Am Rande einer Diskussion
Im April 2004 fand in Hannover eine internationale Konferenz mit dem Titel »Die Kommunistische Internationale. Personen, Apparate und Strukturen« statt. Die meisten Historiker, die sich auf die Geschichte der Komintern spezialisiert haben, nahmen daran teil. Das größte Interesse fanden bei den Forschern aus verschiedenen Ländern, die mit der Thematik vertraut waren, offenbar neuere Sammelbände über Personen, die für die Komintern arbeiteten.
Ich präsentierte meine Studie Hungarians in the Comintern1 und beteiligte mich an der Diskussion, die sich über die Beziehung zwischen NKWD (Narodny Komissariat Wnutrennich Del / Volkskommissariat für Inneres) und Komintern entwickelte, insbesondere über die Berichte Herbert Wehners für das NKWD sowie Wehners Verantwortung. Es wurden zwei divergente Ansichten vertreten, die eine durch Hermann Weber, die andere durch Reinhard Müller und dessen Arbeit zu Wehner.2 Anhand des verfügbaren Materials zu den ungarischen Erfahrungen unterstützte ich Webers Standpunkt. Ich teilte seine Auffassung, dass bei der Bewertung Herbert Wehners die zeitgenössischen Umstände nicht genug Berücksichtigung erfahren. Anhand einer detaillierten Auflistung Hunderter Dokumente und der Beschreibung der Schicksale zahlloser Menschen zeichnet Müller ein Bild von Terror und Entwürdigung. Dabei bleibt er jedoch an der Oberfläche, denn der wesentliche Punkt, der Grund, weshalb sich Menschen unter diesen Umständen so verhalten haben, wird nicht untersucht. Es werden nur die bloßen Fakten präsentiert, die Ereignisse beschrieben und einige »Verräter« verdammt sowie behauptet, dass diese selbst zu ihrem Untergang und dem ihrer Landsleute beigetragen hätten. Im Gegensatz zu dieser Meinung, und in Übereinstimmung mit Weber, vertrete ich die Ansicht, dass die unablässig diskutierten beiden wichtigsten Standpunkte nicht die richtigen Aspekte in den Mittelpunkt stellen. Die eine Seite betont, dass die Henker jederzeit zu Opfern werden konnten und umgekehrt. Die andere ist der Meinung, dass das Opfer seine Hinrichtung oder die Deportation in den GULag hinausschieben konnte, indem es ein falsches Geständnis ablegte oder bereit war, falsche Anschuldigungen zu erheben. Beide stehen im Widerspruch zu dem Hauptgrund, aus dem diese Schauprozesse veranlasst wurden.
Es ist eine groteske Verzerrung der Geschichte, dass nach einem halben Jahrhundert die Fälle Herbert Wehner und Imre Nagy in das aktuelle politische Kreuzfeuer geraten sind. Während der Wahlen im Jahre 1994 wurde Wehner wegen seines früheren Handelns in Moskau scharf kritisiert,3 zweifellos zum Schaden der SPD. Im Fall Imre Nagys, der von 1953 bis 1955 sowie während des Aufstands von 1956 Premierminister Ungarns war und 1958 hingerichtet wurde, dauert die Kontroverse über dessen Moskauer Aktivitäten unvermindert an. Die Dokumente aus der Zeit seines Exils wurden nach Ungarn geschickt, um den Anti-Reform-Flügel der Partei darin zu unterstützen, die demokratische Umwandlung der ungarischen Regierung aufzuhalten oder sogar zu Fall zu bringen.4
Während der Diskussionen auf der Konferenz in Hannover war meine Hauptthese – die meine Forschung überzeugend stützt –, dass Geständnisse den Inhaftierten weder halfen noch eine Erschwernis für sie darstellten. Es spielte keine Rolle, ob jemand die erfundenen Anschuldigungen gestand oder nicht. Dies war denjenigen, die sich für oder gegen ein Geständnis entschieden, bekannt. Ihnen war klar, dass, während man sie aufforderte oder zwang zu gestehen, anderswo über ihr Schicksal entschieden wurde und diese Entscheidung oftmals bereits gefallen war.
Wir wissen, dass Geständnisse nur geringe Auswirkungen hatten und nur dann manchmal etwas veränderten, wenn der Beschuldigte vor Gericht gestellt wurde. Dies war selten der Fall, und nur »akzeptable« Geständnisse und Untersuchungsberichte nahm man in die Gerichtsakten auf. Die erfundenen Anklagepunkte bestimmten das Schicksal der Beschuldigten. Die belastenden Dokumente, Geständnisse, Untersuchungsberichte und andere Beweismittel waren bloße Formalitäten. Wir wissen, dass die Verurteilungen nicht auf den Geständnissen basierten. Es war genau umgekehrt: Die Geständnisse wurden auf vorher beschlossene Anklagepunkte zugeschnitten.5
Es ist ebenfalls bekannt, dass nur eine kleine Minderheit der Opfer überhaupt einen Prozess bekam. Nach unseren Informationen wurde von den Tausenden ungarischer Opfer, die hingerichtet oder deportiert wurden, nur eines vor Gericht gestellt und bekam einen Anwalt zugewiesen. Es handelte sich um László Rudas, einen bekannten Philosophen, der nicht verurteilt wurde und die Zeit in Moskau überlebte. Die große Mehrheit bekam keinen Prozess. Eine »Troika«, eine aus drei Mitgliedern bestehende »Spezialkommission« des NKWD, entschied über deren Schicksal. Die Betreffenden wurden entweder in den GULag geschickt oder durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Eine ähnliche Militärkommission war für Armeeangehörige zuständig. Das Kollegium für Militärstraf-sachen am Obersten Gericht der UdSSR befasste sich mit hochrangigen Militärs. Schuld-eingeständnisse hatten keinen Einfluss auf die Entscheidungen der »Spezialkommissionen«. Häufig fanden die Menschen erst dann heraus, dass sie verurteilt waren, wenn sie vor einem Erschießungskommando standen oder man ihnen befahl, sich zur Deportation in den GULag zu melden.6
In Ungarn ist viel über den Ablauf der Schauprozesse oder genauer über diese »konzeptuellen« Verfahren geschrieben worden. Wir kennen die Umstände und die Vorgänge, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verhaftung führten. Es war in praktisch jedem Fall möglich, die Gründe für die Inhaftierung des Einzelnen offenzulegen. Darüber hinaus waren wir in den meisten Fällen in der Lage, die jeweiligen erfundenen Anklagepunkte gegen die NKWD-Opfer aufzudecken.
Der Terror war insofern irrational, als die Opfer keine Spione, Mörder oder ausländischen Agenten waren; selbst unbedeutende Polizeiinformanten waren nur selten unter ihnen. Im Kontext der Zeit jedoch war er durchaus rational, denn Stalins Herrschaft benötigte konkrete innere und äußere Feinde, um zu beweisen, dass der Klassenkampf andauerte und sich weiter verschärfte. Dies war ein elementarer Aspekt des politischen Systems. Es war insbesondere erforderlich, kontinuierlich innere Feinde zu entlarven, die das sowjetische System stürzen wollten. Dies war notwendig, um die politische Spannung und die uneingeschränkte Autorität des Regimes aufrechtzuerhalten. Die Verschwörungen und Verschwörer mussten irgendwo »hervorgezaubert« werden.
Seit Mitte der 1930er-Jahre war dies die Hauptmission des NKWD. Sie wurde mit methodischer Präzision durchgeführt, der Ablauf folgte einer Choreographie. Der erste Schritt bestand darin, eine Liste mit Empfehlungen zu erstellen, auf der diejenigen standen, die man verhaften wollte. Auf der Liste war auch jeweils bereits die vorgesehene Kategorie vermerkt. In der ersten Kategorie waren diejenigen erfasst, die sofort zu verhaften und, nach einer Überprüfung, zu erschießen waren. Die zweite Kategorie listete diejenigen auf, die als weniger aktiv eingestuft wurden und zu 8 bis 10 Jahren Haft oder Arbeitslager verurteilt werden sollten. Die Listen wurden vom Chef des NKWD, Nikolai Jeschow, persönlich genehmigt. Er bestimmte auch, wie viele Personen auf jeder Liste in jeder Kategorie stehen sollten. Es war möglich, Leute zu rekategorisieren und so von einer Gruppe in die andere zu schieben.7
Für die Betroffenen schien der Selektionsprozess keine rationale Basis zu haben, als geschehe er aus einer Laune heraus. Den ungarischen Emigranten war es unmöglich herauszufinden, wodurch man die Aufmerksamkeit des NKWD erregte und weshalb man verhaftet, angeklagt und schuldig gesprochen wurde. Sie wussten nicht, welche Auswirkungen – wenn überhaupt – Schuldeingeständnisse oder andere an das NKWD gelieferte Informationen auf den Verlauf der Ereignisse hatten. Welche Folgen dies für das Gewissen der Betroffenen hatte, ist eine andere Frage. Vielfach war ein und dieselbe Person zugleich Ankläger und Angeklagter. In jedem Fall war sie jedoch ein Opfer der Säuberungen und nicht derjenige, der sie durchführte.
Die Stalin’schen Säuberungen und ihre ungarischen Opfer
Es ist allgemein bekannt, dass der Zweck der ersten Welle der Säuberungen darin bestand, die »führende alte Garde der Bolschewiki« auszulöschen. In der ungarischen Parteiführung gab es nur vier Personen, die zu dieser Gruppe gerechnet werden konnten: Béla Kun (1886–1938), der Gründer der Kommunistischen Partei Ungarns, der international anerkannte Philosoph György Lukács (1885–1971), Mátyás Rákosi (1892–1971), Sekretär der Komintern in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre und einer der Führer der Kommunistischen Partei Ungarns, sowie der angesehene Wirtschaftswissenschaftler Jenő (Eugen) Varga (1879–1964). Alle vier waren Weggefährten Lenins. Die Sterbedaten zeigen, dass alle außer Béla Kun die Ära der »konzeptuellen« Verfolgung überlebten.
Béla Kun – eine Symbolfigur der internationalen Arbeiterbewegung
Béla Kun war die mit Abstand respektierteste Gestalt unter ihnen. Er war einer der Gründer der Komintern8 und der Kommunistischen Partei Ungarns. Er war der Führer der Ungarischen Sowjetrepublik, die vier Monate existierte, länger als jede andere in Europa. Er war der Anführer des bewaffneten Widerstandes gegen die Entente-Kräfte sowie ein respektierter Verbündeter und Diskussionspartner Lenins. Aus diesen Gründen musste er, gemäß der den Säuberungen zugrunde liegenden Idee, liquidiert werden. Der Umstand, dass zwischen Kun und Stalin niemals eine Feindschaft existiert hatte, machte keinen Unterschied; vielmehr verdeutlicht er den rigiden Charakter der Säuberungen. Ihre Wege haben sich nie gekreuzt. Die Situation war nicht die gleiche wie bei Sinowjew, Kamenew, Bucharin und Radek.
Von Historikern wird nur selten hervorgehoben, dass Stalin die Säuberungen keineswegs aus persönlichen Motiven etablierte und durchführte. Im Fall der alten Bolschewiki war nur eines von Bedeutung: Es durfte keiner, der Einfluss hatte und möglicherweise die Autorität des sowjetischen Systems destabilisieren konnte, am Leben bleiben. Stalin war der Meinung, dass diese Personen für die »Sache« liquidiert werden mussten. Er glaubte, sie würden seine Machtposition, die er mit der Macht des sowjetischen Staates und den hart erkämpften Errungenschaften der Revolution gleichsetzte, unterminieren. Natürlich wusste er, dass sie keine Terroristen oder Agenten einer ausländischen Macht waren. Sie waren seine ehemaligen Kameraden oder sogar Freunde (Bucharin). Er betrachtete sie dennoch als »illegale Organisatoren der Konterrevolution«. Und nicht nur sie, sondern ebenso ihre Verbündeten und Freunde. Je höher eine Person in der Organisation angesiedelt war und je mehr Beziehungen sie hatte, umso weiter spannte man das Netz. Béla Kun war ein unabhängiger Denker mit vielen Beziehungen.
Der Prozess seines Ausschlusses begann bereits im Sommer 1935, zur Zeit des VII. Komintern-Kongresses. Kun wurde nicht in das Präsidium berufen. Im Jahr darauf, am 5. September 1936, wurde er auf der Zusammenkunft des Zentralkomitees des Politbüros all seiner offiziellen Funktionen enthoben. Er wurde beschuldigt, eine »Kampagne gegen die Leitprinzipien und die Führung der Komintern« sowie Maßnahmen zur Zersetzung der Emigrantengemeinschaft unternommen zu haben. Diese Anklagepunkte rechtfertigten keine Hinrichtung – möglicherweise empfahlen Dimitroff und Manuilski die weniger schweren Anschuldigungen. Kun antwortete Dimitroff zwei Tage später. Er wies die Anklage zurück, obgleich er seine Enthebung von den offiziellen Ämtern akzeptierte. Er beendete seinen Brief mit folgenden Worten: »Ich bitte Dich, mir zu glauben, dass ich mir Dein Vertrauen, egal welche Aufgabe Du mir überträgst, verdienen werde, sodass es Dir möglich sein wird, mich wieder mit den ungarischen und internationalen Angelegenheiten zu betrauen.«9
Wahrscheinlich wurde zu diesem Zeitpunkt entschieden, ihn zu verhaften, obwohl er zum Direktor eines einflussreichen Verlags, des Verlags Gesellschaft und Ökonomie (SZOCEKGIZ), ernannt worden war. Die einzige offene Frage war, auf welcher Grundlage er verhaftet werden sollte. Wir wissen, dass ihm ursprünglich öffentlich der Prozess gemacht werden sollte. Jedoch passte sein Fall weder zu Sinowjew noch zu Bucharin. Schon seit den 1920er-Jahren gab es zwischen ihm und beiden scharfe Differenzen. Die Befehle waren jedoch deutlich, und so wurde entschieden, gegen ihn wegen eines Vergehens der Kategorie eins Anklage zu erheben. Er wurde schließlich am 29. Juni 1937 verhaftet. Bei den anfänglichen Befragungen war noch nicht entschieden, wessen er angeklagt werden sollte, aber dass er hingerichtet werden sollte, war bereits beschlossene Sache. Dies wird durch detaillierte Dokumente belegt. Daraus können wir ersehen, dass er dazu gebracht wurde zuzugeben, der Führer »einer illegalen konterrevolutionären Gruppierung« zu sein, zu deren Mitgliedern unter anderem seine Frau sowie der bekannte kommunistische Autor Antal Hidas zählten. Weil man für ihn keinen Part in den bereits geplanten Schauprozessen finden konnte und den Plan aufgegeben hatte, ihn separat vor Gericht zu stellen, schoss man ihn einfach in den Kopf.10 Ein ähnliches Schicksal erfuhren diejenigen, die er genannt hatte; einige von ihnen wurden in den GULag geschickt, egal ob sie andere mit hineinzogen oder nicht.
Unter ihnen findet sich der Dichter und Schriftsteller József Lengyel, der ebenfalls im Kun-Prozess angeklagt war. Aus seinem Geständnis vom 8. September 1938 – nach Kuns Hinrichtung – können wir die Fragen der Vernehmer ableiten: 1. Wer hat dich überredet, bei der konterrevolutionären Verschwörung mitzumachen? 2. Worin bestand deine Aufgabe als Journalist? 3. Wer waren die Anführer der Verschwörung? 4. Mit welchen Methoden sicherte Kun seine führende Rolle? 5. Was waren die Ziele der Verschwörung? 6. Was waren seine konkreten terroristischen Aufgaben? Lengyel nannte einige Namen (insgesamt 19), räumte seine Schuld aber nur zum Teil ein. Interessant sind die letzten Worte seines Geständnisses: »Ich halte mich nicht für einen üblen Sünder. Ich würde mich gern bemühen und beweisen, dass mich mehr die Umstände zu einem Sünder gemacht haben als feindliche Absichten.«11
György Lukács – eine bizarre Geschichte
In einer autobiographischen Skizze schrieb György Lukács, international eher bekannt unter dem Namen Georg Lukács, es sei nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass er während der »Großen Kadersäuberungen« nicht verhaftet und nach seiner Verhaftung im Jahre 1941 nicht getötet wurde. Wir konnten über diesen Fall Genaueres herausfinden, auch wenn die Dokumente nur teilweise zugänglich waren.12 Für die aktuelle Diskussion liefern diese Unterlagen wichtige Daten.
Lukács wurde am 29. Juli 1941 verhaftet, eine Woche nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion. In der Lubjanka wurden mehrere Anklageversionen gegen ihn verfasst, deren Kern der erste Abschnitt des Paragraphen 58 war: Spionage und Verrat, die Strafe dafür war Tod durch Erschießen. Später wurde der Vorwurf – wahrscheinlich wegen einiger Bittgesuche – in »feindliche Aktivitäten in Emigrantenkreisen« umgewandelt. Die mögliche Strafe dafür war »nur« der GULag. Da die Vernehmer nicht in der Lage waren, ihre Vorwürfe auf die bei Lukács selbst konfiszierten Dokumente zu gründen, zwangen sie einen ungarischen Emigranten, gegen ihn auszusagen. Das Verfahren war vollkommen absurd. Lukács und andere bewiesen, dass er diese Person niemals zuvor getroffen hatte. Die Gegenüberstellung wurde abgesagt, weil der »unbrauchbare« Zeuge bereits während der Untersuchung gegen Lukács erschossen worden war.
Wissenschaftler, die mit den Umständen nicht sehr vertraut sind, könnten dies als Beweis für die Bedeutung von Geständnissen werten, da scheinbar der Zusammenbruch der Anklage zu Lukács’ Entkommen führte. Aber das Gegenteil ist der Fall! Diese Geschichte beweist gerade die Bedeutungslosigkeit von Geständnissen: Die Anklagepunkte gegen ihn waren nicht weniger begründet als die gegen Sinowjew, Bucharin oder Radek, was Lukács sehr genau wusste. Des Weiteren ist aus dem Geständnis von István Timár, einem ungarischen Sozialdemokraten, der die Grenze im Sommer 1940 überquerte, ersichtlich, dass dieser Lukács, auf Empfehlung eines kommunistischen Kameraden, in Moskau kontaktieren wollte. In dem vom NKWD erwirkten Geständnis war nur ein »winziger Punkt« falsch: dass Timár von der ungarischen Polizei geschickt wurde und seine Aufgabe darin bestand, Lukács als Moskauer Vertreter jener Polizei zu kontaktieren und ihn bei seinen Spionageaktivitäten zu unterstützen. Ähnliche Geschichten waren hinlänglich aus den Moskauer Prozessen bekannt. Lukács wusste anscheinend, dass der Fakt, Timár nicht zu kennen, nicht ausreichen würde, um der Anklage zu entgehen. Er hatte sehr viel Glück – wie er später schrieb –, dass die Vernehmer ihn nicht in eine Situation drängen wollten, in der er alles unterschrieben und alle Punkte der Anklage zugegeben hätte. Er machte sich keine Illusionen und wusste, dass sowohl Sinowjew als auch Bucharin sowie später die meisten ungarischen Staatsbürger auf Grundlage ihrer eigenen Geständnisse verurteilt wurden, und alle wurden darüber hinaus gezwungen, die Namen anderer zu nennen. Unter seinen engen Freunden geschah dies im Fall des hingerichteten Béla Kun sowie bei József Kelen, dem Volkskomissar der Ungarischen Räterepublik,13 Lajos Magyar, dem China-Experten der Komintern, dem Schriftsteller Frigyes Karikás, der im GULag ums Leben kam, oder Gyula Sas, alias Giulio Aquila, einem Kollegen von Willi Münzenberg und Autor der ersten Faschismus-Analyse.
Lukács hatte schon während der Moskauer Prozesse das Wesentliche der Situation erkannt. Er nahm die Gefahr wahr und suchte nach Möglichkeiten zu überleben. Lukács war unter den ersten, die öffentlich und pathetisch Sinowjew und Kamenew denunzierten – natürlich erst zehn Tage nach dem Ende des Prozesses. Des Weiteren veröffentlichte er einen Artikel in der bedeutenden Zeitschrift Literaturnaja Gaseta, in dem er der Protesterklärung der Sozialistischen Internationale widersprach. Der Titel seines Artikels, der erst nach der Hinrichtung von Sinowjew und Kamenew veröffentlicht wurde, lautete »Schande den Verrätern«. Gleichzeitig jedoch nahm er einige inhaftierte Personen in Schutz, obwohl er sich der Gefahr durch solche Aktionen bewusst war. Unter den von ihm Verteidigten war der Schriftsteller Andor Gábor (der später freigelassen wurde)14 sowie József Kelen, in dessen Angelegenheit er persönlich die Lubjanka aufsuchte – allerdings erfolglos.15
Auch Reinhard Müller untersucht in seinem Buch Lukács’ Verhaftung unter dem Vorwurf der Spionagetätigkeit im Jahre 1941, er beschreibt jedoch nicht die tatsächlichen Zusammenhänge. Nach wenigen einleitenden Zeilen zitiert Müller vorwurfsvoll eine längere Textpassage, in der Lukács – trotz allem, suggeriert Müller – die sowjetische Verfassung als den Sieg der Freiheit und des befreiten Volkes preist.16 Diese hymnischen Sätze von Lukács waren allerdings fünf Jahre früher, im Juni 1936, vor der Zeit des Großen Terrors veröffentlicht worden – zwischen Aufsätzen von anderen Kadern, die alle auf positive Veränderungen durch die Verfassung hofften. Selbst wenn er dies später geschrieben hätte, dann nicht aus Heuchelei. Dies werde ich detailliert in der Zusammenfassung ausführen.
Imre Nagy – Henker oder Opfer?
Die nachträgliche feierliche Beisetzung des kommunistischen Premierministers Imre Nagy, der 1958 im Auftrag János Kádárs hingerichtet und in einem anonymen Grab bestattet wurde, stellte ein richtungsweisendes Moment für das sich verändernde ungarische System dar. Kádár ertrug den Druck nicht und verstarb am gleichen Tag, dem 6. Juli 1989, an dem das Gericht Imre Nagy rehabilitierte.
In jenen Tagen traf in Budapest ein Dossier zu den Aktivitäten Imre Nagys als Agent ein, das von Wladimir A. Krjutschkow, dem Chef des KGB, verfasst worden war. Von ungarischer Seite hatte man um diese Materialien gebeten, und das Politbüro der KPdSU hatte dem Versand zugestimmt.17 Die Dokumente wurden von Károly Grósz, dem Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP), im September 1989 der Öffentlichkeit präsentiert. Ziel dessen war, den Einfluss derjenigen zu brechen, die einen Systemwechsel forderten und das Andenken Imre Nagys hochhielten. Was aber war der Inhalt des Dossiers? Die Dokumente beweisen, dass Nagy seit 1933 unter dem Namen »Wolodja« Agent der OGPU (Vereinigten Staatlichen Politischen Verwaltung), der sowjetischen Geheimpolizei, war und Berichte über seine Bekannten anfertigte. In diesen Berichten soll er ca. 150 Namen erwähnt und die meisten dieser Personen antisowjetischer oder sogar terroristischer Aktivitäten bezichtigt haben. Unter den Dokumenten findet sich allerdings kein einziger von Imre Nagy persönlich verfasster Bericht, der solche Anschuldigungen enthält. Bei den meisten Dokumenten handelt es sich um Berichte von NKWD-Funktionären über die Aktivitäten von »Wolodja«. Eines der letzten Dokumente ist das kompromittierendste: Es enthält ca. 200 Namen von Personen, die, so die Berichtverfasser, durch Nagys Beitrag zum Tode oder zur Deportation verurteilt wurden. Dieses Dokument wurde beinahe zweifelsfrei erst 1989 geschrieben.
Jenseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über den Ursprung der Dokumente – welche davon echt und zeitgenössisch sind und bei welchen es sich um Fälschungen18 handelt – ist, vom Standpunkt unserer jüngsten Untersuchungen betrachtet, nur eine Frage von Bedeutung: War Imre Nagy wirklich für das tragische Schicksal von 200 Menschen verantwortlich?
Es gilt als sicher, dass Nagy, wie alle Moskauer Emigranten, einschließlich Wehner, bereit war, mit dem NKWD zu kooperieren, wenn er dazu aufgefordert, oder brutaler, wenn er gefangen genommen wurde. Sie sahen in dieser Organisation, oder vielmehr in der Hauptverwaltung für Staatssicherheit (GUGB) des NKWD, die Faust des Kommunismus, die den Feind zerschlägt – selbst wenn der Schlag manchmal das Ziel verfehlte. Die Gefangenen versuchten, ihre Vernehmer davon zu überzeugen, die vormals Einflussreichen wandten sich sogar an Stalin. Diejenigen, die sich über die Situation im Klaren waren, wählten eine subtilere Taktik. Präventiv »folgten sie der Linie« und verfassten leidenschaftliche Berichte oder Darstellungen über die »Verräter«, wussten aber sehr genau, dass sie damit das Schicksal der Beschuldigten nicht weiter verschlimmern konnten. Es ist unmöglich, dass sie im Fall Sinowjew, im Fall Kamenew oder Bucharin nicht wussten: die Anklagepunkte waren erfunden.
Anders war allerdings die Situation für die, die selbst hineingezogen oder inhaftiert wurden. Der Fall Imre Nagy ist ein gutes Beispiel dafür. Laut einem Dokument aus dem Dossier wurde Nagy in der Nacht zum 4. März 1938 inhaftiert und drei Tage später freigelassen. Es gibt kein Dokument über die Ereignisse dieser wenigen Tage, nur einige kurze Sätze darüber, dass Nagy früher »schon interessante Informationen über die antisowjetischen Aktivitäten zahlreicher Mitglieder der ungarischen Emigration« geliefert habe und durch das wohlwollende Gesuch von Hauptmann Altman, dem Chef einer anderen GUGB-Abteilung des NKWD, freigekommen sei. Imre Nagy, der unter permanenter Beobachtung stand, verfasste während und nach seiner Inhaftierung wieder Berichte. An der Spitze seiner Listen standen selbst 1940 noch die Namen von bereits hingerichteten ungarischen Kommunistenführern: Béla Kun, Frigyes Karikás, Lajos Magyar und andere. Er wollte diesen Aufgaben jedoch entfliehen und hatte damit Erfolg, als er 1941 in die Armee eintrat.
Zusammenfassung
Die Dokumente beweisen, dass sich sowohl die Informanten als auch diejenigen, die sich schuldig bekannten, in einer Zwickmühle, einer Art »Menschenfalle« befanden. Die Verhaftungen im Lande zeigten ihnen, dass die ungarische Polizei ihre Agenten in die illegale Partei einschmuggeln konnte. (Einer von ihnen wurde mit Hilfe der OGPU identifiziert: József Oancz kam nach Moskau, um 1930 am Kongress der ungarischen Partei teilzunehmen.) In den Fraktionskämpfen glaubte eine große Zahl von Kommunisten, dass sie von Spionen umzingelt waren. Sie wollten die Partei von Verrätern säubern und sahen die Folgen nicht voraus. Den ersten Schritt machte Béla Kun, der sich mit Hilfe des ungarischen NKWD-Obersts Béla Bíró gegen die jungen Delegierten aus Ungarn stellte, weil diese seine Politik kritisierten.19
Nach 1936 änderte sich die Situation, und die Falle schnappte zu. Jeder wurde zu einem potenziellen Opfer. Dies bestimmte ihre Psyche und ihr Leben stark. Sie wussten sehr gut – wie in Hunderten von ungarischen Memoiren zu lesen ist – ,20 dass die schwarze Limousine jeden von ihnen abholen konnte. Niemand war sicher, und genau das war die Essenz des Stalin’schen Systems. Den Emigranten war dies seit den Jahren 1937 / 1938 klar. Selbst die Feinde aus den Fraktionskämpfen versuchten nur solche Personen zu erwähnen, deren Situation sich nicht weiter verschlechtern konnte. Uns ist kein einziger Fall bekannt, in dem der Beschuldigte nicht wusste, dass sein inhaftierter »Ankläger« in derselben Falle saß. Diejenigen, die weitsichtiger waren – Kun, Lukács, Nagy –, erkannten sogar, dass sie nach und nach zu Marionetten Stalins werden würden. Ihr Schicksal und das ihrer Kameraden hing nicht von Geständnissen ab – entscheidend war der Plan, die Vorgabe, die es zu erfüllen galt. Sie wussten, dass der Plan von Stalin vorgegeben wurde und dass die Verhaftungen und Hinrichtungen der wahren Bolschewiken keine Zufälle waren. Sie verstanden, was sich dem normalen Emigranten nicht erschloss: Stalin glaubte fest, dass die Denker der alten Lenin’schen Garde »objektiv« zu seinen Feinden würden. Darüber hinaus war er der Ansicht, dass die Feinde in den alten Brigaden und in seiner eigenen Partei die gefährlichsten waren und ihre Liquidierung seine Aufgabe als der große Führer der russischen und der Weltrevolution war. Kun und Lukács konnten sich an einen Artikel Stalins erinnern, der 1924 in der Zeitschrift Bolschewik erschien. Darin behauptete Stalin, dass »die Sozialdemokratie der objektiv gemäßigtere Flügel des Faschismus« sei.21 Demzufolge war die Sozialdemokratie, wie der Faschismus, Knecht des Kapitalismus und Imperialismus und musste genauso leidenschaftlich bekämpft werden. Die Theorie von der Verschärfung des Klassenkampfes geriet zur Grundlage der Intensivierung und Ausweitung des Terrors. Für diejenigen, die im Zentrum des Terrors standen, war die Möglichkeit zu entfliehen durch das Glück bestimmt und nicht durch Geständnisse, Ankläger und Zeugen.
Aus dem Englischen übersetzt von Diana Jahn.
1 Székely, Gabor: Hungarians in the Comintern, Manuskript, Budapest / Hannover 2004. Die englische Version des Textes findet sich unter <www.szekely.fw.hu>.
2 Müller, Reinhard: Die Akte Wehner. Moskau 1937 bis 1941, Berlin 1993.
3 Siehe Weber, Hermann: Immer wieder Legenden über Herbert Wehner, in: Mengersen, Oliver v. / Friese, Matthias / Kempter, Klaus / Lauterer, Heide-Marie / Schober, Volker (Hrsg.): Personen – soziale Bewegungen – Parteien. Beiträge zur neuesten Geschichte, Heidelberg 2004, S. 146–148.
4 Rainer, János M.: Nagy Imre. Politikai életrajz vol. I. 1956-os Intézet, Budapest 1996, S. 200 [dt.: Imre Nagy – Vom Stalinisten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstands. Eine politische Biographie 1896 – 1958. Paderborn 2006]. Wir wissen nicht genau, wer diese Dokumente im Sommer 1989 anforderte. Da die Transaktion von Wladimir Krjutschkow, dem Leiter des KGB, genehmigt wurde, war möglicherweise Kàroly Gròsz, Generalsekretär der MSZMP [Magyar Szocialista Munkáspárt, Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] der Unterzeichner. (Der Reformist Reszö Nyers, Vorsitzender der Partei, wusste nichts über die Anfrage und wurde von Gròsz über die Dokumente informiert.) Archiv des Instituts für Politikgeschichte Budapest (im Folgenden PIL), 960. f. 1. öe. 1.l.
5 Illés, László: KGB akták vallomása a magyar írói sorsokról, in: Üzenet Thermopüléből, Budapest 1999, S. 104 f.
6 Petrák, Katalin: Magyarok a Szovjetunióban 1922–1945. Politikatörténeti Füzetek, Budapest 2000, S. 282 f.
7 Der Chef des NKWD, Nikolai Iwanowitsch Jeschow, genehmigte in seiner Anordnung Nr. 00447 vom 30. Juli 1937 die Verhaftung von 4000 Menschen der ersten und 10 000 der zweiten Kategorie durch die Leningrader Abteilung des NKWD. Dies war nach dem 7. August 1937 das Szenario für die landesweiten Verhaftungen. Siehe Leningradsky Martirolog 1937 – 38, Bd. 1, St. Petersburg 1995, S. 41–44.
8 Es ist nicht allgemein bekannt, dass Kun zu den Mitbegründern der Komintern gehörte. Sein programmatischer Artikel »Future International« wurde am 3. Februar 1918 in der Prawda veröffentlicht. Siehe Székely, Gábor: Kun Béla a Kominternben, in: Kun Béláról. Tanulmányok, Budapest 1988, S. 484.
9 PIL, 500. f. 4 / 9.
10 Über die Hinrichtung Kuns wurde kein Kommuniqué veröffentlicht. Der ungarische Botschafter in Moskau, Mihály Jungerth-Arnóthy, berichtete 1939, dass Kun zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. In den offiziellen Rehabilitierungsunterlagen wird der 9. August 1938 als Hinrichtungsdatum genannt. Hidas und seine Familie konnten erst Mitte der 1950er-Jahre, nach der Rehabilitierung Kuns, nach Ungarn zurückkehren. Petrák: Magyarok a Szovjetunióban (Anm. 6), S. 294.
11 Memorial, f. op. 4. d. 73079. Lengyel wurde in den GULag geschickt. Erst 1955 wurde er rehabilitiert und konnte nach Ungarn zurückkehren.
12 Diese Dokumente wurden zuerst auf Russisch veröffentlicht und später auf Ungarisch vervollständigt. Russisch: Besedi na Lubjanke. Sledstwennoje dielo Djordja Lukatscha. Materiali k biografii, Moskau 2001. Ungarisch: Vallatás a Ljubljankán. Lukács György vizsgálati iratai. Életrajzi dokumentumok, Budapest: Argumentum – Lukács Archivum 2002, S. 247.
13 Nach dem Zusammenbruch der Räterepublik wurde Kelen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Selbst Albert Einstein protestierte gegen dieses Urteil. Kelen wurde 1922 im Rahmen eines ungarisch-sowjetischen Gefangenenaustausches freigelassen. 1938 wurde er in Moskau verhaftet und hingerichtet.
14 Vallatás a Ljubljankán (Anm. 12), S. 277.
15 Ebenda, S. 10.
16 Müller, Reinhard: Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001, S. 23.
17 Rainer: Nagy Imre (Anm. 4), S. 200.
18 PIL, 960. f. 1–10. In seinem oben zitierten Buch (Anm. 4) analysiert János M. Rainer Dokumente, die auf anderen Quellen basieren. Aus meiner Sicht handelt es sich bei diesen Dokumenten um Originale.
19 Kun sah in ihnen Spione. Der 27-jährige Parteifunktionär Sándor Szerényi wurde 1933 festgenommen. Er überlebte den GULag und starb im April 2007 in Budapest im Alter von 102 Jahren. Béla Bíró teilte bald das Schicksal Kuns.
20 Am Institut für die Geschichte der Partei in Budapest arbeitete lange vor dem Zeitalter der Oral History eine »Gruppe zur Sammlung von Lebenserinnerungen«. Sie veröffentlichte 14 umfangreiche Bände mit Biographien (Tanuságtevők) – sie sind ein wenig oberflächlich, geben jedoch die Ereignisse gut wieder.
21 Bolschewik, 1924, Nr. 11, S. 9.