern« (wie die »administrativ Verbannten« im bürokratischen Jargon genannt wurden) aus den Fabriken von Archangel’sk hatte politische Gründe. Darüber berichtete der Bevollmächtigte Vertreter des OGPU dem Büro des Gebietsparteikomitees. Er führte aus, man wolle verhindern, dass ausländische Seeleute von der Existenz von Zwangsarbeit in der Sowjetunion erführen und ein internationaler Skandal entstünde, der sich negativ auf den Holzexport auswirken würde.[30] Zu dem Skandal kam es trotzdem, er wurde aber schnell wieder »vergessen«, denn der Holzexport aus der Sowjetunion war in Zeiten der Weltwirtschaftskrise vorteilhaft für alle Seiten.[31]

Im einem Bericht über die Ansiedlung der »Kulakenhaushalte« in der Nordregion und ihre Lebensbedingungen wird davon gesprochen, dass nach einem Plan der Zentralregierung bis zum 15. April 1930 45 000 Familien angesiedelt wurden und ihre Zahl bis zum Herbst auf 75 000 (375 000 Menschen) ansteigen sollte. Somit wären 17 Prozent der Bevölkerung außerhalb der Städte Deportierte gewesen.[32] Im Beschluss des Gebietsparteikomitees hieß es, dass »nach dem neuesten Plan« der Zentralregierung 47 350 Familien auf die Gebiete verteilt werden sollen. Nach dem Stand vom 6. Mai 1930 waren 230 065 Deportierte in der Nordregion eingetroffen. In ihrer Mehrheit (77,4 Prozent) waren dies Menschen aus den südlichen Regionen der Sowjetunion, von denen 40,6 Prozent aus der Ukraine stammten, 18,6 Prozent aus dem Zentralen Schwarzerdegebiet, 17,4 Prozent aus dem Gebiet der Unteren Wolga und 0,8 Prozent von der Krim.[33] Die südliche Herkunft der Deportierten führte unter den extremen klimatischen Bedingungen der Nordregion nicht nur zur Entstehung, sondern zu einer Verschärfung der demographischen Krise. Die Krise betraf nicht nur die Deportierten selbst, sondern auch die ansässige Lokalbevölkerung, mit der die Neuankömmlinge besonders in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft Kontakt hatten. 

Bis zum 1. Dezember 1930 waren von den Verteilungspunkten aus 103 970 Spezialumsiedler in die entsprechenden Gebiete »zur permanenten Ansiedlung« verschickt worden (45 Prozent). Die übrigen 126 921 Menschen wurden in Eisenbahnwaggons an Ankunftsorte verbracht, an denen sie zunächst bis zum Frühjahr 1931 bleiben sollten. Die an den Verteilungspunkten zurückgebliebenen Frauen, Kinder und Greise verteilte man auf Städte, Eisenbahnsiedlungen und umliegende Dörfer, in nicht auf ihre Ankunft vorbereitete Kirchen, Scheunen und Verschläge. Im Frühjahr 1931 wurden auch sie zu ihren permanenten Siedlungsorten verschickt – in die »Spezialsiedlungen« (specposëlki), die gerade errichtet wurden und deren Bau v. a. in den Jahren 1931/32 erfolgte.

Aufgrund des Großen Hungers (golodomor) 1932/33 ging die Zahl der Spezialumsiedler drastisch zurück. Gründe waren Unterernährung, die schlechten Lebensbedingungen an den Ansiedlungspunkten, die hohe Krankheits- und Sterblichkeitsrate und Flucht. Ihre Zahl in der Nordregion verringerte sich zwischen dem 1. Januar 1932 und dem 1. Januar 1934 um 51,5 Prozent. Zum Vergleich: im Uralgebiet um 28 Prozent, in Nordkasachstan um 31,1 Prozent, in der gesamten Sowjetunion um 22,8 Prozent).[34] Die Zahl der Spezialumsiedler stabilisierte sich erst 1935 auf einem Niveau von 67 000 bis 69 000 Menschen. Ausnahmen bilden dabei die Städte Archangel’sk und Majmaksa. Da die Verschickung von Spezialumsiedlern aus diesen Städten in die weiter nordöstlich gelegenen Gebiete wegen des großen Arbeitskräftemangels nicht verwirklicht wurde, erhöhte sich hier ihre Zahl von 4 320 am 7. Mai 1930 auf 9 500 am 1. Februar 1932.[35]

Die tatsächliche Verschickung der »sozial fremden Elemente« aus den Städten erwies sich als wesentlich schwieriger als die Beschlussfassung. So wollten die Direktoren des Holzwerks in Majmaksa ihre arbeitsamen ukrainischen »entkulakisierten« Bauern nicht verlieren, weil diese sich schnell die in der Fabrik nötigen Fähigkeiten aneigneten, gut arbeiteten und damit dazu beitrugen, dass der Holzexportplan erfüllt werden konnte. Die Fabrikdirektoren verzögerten die »Herausgabe« der Arbeiter, bis diese 1933 vom Gebietsparteikomitee »legalisiert« wurden. Das kann jedenfalls aus den Quellen geschlossen werden. Der Direktor eines Holzwerks schrieb beispielsweise an seine Vorgesetzten im Severoles-Trust: »Mit Blick auf unser Arbeitskräftedefizit und in Anbetracht der Tatsache, dass eine Reihe von Spezialumsiedlern qualifizierte Arbeiten ausführt (Sägearbeiter, Schlosser usw.) und sie gut arbeiten, hat das Gebietsparteikomitee Ihnen zur Vermeidung eines Mangels an qualifizierten Arbeitskräften das Recht eingeräumt, sich mit der Bitte an den Bevollmächtigten Vertreter des OGPU der Nordregion zu wenden, diese arbeitenden Spezialumsiedler zu amnestieren«.[36] Schon früher hatte der stellvertretende Direktor des Werks dem OGPU mitgeteilt: »In der mir anvertrauten Fabrik gibt es keinen einzigen Spezialumsiedler.«[37] Sicher ging es hier eher darum, die Anwesenheit von Spezialumsiedlern zu verbergen, um die Planerfüllung des Werks sicherzustellen. Von der Existenz der Zwangsarbeiter in den Fabriken wussten alle, nur manchmal war es besser so zu tun, als seien sie nicht vorhanden. Im Februar 1932 schrieb die Verwaltung des Severoles-Trusts an denselben Werkdirektor: »Bis heute arbeitet in unseren Sägewerken eine große Zahl so genannter ›Zeitarbeiter‹ (administrativ Verbannte) und in manchen Fabriken findet man eine große Anzahl von ihnen als Angestellte. […] Für ihren Austausch hat man indes in den Werken bis jetzt rein gar nichts unternommen.«[38] Die Deportierten selbst bemühten sich, schnell qualifizierte Arbeiter zu werden, um nicht als Kolonisten in die nordöstlichen Gebiete der Nordregion weitertransportiert zu werden.

Hunger und Epidemien

Die größte Anzahl von Zwangsmigranten gab es in der Nordregion (wie in der gesamten Sowjetunion) in den Jahren 1930/31. Dies waren auch die Jahre, in denen es die größten Probleme bei ihrem Transport an die Bestimmungsorte, ihrer Ansiedlung und Versorgung mit Nahrungsmitteln und medizinischer Fürsorge gab, gar nicht zu sprechen von der Schaffung von Arbeitsplätzen, von denen für das Leben und Überleben der Deportierten sehr viel abhing. Die Verantwortlichen in der Nordregion waren mit dieser Aufgabe überfordert. Es war daher kein Zufall, dass an den Sammelpunkten im März und April 1930 34 314 deportierte Menschen (14,9 Prozent) erkrankten, im Gebiet Archangel’sk sogar 76,3 Prozent (26 183 Menschen).[39] Von der 34 314 Erkrankten (6 266 von ihnen waren mit hoch ansteckenden Krankheiten infiziert) starben 3 132 Menschen. Im Gebiet Archangel’sk starben von den 26 183 Erkrankten 1 245.[40] Auch in den südlichen Teilen der Nordregion war die Sterblichkeitsrate hoch. 1930 starben im Gebiet Vologda 3 515 Menschen, im Gebiet Severodvinsk 1 365 Deportierte.[41] Wer nicht starb und sich mit seinem Schicksal nicht abfinden wollte, ergriff noch auf dem Transport oder vom Ansiedlungsort aus die Flucht. 1930 flohen 1 520 Deportierte aus dem Gebiet Severodvinsk und 5 695 aus dem Gebiet Vologda. Ansässige Bauern und Funktionäre in den Dörfern waren den Flüchtlingen behilflich.[42]

Das stark absinkende Lebensniveau der alteingesessenen Lokalbevölkerung, die Ankunft einer großen Anzahl Deportierter, die Flucht der Bauern vor der Zwangskollektivierung in Arbeitersiedlungen, Städte und zu den Großbaustellen, Epidemien, die hohe Sterblichkeitsrate und die Zunahme anderer Stressfaktoren zeugen von einer 1930 beginnenden demographischen Krise. Offiziell wurde der Beginn der Flecktyphus-Epidemie von den Funktionären der Nordregion auf den Oktober 1931 datiert. Tatsächlich begann sie wie auch die Verbreitung ansteckender Kinderkrankheiten schon 1930 (siehe Tabelle 3). Höhepunkte erreichte die epidemische Verbreitung von Krankheiten in den Jahren 1930/31 und 1934/35. Allein zwischen Oktober 1931 und dem 10. Januar 1932 waren 5 266 Menschen angesteckt.[43] Die Behörden widmeten den epidemischen Erkrankungen erst erhöhte Aufmerksamkeit, wenn sie sich an Orten zu verbreiten begannen, wo freiwillige Migranten und Zwangsdeportierte in großer Zahl zusammentrafen.

Der Personenkreis, der im November 1931 an Typhus erkrankt war, gehörte zum Beispiel zu folgenden sozialen Gruppen: Von den insgesamt 2 371 Erkrankten waren 1 044 Spezialumsiedler (44,0 Prozent), 385 »administrativ Verbannte« (16,2 Prozent), 161 Strafgefangene (6,8 Prozent), 167 Arbeiter (7,0 Prozent) und 614 andere (26,0 Prozent).[44] Insgesamt waren also 67 Prozent der Typhuskranken Zwangsmigranten. Andererseits gab es in der Nordregion (ausschließlich Archangel’sk und Majmaksa) nur 69 Typhuserkrankungen (4,3 Prozent), in Archangel’sk und Majmaksa jedoch 441 Erkrankungen (86,5 Prozent). Im Gebiet der Nenzen war die Eisenbahnstrecke Konoša–Bel’sk der wichtigste Infektionsherd. Dort traten 81 Prozent der Typhuserkrankungen auf. Den ersten Platz bei der Anzahl der Infektionen nahm der Bezirk Komi ein.[45] Dort, wo es nur schlechtes Trinkwasser gab, trat v. a. Bauchtyphus auf, wo die Spezialumsiedler auf engem Raum zusammenlebten, v. a. Flecktyphus.

In einem Bericht des OGPU vom 11. Juni 1934, als die Epidemie der Infektionskrankheiten ihren zweiten Höhepunkt erreichte, hieß es, dass die Lage der Spezialumsiedler »in der Holzindustrie« der Sowjetunion »besonders unbefriedigend« sei.[46] Während des Großen Hungers 1932/33 hatte sich die Situation der Spezialumsiedler in verschiedenen Regionen, besonders in der Nordregion und im Uralgebiet, verschlechtert, wie auch der bekannte Historiker Viktor Zemskov feststellte. Nach seinen Angaben überstieg in der Nordregion die Sterblichkeit die Geburtenrate um das 9,6-fache. Zum Vergleich: In Westsibirien betrug dieser Faktor 4,8 und in Ostsibirien 4,5.[47] Nach dem Großen Hunger 1932/33 stabilisierte sich die Zahl der in der Nordregion lebenden Spezialumsiedler. Damit entspannte sich auch die demographische Lage, in der Nordregion allerdings langsamer als im sowjetischen Durchschnitt. Nach den Angaben von Viktor Zemskov näherten sich Geburten und Sterbefälle in der gesamten Sowjetunion bis 1935 einem Verhältnis von 1:1. In der Nordregion überstieg die Sterblichkeit der Deportierten die Zahl der Geburten 1934 um das 5,4-fache und 1935 um das 3,3-fache.[48]

Tabelle 3:  Epidemien in der Nordregion 1928 bis 1935. Die erste Zahlenreihe stellt die absolute Zahl der Erkrankungen pro Jahr dar. Die zweite, kursiv gesetzte Zahlenreihe gib die Zahl der Erkrankungen je 10 000 Einwohner an. [49]

            Bauchtyphus   Flecktyphus

Scharlach

Masern 

Malaria

Ruhr      Pocken     Gesamt

1928

938

517

3 575

4 664

2 466

104

12

12 276

 

4,0

2,0

14,4

19,0

14,4

4,0

0,04

57,8

1929

1 959

996

5 700

7 264

1 75

1 468

4

18 866

 

7,9

4,0

23,1

29,3

5,9

5,9

0,01

76,1

1930

4 871

3 325

13 940

21 757

1 839

1 364

22

47 118

 

10,6

12,3

51,9

81,2

6,8

3,0

0,08

165,9

1931

8 614

9 912

11 637

5 431

2 628

4 046

14

42 312

 

31,5

32,6

426

12,5

9,6

14,9

0,06

143,8

1932

4 435

5 814

3 732

12 218

3 945

2 018

130

32 342

 

16,0

21,1

13,7

47,9

14,3

7,3

0,4

120,7

1933

2 612

10 700

1 319

7 456

11 580

1 677

53

35 397

 

9,0

38,6

4,7

2,7

 

6,0

0,7

103,5

1934

 

2 925

 

3 025

 

1 138

 

  

28 850

 

4 889

 

  

40 827

 

1935

 

1 310

 

1 389

 

2 055

 

15 082

 

38 000

 

2 883

 

  

60 719

 

Gesamt

 

 

79,0

 

110,6

 

150,4

 

192,6

 

92,8

 

41,1

 

1,29

 

667,8

 

In der Zwischenzeit hatten sich die Funktionäre in der Nordregion an die Ausbeutung von Zwangsmigranten gewöhnt und forderten im Zentrum ein ums andere Mal neue »Kontingente von Spezialkräften« an. So begründete die Verwaltung des Komiles-Trusts im Februar 1932 die Notwendigkeit der »zusätzlichen Kolonisierung« von Gebieten im Bezirk Komi mit dem »Defizit« an Arbeitskräften.[50] Der stellvertretende Vorsitzende der Planbehörde der Nordregion, Poljakov, bat im Zentrum am 10. August 1936 um »neue Kontingente« von Umsiedlern für industrielle Großbauprojekte, und zwar um 15 500 Menschen.[51] Die lokalen Funktionäre forderten Zwangsarbeiter an, weil es zu wenige freiwillige Zuwanderer gab. Auch stand zu wenig Geld zur Verfügung, um freiwilligen Arbeitern eine ausreichende Bezahlung zu garantieren. Dazu kam, dass zum 31. Juli 1930 die Zahl der Fluchten aus den »Spezialsiedlungen« mit 24 975 die Zahl der in die Region Deportierten um 10 Prozent überstieg.[52] Das hätte vermieden werden können, wenn die Deportierten in der Anfangsphase besser unterstützt worden wären. Die Flucht aus den Kolonistendörfern war zudem schwer zu verhindern. Die Fluchtbewegung dauerte bis zum Ende der 30er Jahre an. 1938 lebten nach den Angaben einer Untersuchung des NKVD (Nachfolger des OGPU) im Gebiet Archangel’sk 89 700 Zwangsdeportierte, von denen 38 700 »persönlich angetroffen wurden, aber 51 000 als Flüchtlinge gezählt wurden«[53]. Nach den Angaben von Viktor Zemskov gab es keine aktiven polizeilichen Ermittlungen, um sie wieder zu finden. 

Am Ende der 30er Jahre normalisierte sich das Leben der Spezialumsiedler in der Nordregion schrittweise und die demographische Krise wurde überwunden. 1937 wurden 1 844 Menschen geboren und 1 018 starben, was einen natürlichen Zuwachs von 826 Menschen bedeutete. Die Geburtenrate überstieg damit die Sterberate um das 1,8-fache (Unionsdurchschnitt 1,7). 1938 lag diese Rate bei 1,9 (und 1,99).[54] Eine der Ursachen für diese Entwicklung war die sinkende Konfrontationsbereitschaft der Umsiedler, die mit ihrer Wiedereinsetzung in die Bürgerrechte einherging. Sie bereiteten der Verwaltung und Fabrikdirektionen nun weniger Schwierigkeiten.

Die späten 30er Jahre: Deportationen aus Polen und das Wachsen des Gulag

Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Der Kriegsbeginn hatte sofortige negative Auswirkungen auf das Lebensniveau in der Sowjetunion, weil die Ausgaben für Rüstung und Militär anstiegen. Als Folge verschlechterte sich auch die demographische Situation erneut. 1940 sank die Geburten- gegenüber der Sterberate im Vergleich zu 1939 von einem Koeffizienten von 21,5 auf 14,7 Promille.[55] Kurz nachdem die sowjetischen Truppen am 17. September 1939 auf polnisches Territorium vorgerückt waren, begannen die Transporte von polnischen »Siedlern und Flüchtlingen« in die Sowjetunion. Ihr rechtlicher Status unterschied sich wenig von dem der Spezialumsiedler. Oftmals wurden sie in leer stehenden Baracken für Deportierte untergebracht, die sich auf der Flucht befanden oder aus anderen Gründen nicht angetroffen wurden. Die größte Anzahl von Deportierten aus Polen gab es am 1. April 1941 im Gebiet Archangel’sk (50 944 Menschen). Geringer war ihre Zahl in der Autonomen Republik Komi (18 772 Menschen) und im Gebiet Vologda (13 357 Menschen). Insgesamt betrug ihre Zahl 83 073.[56] Das ist ein Viertel mehr als die Zahl der Zwangsdeportierten (zum 1. Oktober 1941 61 349 Menschen).[57] Wie am Beginn der 30er Jahre tauchten Probleme bei der Ansiedlung, der Lebensmittelversorgung und der medizinischen Betreuung der Deportierten auf. 

Mit der massenhaften Deportation der polnischen »Siedler und Flüchtlinge« setzten erneut epidemische Ausbrüche von Typhus ein, deren Verbreitungsherde an den Transportwegen und in den Siedlungsorten der Deportierten lagen. In der ersten Hälfte des Jahres 1940 begannen in fünf Kreisen des Gebiets Archangel’sk Flecktyphusepidemien. 89 Menschen in der Arbeitssiedlung Nošul’skaja Baza in der Republik Komi erkrankten an Bauchtyphus.[58] Am 1. Dezember 1940 erkrankten in drei Arbeitssiedlungen des Pinegoles-Trusts 119 Menschen an Flecktyphus.[59] Hunger, die fehlende Versorgung mit Vitaminen und die unzulängliche bzw. fehlende Versorgung mit Fleisch und Fisch verursachten die Verbreitung von Skorbut und Tuberkulose.[60] Die führenden Funktionäre der Gebiete Archangel’sk und Vologda sowie der Republik Komi missachteten bei der Ansiedlung der polnischen »Siedler und Flüchtlinge« die Erfahrungen der Vergangenheit.

Als Mitte der 30er Jahre die demographische Krise abnahm und sich nur noch stellenweise und diskontinuierlich zeigte, schuf man mit den Massenrepressionen der Jahre 1937/38 und dem Ausbau des Lagersystems des GULag neue Krisenherde. Am Beginn der 30er Jahre war die Zahl der Besserungsarbeitslager (russ.: Ispravitel’no-Trudovye Lagerja, Abk.: ITL) in der Sowjetunion und in der Nordregion langsam angewachsen. In der Sowjetunion gab es 1932 nur 11 Lager, 1933 14, Anfang 1935 15. Erst durch die Massenrepressionen 1937/38 wuchs die Zahl der Lager dramatisch an und erreichte Ende 1939 54.[61] 

Der massenhafte Transport von Häftlingen in die Nordregion begann 1937. Anfang 1941 hatte die Nordregion schon 18 ITL mit fast 222 000 Häftlingen. Davon befanden sich 7 ITL in der Republik Komi (110 000 Gefangene), 7 ITL im Gebiet Archangel’sk (100 000 Gefangene) und 4 ITL im Gebiet Vologda (12 000 Gefangene).[62] Ihre Verteilung in der Region hatte dieselben Ziele wie die Zwangskolonisation der frühen 30er Jahre, denn die Lager wurden in den Gegenden errichtet, wo sich auch die »Spezialsiedlungen« befanden. Die große Zahl von Häftlingen in der Republik Komi erklärte sich aus den hier erst kürzlich entdeckten Vorkommen von Kohle, Öl und anderen Bodenschätzen. Um deren Förderung und den Transport zu gewährleisten, wurde eine große Anzahl von Häftlingen zur billigen Verrichtung der Arbeiten benötigt. Zusammen mit den anderen Gruppen von Zwangsmigranten stellten sie mit 300 000 Menschen nicht weniger als 9 bis 10 Prozent der Gesamtbevölkerung der Region. Das scheint im Verhältnis zur alteingesessenen Bevölkerung keine besonders hohe Zahl zu sein, aber man muss einen gewichtigen Umstand beachten: Die unfreiwillig Zugewanderten arbeiteten in den Kernbereichen der Wirtschaft. Sie bauten Fabriken, Eisenbahnen, Arbeitersiedlungen und Städte. Sie waren in der Holzindustrie, im Bergbau und bei Straßenbauarbeiten die wichtigste Ressource von Arbeitskraft. Außerdem arbeiteten sie in engem Kontakt mit der Lokalbevölkerung. Viele der ehemaligen Häftlinge waren nach ihrer Entlassung gezwungen, im Norden zu bleiben, und lebten weiterhin in den Kolonistendörfern und Arbeitersiedlungen, von wo aus sie unter Umständen schnell in die »Zone« der Lager zurückkehren mussten.

In den 30er und 40er Jahren bauten die Gefangenen und Deportierten Siedlungen und Dörfer, deren Bevölkerung sich ebenfalls aus diesen Gruppen rekrutierte. Dabei handelt es sich um eine spezifische Form der Urbanisierung. Es ist nicht erstaunlich, dass in diesen Städten urbane Lebensformen weitgehend fehlten oder sich nur keimhaft und in spezifischen Formen entwickelten. Beispielsweise konnte es ein Theater geben, in dem Häftlinge Stücke aufführten, aber keine Kanalisation oder keinen öffentlichen Nahverkehr. So jedenfalls war die Geschichte einiger Städte in der Republik Komi (Vorkuta, Inta, Pečora, Uchta) und im Gebiet Archangel’sk (Molotovsk). 

In der demographischen Studie der Nordregion zeigt sich einmal mehr die Gesetzmäßigkeit, dass ein starkes Absinken des Lebensniveaus begleitet von einer massiven und erzwungenen Zuwanderung in einer Gesellschaft Chaos und das Aufkommen von Epidemien verursacht. Dabei erinnerte die Bekämpfung dieser Erscheinungen an kollektive Improvisationen. Folglich konnten die Ursachen für ein erneutes Aufkommen von Epidemien – und damit für die demographische Krise – nicht grundlegend behoben werden und die Krise wiederholte sich in analogen Situationen. Man kann für demographische Krisen vier auslösende Faktoren benennen. Erstens war dies die unkontrollierte Migration der ländlichen Bevölkerung in die Holzfabriken, Arbeitersiedlungen und Städte. Zweitens kamen immer wieder neue Deportiertenkontingente in die Region. Es gibt also einen direkten und engen Zusammenhang zwischen Zwangsmigration und demographischer Krise. Drittens herrschten an den Arbeitsplätzen, den Wohnorten und in den Lagern für alle Bevölkerungsteile extrem schlechte Lebensbedingungen. Viertens wurde mit der Errichtung der Großfabriken (insbesondere der »Zellulose-Papier-Kombinate«) wegen ihrer umweltschädlichen Technologie das ökologische Gleichgewicht zerstört. Die Folge war eine schlechte Qualität des Trinkwassers, die damals sogar amtlich festgestellt wurde.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Christian Teichmann (Berlin)


[1]  Siehe Ignatovskij, V. P.: Rezension zu Ivanov, Ju. M.: Očerki teorii i praktiki totalitarnogo socializma [Skizzen zur Theorie und Praxis des totalitären Sozialismus], Moskau 1997, in: Voprosy filosofii 1999, H. 1, S. 184 sowie das Rundtischgespräch 50 let bez Stalina [50 Jahre nach Stalin], in: Otečestvennaja istorija 2004, H. 4, S. 199.

[2]  Zacharov: A. V.: Massovoe obščestvo v Rossii. Social’no-političeskij analiz [Die Massengesellschaft in Russland. Soziale und politische Analyse], in: Voprosy filosofii 2003, H. 9, S. 9. 

[3]  Naselenie Rossii v XX veke. Istoričeskie očerki [Die Bevölkerung Russlands im 20. Jahrhundert. Historische Skizzen]. 2 Bde., Moskau 2000 und 2001. Siehe auch Demografičeskie processy v SSSR 20–80-ch godov (Sovremennaja zarubežnaja istoriografija) [Demographische Prozesse in der UdSSR von den 1920er bis 1980er Jahren (Die aktuelle ausländische Historiographie)], Moskau 1991, S. 5; Poljakov, Ju. A.: Vozdejstvie gosudarstva na demografičeskie processy v SSSR (1920–1930-e gody) [Staatliche Einwirkung auf demographische Prozesse in der UdSSR (1920er und 1930er Jahre)], in: Voprosy istorii 1995, H. 3, S. 122.

[4]  Višnevskij, A. G.: Demografičeskaja politika v sovremennom mire [Die demographische Politik in der heutigen Welt], Moskau 1989, S. 5.

[5]  Kaganskij, V.: Kul’turnyj landšaft i sovetskoe obitaemoe prostranstvo. Sbornik statej [Kulturlandschaft und sowjetischer Siedlungsraum. Aufsatzsammlung], Moskau 2001, S. 81.

[6]  Estestvennoe dviženie naselenija RSFSR za 1926 god [Die natürliche Bevölkerungsdynamik in der RSFSR im Jahr 1926], Moskau 1928, Tabelle 1.

[7]  Gosudarstvennyj archiv Archangel’skoj oblasti/Staatsarchiv des Gebiets Archangel’sk (im Folgenden: GAAO), f. 1734, o. 1, d. 126, Bl 116. Siehe auch GAAO, f. 1322, o. 2, d. 6, Bl. 30.

[8]  Žiromskaja, V. B./Kiselev, I. N./Poljakov, Ju. A.: Polveka pod grifom »sekretno«. Vsesojuznaja perepis’ naselenija 1937 goda [Ein halbes Jahrhundert »geheim«. Die sowjetische Volkszählung von 1937], Moskau 1996, S. 46 u. 55. Murmansk hatte 1910 nur 573 Einwohner, 1926 schon 8 716 und 1937 90 277. Obzor Archangel’skoj gubernii za 1910 god [Bericht über das Gouvernement Archangel’sk für das Jahr 1910], Archangel’sk 1912, Tabelle 16; Naselenie Rossii v XX veke. Istoričeskie očerki [Die Bevölkerung Russlands im 20. Jahrhundert. Historische Skizzen]. Bd. 1: 1900–1939, Мoskau 2000, Tabellen 1 u. 76.

[9]  Šaškov, V. Ja.: Repressii v SSSR protiv krest’jan i sud’by specpereselencev Karelo-Murmanskogo kraja [Die Repressionen gegen die Bauern in der Sowjetunion und die Schicksale der Spezialumsiedler in den Gebieten Karelien und Murmansk], Murmansk 2004, S. 104. 

[10]  Naselenie Rossii v XX veke (Anm. 8), Tabellen 1 u. 76.

[11]  Perepis’ naselenija g. Archangel’ska 15 ijulja 1930 goda [Die Volkszählung in der Stadt Archangel’sk am 15. Juli 1930], Archangel’sk 1931, S. 14. Zur Unterscheidung von »permanenter« und »angetroffener« Bevölkerung in sowjetischen Statistiken siehe Anderson, Barbara A./Silver, Brian D.: »Permanent« and »Present« Populations in Soviet Statistics, in: Soviet Studies 37 (1985), S. 386–402 (Anm. des Übersetzers).

[12]  A. D.: Čislo naselenija v gorodach Severnogo kraja (po martovskoj perepisi 1931 g.) [Die Einwohnerzahl der Städte in der Nordregion (nach der Volkszählung im März 1931), in: Chozjajstvo Severa 1931, H. 3/4, S. 140. 

[13]  Ebenda, S. 140; Statističeskij zbornik po Severnomu kraju za 1929–1933 gg. [Statistische Sammlung für die Nordregion 1929–1933], Archangel’sk 1934, Tabelle 2.

[14]  Žukov, N.: Predvaritel’nye itogi perepisi naselenija 1926 g. po Komi oblasti [Vorläufige Ergebnisse der Volkszählung im Gebiet Komi 1926], in: Komi my 1927, H. 10/11, S. 21. 

[15]  Informacionnyj Centr UVD Archangel’skoj Oblasti/Informationszentrum der Verwaltung der Innenbehörde des Gebiets Archangel’sk (im Folgenden: IC UVD AO), f. 24, o. 1, d. 7, Bl. 100.

[16]  Pervaja vseobščaja perepis’ naselenija Rossijskoj Imperii 1897 g. [Erste allgemeine Volkszählung des Russländischen Imperiums 1897], St. Petersburg 1905, Bd.: Archangel’skaja gubernija, S. 1 u. Bd.: Vologodskaja gubernija, S. 1; Pravda Severa vom 3. Juni 1930. 

[17]  Rogačev, M. B. (Hrsg.): Pokajanie. Komi Respublikanskij Martirolog žertv massovych političeskich repressij [Die Buße. Martyrolog der Opfer von politischen Massenrepressionen in der Republik Komi]. Bd. 3, Syktyvkar 2000, S. 46.

[18]  Ebenda, S. 47.

[19]  Ebenda, S. 54 f.

[20]  Ebenda, S. 58.

[21]  Dobronoženko, G. F./Šabalova, L. S. (Hrsg.): Pokajanie. Komi Respublikanskij Martirolog žertv massovych političeskich repressij [Die Buße. Martyrolog der Opfer der Massenrepressionen in der Republik Komi]. Bd. 4/1, Syktyvkar 2001, S. 206.

[22]  Otdel dokumentacii social’no-političeskoj istorii Gosudarstvennogo archiva Archangel’skoj oblasti/Abteilung für die Dokumentation der sozial-politischen Geschichte des Staatsarchivs des Gebiets Archangel’sk (im Folgenden: ODSNI GAAO), f. 290, o. 1, d. 378, Bl. 4.

[23]  ODSNI GAAO, f. 290, o. 1, d. 378, Bl. 11 f.

[24]  ODSNI GAAO, f. 290, o. 1, d. 739, Bl. 23.

[25]  ODSNI GAAO, f. 290, o. 1, d. 739, Bl. 63.

[26]  GAAO, f. 1322, o. 2, d. 7, Bl. 123. Angaben nach Erhebungen des Landwirtschaftsministeriums der RSFSR, die von der Zentralen Verwaltung für Wirtschaftsstatistik (CUNChU) bei der Gosplan-Behörde der UdSSR an den Bevollmächtigten Vertreter des OGPU der Nordregion weitergeleitet wurden.

[27]  ODSPI GAAO, f. 290, o. 2, d. 19, Bl. 16 f.

[28]  ODSPI GAAO, f. 290, o. 2, d. 356, Bl. 22; ODSPI GAAO, f. 290, o. 1, d. 378, Bl. 1.

[29]  ODSPI GAAO, f. 290, o. 2, d. 359, Bl. 4.

[30]  ODSPI GAAO, f. 290, o. 2, d. 372, Bl. 70v.

[31]  Siehe Korotaev, V. I./Klepikov, N. N.: Meždunarodnaja informacionnaja diskreditacija Severnogo kraja i eё preodolenie v načale 1930-ch godov [Die Diskreditierung der Nordregion in der internationalen Presse am Beginn der 1930er Jahre und ihre Überwindung], in: Vestnik Pomorskogo universiteta. Serija »Gumanitarnye i social’nye nauki« 7 (2005), H. 1.

[32]  ODSPI GAAO, f. 290, o. 2, d. 379, Bl. 5.

[33]  Rogačev: Pokajanie (Anm. 17), S. 203 u. 276.

[34]  Naselenie Rossii v XX veke (Anm. 8), Tabelle 55 f. 

[35]  ODSPI GAAO, f. 290, o. 1, d. 1172, Bl. 15; ODSPI GAAO, f. 290, o. 1, d. 1472, Bl. 70.

[36]  Brief des Direktors der Holzfabrik Nr. 25 in Majmaksa an den Vorstand des Severoles-Trusts vom 25. August 1933, in: GAAO, f. 648, o. 4, d. 8, Bl. 57.

[37]  Brief des Stellvertretenden Direktors der Holzfabrik Nr. 25 an den für Fragen der Spezialumsiedler zuständigen Mitarbeiter beim Bevollmächtigten Vertreter des OGPU in der Nordregion vom 16. Februar 1932, in: GAAO, f. 648, o. 4, d. 8, Bl. 18. 

[38]  GAAO, f. 648, o. 4, d. 8, Bl. 45.

[39]  Dobronoženko/Šabalova: Pokajanie (Anm. 21), S. 184.

[40]  Ebenda. Angaben für die Nordregion ohne den Nationalen Bezirk der Nenzen und den Autonomen Bezirk der Komi.

[41]  ODSPI GAAO, f. 600, o. 2, d. 21, Bl. 174.

[42] Ebenda, Bl. 176.

[43]  GAAO, f. 1224, o. 8, d. 1498, Bl. 131v.

[44]  GAAO, f. 1734, o. 1, d. 47, Bl. 71 u. 71v.

[45]  Ebenda.

[46]  IC UVD AO, f. 39, o. 1, d. 6, Bl. 126.

[47]  Naselenie Rossii v XX veke (Anm. 8), S. 298 u. 300. 

[48]  Ebenda, S. 301.

[49]  GAAO, f. 1224, o. 1, d. 1734, Bl. 236.

[50]  Dobronoženko/Šabalova: Pokajanie (Anm. 21), S. 399.

[51]  GAAO, f. 1322, o. 2, d. 35, Bl. 3.

[52]  Dobronoženko, G. F./Šabalova, L. S. (Hrsg.): Specposёlki v Komi oblasti. Po materialam splošnogo obsledovanija. Ijun’ 1933. Sbornik dokumentov [Die Spezialsiedlungen im Gebiet Komi. Nach den umfassenden Untersuchungsmaterialien. Juni 1933. Dokumentenband], Syktyvar 1997, S. 16.

[53]  Naselenie Rossii v XX veke (Anm. 8), S. 294. 

[54]  Ebenda, Tabellen 58 f. Die Berechnung der Faktoren stammt vom Autor.

[55]  Naselenie Rossii v XX veke. Istoričeskie očerki [Die Bevölkerung Russlands im 20. Jahrhundert. Historische Skizzen]. Bd. 2: 1940–1959, Мoskau 2001, S. 14.

[56]  Ebenda, Tabelle 42.

[57]  Ebenda, Tabelle 70.

[58]  GAAO, f. 3065, o. 4, d. 20, Bl. 285; ODSPI GAAO, f. 3065, o. 3, d. 131, Bl. 4 u. 115.

[59]  GAAO, f. 3065, o. 3, d. 131, Bl. 4 u. 115.

[60]  GAAO, f. 3065, o. 3, d. 131, Bl. 75 u. 100.

[61]  Naselenie Rossii v XX veke (Anm. 8), S. 311 u. 315.

[62]  Sistema ispravitel’no-trudovych lagerej v SSSR, 1923–1960. Spravočnik. [Das System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR 1923–1960. Ein Handbuch], Moskau 1998; Istorija Komi s drevnejšich vremёn do konca XX veka [Die Geschichte der Komi von den Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts]. Bd. 2, Syktyvkar 2004, S. 402. Die Berechnung der Gefangenenzahlen stammt vom Autor. 

Inhalt – JHK 2007

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