JHK 2008

Arbeit am Selbst im Arbeiterstaat. Neue Quellen des Stalinismus und ihre Deutung

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 223-230 | Aufbau Verlag

Autor/in: Brigitte Studer

Der Begriff »Kommunismus« umfasst mehrere Dimensionen, welche von der Geschichtswissenschaft unterschiedlich stark akzentuiert worden sind. Das Hauptgewicht historischer Darstellungen lag lange auf der Betrachtung von Kommunismus als Herrschaftsform, als politische Bewegung und als Weltanschauung. Erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten ist die Dimension des Kommunismus als Lebenswelt und als Gesellschaftsform, in welcher »Arbeit am Selbst« zu den allgemeinen kulturellen Normen zählte, hinzugekommen. Diese perspektivische Erweiterung verdankt sich mindestens zwei Faktoren: zum einen der »archivalischen Revolution« und der Entdeckung neuer Quellen, zum andern der historiographischen Erneuerung mit neuen Ansätzen und Fragestellungen. Diese Kombination von historischen Ereignissen (der Zusammenbruch der Sowjetunion und die partielle Öffnung der Archive) und binnenwissenschaftlichen Perspektiven-, ja Paradigmenwechseln dürfte ausschlaggebend gewesen sein für die Entwicklung eines neuen Ansatzes – man kann ihn als »Subjektivitätsansatz« bezeichnen. Dabei ergab sich eine konzeptuelle und inhaltliche Annäherung zwischen einzelnen Feldern der historischen Kommunismusforschung und der osteuropäischen Geschichte, die in erster Linie über eine gemeinsame Quellengattung, in zweiter über eine ähnliche Problemstellung und vergleichbare Methoden vermittelt wurde. Ich möchte im Folgenden zuerst kurz die erwähnten Quellen einführen und anschließend diskutieren, wie diese erschlossen, also gelesen und gedeutet werden können. Ich werde dabei auch eigene Recherchen einbeziehen und mich auf die Stalinzeit der 1930er-Jahre konzentrieren.

Sprechen über sich selbst unter Stalin

Die abrupte Öffnung der Archive nach 1991 brachte viele neue Erkenntnisse, die größte Überraschung dürfte aber wohl die »Enthüllung« zahlreicher Tagebücher gebracht haben. Teils bis heute gilt nämlich die Annahme, die Verschriftlichung privater Tatsachen und Meinungen sei angesichts der allgegenwärtigen Bespitzelung gefährlich, das Tagebuchführen unter sowjetischen Verhältnissen entsprechend unüblich gewesen.1 Neue Quellen autobiographischer, teils auch biographischer Art kamen erst allmählich zum Vorschein. Zudem dauerte es etliche Jahre, bis sich die historische Forschung intensiv mit den Deutungsproblemen auseinanderzusetzen begann, welche diese mit sich brachten. 1995 veröffentlichten Véronique Garros, Natalija Korenewskaja und Thomas Lahusen Auszüge aus rund einem Dutzend Tagebüchern von Sowjetmenschen aus sehr unterschiedlichen Milieus, blieben jedoch eine historiographische Einordnung dieser Dokumente schuldig.2 Ein Jahr später provozierte Jochen Hellbeck mit der Publikation des Tagebuchs von Stepan Podlubnyj großes Aufehen.3 Ein einfacher Mensch, ein Mann aus dem Volk, ein simpler, wenn auch ambitionierter Sowjetbürger hatte Tag für Tag seine letztlich gescheiterten Bemühungen notiert, sich dem bolschewistischen Wertesystem anzupassen und ein »guter Stalinist« zu werden. Seither häufen sich die Veröffentlichungen von Tagebüchern, aber auch Autobiographien und Memoiren aus der Stalinzeit.

Doch das ist nur die eine Seite des Tableaus. In der Tat hielten die russischen Archive, wie sich schnell zeigen sollte, nicht nur Tagebücher und Autobiographien als Quellenmaterial bereit. Eine Reihe weiterer Ego-Dokumente kam zum Vorschein.4 Da gibt es zum Beispiel einen regen schriftlichen Austausch zwischen der Bevölkerung und der Administration: Briefe an die Pravda, an Stalin, ans ZK, an Ämter; es finden sich Eingaben, Klagen, Denunziationen. Diese asymmetrische Kommunikationsstruktur ist im Grunde vormodern herrschaftsorientiert; ihre Zeugnisse weisen, abgesehen vom jeweiligen Kontext, eine gewisse Ähnlichkeit mit den Lettres de cachet aus dem Ancien Régime auf, den Bittschriften an den König, die Arlette Farge und Michel Foucault zusammen herausgegeben haben.5

Als modern kann hingegen der vom bolschewistischen Regime bereits in den frühen 1920er-Jahren mit dem System der Arbeiterkorrespondenten (rabkor) initiierte Appell an den Einzelnen zur Stellungnahme und Berichterstattung über eigene Erfahrungen bezeichnet werden. Diese partizipative Kommunikationsform zwischen dem Regime und den Staatsbürgern und -bürgerinnen war zweifellos in ihrer Funktion ambivalent, diente sie doch auch einer offiziellen Informationsbeschaffung zu Kontroll- und Lenkungszwecken. Sie beleuchtet aber einen Grundzug der bolschewistischen Herrschaftspraxis, den Stalin Ende der 1920er-Jahre stark ausbauen und institutionalisieren sollte: die Aufforderung an die Individuen, über sich selbst zu sprechen und zu schreiben.

Diese offizielle Förderung des Sprechens über das Selbst in einer Reihe von Partei- und anderen Organisationspraktiken hat – für die Historikerinnen und Historiker ein seltener Glücksfall – zahlreiche Quellen hinterlassen, Quellen, die Ego-Dokumente neuer Art darstellen. Es handelt sich erstens um Dokumente, die in Kaderdossiers enthalten waren, um Fragebogen zur eigenen Person und um Parteiautobiographien, mündliche oder schriftliche Selbstdarstellungen, die auf Geheiß der Partei (oder einer anderen Organisation) und meist nach einem vorgegebenen Raster gefertigt wurden. Zweitens sind zahlreiche stenographierte Sitzungsprotokolle – teils handschriftlich, teils maschinengeschrieben – überliefert, in denen unterschiedlichste Fragen erörtert werden. Sie entstanden im Rahmen von Partei- und Zellensitzungen, von Produktionsberatungen im Betrieb oder von Gruppenversammlungen eines Schülerkollektivs. Ihre Entstehungsorte waren also neben der sowjetischen Partei auch Industriebetriebe sowie staatliche Verwaltungs- und Bildungsinstitutionen, etwa internationale Kaderschulen. Sie dienten der Erörterung von Problemen der Produktivitätssteigerung oder von Zielsetzungen und Methoden der Kaderausbildung, aber auch der Bilanzierung von Planzielen oder der Säuberung. Je nachdem nahmen sie die Form einer Selbstkritik oder eines Selbstberichts an, Praktiken, in denen eine Gruppe oder ab Mitte der 1930er-Jahre öfters eine Einzelperson dem Kollektiv über ihre »Fehler« oder dann ihre »Produktionsziele« Rede und Antwort zu stehen hatte. Am Ende dieser Evaluationsverfahren wurde die Person von den anderen beurteilt oder verurteilt.

Reinhard Müller hat im deutschen Sprachraum als erster mit solchen Quellen gearbeitet. Seine Beispiele stammen aus Kaderakten deutscher Kommunisten. Besonders eindrücklich war seine Veröffentlichung des Stenogramms einer geschlossenen Parteiversammlung deutschsprachiger Schriftsteller 1936 in Moskau wenige Tage nach dem ersten Schauprozess.6 In dem mehrhundertseitigen Dokument äußern sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Reihe nach wiederholt zu ihren »Verfehlungen« und »Abweichungen« und versuchen teils durch die Anklage und Denunziation anderer der Säuberung zu entkommen. Vor allem mit Parteiautobiographien französischer Kommunisten haben die beiden Historiker und Soziologen Claude Pennetier und Bernard Pudal gearbeitet, die der Frage nach den individuellen Handlungsspielräumen gegenüber der Partei im Rahmen der verordneten Selbstbeschreibung nachgegangen sind.7 Zusammen mit Berthold Unfried habe ich mich selbst für die Materialien der Selbstkritik- und Selbstberichtssitzungen an den internationalen Kaderschulen in Moskau und in den Parteigruppen der Komintern interessiert8 – Sitzungen, in denen zum Beispiel gesagt wurde: »[Genossen,] ich habe ein ganz unzulässiges Verhalten an den Tag gelegt, und das Verhalten in der Gruppe ist das Resultat. Schon lange trug ich diese Stimmungen mit mir herum. Gen. Beutling sprach mit mir darüber, ich habe aber keine vernünftigen Schlussfolgerungen gezogen. Ich habe mir jetzt vorgenommen, ordentliche Produktionsarbeit und gesellschaftliche Arbeit zu leisten und nicht mehr das schwarze Schaf zu sein.«9

Neue Quellen und ihre Narration

Wie kommt es, dass ein System, in diesem Fall ein Parteistaat, so viel von seinen Bürgerinnen und Bürgern erfahren wollte? Was wollten die Machthaber überhaupt wissen? Was erzählten die Menschen? Was nicht? Weshalb sprachen sie generell bereitwillig über sich selbst? In welchen Situationen taten sie das? Und: Was erfährt dabei die Historikerin / der Historiker? Was sagen diese Quellen über das Sowjetsystem oder in unserem Fall über den Stalinismus der 1930er-Jahre?

Die Geschichtswissenschaft, respektive die Gruppe der Historikerinnen und Historiker, die mit solchen Quellen arbeiten, hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dem theoretischen und methodischen Problem befasst, wie mit diesen Quellen umzugehen sei, wie sie gedeutet werden sollen. Oder anders formuliert, welche Geschichte ihnen gegeben werden kann, welche Narration zu ihnen passt.

Zu den Charakteristika der geschichtswissenschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre gehört neben einer vermehrten Theorieorientiertheit und der Interessenverlagerung zu kollektiven und individuellen Sinnproduktionen wohl noch stärker die erhöhte Methodenreflexion. Dazu zählt auch die Beachtung des Entstehungskontextes einer Quelle auf materieller, struktureller, intellektueller und kognitiver Ebene. Quellen sind bekanntlich nicht einfach ein Abbild vergangener sozialer Realitäten, die uns Fakten liefern. Quellen haben selbst eine Geschichte. Sie müssen in ihren Aussagen kontextualisiert, und ihre Herstellung muss reflektiert werden. Die erwähnten Quellen verweisen auf eine Reihe von Situationen, in denen die Einzelperson im Vordergrund steht; was sie denkt, was sie tut (getan hat), was sie sagt: Das Individuum hat über sich, seine politischen Haltungen, seine Aussagen, sein Privatleben zu informieren. Dies heißt jedoch immer auch, über sich zu erzählen, also seiner Darstellung eine möglichst große Kohärenz zu geben. Die erwähnten Textsorten oder Ego-Dokumente können als institutionelle Selbstzeugnisse bezeichnet werden, die es in anderer Form auch in anderen Gesellschaften gab (so zum Beispiel in Form des Gerichtsverhörs), die jedoch in dieser Dichte und vor allem in einem solchen Kontext für den Stalinismus spezifisch sein dürften.

Die Selbstthematisierung geschah in direkter Auseinandersetzung mit dem Kollektiv, mit den anderen historischen Akteuren. Das unterscheidet diese Situationen in gewisser Hinsicht vom Tagebuch oder von der Autobiographie, in welchen die Gesellschaft oder die anderen als Hintergrundfolie, als internalisierte Norm und als positive oder negative Projektionsfläche für den eigenen Identitätsentwurf dienen, nicht aber in direkter Konfrontation oder im interpersonell vermittelten kommunikativen Austausch mit dem Sprechenden stehen. Andererseits: Wenn sich auch die Formen in der Unmittelbarkeit des Dialogs zwischen Individuum und System unterscheiden, handelt es sich sowohl bei den hier relevanten Formen des Tagebuchs und der Autobiographie als auch beim Selbstbericht und der Selbstkritik doch um Praktiken, in denen die Machtträger die einzelne Person mustern und diese ihrerseits mehr oder weniger freiwillig über sich selbst Auskunft gibt. Man ist also weit entfernt vom totalitaristischen Modell eines allmächtigen Staats- und Polizeiapparats ohne Menschen, der sich nicht um seine Bürger kümmert und sich für diese nicht interessiert. Wie also lassen sich die in diesen Quellen zum Ausdruck kommenden Situationen  historiographisch erschließen? Welche Erkenntnisse sind daraus zu ziehen?

Eine dem Totalitarismusansatz verpflichtete Lektüre sah in den beschriebenen Formen des Sprechens über sich selbst ein Unterwerfungsritual, in welchem die Allmacht des Partei- oder Staatsapparats gesichert wurde. In den zugrunde liegenden Situationen ortete sie das Bemühen um totale Kontrolle, dessen Finalität das Auslöschen jeglicher individueller Regung war. Eine solche Interpretation war zweifellos Ergebnis des von diesem Ansatz modellierten starr hierarchischen Verhältnisses von Staat und Bürgern. Sie lässt sich aber auch auf die Tatsache zurückführen, dass vor der Archivöffnung nur die Praxis der Säuberung, die damit assoziierte sowjetische Selbstthematisierungsform der Selbstkritik sowie die in den Schauprozessen formulierte öffentliche Beichte bekannt waren. Dokumentarische Quellen dazu waren aber eher spärlich vorhanden. Jedenfalls war es kaum möglich, daraus Serien zu bilden. Für den sogenannten revisionistischen Ansatz, wie die sich in den 1970er-Jahren etablierende amerikanische Sozialgeschichte bezeichnet wurde, galten hingegen die Säuberungen als Ort, wo um Interessen gestritten wurde, oder als Herrschaftsinstrument, das mehr »von unten« denn »von oben« genutzt wurde. Die offiziellen Personenfragebögen und die institutionellen Autobiographien betrachtete er als Mittel zur Bestimmung sozialer Herkunft (»Klasse«) durch die Parteibehörden und die staatliche Verwaltung – wozu sie in der Tat auch dienten –, nicht aber als kommunikativen Vorgang zwischen Behörden und Individuum, in welchem auch Letzteres Akteur war.

Es gibt für die Interpretationen beider Ansätze plausible Argumente und Belege. Der Anspruch des stalinistischen Regimes war unbestreitbar insofern totalitär, als das Individuum bis in jedes Detail kontrolliert und überwacht werden sollte. Andererseits haben sich genügend Beispiele finden lassen, die zeigen, dass lokaler Klientelismus oder individueller Opportunismus und taktisches Geschick die Repression des zentralen Parteiapparats abwenden konnten.

Neuere sozialwissenschaftliche und historiographische Ansätze, die mehr oder weniger direkt mit dem linguistic, dem cultural und neuerdings dem pragmatic turn in Zusammenhang stehen und eine Rezentrierung des Individuums postulieren, haben allerdings eine neue Problemstellung entwickelt: Sie befassen sich damit, wie kollektive Deutungen und Vorstellungswelten entstehen und mit der persönlichen Erfahrung sowie der subjektiven Wahrnehmung und Sinngebung verknüpft sind. Damit hat sich der Fokus zum einen auf Identitätskonstruktionen und die Formung, ja Konstituierung des Selbst, zum anderen auf die Nutzung individueller Verhaltensrepertoires und strategischen Handelns verschoben.

Diese und andere Ansätze und Debatten, die im Rahmen allgemeiner historiographischer Erneuerungen zu situieren sind, haben in den letzten Jahren die Geschichtsforschung angeregt. Identitäts- und Subjektivitätsproblematiken haben einen starken Auftrieb erlebt. Dies trifft auch für Forschungen über die Entwicklung des »stalinistischen Menschen« zu, sei es in der Sowjetunion, sei es in westlichen kommunistischen Parteien. In Bezug auf die Sowjetgesellschaft ist allerdings ganz besonders evident, dass diese Prozesse nicht allein von autonomen Subjekten vollzogen werden, wie sie die Aufklärungsphilosophie entworfen hat und die Politik des Liberalismus vertritt. Auf der anderen Seite schließen historiographische Ansätze, die sich für Subjektivierungsprozesse interessieren, selbstredend auch diejenigen Interpretationen aus, die dem menschlichen Handeln und Willen keinen Platz einräumen. Plausibler erscheint da die foucaultsche Ambivalenz der Subjektivierung als Unterwerfungsprozess einerseits, als Faszinations-, Verzauberungs- oder Blendungsakt andererseits.10

Welcher Handlungs- und Entscheidungsspielraum nun allerdings dem Einzelnen zugeschrieben wird, wie letztlich das Verhältnis von Individuum und System konzipiert wird, kann und muss hier nicht behandelt werden.11 Es lässt sich höchstens sagen, dass in den letzten Jahren wohl so etwas wie ein Konsens herrscht, dass dieses Verhältnis co-konstruktiv ist. Darüber hinaus bestehen weiterhin Differenzen, ob die Integration der Parteimitglieder und im weiteren Sinne der Sowjetbürger sowie deren Aneignung offizieller Leitbilder, Normen, Konventionen und Werte taktischer Art oder eher Ausdruck genuiner Überzeugung waren. Stellvertretend für diese unterschiedlichen Positionen sei hier die kritische Stellungnahme von Igal Halfin und Jochen Hellbeck zu Stephen Kotkins Ausdeutung seines Konzepts des »speaking bolshevik« verwiesen.12 Werden damit nur Anpassungsprozesse beschrieben – so die Meinung der beiden –, sitzt der Historiker der Illusion eines präformierten stabilen Subjekts auf, das sich gegen die Ansprüche der bolschewistischen Ideologie zur Wehr setzt respektive diese pro forma übernimmt. Einer solchen Konzeption setzen sie die konstruktivistische Sichtweise entgegen, gemäß welcher das Subjekt erst über die Sprache des Regimes geformt wird.

Für die aus den russischen Archiven geförderten Selbstzeugnisse ist der von der Diskursanalyse hervorgehobene historische Zusammenhang zwischen Macht und Text ein zentraler Ausgangspunkt. Auf Grundlage dieser methodologischen Prämisse können die erwähnten Quellen als Ausdruck und Produkt der Struktur und Logik der stalinistischen Machtverhältnisse gelesen werden. Dazu ist es nötig, diejenigen sprachlichen Register zu identifizieren, die jedem Kontext spezifisch sind. Ferner sind die Regeln zu rekonstruieren, welche die Darstellung, die Diskursivierung und Verschriftlichung der Tatsachen und Ereignisse strukturieren.

Wichtige methodologische Anregungen lassen sich aus der Geschichte der Kriminalität gewinnen, welche mit Gerichtsakten als Quelle auf eine vergleichbare Textsorte zurückgreift. Diese erlauben den Zugriff auf eine Situation, in welcher sich im Laufe der Falluntersuchung und des Gerichtsprozesses unterschiedliche Zeugen sowie Darstellungen oder Deutungen eines Geschehens gegenüberstehen. Jeder historische Akteur wählt eine Narration und folgt in seiner Aussage einer gewissen Rationalität. Am Schluss muss jedoch – so will es die Logik der Gerichtssituation – eine möglichst widerspruchsfreie oder jedenfalls hierarchisch aufgebaute Erzählung stehen. Wenn zu Beginn die »Tatsache« noch weitgehend undefiniert ist, so wird sie im Urteilsspruch als »Delikt« oder eben als Freispruch festgeschrieben.

Wie die Gerichtsquellen können Quellen von Selbstkritik- oder Selbstberichtssitzungen als Protokoll einer Interaktion, als Kommunikationsprozess, ja als Handlung betrachtet werden. Sie sind Reflex einer Realität, die gerade erst entsteht. Dies geschieht nicht regellos, sondern entsprechend der prozeduralen Logik der Institution – sei es nun das Gericht oder die kommunistische Partei – einerseits, der Handlungslogik, also der Strategien der Akteure – sei es der Prozessparteien und der Gesetzesvertreter oder der Parteimitglieder und -verantwortlichen – andererseits. Im Vergleich zu Gerichtsakten weisen die sowjetischen Quellen, um die es hier geht, allerdings auch Besonderheiten auf. So waren die Rollen zwischen den Beteiligten oft nicht eindeutig verteilt, ein Ankläger konnte plötzlich zum Angeklagten werden. Die institutionellen Regeln konnten sich zudem in den 1930er-Jahren abrupt und für sämtliche Beteiligte unerwartet ändern.

Die neuen Ego-Dokumente aus der Stalinzeit der 1930er-Jahre erlauben, so ist zu folgern, eine mehrschichtige Lektüre. Zweifellos können sie als Erstes – folgt man teils Martin Schaffners Typologie13 – unter der Voraussetzung von genügend quellenkritischer Sorgfalt als Faktenlieferanten, als ungeordnete »Datenbank« genutzt werden. Sie können zweitens als normative Texte interpretiert werden, als mehr oder weniger getrübter Spiegel der 
Erwartungen der Partei als Institution an ihre Mitglieder und Kader. Über diese unmittelbar am Inhalt, an den Textaussagen orientierten Lesarten hinaus können diese Quellen freilich auch nach ihrem latenten Sinn befragt werden, indem danach geforscht wird, was die Menschen über sich selbst sagen, wenn sie sprechen (oder schreiben). Oder anders formuliert: Was tun die historischen Akteure, wenn sie sprechen, in welche Kommunikationsbeziehungen begeben sie sich, was sagen sie über sich aus, und vor allem: Welchen Sinn geben sie diesem Tun? In einer derart handlungsorientierten Interpretation gilt Sprechen sodann als Handlung, Sprechen ist Tun.14 Je nach der von den historischen Akteuren gewählten Erzählung, je nach dem »Spiel ihrer Antworten« lassen sich ihre Strategien rekonstruieren, lässt sich der jeweils zur Verfügung stehende oder ein Stück weit selbst geschaffene individuelle Handlungsspielraum ausloten. Diese Lesart verbindet Text und Kontext. Sie richtet ihr Augenmerk auf das, was zwischen dem Individuum und der Institution geschieht, wenn jenes zum Sprechen über sich selbst gebracht wird.

Im Fall der in den hier besprochenen Quellen dokumentierten stalinistischen Praktiken erweist sich das Konzept der »Arbeit am Selbst« als hilfreich. Dabei handelt es sich auf einer Ebene um einen deskriptiven Begriff, um eine Aufforderung, die zum Beispiel wiederholt an die Schüler und Schülerinnen der internationalen Kaderschulen in Moskau gerichtet wurde. Auf einer anderen Ebene hat er aber ebenso analytische Funktion. Er verweist auf die von den stalinistischen Parteikadern und -mitgliedern, teils auch von allen Sowjetbürgerinnen und -bürgern in den 1930er-Jahren vom Regime erwartete Disposition, an sich zu arbeiten, um sich in dessen Sinne zu »bessern«.15 Das sozusagen konstruktivistische Menschen- und Gesellschaftsbild, das hinter der prometheischen, dezisionistischen Zielsetzung des Stalinismus lag, formulierte Alfred Kurella, einer der Verantwortlichen für die Kulturpolitik und Kaderausbildung in der Komintern, 1936 so: Der Marxismus habe »ein großartiges zusammenhängendes Bild der ganzen menschlichen Geschichte geschaffen, das den Menschen und sein Wesen als etwas Werdendes, als einen Prozess auffasst, bei dem der reale, sinnliche, tätige und denkende Mensch Objekt und Subjekt, Schöpfer und Geschöpf seiner selbst zugleich [ist]«.16 Das Bürgertum sei dazu nicht fähig gewesen.

Die Ego-Dokumente neuen Typs, welche die Archivöffnung serienmäßig zum Vorschein gebracht hat, geben Einblick in dieses normative Muster, aber auch in den Kontext und die Prozesse seiner Erfüllungsversuche. In diesem Sinne sind die Quellen, welche die stalinistischen Praktiken individueller und kollektiver Selbstthematisierung und Introspektion dokumentieren, mehr als nur Ausdruck einer Inszenierung der Parteiautorität. Sie können als Beleg eines Konfrontations-, Kontroll- und Aushandlungsprozesses zwischen der Partei und ihren Mitgliedern gedeutet werden, in welchem die Aneignung der offiziellen Normen gefordert, Identitätszuschreibungen vorgenommen und die individuelle Konformität über die Mobilisierung der Subjektivität getestet wurde.


1 Siehe Maja Turowskaja, Patriotische und andere Eintragungen. Tagebücher in der Sowjetunion der dreissiger Jahre offenbaren eine komplexe Bewusstseinswirklichkeit, in: Neue Zürcher Zeitung 71, 25. /26. März 2006, S. 70 (Besprechung von Nina Lugovskajas Tagebuch und des Sammelbandes mit Tagebuchauszügen von Véronique Garros et al. (siehe Anm. 2)). Dagegen Paperno, Irina: Personal Accounts of the Soviet Experience, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 3 (2002), H. 4, S. 577– 610.

2 Garros, Véronique / Korenewskaja, Natalija / Lahusen, Thomas: Intimacy and Terror. Soviet Diaries of the 1930s, New York 1995; Deutsche Ausgabe: Das wahre Leben. Tagebücher aus der Stalinzeit, Berlin 1998.

3 Tagebuch aus Moskau 1931–1939, München 1996.

4 Detaillierter ausgeführt in meiner Einleitung: Studer, Brigitte / Unfried, Berthold / Herrmann, Irène (Hrsg.): Parler de soi sous Staline. La construction identitaire dans le communisme des années trente, Paris 2002, S. 1−30.

5 Farge, Arlette / Foucault, Michel: Le désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille, Paris 1982.

6 Müller, Reinhard: Die Säuberung. Moskau 1936. Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, Reinbek bei Hamburg 1991. Siehe auch ders.: Die Akte Wehner. Moskau 1937 bis 1941, Berlin 1993.

7 Pennetier, Claude / Pudal, Bernard: For intérieur et remise de soi dans l‘autobiographie communiste d‘institution (1931–1939). L’étude du cas Paul Esnault, in: Le for intérieur, hrsg. vom Centre universitaire de recherches administratives et politiques de Picardie, Paris 1995, S. 324 – 340; dies.: Ecrire son autobiographie (Les autobiographies communistes d‘institution, 1931–1939), in: Genèses 23 (1996), S. 53 – 75; dies. (Hrsg.): Autobiographies, autocritiques, aveux dans le monde communiste, Paris 2002.

8 Studer, Brigitte / Unfried, Berthold: »Das Private ist öffentlich«. Mittel und Formen stalinistischer Identitätsbildung, in: Historische Anthropologie 7 (1999), H. 1, S. 83 –108; dies.: Der stalinistische Parteikader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Köln – Weimar 2001.

9 Protokoll der deutschen Sektorversammlung, 4. oder 10. Februar 1936, Russisches Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte, 529 / 1 / 553.

10 Foucault, Michel: Le sujet et le pouvoir, in: Defert, Daniel / Ewald, François (Hrsg.): Dits et écrits IV, Paris 1994, S. 222 – 243, hier S. 227.

11 Zur analytischen Konstruktion der Kategorie »Mensch« als Handlungsträger siehe das stimulierende Kapitel in Tanner, Jakob: Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004, insbesondere S. 101 – 122. Für den sowjetischen Kommunismus siehe Studer, Brigitte / Haumann, Heiko (Hrsg.): Stalinistische Subjekte / Sujets staliniens / Stalinist Subjects. Individuum und System in der Sowjetunion und Komintern 1929 – 1953, Zürich 2006.

12 Kotkin, Stephan: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995; Halfin, Igal / Hellbeck, Jochen: Rethinking the Stalinist Subject: Stephen Kotkin’s »Magnetic Mountain« and the State of Soviet Historical Studies, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), H. 3, S. 456 – 463.

13 Zu den historischen Interpretationsmöglichkeiten von Quellentexten siehe seinen äußerst anregenden Aufsatz: Fragemethodik und Antwortspiel. Die Enquête von Lord Devon in Skibbereen, 10. September 1844, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 55 – 75. Ich folge diesem Aufsatz aber nur teilweise.

14 Dieser aus der Sprachpragmatik von John Austin (Doings Things with Words, Oxford 1962) entlehnte Ansatz betrachtet Sprache weniger als Zeichensystem denn als Handlungen.

15 Für eine Darstellung der Umsetzung dieser Erwartung mittels institutioneller Praktiken siehe Studer, Brigitte: L‘être perfectible. La formation du cadre stalinien par le »travail sur soi«, in: Genèses 51(2003), S. 92 – 113.

16 Kurella, Alfred: Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Beiträge zum sozialistischen Humanismus, Berlin 1958, S. 16.

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