Im Inneren Gefängnis der Moskauer Lubjanka verfasste am 1. November 1937 der KPD-Funktionär Heinz Neumann eine 30-seitige Eingabe »Über die konterrevolutionäre bucharinistisch-trotzkistische Organisation Pieck–Ulbricht«.1 Mit diesem Text reproduzierte Neumann das monströse Konstrukt eines »Antikomintern-Blocks in der Komintern«2, das dem Volkskommissariat des Inneren (NKWD) 1937 als Verschwörungsszenario für einen geplanten Schauprozess gegen zahlreiche Komintern- und KPD-Funktionäre diente. Nach sechsmonatiger Haft in einer Massenzelle betonte Neumann demonstrativ seine »begeisterte Haltung zu jener Reinigungsoperation«, die das »bolschewistische NKWD in diesen Monaten im Auftrage Stalins und Jeshows gegen alle konterrevolutionären Schurken und Verräter im Namen des Sozialismus und der Weltrevolution, darunter auch im Namen der deutschen Revolution betreibt«. Vertraut seit den Zwanzigerjahren mit der Exegese der jeweiligen »Generallinie«, konnte der in mehreren Folterverhören gebrochene Berufsrevolutionär Neumann noch in der Lubjanka die jüngsten Moskauer Schauprozesse mit der Geschichte der stalinisierten Komintern und KPD3 instrumentell verknüpfen. Für sein Verschwörungskonstrukt nutzte er sowohl das stalinistische Feindbild der »maskierten Doppelzüngler« wie auch seine Kenntnisse der Cliquenkämpfe, Intrigen und Häresien in den Führungen von KPdSU, KPD und Komintern. Neumanns paranoides Schreckensgemälde folgt in den Grundmustern jener in der Sowjetunion der Dreißigerjahre propagierten »Wachsamkeitsparanoia«, deren Feindbilder sich Neumann zuletzt 1936 als Übersetzer des Protokolls des Schauprozesses gegen das »trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum« angeeignet hatte. Als stalinistischer »Glaubensvirtuose«4 kannte er auch die selbstreferentielle Technik der »Kontaktschuld«, die sowohl in innerparteilichen Ritualen der »Selbstkritik«5 wie in den Folterverhören und Anklagekonstrukten des NKWD verwandt wurde. Die Bußrituale, denen sich Heinz Neumann seit 1932 in Beichtverfahren und Exerzitien mehrmals unterworfen hatte, gipfeln in einer verzweifelten Identifikation mit dem Aggressor.
Wie kein anderer KPD-Funktionär hatte Neumann einen kometenhaften Aufstieg als »Wunderkind der Komintern« hinter sich. Geboren 1902 in einer gutbürgerlichen jüdischen Berliner Kaufmannsfamilie, trat er 1919 der KPD bei und versuchte seine »nichtproletarische Herkunft« als radikaler Berufsrevolutionär zu kompensieren. In seiner »allzu schnellen Parteikarriere« (Margarete Buber-Neumann) wurde er bereits 1920 Redakteur der »Roten Fahne«. Häufig illegal im »Auftrag des ZK« unter zahlreichen Decknamen tätig und nach Inhaftierungen nahm er 1924 als Dolmetscher am 5. Weltkongress teil und besuchte im gleichen Jahr auch die Militärschule der Komintern in Moskau. Mit seinen russischen Sprachkenntnissen konnte er persönliche Verbindungen zu führenden KPdSU- und Kominternfunktionären und auch zu Stalin herstellen, den er mehrmals im Moskauer Kreml wie auch auf der Krim besuchte. Als Vertreter der KPD beim Exekutivkommitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) nahm er seit 1925 an Parteitagen der KPdSU teil. Neumann galt als »Einpeitscher Stalins« in der KPD, verfasste als ideologischer Tugendwächter zahlreiche Beiträge gegen den »westeuropäischen Kommunismus« und trat auf Plenartagungen des EKKI gegen Trotzki wie gegen Bucharin auf. 1929 schrieb er »im Auftrag des ZK der KPdSU« die Resolution des KPD-Parteitags gegen die »rechte Abweichung« der »Versöhnler«. Gemeinsam mit dem Moskauer Emissär Lominadse, mit dem ihn eine Freundschaft und die gemeinsame Komintern-Mission des »Kantoner Aufstands« (1927) verbanden, arbeitete er in Deutschland bis Anfang 1927 illegal in der KPD und für die Disziplinierung der Funktionäre des Parteiapparats. Als Delegierter der KPD nahm er am VI. Weltkongress der Komintern teil und wurde 1931 zum Mitglied des Exekutivkomitees und zum Kandidaten des Präsidiums der Komintern kooptiert. In Kenntnis der Personalpolitik Stalins verteidigte Neumann 1928 in der Wittorf-Affäre6 den vom ZK der KPD abgesetzten Parteivorsitzenden Thälmann, der nach einer Intervention Moskaus erneut als Vorsitzender installiert wurde. Seit 1929 bildete Neumann zusammen mit Thälmann und Hermann Remmele die Führungsspitze in der KPD, gehörte dem ZK, als Kandidat dem Politbüro und dem Sekretariat des ZK an. In einer Stalin-Geburtstagsschrift feierte er 1930 den »Führer des Weltbolschewismus« und vermeinte, dass die KPD in Deutschland zum »entscheidenden Schlag, zum größten Vorstoß gegen den konterrevolutionären Sozialfaschismus« aushole. 1930 wurde er als Abgeordneter der KPD in den Reichstag gewählt und schrieb als Chefredakteur zahlreiche Leitartikel für die »Rote Fahne«. Nicht nur für Margarete Buber-Neumann galt der »radikale Intellektuelle« als der »wendigste und intelligenteste Kopf« innerhalb der »Dreimännerherrschaft« der KPD-Führung. Da Neumann der »proletarische Heiligenschein« Thälmanns fehlte und er mit seiner physischen Statur auch nicht dem in den Komintern-Parteien installierten Typus des »Arbeiterführers« entsprach, konnte er seine Ambitionen in der KPD-Spitze nicht verwirklichen. Thälmanns autokratischer Führungsanspruch, den er durch Prügelandrohungen, Bespitzelung7 und Klientelwesen durchsetzte, aber auch der sich ausbreitende Personenkult um den überforderten »Führer des deutschen Proletariats« stießen zunehmend auf den Widerspruch von Neumann, Remmele und Leo Flieg. In Briefen an Remmele, die vom Spitzelapparat der KPD abgefangen wurden, kritisierte Neumann den »Byzantinismus« Thälmanns und attestierte dem KPD-Vorsitzenden »Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn«.8 Mit der durch einen angeblichen »Sekretariatsbrief« eingefädelten Rückversicherung in Moskau setzten Neumann und Remmele 1931 die Beteiligung der KPD am preußischen Volksentscheid durch. Herbert Wehner hielt später fest, dass Neumann keine abweichende »politische Meinung« vertrat, sondern dass er versuchte, »den ersten Platz zu bekommen, indem er ›drüben‹ zu beweisen versuchte, er könne die angewiesene Linie besser und konsequenter durchführen, als es Thälmann zu tun verstehe«.9 Auf Betreiben Thälmanns wurde Neumann auf einer Sitzung des Politsekretariats des EKKI im Mai 1932 aus der »deutschen Arbeit« entfernt und für die »internationale Arbeit« bestimmt.10 Obwohl ihm anfangs nur »prinzipienloser Gruppenkampf« vorgeworfen wurde, fasste man seine allenfalls graduellen Abweichungen von der »Generallinie« in einem parteiamtlichen Sündenregister11 zusammen. In der offiziösen Sprachregelung der KPD und in denunziatorischen Meldungen12 galt Neumann seit 1935 als politischer Alleinverantwortlicher für die »Provokation« am Berliner Bülowplatz, d. h. für die Ermordung zweier Polizisten, an der Erich Mielke als Täter beteiligt war.
Bereits während der Unterwerfungsrituale der »Selbstkritik« wurde der bolschewistische »Kader«, politisch an den wechselhaften Verlauf der »Generallinie« und finanziell an die aus Moskau gespeiste Parteikasse gebunden, immer wieder durch öffentliche Erniedrigungen und nachfolgende Exerzitien diszipliniert. Durch das Abfassen von Autobiografien und bußfertigen Unterwerfungserklärungen sollte der Parteisoldat13 zugerichtet werden. In der Parteipresse veröffentlichte Kapitulationen und Bewährungseinsätze an der Basis gehörten zum innerparteilichen Bußritual, das auf Parteitagen und Konferenzen der KPD als Beichtzeremonie und Straftheater aufgeführt wurde.
Am 15. November 1932 richtete Neumann aus Moskau an Thälmann einen Brief 14, in dem er die »unbedingte und vollständige Einstellung« seines »unprinzipiellen Gruppenkampfes« versprach und Thälmann als »Träger« der »richtigen politischen Linie« apostrophierte. Nach einer Aussprache wurde Neumann durch den EKKI-Sekretär Pjatnitzki 1933 zur KP in Spanien kommandiert. Am 7. März 1933 sandte er von dort an das Politbüro-Mitglied Remmele einen Brief 15, der von der KPD-und Komintern-Führung als Aufruf zur Parteispaltung interpretiert wurde. Herbert Wehner, der nachträglich beide als »moralisch verkommene, hemmungslose Karrieristen« bezeichnete, hatte eine Durchsuchung der illegalen Wohnung Remmeles angeordnet und reichte Neumanns Brief an die Moskauer Instanzen weiter, die ihn während des 13. Plenums des EKKI veröffentlichten.16 Nachdem Neumann in einer Entschließung des ZK der KPD17 als »hinterhältiger Trotzkist«, als »Putschist« und als »direkter Helfer des Faschismus« bezeichnet wurde, den die Arbeiterklasse »ausmerzen« müsse, protestierte er im Juni 1933 mit Briefen an das Politsekretariat des EKKI und auch an Stalin. Im September 1933 distanzierte er sich demonstrativ von den »falschen und defaitistischen Auffassungen« Remmeles. Nach seiner Ablösung am 7. November 1933 in Spanien richtete Neumann aus Amsterdam am 14. Januar 1934 eine Erklärung an Pjatnitzki und bat ihn um eine »ganz bescheidene Arbeit« an »irgendeinem Platz dieser Erde«.18 In einem Brief an Kuusinen ironisierte Neumann jedoch diese Bußrituale: »Nun bin ich also glücklich in dem tragikomischen Zyklus der reumütigen russischen Oppositionellen von Tomsky und Rykow bis Sinowjew und Kamenew angelangt.«19 Seine in der »Rundschau« abgedruckte Reueerklärung20 wurde von Margarete Buber-Neumann nachträglich als »Dokument der Selbsterniedrigung« gewertet, da Neumann »trotz dieser Erklärung in allen Gesprächen seinen von der Linie der Komintern abweichenden Standpunkt vertrat«.21
Zusammen mit seiner Frau flüchtete Neumann über Frankreich in die Schweiz, wo er für einen Komintern-Verlag eine Geschichte der KPdSU übersetzte. In mehreren Briefen verurteilte er 1934 »bedingungslos« seine Fraktionsarbeit, sein »gesamtes oppositionelles Verhalten« und hoffte, seine »Sünden vor der Partei zu sühnen«.22
Bereits in der Schweiz äußerte er in persönlichen Gesprächen seine politische Desillusionierung; er bezeichnete die KPdSU als »halbfaschistische Partei« und Stalin als »Halbfaschisten«.23 Eine in Moskau orchestrierte Protestkampagne verhinderte nach seiner Verhaftung in Zürich die Auslieferung nach Deutschland. Nach sechsmonatiger Gefängnishaft konnte Neumann mit seiner Frau in die Sowjetunion einreisen. Dort kam er entgegen seinen Befürchtungen sogar im Hotel »Lux« unter. Hier zweifelte er »nicht nur an der Politik der Komintern, sondern auch am Sowjetregime selbst«.24 In einem Brief beschwerte er sich bei Georgi Dimitroff über seine Isolierung und die über ihn umlaufenden Diffamierungen. Seine Bitte an Dimitroff, auf der »Brüsseler Konferenz« der KPD auftreten zu dürfen, wies dieser in einer Notiz an Togliatti zurück: »Ich bin der Meinung, Neumann kann sich mit einer schriftlichen Erklärung an die Konferenz wenden«.25 Neumann verfasste eine entsprechende Erklärung, diese wurde jedoch nach einem Beschluss des Politbüros der KPD nicht in das Protokoll der Brüsseler Konferenz aufgenommen:
»4. Parteikonferenz der KPD 4. Sitzungstag, 6. Sitzung
6. 10. 35
Vorsitzende Liesbeth Schneider:
Genossen, unsere heutige Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Diskussion eintreten, würde ich eine Erklärung vorlesen, die Heinz Neumann an die Parteikonferenz gesandt hat. (Es folgt die Vorlesung)«26
Der Text von Neumanns Erklärung lautete:
»An die Parteikonferenz der KPD.
Werte Genossen!
Ich halte es für meine Pflicht, der gegenwärtig tagenden Konferenz unserer Partei eine klare Stellungnahme zu den von mir begangenen Fehlern und zu den jetzigen Fragen unserer Politik zu unterbreiten. Die Konferenz zieht die Bilanz aus einer ganzen Etappe unserer Parteientwicklung. Daher erscheint es mir notwendig, erneut eine selbstkritische Überprüfung meiner politischen Haltung in den letzten Jahren vorzunehmen, um damit zugleich den Schlussstrich unter meine früheren Fehler zu ziehen.
Der VII. Weltkongress der Komintern hat vor alle Kommunisten eine Fülle neuer Aufgaben von geschichtlicher Tragweite gestellt und volle Klarheit über die Lehren der Vergangenheit geschaffen. Genosse Dimitroff stellte auf dem Weltkongress die Frage: ›Warum und wie konnte der Faschismus in Deutschland siegen?‹ Er gab darauf die Antwort: der Faschismus konnte vor allem deshalb zur Macht kommen, weil die Arbeiterklasse durch die Politik der sozialdemokratischen Führer gespalten und gegenüber der angreifenden Bourgeoisie entwaffnet war.
Unser Kampf gegen den Faschismus und gegen die Spaltung der Arbeiterklasse wurde aber – wie Genosse Dimitroff weiter ausführt – gehemmt und erschwert durch Fehler in den eigenen Reihen der Kommunisten. Genosse Dimitroff hat dabei mit Recht die sektiererische Einstellung kritisiert, die ich selbst in der Zeit vor Hitlers Machtergreifung vertreten habe. In diesem Zusammenhang muss ich offen und rückhaltlos feststellen, dass ich die Hauptverantwortung für die sektiererischen Fehler trage, die damals in der deutschen Partei begangen wurden.
Als der Faschismus in Deutschland immer mehr zur Massenbewegung wurde, als er seine terroristischen Vorstöße gegen das Proletariat eröffnete und unverhüllt um die Staatsmacht kämpfte, stand vor unserer Partei die Aufgabe, die veränderte Lage richtig einzuschätzen und eine entschlossene Wendung unserer Taktik vorzunehmen, ohne sich an veraltete Schemen festzuklammern, die in früheren Zeiten Gültigkeit hatten, aber der neuen Situation nicht mehr entsprechen. Es war Genosse Thälmann, der an den wichtigsten Wendepunkten (Reichstagswahlen vom September 1930, Leipziger Parteitag der SPD 1931, Februar-Plenum vor den Präsidentenwahlen 1932) das Kräfteverhältnis der Klassen nüchtern und zutreffend beurteilte, das sprunghafte Anwachsen der Hitlerbewegung in Rechnung stellte und daraus die richtige Schlussfolgerung zog: Der Faschismus wird zur Hauptgefahr für das deutsche Proletariat, wir müssen unsere Taktik ohne jedes Zögern umstellen und das Schwergewicht unserer gesamten Tätigkeit auf die Herstellung der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern verlegen. Genosse Thälmann stellte vollkommen richtig die Frage, nicht nur wie früher zwischen den sozialdemokratischen Führern als ganzes und den sozialdemokratischen Arbeitern zu unterscheiden, sondern auch eine Differenzierung zwischen den reaktionären Elementen und den linken, sich revolutionierenden Teilen innerhalb der sozialdemokratischen Führerschaft selbst vorzunehmen, sowie auf die Bildung einer kommunistisch-sozialdemokratischen Einheitsfront gegen den Faschismus auch von Organisation zu Organisation in den Bezirken und im Reich hinzuarbeiten.
Dieser taktischen Neuorientierung setzte ich bei den verschiedensten Anlässen einen Widerstand entgegen, der auf einer falschen sektiererischen Grundeinstellung beruhte und die Wirklichkeit unseres Kampfes gegen die faschistische Gefahr abschwächen musste. Ich ließ in der ›Roten Fahne‹, deren Chefredakteur ich damals war, eine Reihe von linken Abweichungen in der Frage der Einheitsfront zu, was sich auch auf die Gewerkschaftspolitik, das brennendste Problem unserer Parteiarbeit, und auf die Verankerung der Partei in den Betrieben schädlich auswirken musste. Ich habe gleichzeitig den Versuch gemacht, durch organisierte Gruppenarbeit einen Druck auf die Parteiführung im Sinne meiner sektiererischen Auffassungen auszuüben. Gerade dieser Umstand musste auch nach meinem Ausscheiden alle sektiererischen Stimmungen fördern, die am Vorabend und in der ersten Zeit nach der Machtergreifung Hitlers innerhalb der Partei zutage traten.
Meine Abweichung von der richtigen Linie unserer Parteiführung begann im Jahre 1930 mit der Verteidigung der Losung: ›Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!‹ Diese Losung war in doppelter Hinsicht schädlich: einerseits leistete sie denjenigen Stimmungen Vorschub, die an die Stelle des politischen Massenkampfes gegen die drohende faschistische Gefahr lediglich den physischen Kampf setzen wollten, andererseits erschwerte sie die Unterscheidung zwischen den faschistischen Führern, dieser Stosstruppe des Finanzkapitals, und der Masse ihrer einfachen werktätigen Anhänger, die durch die soziale und nationale Demagogie des Faschismus irregeführt waren und nur mit Hilfe einer systematischen ideologischen Aufklärungsarbeit auf unsere Seite herübergezogen werden konnte. Als die Brüning-Regierung durch ihre Dezember-Notverordnung von 1930 zur brutalen Offensive gegen die Lebenshaltung der Arbeiter schritt, erklärte ich in der ›Roten Fahne‹: ›Brüning ist die Regierung der faschistischen Diktatur‹. Diese Auffassung war ein schwerer Fehler, denn sie verwischte den Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem Faschismus, die zwar beide die Klassendiktatur der Bourgeoisie verkörpern, aber als Herrschaftsmethoden, als Staatsformen der bürgerlichen Diktatur wesentlich voneinander verschieden sind. Gerade in jener Zeit, als die Brüning-Regierung den Staatsapparat immer stärker faschisierte und durch ihre Notverordnungspolitik Hitler den Weg zur Macht bereitete, galt es, die Massen zur Verteidigung der letzten Reste der bürgerlichen Demokratie in den Kampf zu führen und alle Kräfte der Arbeiterklasse gegen die faschistische Hauptgefahr zu konzentrieren. Die Erfüllung dieser Aufgabe wurde durch meine falsche Stellungnahme erschwert.
Ein weiterer Fehler von mir war, dass ich im Frühjahr 1931 die Meinung vertrat: ›Der Faschismus hat seinen Höhepunkt überschritten‹ und entsprechende Agitationsformeln gebrauchte wie: ›Das Dritte Reich wird 1½ Meter unter der Erde liegen‹. Dieser Standpunkt bedeutete eine Überschätzung unserer eigenen Kräfte, eine krasse Unterschätzung des faschistischen Klassenfeindes, eine gefährliche Verwechslung der eigenen Wünsche mit der politischen Wirklichkeit. Selbstverständlich vollzog der deutsche Faschismus in den Jahren vor Hitlers Machtergreifung keinen gleichmäßigen, ununterbrochenen Vormarsch, sondern erlebte er seine Rückschläge und Krisenerscheinungen unter dem Druck des von unserer Partei geleiteten Widerstandes der Arbeiterklasse. Aber es widersprach der marxistischen Dialektik, auf Grund dieser zeitweiligen Schwierigkeiten der Nationalsozialisten die unrichtige Meinung aufkommen zu lassen, als sei dem Faschismus durch unsere Gegenaktion der Weg zur Macht in Deutschland versperrt. Dieser Fehler lief in der Praxis auf eine Verringerung unserer Wachsamkeit gegenüber der faschistischen Gefahr hinaus.
Die logische Folge und zugleich den Abschluss der erwähnten Fehler bildete meine Stellungnahme zur Machtergreifung Hitlers im Januar / Februar 1933. Ich begriff damals nicht, dass ein bewaffneter Widerstand seitens unserer Partei nur bedeutet hätte, die Vorhut der deutschen Arbeiterklasse allein in den Kampf zu führen, zu einem Zeitpunkt, als sie infolge der sozialdemokratischen Politik von der Mehrheit des Proletariats und seinen natürlichen Verbündeten isoliert war.
Es besteht kein Zweifel, dass alle diese Fehler, von denen ich nur die wichtigsten, grundlegendsten aufgezählt habe, in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen und eine fortlaufende Kette bilden. Ich erblicke die gemeinsame politische Wurzel dieser Fehler in einem sektiererischen Abgleiten vom breiten Weg unserer bolschewistischen Massenpolitik in einer doktrinären Verkennung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse, einer wortradikalen Übertreibung des Grades der Revolutionierung der Massen und ihrer Abkehrung vom Reformismus, in einem mangelndem Verständnis für die große Lenin-Stalinsche Wahrheit, dass Propaganda und Agitation allein nicht imstande sind, den Massen die eigene politische Erfahrung zu ersetzen, sonder dass nur durch zähe Tagesarbeit und eine richtige Massenpolitik das Vertrauen der Arbeiterklasse erobert werden kann. Sektiererisch war die Losung ›Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft‹, die falsche Einschätzung der Brüning-Regierung als faschistische Diktatur, die Illusion vom Rückgang der faschistischen Welle im Jahre 1931, die Unterschätzung der Einheitsfronttaktik, das Eintreten für den bewaffneten Kampf im Jahre 1933. Die Wurzel meiner Fehler war – um es mit einem Wort zu sagen – eben jene sektiererische Einschätzung, die in den Beschlüssen des VII. Weltkongresses und in der Rede des Genossen Dimitroff unter schärfstes Feuer genommen wurde.
Meine falsche politische Einstellung trieb mich auf den Weg des Gruppenkampfes gegen die deutsche Parteiführung, eines Kampfes, den ich erst im April 1933 einstellte, nachdem ich mich endgültig von der Fehlerhaftigkeit meiner Position und von der Richtigkeit der Parteilinie überzeugt hatte. Ich verweise hinsichtlich dieser Gruppenarbeit auf meine Erklärung vom Februar 1934, die mit Zustimmung des Zentralkomitees in der Parteipresse veröffentlicht wurde.
Seit der Resolution des EKKI zur deutschen Frage vom Jahre 1933 hatte ich keine Differenzen mehr mit der Linie unserer Partei und unternahm keinerlei Versuche mehr, ihr eine eigene politische Linie entgegenzustellen. Ich habe mich bemüht und werde weiterhin alles tun, was in meinen Kräften steht, um die Politik und die Führung der KPD auf jede Weise zu unterstützen, ganz gleich auf welchen Kampfposten mich meine Partei und die Kommunistische Internationale stellen wird. Ich bin mir bewusst, dass Worte und Erklärungen nicht genügen, sondern ich nur durch längere praktische Arbeit den vollen Beweis vor der Partei führen kann, dass ich meine Fehler nicht nur restlos erkannt, sondern sie auch durch die Tat korrigiert habe.
Ich bin tief überzeugt, dass die Stalin-Dimitroffsche Linie des VII. Weltkongresses die einzig richtige revolutionäre Politik für einen ganzen Abschnitt der geschichtlichen Entwicklung darstellt. Es zeigt sich mit jedem Tag deutlicher, dass wir entscheidenden Ereignissen und großen Kämpfen entgegengehen. Die ungeheure Zuspitzung der Kriegsgefahr stellt den Kampf des deutschen Proletariats gegen die faschistische Diktatur stärker denn je in den Mittelpunkt der gesamten Weltpolitik. Die Beschlüsse des VII. Kongresses und der jetzigen Parteikonferenz eröffnen unserer Partei neue, verheißungsvolle Möglichkeiten zur Vereinigung breitester Massen in der entstehenden antifaschistischen Volksfront. Indem unsere Partei die Politik der proletarischen Einheitsfront in einer veränderten Lage auf neue Art anwendet und neue Formen des Übergangs zur proletarischen Revolution herausarbeitet, indem sie die Arbeit in den faschistischen Massenorganisationen zum Kernstück ihrer Tätigkeit macht, indem sie alle halblegalen und legalen Arbeitsmöglichkeiten ausnutzt, erhebt sie die Fahne für die demokratischen Freiheiten, für die Lebensforderungen der Arbeiter und aller Werktätigen, für den Sturz des barbarischen Hitlerregimes. Die gestählten Kader unserer Partei, die unter dem grauenhaftesten Terror des Klassenfeindes Wunder von Heldenmut, Standhaftigkeit und revolutionärer Initiative an den Tag legen, werden diese Taktik erfolgreich in die Tat umsetzen. In unversöhnlichem Kampf gegen das Sektierertum und gegen den rechten Opportunismus ist unsere Partei herangewachsen und erstarkt. Sie arbeitet unter den schweren Bedingungen der faschistischen Illegalität als die führende Kraft der Einheitsfrontbewegung, als die starke, erfahrene und wahrhaft bolschewistische Partei, die – nach den Worten Stalins – allein imstande ist, den Sieg der proletarischen Revolution vorzubereiten und zu erkämpfen.
Es kann für jeden Kommunisten, der dieses Namens würdig ist, nichts anderes geben, als bedingungslos und mit ganzer Kraft die Politik des VII. Kongresses und der Parteikonferenz der KPD zu unterstützen.
5. 10. 1935 Heinz Neumann«27
Gegen die Annahme dieser Erklärung wandten sich Wehner und andere KPD-Funktionäre, da »diesen Beteuerungen Neumanns kein Vertrauen entgegenzubringen sei«.28
In seiner Erklärung bekannte Neumann alle seine Parteisünden und Abweichungen. Virtuos übernahm er nicht nur die neue taktische »Linie« der Einheitsfrontpolitik, die Dimitroff 1935 verkündet hatte, sondern machte Thälmann bereits vor 1933 zum Verfechter einer »kommunistisch-sozialdemokratischen Einheitsfront gegen den Faschismus«. Unter den KPD-Funktionären herrschte in Moskau ein Klima des wechselseitigen Verdachts, das sich durch persönliche Rivalitäten, alte Fraktionskämpfe und denunziatorische Meldungen noch verschärfte. Helmuth Remmeles ausführliche Denunziation über »parteizersetzende Bemerkungen«29 und häufige Treffen seines Vaters mit Neumann führten am 17. November 1935 zu einer »strengen Rüge« der Internationalen Kontrollkommission. In offiziellen Broschüren der Komintern30 sah sich Neumann 1935 ebenso diskreditiert wie in Artikeln der »Humanité«, die ihn nach dem Schauprozess im August 1936 als »Komplizen der Sinowjewbande« brandmarkte. Obwohl so stigmatisiert, wurde Neumann im Frühjahr 1936 zusammen mit dem früher von ihm bekämpften »Versöhnler« Heinrich Süßkind, mit Fritz David und Werner Hirsch von der Moskauer KPD-Führung für den Entwurf eines Volksfrontprogramms31 herangezogen. Im Hotel Lux hatte Neumann 1936 sogar freundschaftliche Verbindungen mit Süßkind, der am 9. August 1936 vom NKWD verhaftet wurde, geknüpft. Neumanns persönliche Beziehungen, die frühere Freundschaft mit dem verhafteten Lominadse und all seine früheren »Abweichungen« listete Werner Hirsch32, ehemals enger Mitarbeiter Thälmanns, in mehreren Dossiers33 auf. Angesichts der Verhaftungswellen intervenierte Neumann bei der Internationalen Kontrollkommission, suchte Gespräche mit dem EKKI-Sekretär Moskwin und schrieb Briefe an den Leiter der Kaderabteilung Alichanow. Hier plädierte er für »allerhöchste Wachsamkeit« und klagte, dass er sich »innerhalb der Partei in einem Zustand der Isolierung, des Boykotts, ja geradezu der gesellschaftlichen Ächtung«34 befinde. Am 27. April 1937 wurde Neumann, der Anfang September 1936 auf einer Liste »schlechter Elemente« von der Kaderabteilung an das NKWD vermeldet wurde, im Hotel Lux verhaftet. Im Todesurteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR gegen den »Doppelzüngler« Heinz Neumann heißt es, dass er »seinerzeit die parteifeindliche Opposition in der KPD anleitete, 1932 Verbindung zu den Führern der antisowjetischen terroristischen Organisation Pjatnitzki und Knorin hergestellt hat, in deren Auftrag er eine illegale Organisation für den Kampf gegen die Komintern und die KPdSU(B) im Auftrag des Faschismus gebildet hat«.35 Das Urteil wurde am 26. November 1937 vollstreckt.
1 Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes Russlands, Nr. 33 543, Bd.1, Bl. 200 – 230.
2 Siehe Müller, Reinhard: Der Fall des Antikomintern-Blocks – ein vierter Moskauer Schauprozeß? in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1996, S. 187–214.
3 Zur Stalinisierung siehe Weber, Hermann: Die Stalinisierung der KPD – Alte und neue Einschätzungen, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007, S. 221– 244.
4 Siehe dazu Riegel, Klaus-Georg: Der Marxismus-Leninismus als »politische Religion«, in: Besier,
Gerhard / Lübbe, Hermann (Hrsg.): Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen 2005, S. 15 – 48.
5 Siehe Unfried, Berthold: »Ich bekenne«. Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Frankfurt 2006; Müller, Reinhard (Hrsg.): Die Säuberung. Moskau 1936. Georg Lukács, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf u. a. Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, Reinbek 1991.
6 Siehe Weber, Hermann / Bayerlein, Bernhard (Hrsg.): Der Thälmann-Skandal. Geheime Korrespondenzen mit Stalin, Berlin 2003.
7 Siehe die Sammlung vertraulicher Berichte im Archiv Thälmanns, Russisches Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte (im Folgenden RGASPI), f. 526, op. 1, d. 89.
8 Verweis auf die letzten drei Worte in Friedrich Engels’ »Anti-Dühring« in einem abgefangenen Brief
Neumanns an Leo Flieg, 25. Mai 1931, RGASPI, f. 495, op. 19, d. 703, Bl. 19.
9 Herbert Wehner: Zeugnis, hrsg. von Gerhard Jahn, Köln 1982, S. 57.
10 RGASPI, f. 495, op. 4, d. 191, Bl. 1.
11 Abweichungen Neumann (10 Punkte), RGASPI, f. 495, op. 293, d. 92, Bl. 68 –70.
12 Siehe Werner Hirsch, Material für die Untersuchung der trotzkistisch-sinowjewistischen Verbindungen in der KPD, 8. September 1936, RGASPI, f. 495, op. 205, d. 6185 a, Bl. 37– 62, hier Bl. 40.
13 Siehe Müller, Reinhard: Permanenter Verdacht und »Zivilhinrichtung«. Zur Genesis der »Säuberungen« in der KPD, in: Weber, Hermann / Staritz, Dietrich (Hrsg.): Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und »Säuberungen« in den kommunistischen Parteien seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993, S. 243–264.
14 RGASPI, f. 495, op.19, d. 527a, Bl. 122–123.
15 Maschinenschriftliche Abschrift, RGASPI, f. 495, op. 293, d. 90, Bl. 2.
16 Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung 3 (1934), Nr. 11, S. 419.
17 Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung 2 (1933), Nr. 17, S. 542.
18 RGASPI, f. 495, op. 19, d. 706, Bl. 34–35.
19 Brief Neumann an Kuusinen, 23. Februar 1934, RGASPI, f. 495, op. 19, d. 706, Bl. 9.
20 Rundschau über Politik Wirtschaft und Arbeiterbewegung 3 (1934), Nr. 25, Bl. 942.
21 Buber-Neumann, Margarete: Kriegsschauplätze der Weltrevolution, Stuttgart 1967, S. 406.
22 Brief an Knorin, 2. Januar 1934, RGASPI, f. 495, op. 293, d. 92, Bl. 27– 30.
23 So zitiert in einem Brief von Karl Volk an Wilhelm Pieck, 11. November 1936, SAPMO / BA RY1 / 83, Bl. 23.
24 Buber-Neumann: Kriegsschauplätze (Anm. 21), S. 408.
25 RGASPI, f. 495, op. 205, d. 6185, Bl. 83.
26 In der Einleitung zur Edition des Protokolls der »Brüsseler Konferenz« heißt es, dass Neumanns Erklärung weder in Berlin noch in Moskau aufgefunden werden konnte. Protokoll der »Brüsseler Konferenz« der KPD 1935. Reden, Diskussionen und Beschlüsse, Moskau vom 3.–15. Oktober 1935, hrsg. von Erwin Lewin, Elke Reuter und Stefan Weber, München 1997, S. 40.
27 Erklärung Heinz Neumann, RGASPI, f. 495, op. 205, d. 6185, Bl. 65 –72; Stellungnahme Wilhelm Pieck, Bl. 73.
28 Wehner: Zeugnis (Anm. 9), S. 149.
29 RGASPI, f. 495, op. 205, d. 6185, Bl. 89 f.
30 Koch, Josef [Sepp Schwab]: Der Kampf gegen Spitzelei und Provokation, Moskau / Leningrad 1935, S. 53 u. 59.
31 Abgedruckt in Langkau-Alex, Ursula: Deutsche Volksfront 1932 – 1939, Berlin 2005, Bd. 3, S. 143 – 154.
32 Siehe Müller, Reinhard: Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001, S. 351–376.
33 Hirsch, Werner: Material für die Untersuchung der trotzkistisch-sinowjewistischen Verbindung in der KPD, 8. 9. 1936, RGASPI, f. 495, op. 205, d. 6185 a, Bl. 37– 62.
34 Ders., Betrifft: Heinz Neumann, 9. September 1936, RGASPI, f. 495, op. 205, d. 6185 a, Bl. 173.
35 Anklageschrift und Urteil abgedruckt bei Platten, Fritz N. / Neumann, Heinz: Vom Zürcher Regen in die Moskauer Traufe, in: Weber, Hermann / Mählert, Ulrich (Hrsg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936 –1953, Paderborn 1998, S. 180 – 185.