Als die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) am 4. April 1952 nach fünfwöchiger Pause zu ihrer 51. Sitzung zusammentrat, waren die Grundsätze der eigenen Arbeit der erste Tagesordnungspunkt. Angesichts der permanenten Säuberungen seit 1948 und zahlloser Parteiverfahren stellte die Diskussion dazu die bisherige Praxis der Parteikontrolle grundsätzlich in Frage.1 Noch nie hatten sich die führenden Parteikontrolleure derart selbstkritisch zu ihrer Arbeit geäußert.2 »Bei uns wird noch zu viel in den Parteistrafen die Vergeltung angewandt. Das drückt sich auch darin aus, daß fast alle Menschen, die gestrichen oder ausgeschlossen wurden, von ihren Arbeitsplätzen entfernt wurden. Eine solche Methode in der Partei ist falsch«, erklärte ZPKK-Chef Herrmann Matern in seinem einleitenden Referat. Die Parteikontrolle sei »keine juristische Einrichtung, sondern eine politische«, und ihre Arbeit müsse darauf ausgerichtet sein, nicht nur die Mitglieder zu erziehen, sondern auch »das betroffene Parteimitglied von der Richtigkeit der Parteientscheidung zu überzeugen«. Andernfalls ziehe man »zig-Tausende Feinde« heran, was man sich »nicht leisten« könne. Nur wenn jedes Parteimitglied davon überzeugt sei, »daß die Partei in jedem Falle richtig entscheidet«, würde man der Parteikontrolle wieder vertrauen, würde sie ihren Charakter als »Schreckgespenst« verlieren.
Der »Fall Lohagen«
Der selbstkritische Tenor der 51. ZPKK-Sitzung war der Tribut der »Parteipolizei« an eine Kampagne, die das Funktionärkorps der SED seit dem Jahreswechsel 1951/52 in Unruhe versetzte. Angefangen hatte alles am 20. Dezember 1951. An diesem Tag erschien in der sowjetischen Tageszeitung für Deutschland Tägliche Rundschau ein Leitartikel unter der Überschrift »Genosse Lohagen unterdrückt die Selbstkritik«. Darin wurde dem Vorsitzenden der Nationalen Front in Sachsen, Ernst Lohagen, vorgeworfen, einen Mitarbeiter seiner Landesleitung entlassen zu haben, weil dieser im Herbst 1951 Interna über die mangelhafte Arbeit der Nationalen Front einem Korrespondenten des Blattes zugespielt hatte.3 Zehn Tage später reagierte Lohagen mit einer öffentlichen Selbstkritik im Neuen Deutschland. Pflichtschuldig gelobte er, fortan »jedwede Regung der Unterdrückung von Kritik und Selbstkritik« zu vermeiden.4 Doch anders als sonst sollte es damit nicht sein Bewenden haben.
Die Angelegenheit schien längst vergessen, da veröffentlichte die Tägliche Rundschau am 22. Januar 1952 unvermittelt eine heftige Polemik gegen Lohagen: »Deine Antwort ist enttäuschend, sie ist nicht vorbildlich und macht Dir wenig Ehre, geschweige denn der Partei«, musste dieser sich in einem offenen Brief vorhalten lassen, der tags darauf auch vom Neuen Deutschland abgedruckt wurde. Zeitgenössischen politischen Beobachtern war klar, dass es sich bei der Publikation der mit »Annemarie Allgeyer, Bibliothekarin, Beierfeld / Erzgebirge« unterzeichneten Stellungnahme um ein Politikum ersten Ranges handelte.5 Denn Ernst Lohagen war kein beliebiger Provinzfunktionär. 1897 geboren, seit 1919 hauptamtlicher KPD-Funktionär, hatte er sich bereits 1920 in der Führung der »Roten Ruhrarmee« seine Sporen verdient. 1938 war Lohagen für seinen Widerstandskampf vom Volksgerichtshof zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach Kriegsende stand er dem Leipziger KPD- bzw. ab Frühjahr 1946 SED-Kreisverband vor und rückte 1948 an die Spitze des sächsischen Landesverbandes. Seit 1950 gehörte Lohagen dem ZK an und galt als scharfer Verfechter der Stalinisierung der SED.6
Rasch sollte deutlich werden, dass es um mehr als nur um Lohagen ging. Tatsächlich war die Veröffentlichung des Leserbriefs der Beginn einer weitreichenden Kampagne. Diese Kampagne war einerseits Teil der kontinuierlichen »Parteisäuberung«, die die SED – wie alle anderen kommunistischen Parteien – seit 1948 durchlief. Andererseits entwickelte sie sich – wie in diesem Beitrag aufgezeigt werden soll – zu einem Machtkampf innerhalb der SED-Führung, in dem die Vormachtstellung Walter Ulbrichts gebrochen werden sollte.
Machtkampf in der SED?
Am 25. Januar 1952 rückte ein Leitartikel im Parteiorgan Neues Deutschland die großen und kleinen Protagonisten der Apparateherrschaft in den Mittelpunkt der »Kritik und Selbstkritik«-Kampagne.7 Der Beitrag war namentlich nicht gekennzeichnet und hatte somit als Stellungnahme der Parteiführung zu gelten. »Der Fall Lohagen«, so hieß es da, habe »die zwielichtige Situation in unserer Partei« »blitzartig« erhellt. »Mit ihm steht die entscheidende innerparteiliche Frage zur Diskussion, die Frage der innerparteilichen Demokratie.« Diese sei »unentwickelt« wie auch die Wirklichkeit in der DDR nicht »dem demokratischen Charakter« der eigenen Gesetze entspreche. Demokratie sei jedoch die Voraussetzung für »jene Atmosphäre der Aufgeschlossenheit und des freudigen Vorwärtsdrängens aller«, die aus der Gewissheit resultiere, »daß jede nützliche Initiative gefördert wird, und daß unfehlbar jeder recht erhält, wer recht hat«. Diese Atmosphäre »herrscht noch nicht bei uns«, heißt es im Zentralorgan apodiktisch, »nicht in der Partei, nicht im Staat«.
An die Adresse des eigenen Funktionärskorps gewandt, warnte das Neue Deutschland: »Versucht erst nicht, uns weiszumachen, daß ihr nicht wüßtet, wo das Recht gebeugt wird, wo die Initiative der Massen erstickt wird, wo das Prinzip der kollektiven Arbeit verletzt wird, wo Sekretariate oder einzelne Mitglieder von ihnen ein Araktschejew-Regime8 führen und wie sie das machen.« Stattdessen wollte die Parteiführung die »Massen innerhalb und außerhalb [!] unserer Partei« gegen den eigenen Apparat mobilisieren: »Heraus mit der Sprache! Zeigt uns unsere Schwächen, und wir werden unsere ganze Kraft daransetzen, sie zu beheben. Fürchtet keine Nackenschläge von der Seite oder von hinten.« Demonstrativ wurde die Kritik an Lohagen auch auf Karl Mewis und Bernard Koenen ausgeweitet. Mewis, SED-Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern, hatte am 20. Januar in der Täglichen Rundschau »einige Schwächen der Parteiarbeit« eingestanden.9 Auch der schon oft gescholtene Koenen, Parteichef in Sachsen-Anhalt, hatte öffentlich »unzulängliche Durchführung der Beschlüsse« und mangelhafte Anleitung der nachgeordneten Parteileitungen eingeräumt. Lohagen, Mewis und Koenen wurde vorgeworfen, sie hätten versucht, »die Diskussion auf Nebengleise zu verschieben«, zu »diplomatisieren« und lieber einen »bestehenden unbefriedigenden Zustand zu erhalten, als ihn zu ändern«. Die Vorwürfe dürften jedoch nicht auf einzelne Personen beschränkt werden: »Wir sind schuld, die Parteiorganisation von unten bis oben. Und je weiter nach oben, desto mehr – !« Angesichts der massiven öffentlichen Kritik an drei von sechs Ersten Sekretären der Landesebene konnte dies als unverhohlene Aufforderung gelesen werden, auch in der Parteispitze nach Verantwortlichen für die Misere zu suchen. Damit war der Artikel eine kaum verhüllte Kampfansage an den Generalsekretär der SED Walter Ulbricht, dessen zunehmende Machtfülle auch auf den unteren Parteiebenen nicht verborgen geblieben und dessen selbstherrliche Amtsführung im Verlauf des Jahres 1951 innerhalb der Parteispitze auf Widerspruch gestoßen war.
»Machtkämpfe in der SED-Führung« titelte die Frankfurter Neue Zeitung am 6. März 1952 und konstatierte »Spaltungserscheinungen« im ZK der SED. Dort hätten sich »zwei Gruppen herausgebildet [...], von denen sich die eine um den SED-Generalsekretär und stellvertretenden Ministerpräsidenten Walter Ulbricht zu sammeln beginnt, während die andere sich um den Staatssicherheitsminister Wilhelm Zaisser gruppiert«. Die Krise in der SED sei »auf die Unzufriedenheit der Sowjets mit der Partei zurückzuführen, die ihre ›Massenbasis‹ verloren und die verfolgten wirtschaftlichen und politischen Ziele nicht im gewünschten Maße erreicht habe. Vor allen Dingen sei es der SED nicht gelungen, die Bevölkerung in der Sowjetzone für ihre Nationale-Front-Propaganda zu gewinnen«. Nach Informationen des Münchner Merkur konnten sich Ulbricht und Zaisser »in Moskau auf eine annähernd gleich starke Gruppe höchster Sowjetfunktionäre stützen, die sich in gleicher Weise befeinden«. Es sei zu erkennen, »daß Zaisser offensichtlich von seiner Moskauer Gruppe mit der Überwachung beauftragt worden war, während umgekehrt Ulbricht das Gegengewicht zu Zaisser bilden sollte. Die beiden ›starken Männer‹ in der SED-Führung haben innerhalb des Obersten Parteigremiums je eine Gruppe hinter sich.«10
Nach heutigem Kenntnisstand muss die Vorstellung der damaligen Kremlastrologen verworfen werden, dass es im sowjetischen Machtzentrum unter Stalin zwei autonome, miteinander konkurrierende Gruppen gegeben habe. Personalien dieser Tragweite bedurften der expliziten Zustimmung Stalins. Dieser war immer darauf bedacht gewesen, die Macht Ulbrichts einzugrenzen. Zu Stalins Lebzeiten war im engsten Führungszirkel der KPD / SED stets für Personalkonstellationen gesorgt, die eine Machtbalance gewährleisteten: mit Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl als paritätische Parteivorsitzende, außerdem anfänglich mit Franz Dahlem und ab 1950 mit Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt, die – sieht man von Grotewohl ab – gleich Ulbricht allesamt über exzellente Beziehungen nach Moskau verfügten. Wilhelm Zaisser, der auf ausdrückliche Order Moskaus Minister für Staatssicherheit geworden war, hatte bereits im Oktober 1951 gegen den Arbeitsstil im Politbüro protestiert.11 An seiner Seite stand Rudolf Herrnstadt, ebenfalls seit 1950 Kandidat des Politbüros, Chefredakteur des Neuen Deutschlands und Autor des bemerkenswerten Leitartikels vom 25. Januar.12 Zaisser hatte bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1947 20 Jahre im Dienst der sowjetischen Partei und ihres Geheimdienstes gestanden, für dessen militärischen Zweig auch Rudolf Herrnstadt seit 1930 gearbeitet hatte.13 Diese Vorkehrungen dürfen nicht als Ausdruck eines besonderen Misstrauens Stalins gegenüber Ulbricht missverstanden werden. Es entsprach Stalins Herrschaftspraxis, dass sich seine Vasallen seiner Gunst nie sicher fühlen konnten. Ihnen war stets gegenwärtig, dass Konkurrenten bereitstanden, das Zepter im Auftrag Stalins zu übernehmen.
Am Vorabend einer neuen Parteisäuberung?
Waren die Sowjets also um den Jahreswechsel 1951/1952 von Walter Ulbricht abgerückt, der doch gemeinhin als getreuer – und selbstbewusster – Interpret und Exekutor des Kremls in Deutschland galt? Kein kommunistischer Spitzenfunktionär konnte sich damals seiner Position sicher fühlen. Bereits 1949 hatten Schauprozesse in Ungarn und Bulgarien die kommunistische Welt erschüttert. Damals waren Parteiführer ins Visier geraten, die die nationalsozialistische Diktatur und Besatzungsherrschaft im Untergrund, im Zuchthaus, Konzentrationslager oder im westlichen Exil überlebt hatten. Im Gefolge der Prozesse, die mit Todesurteilen endeten, war es in allen kommunistischen Staaten zu Parteisäuberungen gekommen. Auch in der DDR waren damals Schauprozesse gegen namhafte KPD- und SED-Führer vorbereitet worden.14 Nach einer kurzen Atempause deutete zum Jahreswechsel 1951/52 alles darauf hin, dass die Sowjetunion eine weitere Runde in den osteuropäischen Schauprozessen einleitete, die sich nun auch gegen Spitzenkader richten würde, die während der Zeit des Dritten Reiches im Moskauer Exil waren.
In der Tschechoslowakei war der ehemalige Generalsekretär der KPTsch (Kommunistischen Partei Tschechiens) und Moskauremigrant Rudolf Slánský am 24. November 1951 verhaftet worden. Im Januar 1952 legte der sowjetische Außenminister Andrej Wyschinski, Chefankläger in den Moskauer Schauprozessen der dreißiger Jahre, auf seiner Rückreise von der UNO-Vollversammlung in Paris in Prag, Berlin und Warschau Zwischenstopps ein.15 Seine Gesprächspartner und -inhalte in Ost-Berlin sind nicht bekannt. Im Neuen Deutschland fand der Staatsbesuch keinerlei Erwähnung.16 Zu diesem Zeitpunkt überschlugen sich jedoch in diesen Ländern die Ereignisse. Am Ankunftstag Wyschinskis in Prag trat der tschechische Minister für Nationale Sicherheit, Ladislav Kopřiva17, »auf eigenen Wunsch« zurück.18 Anfang Februar meldete der DDR-Botschafter aus Prag die Verhaftung bzw. Absetzung weiterer tschechischer und slowakischer Spitzenfunktionäre. In der DDR wurde die »Kritik und Selbstkritik«-Kampagne forciert, und in Polen wurden die Verhöre des im August 1951 verhafteten ehemaligen Generalsekretärs Władisław Gomułka wieder aufgenommen.19
Schauprozesse und Parteisäuberungen waren seit dem Großen Terror in der Sowjet-union der dreißiger Jahre ein Herrschaftsinstrument, das gleichermaßen dazu diente, die tatsächliche oder vermeintliche Opposition zu zerschlagen, die Partei und die Gesellschaft gleichzuschalten und für die politischen und ökonomischen Ziele der Führung zu mobilisieren.20 Letzteres geschah durch Terror und Druck, aber auch durch die mit den Säuberungen verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten – auch wenn sich die Dimensionen des Terrors in der Nachkriegszeit von denen der dreißiger Jahre beträchtlich unterschieden.21 Die Kampagnen folgten stets der gleichen Inszenierung: Die Parteispitze forderte die Basis dazu auf, »Feinde« in den eigenen Reihen zu entlarven, gegen Korruption und Klüngelwirtschaft vorzugehen. So lässt sich das Paradoxon verstehen, dass die Parteipropaganda diese Kampagnen als Reinigungsprozess und Ausdruck eines »Demokratisierungsprozesses« charakterisierte.22 In ihrem Ergebnis rückten junge, unbedarfte, lenk- und formbare Mitglieder in die Positionen auf, die im Rahmen der Säuberungen unter tätiger eigener Mithilfe frei geworden waren.
Die Säuberungen hatten somit immer auch den Charakter einer von oben gesteuerten Revolution der Jungen gegen die Alten, schufen gleichermaßen Opfer und Profiteure. Insofern dürfen die Wortmeldungen Rudolf Herrnstadts im Neuen Deutschland nicht dergestalt missverstanden werden, dass in diesem Konflikt demokratische Kommunisten dogmatischen Stalinisten gegenüberstanden. Tatsächlich kämpften auf beiden Seiten Stalinisten um den Führungsanspruch in der Partei, die sich vor allem im Grad ihrer Eloquenz, ihrer Flexibilität und in den Vorstellungen unterschieden, wie sich die DDR im Systemwettstreit mit dem Westen präsentieren sollte. Die Grundsätze der »bürgerlichen Demokratie« im westlichen Verständnis stießen bei beiden Seiten gleichermaßen auf Ablehnung, wie für sie der Führungsanspruch der SED unantastbar war.
In allen Säuberungskampagnen wurden Sündenböcke für gesellschaftliche Widersprüche und wirtschaftliche Schwierigkeiten präsentiert – und die waren Anfang der fünfziger Jahre im Ostblock und nicht zuletzt in der DDR allgegenwärtig. Was die Kampagne gegen Walter Ulbricht betraf, so kommt hinzu, dass sich offenbar das Verhältnis zwischen dem Politischen Berater der Sowjetischen Kontrollkommission in Ost-Berlin, Wladimir Semjonow, und dem SED-Generalsekretär zunehmend getrübt hatte. In seinen Memoiren berichtet der Diplomat, dass er zwischen Herbst 1951 und Anfang 1952 eine »recht scharfe Auseinandersetzung« mit Ulbricht hatte, dem er Insubordination vorwarf.23
Der Umstand, dass Władisław Gomułka in Polen im August 1951 und Rudolf Slánský in Prag im November 1951 verhaftet worden waren, spricht dagegen, die Ursachen für die neuerliche Säuberungswelle im besonderen Maße in der DDR zu suchen. Dennoch dürften auch die Prioritäten der sowjetischen Deutschlandpolitik einen Wechsel an der SED-Spitze empfohlen haben. Anfang 1952 stand die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und deren Einbindung in das westliche Paktsystem unmittelbar bevor. Nach den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges hatte für die Sowjetunion das Ziel der langfristigen Sicherheit vor Deutschland oberste Priorität. Die politische und militärische Integration des größeren und bevölkerungsreicheren Teils Deutschlands in die westliche Allianz erschien somit als unmittelbare Bedrohung der eigenen Macht- und Sicherheitsinteressen.24 Die Versuche der SED, die Bevölkerung in Ost und West dagegen zu mobilisieren, hatten jedoch nicht den gewünschten Erfolg gebracht.
In dem von Herrnstadt im Neuen Deutschland gezeichneten Bild hatten »die Massen« in Ost und West in der Stunde der Not ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und den »Kampf« gegen die neue Kriegsgefahr begonnen. Dabei gehe es nicht um Sozialismus, die Errungenschaften der DDR oder die führende Rolle der Sowjetunion, sondern um »das nackte Leben, um das Stückchen Brot, um das Recht der Deutschen, sich frei zu entwickeln, einen eigenen demokratischen wohlhabenden Staat errichten zu können«.25 Indirekt warf Herrnstadt nun ausgerechnet im Neuen Deutschland die Frage auf, ob die DDR dabei überhaupt den Anspruch erheben konnte, Modell für ganz Deutschland zu sein. Zwar existiere östlich der Elbe »ein deutscher Staat, der seinen Gesetzen nach so demokratisch ist wie kein deutscher Staat der Geschichte. Hier ist eine deutsche Partei, die ihrem Statut nach so demokratisch ist, wie keine andere. Es gibt also in Deutschland einen Staat und eine Partei, auf welche die Volksmassen den Blick lenken können, um sich [...] Beispiel und Mut zu holen. Und sie richten ihren Blick tatsächlich immer brennender auf diesen Staat und diese Partei, werten jede Erscheinung bei uns mit der Qual des Zweifelnden, dem Vorurteil des Belogenen, dem Sehnen des Bedürftigen. Und was sehen sie?« Herrnstadts bereits zitierte Antworten auf diese Frage waren Ausdruck der Überzeugung, dass mit der DDR Walter Ulbrichts kein Staat zu machen war, dass sie auf die »Massen« im Westen keine Ausstrahlungskraft besaß.
Das Politbüro vor dem Umsturz?
Nur wenige Mosaiksteine stehen dem Historiker zur Verfügung, um die damaligen Machtkonstellationen im SED-Politbüro zu durchschauen und die Absichten und das Vorgehen der Widersacher zu rekonstruieren. Fest steht, dass das Scherbengericht gegen Lohagen mit all seinen Weiterungen von der sowjetischen Besatzungsmacht ausging. Als Vertreter der SKK (Sowjetischen Kontrollkommission) bei einem Gespräch mit Wilhelm Pieck am 12. Dezember 1951 eine Kritik an Ernst Lohagen ankündigten,26 konnte der SED-Vorsitzende nicht ahnen, dass der Artikel, der am 20. Dezember 1951 in der Täglichen Rundschau erschien, Ausgangspunkt einer Kampagne werden sollte, die die SED erschütterte. Was in der historischen Rückschau auf den ersten Blick wie eine von Beginn an konzertierte Aktion Herrnstadts, Zaissers und der Sowjets gegen Ulbricht und seine Anhänger erscheint, erweist sich allerdings auf den zweiten Blick als weitaus komplizierter und schwerer zu durchschauen. Nachdem die Kritik an Lohagen erschienen war, forderte die SED-Führung Lohagen zu einer raschen Selbstkritik auf, die dieser pflichtbewusst am 30. Dezember im Neuen Deutschland vollzog. Als Lohagen Wilhelm Pieck am 3. Januar 1952 in Berlin zum Geburtstag gratulierte, dankte dieser ihm für den »Dienst«, den er der Partei mit seiner Selbstkritik erwiesen habe. Auch Ulbricht erklärte sich mit der Selbstkritik einverstanden. Die Sache schien ausgestanden.
Bis zum 13. Januar, als jene bereits erwähnte Bibliothekarin Annemarie Allgeyer auf einer Parteiaktivtagung in Schwarzenberg (Sachsen) den offenen Brief verlas, der am 22. Januar in der Täglichen Rundschau erscheinen sollte, und damit Ernst Lohagen frontal angriff. In jenen Tagen war das SED-Politbüro nach Berlin-Karlshorst, dem Sitz der SKK, einbestellt worden und musste dort gegenüber den Sowjets scharfe Selbstkritik üben, weil es sich »ein ernsthaftes Versäumnis [...] zuschulden kommen lassen« habe, indem es nicht sofort zur Kritik an Lohagen Stellung genommen hatte. Rudolf Herrnstadt wurde beauftragt, mit Beiträgen im Neuen Deutschland zum Problem der »Kritik und Selbstkritik« Stellung zu nehmen.27
Die Lohagen-Kampagne entwickelte nun eine unerwartete Dynamik. Der brillant formulierende Journalist Herrnstadt forderte mit seinen Leitartikeln derart leidenschaftlich und grundsätzlich zu einer Umwälzung in der SED auf, dass die Kampagne in aller Augen als gegen Ulbricht gerichtet erscheinen musste.28 Dem Generalsekretär und seinen Anhängern waren die Hände gebunden. Jeder Versuch, die von Herrnstadt ausgearbeiteten Leitartikel zu verhindern, hätte sie nicht nur dem Vorwurf ausgesetzt, die »Selbstkritik« zu »unterdrücken«, sondern auch in den Widerspruch zur Besatzungsmacht geführt. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Jetzt schien die Stunde der parteiinternen Konkurrenten Walter Ulbrichts geschlagen zu haben. Am 2. Februar 1952 erschienen unter der Überschrift »Heraus mit der Sprache!« im Neuen Deutschland die ersten Wortmeldungen der Basis, die die Kritik an Funktionären und Parteileitungen konkretisierten. Das SED-Zentralorgan wurde zum Sprachrohr der in dieser Form wohl ad hoc formierten Anti-Ulbricht-Fronde. In immer neuen Artikeln gerieten Parteileitungen, Ministerien und Massenorganisationen ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik.29 Für die Protagonisten dieses Machtkampfes war klar, dass für den Verlierer mehr auf dem Spiel stand als »nur« die Vormachtstellung innerhalb der SED-Führung. Schließlich deuteten die Nachrichten aus der benachbarten CSSR auf eine neue Schauprozesswelle hin. Leicht konnten die Verlierer der Lohagen-Kampagne zu den Hauptangeklagten des immer wieder aufgeschobenen »deutschen Schauprozesses« werden.
Am 10. Februar erschien im Neuen Deutschland unter der Losung »Jetzt muß gesprungen werden!« ein weiterer namentlich nicht gekennzeichneter Leitartikel aus der Feder Herrnstadts. Schonungslos sezierte der Parteipropagandist bestehende Demokratiedefizite: Noch wirke der im Kapitalismus entstandene Ballast »des preußisch-deutschen Miefs, Anpassung auf der einen Seite und Furcht auf der anderen, Duckmäusertum, Kanzleikannibalismus usw. usw.« fort. Jetzt sei der Punkt gekommen, »daß wir alle das bestehende Niveau der Demokratisierung des Lebens in Partei und Staat als unzulänglich empfinden und das neue, höhere Niveau fordern. [...] Jetzt muß gesprungen werden! Jetzt muß der ganze Restbestand entwürdigender, von der Vergangenheit erzeugter und ihr gemäßer Eigenschaften überwunden werden, das bängliche Schwanken in der Vertretung des Rechts, der Zweifel am Sieg des richtigen Standpunktes, die kleinbürgerliche Furcht vor ›dunklen Gewalten‹, die engstirnige Freude am Kommandieren usw. usw.«
Der fast beschwörende Tonfall des Artikels wies auf die Achillesferse der »Kritik und Selbstkritik«-Kampagne: Wenn es nicht gelang, die »Massen« an der Basis zur konstruktiven Kritik und zur systemloyalen Mitarbeit zu mobilisieren, drohte die Kampagne angesichts des – zunächst noch – passiven Widerstands des Apparates zu erlahmen und schließlich im Sande zu verlaufen. Und so rief Herrnstadt »den nicht wenigen Menschen, die heute noch in unserer Republik um ihr Recht auf Entfaltung und ihre Würde ringen, zu: Ihr seid nicht hilflos! Ihr kommt durch! Niemandem, wer es auch sei, ist erlaubt, Unrecht zu tun oder Unrecht gelassen mit anzusehen. [...] Wir können euch nicht versprechen, dass von morgen ab Erscheinungen von Nichtachtung der Initiative der Massen, von Verletzung der Würde des einzelnen schlagartig verschwunden sein werden. [...] Aber wir können euch versprechen und tun es: daß wir entschlossen sind, das neue Verhältnis zum Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik durchzusetzen, und daß wir die Kräfte dazu besitzen.«
Doch das von oben propagierte Aufbegehren der Basis war nur die Begleitmusik zu der in Vorbereitung befindlichen Palastrevolution. Am Beispiel der Zentralen Parteikontrollkommission wird deutlich, dass Teile des Parteiapparats wie ein Seismograph auf die sich abzeichnende Machtverschiebung an der SED-Spitze reagierten und – wenn auch zögerlich – damit begannen, die künftigen Herren mit Material zu versorgen. So diskutierte die ZPKK Ende Februar einen Untersuchungsbericht über die Arbeit der SED-Landesleitung Sachsen-Anhalt, der nicht nur der gesamten Landesleitung und ihrem Sekretariat eine »falsche Arbeitsweise«, die »Nichtdurchführung von Parteibeschlüssen«, eine unzureichende Kritik und Selbstkritik sowie »starkes Versöhnlertum« vorhielt, sondern auch gegen den Landesvorsitzenden Bernard Koenen schwere Vorwürfe erhob. Der Moskauremigrant habe im Vorjahr eine »kritische Bewertung« der Kaderpolitik durch die entsprechende Überprüfungskommission verhindert. 30
Alles schien auf einen Showdown während der 8. Tagung des SED-Zentralkomitees zuzulaufen, dessen Mitglieder sich vom 21. bis 23. Februar 1952 in Ost-Berlin zusammenfanden. Dem ZK-Plenum schien eine Signalwirkung zugedacht gewesen zu sein, die den Einheitswillen der SED über die Grenzen der DDR hinaus dokumentieren sollte. Das ZK würde für Juli eine Parteikonferenz einberufen, die das Parteistatut für die Beratung von »dringenden Fragen der Politik und Taktik der Partei« vorbehielt, und deren Vorbereitung ganz in den Dienst des »Kampfes« um die deutsche Einheit und gegen die militärische und politische Integration der Bundesrepublik in den Westblock stellen. So würde sich die Generallinie nahtlos in die deutschlandpolitische Initiative der
Sowjetunion einfügen: Am 13. Februar bat die DDR-Regierung alle Siegermächte um die »Beschleunigung« des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland. Sieben Tage später kündigte Moskau neue Bemühungen an und überraschte schließlich am 10. März die Westmächte mit dem Vorschlag, die »schleunigste Bildung« einer gesamtdeutschen Regierung einzuleiten. Die als Stalin-Note in die Geschichte eingegangene Initiative sah ein neutralisiertes Deutschland in den Grenzen von 1945 vor, aus dem sich die Siegermächte ein Jahr nach Abschluss des Friedensvertrages zurückziehen würden. »Dem deutschen Volk müssen die demokratischen Rechte gewährleistet sein, damit alle [...] die Menschenrechte und die Grundfreiheiten genießen, einschließlich der Redefreiheit, der Pressefreiheit, des Rechts der freien Religionsausübung, der Freiheit der politischen Überzeugungen und der Versammlungsfreiheit [...]«, hieß es in den politischen Leitsätzen der diplomatischen Note. Diesem Postulat sollte nicht nur die im Januar 1952 eingeleitete »Kritik und Selbstkritik«-Kampagne gesamtdeutsch Glaubwürdigkeit verleihen: Auf dem 8. Plenum würde die SED-Führung neu aufgestellt werden und Ulbricht aus der Führung verdrängt oder zumindest stärker als bisher eingebunden werden. Doch es sollte anders kommen.
Die Palastrevolution wird abgeblasen
Für jene Zeitgenossen, die von den Ränken innerhalb der SED-Führung wussten, reichte allein die Berichterstattung über das 8. Plenum, um einen plötzlichen politischen Umschwung zu registrieren. Nachdem Walter Ulbricht mit dem Beginn der »Kritik und Selbstkritik«-Kampagne de facto aus den Spalten des Zentralorgans verschwunden war,31 demonstrierte er mit seinem Grundsatzreferat über die »ideologisch-politisch-organisatorische Arbeit der Partei und die Vorbereitung der II. Parteikonferenz« seinen neuen, alten Führungsanspruch. Das Referat, das in seiner epischen Länge am 26. und 27. Februar im Neuen Deutschland abgedruckt wurde, rückte das politische Selbstverständnis der »führenden Partei« wieder in die alten Koordinaten. Im ersten Teil32 hob Ulbricht die deutschlandpolitischen Anstrengungen der DDR und der Sowjetunion hervor, die bis zur II. Parteikonferenz noch verstärkt werden würden. Derweil reife in Westdeutschland eine »Krise« heran, die mit einer »Änderung im politischen Kräfteverhältnis« einhergehe. Sie finde Ausdruck im »wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse, der übrigen Werktätigen und der patriotisch gesinnten Kreise des Bürgertums gegen die Adenauer-Regierung«. Denn die habe längst »den Weg der Vorbereitung eines Bruderkrieges und der imperialistischen Ausbeutung« beschritten. Anders als Herrnstadt, der die DDR-Realität einer systemimmanenten Selbstkritik unterzog, bewegte sich Ulbrichts Forderung nach »Kritik und Selbstkritik« auf der Folie der deutsch-deutschen Blockkonfrontation. Vor diesem Hintergrund war Kritik an bestehenden Herrschaftsstrukturen allenfalls in homöopathischen Dosen zulässig. Hatte Herrnstadt besonders »die Frage der innerparteilichen Demokratie«33 zur Diskussion gestellt, war für Ulbricht der »Bürokratismus, die Gleichgültigkeit, die Verantwortungslosigkeit« vieler Funktionäre »der größte Mangel«34. So reduzierte sich die Kampagne auf einen bloßen »Hebel für die Überwindung von Rückständigkeit und Bürokratismus«35, um das Bestehende zu optimieren: »Entschiedene Kritik ohne Ansehen der Person ist das Mittel, zu erziehen, zu helfen, zu korrigieren, die Moral zu heben und unfähige Elemente aus den leitenden Funktionen des Staatsapparates, des Parteiapparates und der Massenorganisationen zu entfernen. Die Kritik von unten ist der starke Hebel im Kampfe um die Verbesserung der Arbeit der Parteiorgane, des Staatsapparates und der Organe der demokratischen Massenorganisationen.« Hatte die »Kritik und Selbstkritik«-Kampagne unter Herrnstadts Federführung durchaus antiautoritäre Züge, war von diesen nach der Rückkehr Ulbrichts auf die politische Bühne nichts mehr zu spüren. Mehr noch, Herrnstadt sah sich auf dem ZK-Plenum heftiger Kritik ausgesetzt. Nach Ansicht des ZK-Sekretärs Paul Wandel hatte die Aufforderung »Jetzt muss gesprungen werden!« zur Desorientierung beigetragen. Karl Mewis, der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock, der zuvor selbst ins Kreuzfeuer der Kritik geraten war, warf gar die Frage auf, ob das Neue Deutschland nicht seine Kompetenzen überschritten habe. Herrnstadt konterte in scharfer Form, was nichts daran änderte, dass die Kampagne »Heraus mit der Sprache!« vom Neuen Deutschland wenige Tage später eingestellt werden musste. Auf den ersten Blick schien ausgerechnet Walter Ulbricht Herrnstadt in dieser Debatte zur Seite zu stehen. Doch waren seine Wortmeldungen bei genauerem Hinsehen nicht mehr als Lippenbekenntnisse über die Notwendigkeit, »die Freiheit der innerparteilichen Kritik zu sichern«. Die »Kritik und Selbstkritik« geriet zum Instrument der Parteileitungen, das deren personellen und inhaltlichen Eingriffen auf den nachgeordneten Parteiebenen eine Pseudolegitimität verleihen sollte. Realiter entschied jedoch auch weiterhin nicht die Grund-, Kreis- oder Landesorganisation, die einen in die Kritik geratenen Funktionär zuvor »gewählt« hatte, über dessen Verbleib in der jeweiligen Position, sondern die übergeordnete Parteiebene. Dies demonstrierte auch das Schicksal Lohagens, der von der 8. ZK-Tagung als 1. Sekretär des sächsischen SED-Landesverbandes abgelöst und aus dem ZK ausgeschlossen wurde.36 Er war der Bauer, den Ulbricht gerne zu opfern bereit war, um sich im Kampf um seine Stellung in der Parteiführung behaupten zu können. Da nützte Lohagen auch seine zweite, noch demütigere Selbstkritik nichts mehr, die am 21. Februar, dem Tag, als das 8. Plenum zusammentrat, im Neuen Deutschland abgedruckt wurde.37
Der eingeschränkte Zugang zu den sowjetischen Quellen erlaubt lediglich Mutmaßungen über die Gründe für den plötzlichen Kurswechsel im Vorfeld der 8. ZK-Tagung. Schenkt man den Erinnerungen Semjonows Glauben, hatte ihm Stalin im Verlauf des Jahres 1952 unter vier Augen versichert, dass er bei aller Kritik an Ulbricht diesen dennoch als seinen fähigsten Vasallen in Deutschland schätzte.38 Dies hätte Stalin jedoch zweifellos kaum daran gehindert, den SED-Generalsekretär fallen zu lassen, wenn es seiner Deutschlandpolitik zuträglich gewesen wäre. Wie dem auch sei: Offenbar hatten die Sowjets ihre Protegés in letzter Minute im Stich gelassen. Noch zehn Jahre später schwingt in einem Schreiben des längst entmachteten Herrnstadt an Wladimir Semjonow die Bestürzung über den abrupten Sinneswandel mit: »Sie, Genosse Semjonow, waren über diese Auseinandersetzungen zu jedem Zeitpunkt informiert. Zeitweise haben Sie an unserem Kampf für die Einhaltung der Lenin’schen Normen des Parteilebens teilgenommen, gelegentlich sogar sehr aktiv (z. B. im Fall Lohagen). Dann wieder wurde die große Mehrheit des Politbüros aus Gründen, die niemand verstand, von Ihnen im Stich gelassen (wie im Fall der Resolution des 8. Plenums des ZK im Februar 1952).«39
Pattsituation im Politbüro
Doch Ulbricht war aus der 8. ZK-Tagung nur auf den ersten Blick als uneingeschränkter Sieger hervorgegangen. Wer auch immer beschlossen hatte, das bereits in die Wege geleitete Revirement der SED-Führung in letzter Minute abzubrechen, spielte auf Zeit. Tatsächlich war Ende Februar 1952 lediglich der Status quo ante – und der zunächst auch nur formal – wiederhergestellt worden. Ulbricht konnte sich als Generalsekretär behaupten, doch auch seine Widersacher verblieben in der Parteiführung. Und dort schien man sich im Frühjahr 1952 darüber einig zu sein, dass die Zusammenarbeit von Politbüro und ZK-Sekretariat zu wünschen übrig ließ. Wie groß der Unmut unter den Parteiführern war, machte Zaissers Wortmeldung auf der Politbürositzung am 4. März deutlich. Der Stasi-Chef rügte die Selbstherrlichkeit des ZK-Sekretariats, das die politische Leitung des Politbüros unterlaufe. Zaisser mahnte eine kollektive Leitung in den Gremien an. Das Politbüro sei zur »repräsentativen Körperschaft« geworden, die »automatisch die Beschlüsse des Sekretariats« bestätige. Es habe sich eine formale Leitung (Politbüro) und eine tatsächliche (Sekretariat) herausgebildet. Zweifellos erkläre sich diese Erscheinung aus der politischen Nachkriegsentwicklung: »1946 oder 1947 konnten wohl aus den Bedingungen der Zeit, Labilität der Lage, die Parität etc. – nicht alle Entscheidungen vor das Politbüro [sic!] gebracht werden. Häufig mag es notwendig und richtig gewesen sein, wichtige Entscheidungen im kleineren Kreis zu treffen, aber 1952 ist nicht 1947.« Das Politbüro müsse wieder ein kollektives Organ – »ohne Furcht und ohne Einschüchterung« – werden.40 Alle diese Vorwürfe richteten sich gegen Walter Ulbricht, der dem Sekretariat und damit dem Parteiapparat vorstand. Trotz seines Comebacks war die Position des Generalsekretärs in der Parteiführung offensichtlich geschwächt. Doch die Tatsache, dass Walter Ulbricht den Vorsitz ausgerechnet der Kommission übernehmen konnte, die eine Vorlage zur Verbesserung der Arbeit des Politbüros ausgearbeitet hatte, zeigte, dass die Sowjets nicht bereit waren, dem Generalsekretär ihre schützende Hand zu entziehen. Die Zusammensetzung dieser vierköpfigen Kommission spiegelte die Pattsituation im Politbüro wider. Den ZK-Sekretär für Propaganda, Fred Oelßner, wird man auf Ulbrichts Seite vermuten dürfen, während Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt dessen schärfste Kritiker waren. Was auch immer die Kommission in den Tagen nach der ZK-Sitzung ausgearbeitet hatte, wurde vom Politbüro am 4. März im Wesentlichen bestätigt.41 Auch der Umstand, dass Wilhelm Zaisser auf derselben Politbürositzung die mangelhafte Arbeit seines Staatssicherheitsministeriums rechtfertigen musste42, deutet darauf hin, dass die Sowjets zu diesem Zeitpunkt keineswegs an einer Umkehrung der Kräfteverhältnisse in der SED-Führung interessiert waren. Beide Spitzenfunktionäre hatten zum Jahresanfang 1952 die Grenzen ihrer Handlungsspielräume aufgezeigt und in unterschiedlichem Ausmaß einen »Schuss vor den Bug« gesetzt bekommen. Die Pattsituation zwischen Walter Ulbricht und seinen Gefolgsleuten auf der einen Seite und Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt auf der anderen Seite sollte mehr als ein Jahr Bestand haben, bis im Juni 1953 der Konflikt wieder mit neuer Macht und grundsätzlicher denn je eskalieren sollte. Aus dieser Auseinandersetzung sollte Walter Ulbricht als Sieger hervorgehen, während Wilhelm Zaissers und Rudolf Herrnstadts politische Karriere in jenen Tagen endete. Doch dies ist eine andere Geschichte, über die Gerhard Wettig43 in diesem Jahrbuch zu berichten weiß.
1 * Der Autor dankt Wilfriede Otto, Andreas Malycha und Gerhard Wettig für hilfreiche Anmerkungen zum Text.
Zu den Parteisäuberungen in der SED siehe Mählert, Ulrich: »Die Partei hat immer recht!« Parteisäuberungen als Kaderpolitik in der SED (1948–1953), in: Weber, Hermann / Mählert, Ulrich (Hrsg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, erweiterte Sonderausgabe, Paderborn 2001, S. 351 ff. Zur Geschichte der SED siehe Malycha, Andreas: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000.
2 Alle nachfolgenden Zitate siehe Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im Folgenden: SAPMO-BArch), DY 30: IV 2/44/442, Bl. 101 ff.
3 Auf der Grundlage dieser Informationen war am 29. September 1951 in der Täglichen Rundschau ein kritischer Artikel über die Arbeit der Nationalen Front in Sachsen erschienen.
4 Lohagen, Ernst: Die Kritik der »Täglichen Rundschau«, eine Lehre und Hilfe für mich, in: Neues Deutschland vom 30. Dezember 1951.
5 Der Historiker Helmut Müller-Enbergs hat in seiner herausragenden Studie »Der Fall Rudolf Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni«, die bereits im Mai 1991 im Berlin Linksdruck Verlag (heute Ch. Links Verlag) erschienen ist, den »Fall Lohagen« und die damit verbundene Kampagne ausführlich beschrieben, ohne indes ihre Weiterungen herausgearbeitet zu haben, die Gegenstand dieses Beitrages sind. Im Neuen Deutschland vom 4. Mai 1993 schilderte der leider schon 1998 verstorbene Historiker Wolfgang Kießling die Lohagen-Affäre – zum Teil aus eigenem Erleben: »…Du hast gewiss nicht nur einmal ›gemüllert‹. Der Fall des SED-Funktionärs Ernst Lohagen und das Prinzip der Kritik und Selbstkritik – Ein Lehrstück perfider Polit-Technologie«.
6 Zur Biographie von Ernst Lohagen siehe Weber, Hermann / Herbst, Andreas (Hrsg.): Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004, S. 464 f.
7 Herrnstadt, Rudolf: »Heraus mit der Sprache! Zur Kritik am Genossen Lohagen«, in: Neues Deutschland vom 25. Januar 1952.
8 Alexej Andrejewitsch Araktschejew hatte als Günstling des russischen Zaren Alexander I. die berüchtigten russischen Soldatenkolonien geschaffen.
9 Mewis, Karl: SED-Landesleitung Mecklenburg über einige Schwächen der Parteiarbeit, in: Tägliche Rundschau vom 20. Januar 1952.
10 »Krise im Sowjetzonen-Kabinett. Eingreifen des Moskauer Politbüros erwartet – Kein Regierungsmitglied auf seinem Posten sicher«, in: Münchner Merkur vom 6. März 1952. Derlei Artikel wurden in der SED-Führung offenbar aufmerksam gelesen, siehe etwa die im Nachlass Grotewohls befindlichen Zeitungsausschnitte aus dieser Zeit, in: SAPMO-BArch, DY 30: NY 4090, Bd. II/303.
11 Das Beschlussprotokoll des Politbüros vom 23. Oktober 1951 verzeichnete als Tagesordnungspunkt 6: »Einspruch des Genossen Zaisser gegen den Arbeitsstil des Politbüros: Das Politbüro beschließt in einer seiner nächsten Sitzungen bei Anwesenheit aller Mitglieder des Politbüros eine Besprechung über den Arbeitsstil des Politbüros durchzuführen«, in: SAPMO-BArch, DY 30: J IV 2/2/172.
12 Herrnstadt: »Heraus mit der Sprache!« (Anm. 7), S. 125.
13 Zu Wilhelm Zaisser schließen derzeit Wilfriede Otto und Helmut Müller-Enbergs eine umfängliche Biographie ab. Zur Biographie Rudolf Herrnstadts siehe insbesondere Müller-Enbergs: Der Fall Rudolf
Herrnstadt (Anm. 5).
14 Siehe dazu Weber, Hermann: Warum fand in der DDR kein Schauprozess statt?, in: Foitzik, Jan / Künzel, Werner / Leo, Annette / Weyrauch, Martina (Hrsg.): Das Jahr 1953. Ereignisse und Auswirkungen, Potsdam 2004 sowie Otto, Wilfriede: Erinnerung an einen gescheiterten Schauprozess in der DDR, in diesem Jahrbuch.
15 Der DDR-Botschafter in Prag, Fritz Große, erwähnt diese Besuche in einem Schreiben an Anton Ackermann vom 24. Januar 1952, in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (im Folgenden: MFAA), A 15.655.
16 Am 25. Januar 1952 berichtete Neues Deutschland unter der Überschrift »Wyschinski in Nürnberg stürmisch umjubelt«, dass der Außenminister zwei Tage zuvor auf seiner Rückreise nach Moskau einen zwanzigminütigen Aufenthalt auf dem Nürnberger Bahnhof hatte.
17 In einem Schreiben vom 24. Januar 1952 informierte Fritz Große Anton Ackermann sowohl über den sowjetischen Staatsgast als auch über den Rücktritt Kopřivas, in: MFAA, A 15.655.
18 Siehe die Meldung »Umbesetzung von Ministerien in Prag. Entlassung Koprivas«, in: Mittagsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. Januar 1952.
19 Siehe Hodos, Georg Hermann: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948–54, Berlin 1990, S. 209 ff.
20 Siehe Mählert, Ulrich: Schauprozesse und Parteisäuberungen in Osteuropa nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37/38 (1998), S. 38 ff.
21 Zum Terror in den 30er-Jahren siehe Weber, Hermann / Mählert, Ulrich (Hrsg.): Verbrechen im Namen der Idee. Terror im Kommunismus 1936–1938, Berlin 2007.
22 Siehe die Einschätzung der »von oben inszenierten Säuberungsattacke« von Thomas Klein in: ders.: »Für die Einheit und Reinheit der Partei«. Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära Ulbricht, Köln / Weimar 2002, S. 152 ff.
23 Siehe Semjonow, Wladimir S.: Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939–1991, Berlin 1995, S. 273 f.
24 Siehe Loth, Wilfried: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, S. 13 ff.
25 Neues Deutschland vom 25. Januar 1952.
26 Siehe Badstübner, Rolf / Loth, Wilfried (Hrsg.): Wilhelm Pieck – Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945–1953, Berlin 1994, S. 380.
27 Siehe dazu Kießling: »…Du hast gewiss nicht nur einmal ›gemüllert‹.« (Anm. 5). Kießling datiert das Gespräch in Karlshorst nur vage, sodass es denkbar ist, dass an diesem Treffen auch Wyschinski teilgenommen hat, der in jenen Tagen einen Zwischenstopp in Ost-Berlin einlegte.
28 Ich danke Helmut Müller-Enbergs für den Hinweis auf diese Problemlage.
29 Im SED-Zentralorgan Neues Deutschland erschienen u. a. folgende einschlägige Artikel: »Wenn Minister und BGL-Funktionäre sich von den Massen lösen ...«, 25. Januar 1952; Wandel, Paul: »Über Mängel der Arbeit in der allgemeinbildenden Schule. Zur Arbeit der Genossen im Ministerium für Volksbildung«, 27. Januar 1952; Pfannstiel, Margot: »Vom Klassenkampf auf der Weberwiese«, 26. Januar 1952; »Stellungnahme des Sekretariats der Landesleitung Groß-Berlin der SED zu dem Artikel ›Vom Klassenkampf auf der Weberwiese‹ im Zentralorgan der Partei vom 26. Januar 1952«, 10. Februar 1952; Maron, Karl: »Erfolge und Schwächen in der Arbeit der Deutschen Volkspolizei«, 12. Februar 1952; Munschke, Ewald: »Ernste Fehler in der Arbeit der Genossen Personalleiter in den Ministerien«, 14. Februar 1952; »Wichtige Erklärung des Zentralrats der FDJ: ›Vergeßt das frohe Jugendleben nicht!‹«, 16. Februar 1952; »Rottet den Bürokratismus in den Gewerkschaften aus! Entschließung der 8. Tagung des Bundesvorstandes des FDGB«, 17. Februar 1952; »Befreit die Gewerkschaften vom bürokratischen Rost!«, Leitartikel, 19. Februar 1952; »Deutscher Sportausschuß unterdrückt Kritik«, 26. Februar 1952.
30 Siehe den Bericht Herta Geffkes über die Überprüfung der Landesleitung Sachsen-Anhalt, Anlage zum Protokoll der 50. Tagung der Zentralen Parteikontrollkommission vom 29. Februar 1952, in: SAPMO-BArch, DY 30: IV 2/4/442, Bl. 75 ff.
31 Lediglich am 14. Februar 1952 erschienen im Neuen Deutschland unter der Überschrift »Die Deutschen wollen endlich einen Friedensvertrag!« Auszüge einer Ulbricht-Rede, die dieser anlässlich des 7. Jahrestages der Zerstörung Dresdens gehalten hatte.
32 »Die gegenwärtige Lage in Westdeutschland und der Kampf um einen Friedensvertrag für Deutschland«, in: Neues Deutschland vom 26. Februar 1952.
33 Neues Deutschland vom 25. Januar 1952.
34 Neues Deutschland vom 27. Februar 1952.
35 Der zweite Teil des Ulbricht-Referats war mit »Die Entfaltung der Kritik und Selbstkritik als Hebel für die Überwindung von Rückständigkeit und Bürokratismus« überschrieben, in: Neues Deutschland vom 27. Februar 1952.
36 Siehe das »Kommuniqué der 8. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«, in: Neues Deutschland vom 24. Februar 1952.
37 »Stellungnahme des Genossen Lohagen zu seiner Selbstkritik vom 30. Dezember 1952«, in: Neues Deutschland vom 21. Februar 1952.
38 Siehe Semjonow: Von Stalin bis Gorbatschow (Anm. 23), S. 279. Semjonow zufolge sagte Stalin im Oktober 1952 über den SED-Generalsekretär: »Ulbricht ist ein treuer und konsequenter Kommunist. Er ist ein wirklicher Freund der Sowjetunion. Daran gibt es keinen Zweifel, und wir haben auch keinen Grund, ihm zu mißtrauen. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, daß er eine schwere Faust hat. Wenn er sie auf den Tisch legt, ist sie größer als sein Kopf. Bemühen Sie sich, ihm in allem zu helfen, insbesondere aber in konzeptioneller und theoretischer Hinsicht. Ihm zu helfen – das ist Ihre Aufgabe.«
39 Schreiben von Rudolf Herrnstadt an W. S. Semjonow vom 28. November 1962, abgedruckt in: Stulz-Herrnstadt, Nadja (Hrsg.): Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 271.
40 Die Zitate und Informationen stammen aus einem 39 Seiten umfassenden Memorandum, das Else Zaisser im Juli 1958 an den V. Parteitag der SED gesandt hatte. Darin verwahrte sie sich gegen neuerliche Diffamierungen ihres wenige Monate zuvor verstorbenen Mannes und forderte dessen politische Rehabilitierung. Der Abschnitt über die Politbürositzung beruhte auf handschriftlichen Notizen Zaissers über einen Redebeitrag im Politbüro von März 1952. Das Dokument wurde erstmals veröffentlicht von Otto, Wilfriede: Dokumente zur Auseinandersetzung in der SED 1953, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 32 (1990), H. 5, S. 655 ff.
41 Die von der Kommission ausgearbeitete Vorlage lag dem Protokoll Nr. 98 der Sitzung des Politbüros des ZK am 4. März 1952 nicht bei, in: SAPMO-BArch, DY 30: IV 2/2/198.
42 Protokoll Nr. 98 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees am 4. März 1952, in: SAPMO-BArch, DY 30: IV 2/2/198. Unter dem Tagesordnungspunkt 5 verzeichnet das Protokoll: »Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit des Apparates der Staatssicherheit (Berichterstatter: Zaisser): Der Bericht wird zur Kenntnis genommen. Genosse Zaisser wird beauftragt, dem Politbüro zur nächsten Sitzung eine Beschlußvorlage einzureichen.« Am 18. März verabschiedete das Politbüro eine Entschließung, die dem MfS »noch eine Reihe ernsthafter Mängel und Schwächen« attestierte. Die Entschließung ist in Auszügen abgedruckt bei Hoffmann, Dierk / Schmidt, Karl-Heinz / Skyba, Peter: Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949–1961, Berlin / Zürich 1993, S. 104.
43 Siehe Wettig, Gerhard: Der Kreml und die Machtkämpfe in der SED-Führung 1953–1958, in diesem Jahrbuch.