Am 1. April 1952 wurde das Dreigestirn Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht zu einem der seltenen Besuche bei Stalin im Kreml empfangen. Sie suchten Rat und Hilfe im Hinblick auf die II. Parteikonferenz und hatten ihm die Lage in Deutschland und der Welt aus Pankower Sicht schildern dürfen. Eine Woche darauf, am 7. April, wie üblich zu später Stunde, empfing sie Stalin erneut und legte ihnen nun seinerseits die Lage in Deutschland und der Welt aus der Warte Moskaus dar. Dabei sagte er zu den Perspektiven Deutschlands angesichts der sowjetischen Friedensinitiative vom 10. März 1952, dass »die Westmächte, welche Vorschläge wir auch immer zur deutschen Frage machten, ihnen nicht zustimmen und sowieso nicht aus Westdeutschland weggehen würden. Zu glauben, daß ein Kompromiß herauskommt oder daß die Amerikaner den Entwurf des Friedensvertrages annehmen, wäre ein Irrtum.« Weiter erklärte er: in Westdeutschland werde ein selbstständiger Staat geschaffen und auch die SED müsse »ihren eigenen Staat gründen«. Die wichtigsten Themen, die dazu besprochen wurden, waren die Schaffung einer Armee und der Aufbau des Sozialismus »ohne Geschrei«. Als Otto Grotewohl gegen Ende des Gespräches fragte, ob angesichts dieser Beurteilung der Lage in Deutschland an der Argumentation der SED »zu Fragen der Einheit Deutschlands und in der offiziellen Haltung der Regierung der DDR zur Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands« Änderungen vorgenommen werden müssten, verneinte dies Stalin und betonte: »Die Propaganda für die Einheit Deutschlands muß weiter fortgesetzt werden. Das hat große Bedeutung für die Beeinflussung des Volkes in Westdeutschland […] Auch wir werden weiterhin Vorschläge zu Fragen der Einheit Deutschlands machen, um die [Politik der] Amerikaner zu entlarven.«1
Diese und auch einige andere Aussagen während des Gesprächs scheinen zu dem Schluss zu zwingen, dass Stalin nicht mit einer Bereitschaft der Westmächte rechnete, auf die sowjetische Note vom 10. März einzugehen. Implizit könnte man die Äußerungen sogar als Beleg dafür werten, dass die Note nur dazu hatte dienen sollen, die Politik der Amerikaner zu »entlarven«. Dennoch dürfte es aufgrund einiger Indizien zu früh für ein endgültiges Urteil über die sowjetischen Absichten sein. Die Analyse der Äußerungen Stalins und die nachfolgenden Schritte bis zur II. Parteikonferenz der SED veranlassten den Verfasser und seinen russischen Kollegen Sergej Kudrjašov bei der Veröffentlichung des betreffenden Gesprächs-protokolls vielmehr zu der Prognose, dass die Auseinandersetzung um die Frage, ob man 1952 tatsächlich eine Chance zur Wiedervereinigung »verpasst« oder ob sich lediglich die »Legende einer verpassten Chance« herausgebildet habe, mit Recht weitergehen werde.2
Und sie geht weiter – zumeist in den schon seit 1952 bekannten, einander entgegengesetzten Richtungen. Denn die Protagonisten haben seit 1952 zwar gewechselt, die Argumente aber sind – wenn auch auf einer inzwischen sehr viel besseren, aber keineswegs einfacheren Quellengrundlage – letztlich gleich geblieben. Die eine Seite beurteilt die Stalin-Note als ernstes Angebot mit Bereitschaft zu wirklichen Kompromissen im Interesse der Nichteinbeziehung Westdeutschlands in das westliche Militärbündnis, die andere als bloßes Propagandamanöver, das die Westintegration der Bundesrepublik angesichts der bevorstehenden Unterzeichnung des Generalvertrages stören und von den Sowjetisierungsmaßnahmen in der DDR ablenken sollte.
Die heutigen Hauptkontrahenten, Wilfried Loth auf der einen und Gerhard Wettig auf der anderen Seite, fühlen sich beide durch neu zugänglich gewordene Dokumente bestätigt. So konstatiert Wilfried Loth in einer 2007 erschienenen Sammlung eigener Aufsätze, dass neu erschlossene Quellen russischer Provenienz seine im Wesentlichen auf DDR-Quellen beruhenden Befunde zur sowjetischen Deutschlandpolitik nach 1945 »in der Hauptsache bestätigen«.3 Loth hatte 1994 insbesondere auf der Basis privater Notizen Wilhelm Piecks gemeint nachweisen zu können, dass Stalin 1945 für ganz Deutschland eine bürgerlich-demokratische Zukunft nach Weimarer Vorbild mit sehr vager Sozialismus-Perspektive im Sinn gehabt habe. Die kompromisslose »Abschottungspraxis« des Westens auf der einen und der »revolutionäre Eifer« eines Walter Ulbricht, der von Oberst Sergej Tjul’panov, dem Chef der Propaganda- bzw. Informationsverwaltung der SMAD (Sowjetischen Militäradministration) in Karlshorst unterstützt wurde, auf der anderen Seite hätten die Verwirklichung dieser Vorstellung jedoch verhindert und 1949 zur Bildung des sozialistischen Separatstaates als eines »ungeliebten Kindes« geführt.4
Loths Interpretation der Stalin-Note vom 10. März 1952 liegt auf dieser Linie: Er sieht in ihr ein ernst gemeintes Angebot mit Kompromissbereitschaft im Hinblick auf freie Wahlen, Abzug der Besatzungsmächte, Bildung eigener Streitkräfte u. a. m. Gegenüber den Westmächten, den formellen Adressaten der Note, sei die Sowjetregierung zur Prüfung anderer Möglichkeiten bereit gewesen – selbst hinsichtlich des alten Streitpunkts, der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung auf der Grundlage freier Wahlen, wie man in der zweiten Note vom 9. April »nachgeschoben« habe.5 Stützte sich Loth in der Studie von 1994 im Wesentlichen auf deutsche bzw. westliche Quellen, wie sie auch schon Rolf Steininger mit dem gleichen Ergebnis verwendet hatte,6 so gelang es ihm mit Hilfe des russischen Kenners der sowjetischen Deutschlandpolitik Aleksej Filitov, die Entstehung der Stalin-Note auf der Basis der Überlieferung des Moskauer Außenministeriums zu dokumentieren.7 Dabei stellte sich heraus, dass im Außenministerium seit Februar 1951 an dem Projekt gearbeitet worden war, es sich also nicht nur um eine kurzfristige Reaktion auf westliche Schritte handelte. Loth zieht daraus das Fazit, dass »Stalin wirklich wollte, was er sagte: ein vereinigtes Deutschland außerhalb des westlichen Blocks«. Daran könne »kein Zweifel mehr sein«.8 Erst die ablehnende westliche Reaktion habe ihn dem Druck der Ulbricht’schen SED-Führung nachgeben und auf »Sozialismus statt Einheit« setzen lassen, wie es auf der II. Parteikonferenz dann öffentlich zum Ausdruck kam. Die »gesamtdeutsche Perspektive« sei jedoch auch von 1952 bis 1955 in der sowjetischen Politik »präsenter« gewesen, als man nach der »Enttäuschung« Stalins über die Ablehnung seiner Deutschlandnote vom 10. März 1952 »vermuten durfte«.9
Ob Stalin enttäuscht über die westliche Reaktion auf seine Note war, ob es eines Ulbricht bedurfte, um ihn dazu zu bringen, in der DDR auf »Sozialismus statt Einheit« zu setzen – so eindeutig, wie Loth meint, ist das kaum festzustellen.10 Aus den Gesprächen zwischen Stalin und den »deutschen Freunden« am 1. und 7. April 1952 scheint eher hervorzugehen, dass Stalin die ablehnende Reaktion der Westmächte erwartet hat. Seine Vorschläge für den Ausbau der Eigenstaatlichkeit der DDR, für den Aufbau einer ostdeutschen Armee von 30 Divisionen und für die Befestigung der Grenze zu Westdeutschland sowie die überraschende Aufforderung an die »Freunde«, die de facto vorhandenen sozialistischen Elemente in ihrer Gesellschaft stärker zum Ausdruck zu bringen und in der Landwirtschaft auch Kolchosen einzurichten – all dies müsste im Rahmen der Interpretation Loths erst einmal erklärt werden.
Zu dieser Interpretation ließe sich manches sagen – Zustimmendes ebenso wie Kritisches. Das meiste ist dazu schon gesagt worden, zum Teil sehr emotional, heftig und sogar bissig – schließlich gehört die Stalin-Note zu den umstrittensten deutschlandpolitischen Themen der letzten fünfzig Jahre, und nun kam ein Nichtspezialist daher und wollte die russische Politik erklären.11 Gerhard Wettig, sein Hauptkontrahent, kritisiert Wilfried Loth aufgrund langjähriger Beschäftigung und als wirklicher Kenner der Materie. Er hat sich seit dem Ende der Sowjetunion intensiv um die Sichtung der sowjetischen Dokumente bemüht, wobei die Mitgliedschaft in der Gemeinsamen Historikerkommission zur Erforschung der jüngeren Vergangenheit der deutsch-russischen Beziehungen ihm den Zugang erheblich erleichtert hat.
Ob man mit seiner Interpretation dieser Dokumente einverstanden ist, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Dazu sollte man wissen, dass die unterschiedliche Interpretation der Stalin-Noten und der in ihren engeren Kontext gehörenden Dokumente bei beiden Autoren auf einer divergierenden Sicht der gesamten sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem Kriege beruht. War für Loth in der sowjetischen bzw. Stalin’schen Politik immer die Präferenz für die Einheit bei Bereitschaft zur Preisgabe von Sozialismus-Elementen in Deutschland vorhanden, so ist es bei Wettig genau umgekehrt: Er hält die sowjetische Besatzungszone und dann die DDR für ein Feld der systematischen Einführung des Gesellschaftssystems der Sowjetunion und zugleich für ein »ausführendes Instrument ihrer Deutschland-Politik« mit dem Ziel, ganz Deutschland zu sowjetisieren. Die Initiative geht also für beide Autoren von unterschiedlichen Seiten aus: Ist es bei Wilfried Loth insbesondere Ulbricht, der jede Gelegenheit nutzte, um die SBZ und dann die DDR in sozialistischem Sinne zu transformieren, so ist es bei Gerhard Wettig Stalin, der die Sowjetisierung dort nach Maßgabe der gebotenen Rücksichtnahme auf den Westen vorantrieb und dem »Ziel sozialistischer Transformation den Vorrang vor dem Postulat eines gesamtdeutschen Staates« gab.12
Seine Vorarbeiten zu diesem Thema hatte Wettig Ende der 90er-Jahre in einer Monographie zusammengefasst.13 Auch er fühlt sich durch neue Dokumente in seiner Sicht der Stalin’schen Deutschlandpolitik bestätigt. Diese Sicht hat er in einem aktuellen Buch über den Kalten Krieg erneut knapp dargelegt.14 Im Wesentlichen werden die alten Fakten und Argumente vorgetragen, was bei einem schon so lange erörterten Thema völlig normal ist. Als wichtigstes neues Argument für die These, dass die Stalin-Note nur ein Propagandaunternehmen war, das die Sowjetisierung der DDR verdecken und aufgrund der innenpolitischen Lage in der Bundesrepublik womöglich sogar zum Sturz des Bundeskanzlers Adenauer führen sollte, verweist Wettig nun auf den Wehrbeitrag, den die DDR nach den Vorstellungen Moskaus im Rahmen des Ostblocks zu leisten hatte. Besonderes Gewicht hat hier »Stalins Aufrüstungsbeschluss«,15 der im Zusammenhang mit dem Koreakrieg den osteuropäischen Staaten bei einem geheimen Treffen in Moskau im Januar 1951 ein großes Rüstungsprogramm aufzwang. In allgemeiner Form war dieser Beschluss zwar schon seit einer Publikation Karel Kaplans von 1978 bekannt, aber er ist eigentlich nie sonderlich beachtet worden.16 Erst die Veröffentlichung der Notizen eines rumänischen Teilnehmers des Moskauer Treffens hat Wettig und andere auf dessen Bedeutung aufmerksam gemacht. Rolf Steininger nennt das Programm vom Januar 1951 »so etwas wie das kommunistische Gegenstück zu NSC 68«, dem gewaltigen Rüstungsprogramm des Nationalen Sicherheitsrates der USA vom April 1950.17 Wettig ist jetzt überzeugt, dass die Sowjetunion auf diesen Wehrbeitrag ebenso wenig verzichten wollte wie zumindest die USA und England auf den westdeutschen. Zudem sei die UdSSR für ihr Atomprogramm völlig vom sächsischen Uranerz abhängig gewesen und habe allein schon deshalb hinsichtlich der DDR auch nicht die »geringste Ungewissheit über ihre Kontrolle zulassen« können.18 All dies bestätigt für ihn, dass es sich bei der Stalin-Note nicht um ein ernsthaftes Angebot gehandelt habe.
Auch zu dieser Auslegung der Fakten und Dokumente ließe sich vieles sagen – Zustimmendes wie auch Kritisches. So wie Loth eine plausible Antwort auf die von Julij Kvicinskij kolportierte Äußerung Vladimir Semenovs geben müsste, dass Stalin der Note erst zugestimmt habe, nachdem deren Initiatoren ausdrücklich versichert hatten, dass ihre Ablehnung durch die Westmächte garantiert sei, so müsste Wettig auf die Bemerkung Valentin Falins reagieren, dass Inhalt und Text der Note absichtlich nicht mit der DDR-Führung abgesprochen waren, weil Stalin »freie Hand« bei der »Formulierung der eventuellen Lösung« haben wollte.19 Anders als Semenov ist Falin zwar kein direkter Zeitzeuge, aber er hat sich doch in seiner privilegierten politischen Stellung um Klärung des Sachverhaltes bemüht.
Nun sind nicht nur die genannten, sondern auch viele, ja die meisten der im Zusammenhang mit den Stalin-Noten verwendeten Dokumente direkt widersprüchlich oder zumindest unterschiedlich auszulegen. Es sollte nachdenklich stimmen, dass beide Kontrahenten sich letztlich auf dieselben Quellen stützen. So versteht es sich beinahe von selbst, dass Wilfried Loth den »Aufrüstungsbeschluss« und die im Zusammenhang damit stehenden Rüstungsmaßnahmen ohne wirkliche Probleme in sein Interpretationsmuster einfügen kann.20 Es gibt praktisch keine Quelle, die sich nur zum Beleg der einen oder der anderen Interpretation eignet. Dieses Problem muss entweder durch neue Interpretationen oder durch neue, eindeutige Quellen gelöst werden, sofern es überhaupt zu lösen ist.
Die beiden dargestellten Interpretationen sind auch nicht die einzigen. So ist insbesondere Aleksej Filitov der Auffassung, dass Stalin den Berliner »Freunden« mit der raffinierten Initiative ganz einfach die »Folterwerkzeuge« für den Fall zu großer Selbstständigkeitstendenzen gegenüber der Sowjetunion zeigen wollte – nämlich die Möglichkeit, sich mit dem Gegner auf ihre Kosten einigen zu können.21 Zu derartiger Raffinesse war Stalin durchaus fähig. Aber man fragt sich, warum die DDR-Führung auf so komplizierte Weise in die Schranken verwiesen werden sollte. Man fragt sich auch, warum an der Formulierung der Note, wenn es eine bloße Propagandaaktion war, monatelang intensiv gefeilt wurde. Der Verfasser selbst kommt immer mehr zu der Überzeugung, dass die vielen widersprüchlichen oder unterschiedlich zu interpretierenden Quellenaussagen von der Tatsache herrühren, dass in Moskau, auch bei Stalin selbst, keine Klarheit über den in Deutschland einzuschlagenden Kurs herrschte, dass nicht zu vereinende Alternativen verfolgt wurden und dass man vielleicht deshalb zu keiner wirklichen Richtungsentscheidung kam.22
Angesichts dieser Sachlage durfte man sehr gespannt auf die neue Dokumentensammlung Peter Ruggenthalers zur Stalin-Note sein, die schon im Titel Eindeutigkeit signalisiert: »Stalins großer Bluff«.23 Die Dokumente stammen aus dem Bestand Molotov im Russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte (RGASPI). Da das Archiv des Außenministeriums weiterhin nicht frei zugänglich ist, sind diese Dokumente grundsätzlich von großer Bedeutung. Molotov war auch nach seiner Ablösung durch Vyšinskij als Außenminister 1949 für die Entscheidungen auf höchster Ebene nach Stalin die wichtigste Figur. Schließlich entschied er, ob ein Vorschlag zur Überarbeitung zurückgegeben wurde oder ob und wann die Sache tatsächlich an die »Instanz«, d. h. Stalin, bzw. das Politbüro weiterging. Molotov wurde ferner regelmäßig über Erkenntnisse des Auslandsnachrichtendienstes informiert.
Aus den außenpolitischen Dokumenten und zusammenfassenden Berichten des Auslandsnachrichtendienstes, die sich im Molotov-Fonds befinden, hat Peter Ruggenthaler seine Dokumentation in drei Teilen zusammengestellt. Der erste Teil fasst 50 Dokumente unter »Entstehungsgeschichte« der Stalin-Note zusammen, der zweite, etwas überraschend, 25 Dokumente unter »Der österreichische ›Kurzvertrag‹ vom 13. März 1952« und der dritte 66 Dokumente unter »Deutschlandpolitik nach der Stalin-Note«. Die 141 Dokumente, darunter auch einige allseits bekannte, decken in sehr unterschiedlicher zeitlicher und inhaltlicher Dichte die Periode vom 5. Februar 1951 bis zum 15. Oktober 1952 ab.24 Bei zwei Drittel aller Dokumente handelt es sich um unkommentierte, kurze nachrichtendienstliche Zusammenfassungen bzw. Auszüge aus Zusammenfassungen über die politische Lage im westlichen Ausland.25
Weitere Memoranden unterschiedlicher Provenienz geben – wenn auch nicht systematisch – Auskunft darüber, was die sowjetische Führung ihrerseits über die SPD, die KPD, die Bewegung zur Neutralisierung und gegen die Remilitarisierung in Westdeutschland, über gemeinsame Pläne und divergierende Interessen der Westmächte in Bezug auf Deutschland, über die westdeutschen Reaktionen auf Vorschläge der SED und über westliche Reaktionen auf die sowjetischen Deutschland-Noten erfuhr. Welche Schlussfolgerungen aus den Informationen gezogen wurden, sagen die Dokumente nicht.
Den Zusammenhang der Stalin-Note mit dem österreichischen »Kurzvertrag«, einer Episode auf dem Weg zum österreichischen Staatsvertrag, sieht der Autor dadurch gegeben, dass die Westmächte nach seiner Auffassung mit ihrem lange vorbereiteten Angebot vom 13. März 1952 »Stalin daraufhin abtesten« wollten, »ob er tatsächlich in der deutschen Frage gesprächsbereit war«. Die Sowjetunion aber reagierte nicht. Sie konnte nach Ansicht Ruggenthalers 1952 auch nicht über Österreich und dessen Neutralisierung verhandeln, weil sie sich damit in Bezug auf Deutschland unter Zugzwang gesetzt und die »Existenz der DDR ernsthaft gefährdet« hätte. Die Konsolidierung der DDR als Teil des sowjetischen Machtbereichs sei das primäre Ziel gewesen.26
Ob diese Interpretation richtig ist und die Dokumente in den Zusammenhang der Stalin-Note gehören, ist eine Frage, über die sich diskutieren lässt. Aus den wiedergegebenen Dokumenten selbst geht dies, wenn überhaupt, so auf keinen Fall zwingend hervor. Es ist vielmehr Ruggenthalers Grundüberzeugung über das Streben und die Interessen der UdSSR, die ihn die spärlichen politischen Dokumente so interpretieren lässt.
Das Gleiche gilt auch für die von ihm vorgelegten Dokumente zur sowjetischen Politik im Zusammenhang mit den Stalin-Noten. Sie können die von Wilfried Loth veröffentlichten Dokumente in einigen Punkten ergänzen, obwohl sich auch dann immer noch kein geschlossenes Bild ihrer Entstehung ergibt – weder der ersten noch der anderen Noten. Was andere Instanzen dachten und taten, bleibt ohnehin im Dunkeln. Nichtsdestoweniger ist es erfreulich, dass jetzt ein früher Entwurf der zweiten Stalin-Note mit Anstreichungen Molotovs vorliegt.27 Der endgültige Notenentwurf vom 7. April mit interessanten Änderungen Stalins ist leider nicht abgedruckt. Er wurde vermutlich kaum mehr als eine halbe Stunde vor dem eingangs erwähnten, zweiten Besuch der SED-Führung im Kreml bei Stalin erörtert und abschließend formuliert, ohne dass den deutschen »Freunden« ein Sterbenswörtchen davon mitgeteilt wurde.28
Dieser Hinweis ist deshalb angebracht, weil Ruggenthaler von völliger Gemeinsamkeit der Parteiführungen in Berlin und Moskau ausgeht und sogar meint, dass »Ulbricht die ›geistige Vaterschaft‹ der Stalin-Note, das heißt, jener deutschlandpolitischen Strategie, der sich der Kreml 1951 / 52 bediente«, zuzuschreiben ist.29 Diese Strategie lief nach Ruggenthaler darauf hinaus, einen im Grunde viel zu attraktiven deutschlandpolitischen Vorschlag zu machen, der aber deshalb risikolos war, weil man sich in Moskau sicher war, dass die Westmächte entschlossen die wirtschaftliche und militärische Westintegration der Bundesrepublik betrieben und keine Neutralisierung Deutschlands zulassen würden. Einen weiteren Beweis für den Propagandacharakter der Note sieht er darin, dass der Aufbau des Sozialismus und die Aufrüstung der DDR schon vor der Antwort der Westmächte auf die erste Stalin-Note geplant und beim Moskau-Besuch der SED-Führung Anfang April 1952 in Einzelheiten beschlossen wurden. Deshalb druckt Ruggenthaler auch einige Dokumente zur II. Parteikonferenz der SED ab. Für ihn gehören der Beschluss zum Aufbau des Sozialismus, die Aufrüstung und die Noten-Kampagne als begleitende »deutschlandpolitische Propagandaaktion des Kremls«30 direkt zusammen.
Die Nähe zur Argumentation Wettigs ist nicht zu übersehen. Neu sind z. T. die Dokumente, die Ruggenthaler zur Zeit nach dem 10. März 1952 zusammengestellt hat. Aber auch hier ist zu konstatieren, dass die Dokumente selbst seine Interpretation, wenn überhaupt, nicht zwingend stützen. Das gilt in vollem Umfang auch für die geheimdienstlichen Informationen, die er anführt. Alles lässt sich ohne Gewalt auch anders interpretieren. Ruggenthalers Sicht der Dinge basiert vor allem auf seiner als angeblich erwiesen dargelegten Überzeugung, dass die Sowjetunion die SBZ bzw. die DDR in einem geteilten Deutschland von Anfang an unterwerfen und sowjetisieren wollte.31 Die Stalin-Noten hatten für ihn in diesem Zusammenhang von vornherein den Zweck, die Lage der Westmächte und Adenauers hinsichtlich der Wiederaufrüstung der Bundesrepublik zu erschweren und hinter propagandistischem Sperrfeuer die eigene Entschlossenheit zur Aufrüstung und sozialistischen Umgestaltung der DDR zu verbergen.
Die von Ruggenthaler zusammengestellten Dokumente sind für sich genommen vielfach interessant. Sie taugen jedoch nicht zum Beweis einer Tendenz und schon gar nicht zu der Feststellung, dass die »hier analysierten und erstmals abgedruckten Dokumente zeigen, dass es doch deutliche Beweise aus Moskauer Archiven gibt, die […] endgültig klarstellen, dass das ›Neutralisierungsangebot‹ Stalins nicht ernst gemeint war und anderen Zwecken diente«.32 Es lässt sich vielmehr ohne große Prophetie feststellen, dass die Stalin-Noten als kontroverses Thema ihre Zukunft noch nicht hinter sich haben.
1 * Hermann Weber, dem die Beiträge dieses Bandes in kollegialer Verbundenheit zugeeignet sind, hat sich selbst nie ausführlich zur »deutschen Frage« oder speziell zur Stalin-Note geäußert und in der Kontroverse auch nie Partei ergriffen. Aus gutem Grund, will es scheinen – weist seine Biographie ihn doch in gewissem Sinne selbst als Teil der »deutschen Frage« aus. Befangenheit hat hier zu Zurückhaltung geführt, die zu der Achtung beigetragen hat, die ihm in der »Zunft« auch bei inhaltlichen Differenzen entgegengebracht wird. Der nachstehende kleine Beitrag will dieser Achtung Ausdruck verleihen.
1 Bonwetsch, Bernd / Kudrjašov, Sergej: Stalin und die II. Parteikonferenz der SED. Ein Besuch der SED-Führung in Moskau, 31. März – 8. April 1952, und seine Folgen (Dokumentation), in: Zarusky, Jürgen (Hrsg.): Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge zur Forschung, München 2006, S. 173–206, hier S. 199, 206. Der Verfasser hatte die Gesprächsaufzeichnung bereits auf Russisch veröffentlicht: »Skostit’ polovinu summy reparacii ... my možem.« Vstreči Stalina s rukovodstvom SEPG [»Um die Hälfte können wir die Summe der Reparationen ... herabsetzen.« Treffen Stalins mit der SED-Führung], in: Istočnik. Vestnik Archiva Prezidenta Rossijskoj Federacii (2003), Nr. 3, S. 100–128.
2 Ebenda, S. 179.
3 Loth, Wilfried: Die Sowjetunion und die deutsche Frage. Studien zur sowjetischen Deutschlandpolitik, Göttingen 2007, S. 8.
4 Loth, Wilfried: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, Zit. S. 10.
5 Ebenda, S. 175–184.
6 Steininger geht zwar auch von der Ernsthaftigkeit des sowjetischen Angebots aus, ihm ist aber in erster Linie der Nachweis wichtig, dass die Nichtauslotung des Angebots vor allem auf Adenauer zurückgeht: Steininger, Rolf: Eine vertane Chance. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wiedervereinigung, Bonn 1985; ders.: Deutsche Geschichte, Bd. 2: 1948–1955, München 2002 (nach der erw. Neuausgabe von 1996), S. 175–215.
7 Loth, Wilfried: Die Entstehung der Stalin-Note. Dokumente aus Moskauer Archiven, in: Zarusky, Jürgen (Hrsg.): Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002, S. 19–115 (Einführungsteil wiederabgedruckt in: Loth: Die Sowjetunion und die deutsche Frage [Anm. 3], S. 101–157).
8 Loth: Die Entstehung der Stalin-Note (Anm. 7), S. 62.
9 Loth: Stalins ungeliebtes Kind (Anm. 4), S. 185–192; ders.: Die Sowjetunion und die deutsche Frage (Anm. 3), S. 8.
10 Im Zusammenhang mit der Verkündung des »Aufbaus des Sozialismus« in der DDR auf der II. Parteikonferenz spricht Loth sogar von einem »Erpressungsversuch« Ulbrichts: Loth: Stalins ungeliebtes Kind (Anm. 4), S. 188.
11 Jürgen Zarusky gibt in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band »Die Stalin-Note vom 10. März 1952« (Anm. 7) einen räsonierenden Überblick über die Kontroverse. Loth selbst geht in seiner Aufsatzsammlung »Die Sowjetunion und die deutsche Frage« (Anm. 3) ausführlich auf die Kritik ein und kritisiert seinerseits die Kritiker.
12 Wettig, Gerhard: Die Note vom 10. März 1952 im Kontext von Stalins Deutschlandpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Zarusky: Die Stalin-Note (Anm. 7), S. 139–196, Zitat S. 192.
13 Wettig, Gerhard: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschland-Politik 1945–1955, München 1999.
14 Wettig, Gerhard: Stalin and the Cold War in Europe. The Emergence and Development of East-West Conflict, 1939–1953, Lanham 2008.
15 Siehe Wettig, Gerhard: Stalins Aufrüstungsbeschluss. Die Moskauer Beratungen mit den Parteichefs und Verteidigungsministern der »Volksdemokratien« vom 9. bis 12. Januar 1951, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 635–650.
16 Kaplan, Karel: Dans les archives du Comité Central. Trente ans des secrets du Bloc soviétique, Paris 1978, S. 162–166.
17 Steininger, Rolf: Der vergessene Krieg. Korea 1950–1953, München 2006, S. 183, 192.
18 Wettig: Stalin and the Cold War (Anm. 14), S. 212–240, Zitat S. 218.
19 Semjonow, Wladimir S.: Von Stalin bis Gorbatschow, Hamburg 1995, S. 392 (Nachwort von Juli Kwizinski [Julij Kvicinskij]); Falin, Valentin: Politische Erinnerungen, München 1993, S. 310.
20 Loth: Die Sowjetunion und die deutsche Frage (Anm. 3), S. 215–235, bes. S. 221–225.
21 Filitov, Aleksej: Die Note vom 10. März 1952. Eine Diskussion, die nicht endet, in: Zarusky: Stalin und die Deutschen (Anm. 1), S. 159–172.
22 Bonwetsch / Kudrjašov: Stalin und die II. Parteikonferenz (Anm. 1), S. 184–186; Bonwetsch, Bernd: Einführung, in: Bonwetsch, Bernd / Bordjugov, Gennadij / Naimark, Norman M. (Hrsg.): Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjul’panov, Bonn 1997, bes. S. XXXII–XXXIX.
23 Ruggenthaler, Peter: Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007.
24 Ein Dokument zur Frage der Neutralität Österreichs stammt vom 28. Februar 1950.
25 96 von insgesamt 141 Dokumenten (Teil I: 25 von 50, Teil II: 20 von 25, Teil III: 51 von 66).
26 Ruggenthaler: Stalins großer Bluff (Anm. 23), S. 125, 131.
27 Ebenda, S. 184–186.
28 Der Entwurf mit den Änderungen Stalins und Molotovs: Politbjuro CK VKP(B) i Sovet Ministrov SSSR 1945–1953 [Das Politbüro des ZK der VKP(B) und die Ministerräte der UdSSR 1945 – 1953], Moskau 2002, S. 117–119. Zum formellen Beschluss vom 9. April siehe: Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b). Povestki dnja zasedanij, Bd. III: 1940–1952 [Das Politbüro des ZK der RKP(b) – VKP(b). Die Tagesordnung der Sitzungen. Bd. III: 1940–1952], Moskau 2001, S. 883.
29 Ruggenthaler: Stalins großer Bluff (Anm. 23), S. 14–17, 23–31, 151–169, Zitat S. 16.
30 Ebenda, S. 15.
31 Ruggenthaler: Stalins großer Bluff (Anm. 23), S. 11–14.
32 Ebenda, S. 21.