Im Jahre 1969 veröffentlichte Hermann Weber seine bahnbrechende Arbeit Die Wandlung des deutschen Kommunismus, die die Forschung zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und zur Kommunistischen Internationale (Komintern) revolutionierte.1 In dem umfangreichen zweibändigen Werk legte er die Theorie der »Stalinisierung« der KPD im Zeitraum von 1924 bis 1929 dar, ein Konzept, das alsbald zum Standard für viele westliche und, seit den Glasnost-Jahren, russische Forscher auf dem Gebiet des internationalen Kommunismus wurde. Bis auf den heutigen Tag findet es Nachhall: 2008 wird in Großbritannien eine Anthologie zum Thema Stalinisierung mit Beiträgen profilierter Historiker erscheinen.2 Dessen ungeachtet wurde Hermann Webers Interpretation kontrovers diskutiert und vielfach infrage gestellt, um ihre Grenzen aufzuzeigen. Dieser kurze Artikel versucht, die Stalinisierungstheorie zu erläutern, ihre zahlreichen Stärken zusammenzufassen sowie die Kritik an dieser Theorie angesichts jüngster archivalischer Entdeckungen und neuer Forschungsansätze zur KPD und Komintern zu bewerten.
Im Wesentlichen suchte das Stalinisierungskonzept den Prozess zu erklären, durch den die KPD – und implizit auch alle anderen kommunistischen Parteien sowie die Komintern selbst – von einer relativ demokratischen und unabhängigen Massenorganisation, die unmittelbar aus der deutschen Arbeiterbewegung hervorgegangen war, in eine hierarchische, monolithische und geradezu militarisierte Organisation umgewandelt wurde, die ihren stalinistischen Gebietern in Moskau uneingeschränkt verbunden war und zunehmend den sowjetischen politischen und diplomatischen Interessen untergeordnet wurde. Wie Weber es im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007 formuliert: »Die von Rosa Luxemburg begründete radikal-marxistische Partei entwickelte sich zur stalinistischen Apparatpartei, zur Hilfstruppe der UdSSR Stalins. […] An die Stelle von Pluralismus, Selbstständigkeit, Diskussion und Autonomie traten Ergebenheit, Gläubigkeit, Disziplin und Gehorsam.«3 Bereits 1969 hatte Weber resümiert, die weitreichendste Bedeutung der Stalinisierung der KPD liege darin, dass sie »schließlich […] erst die ultralinke Politik 1929 bis 1933 [ermöglichte], die wesentlich zum Untergang der Weimarer Republik beitragen sollte«4. Erweitert man den Gedanken, dann hatte die Stalinisierung bedeutenden Anteil an der Machtergreifung der Nazis, indem sie Hürden für deren Aufstieg aus dem Weg räumte.
Webers These, die wesentlich komplexer ist, als diese Kurzdarstellung nahelegt, wägt umsichtig endogene und exogene Fakten ab. Sie basiert auf vier Grundbedingungen, von denen zwei spezifisch für die Situation der KPD in den 1920er-Jahren sind und zwei allgemeinere Phänomene darstellen:5
• der Herrschaft des Apparats in modernen politischen Parteien;
• den strukturellen und ideologischen Problemen der KPD, die nach einem eigenen Weg zwischen Sozialdemokratie und Syndikalismus suchte;
• der zunehmenden Abhängigkeit der KPD – finanziell, ideologisch und organisa- torisch – von der Komintern und der Sowjetunion, die selbst durch den autoritären Charakter des aufkommenden Stalinismus deformiert wurden;
• der Diskrepanz zwischen den revolutionären Zielen der KPD und dem nichtrevolu- tionären Kontext, in dem sie in den Jahren nach 1923 operierte.
Der erste Gesichtspunkt ist Robert Michels’ These vom »eisernen Gesetz der Oligarchie« aus dem Jahre 1911 entlehnt. 6 Nach diesem Organisationsprinzip sind politische Parteien durch fortlaufende Bürokratisierung und die Tendenz zur Schwächung der einfachen Parteimitglieder und lokalen Funktionäre zugunsten des professionellen »Apparats« gekennzeichnet. Diese für moderne Industriegesellschaften typische Entwicklung schien ausgesprochen gut anwendbar auf die KPD mit ihrem enormen Zuwachs an Kadern, zentralen Institutionen und geheimen Netzwerken. Die Hauptschlussfolgerung war, dass die KPD trotz ihres Massencharakters und ihrer wachsenden Unterstützung durch die Wähler politisch im Grunde schwach war und die Formen ihres Aktivismus chronisch degenerierten.
Der zweite Faktor charakterisiert treffend die relativ prekäre strukturelle und ideologische Position der KPD zwischen der zahlenmäßig stärkeren Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) mit ihrem Rückhalt in der qualifizierten Arbeiterschaft und ihrer fest verankerten »reformistischen« Praxis auf der einen Seite und der kleineren, aber dennoch starken syndikalistischen Bewegung auf der anderen Seite, die die revolutionäre Rhetorik der KPD in den Schatten zu stellen und deren radikalere Anhänger abzuwerben drohte. Angesichts dieses ideologischen und organisatorischen Dilemmas geriet der Apparat zum Instrument für die Schaffung der Parteieinheit und setzte diese mit geradezu militärischen Disziplinierungsmaßnahmen durch.
Die dritte These ist in vielerlei Hinsicht zentral für Webers Konzept: In Anbetracht der wachsenden Zentralisierung, Bürokratisierung und »Bolschewisierung« der Komintern nach 1924 musste die KPD fast zwangsläufig in die selbstzerstörerischen innerparteilichen Machtkämpfe der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) verwickelt und stark vom aufkommenden »Stalinismus« beeinflusst werden, der die bolschewistische politische Kultur umgestaltete und ihr ein autoritäreres Gepräge gab. Zur gleichen Zeit führten die finanzielle Schwäche und das Unvermögen der KPD, eine proletarische Revolution zum Erfolg zu bringen, dazu, dass die Partei auf das sogenannte »Moskauer Gold« angewiesen war. Als Folge agierte die KPD im Laufe der 1920er-Jahre immer weniger autonom und wurde mehr und mehr von der politischen, organisatorischen und strategischen Führung durch Moskau abhängig.
Der letzte Einflussfaktor beschreibt das Dilemma einer erklärtermaßen revolutionären Partei, die nach dem gescheiterten Umsturz im Herbst 1923 und der zögernden Stabilisierung des politischen und ökonomischen Systems der Weimarer Republik im Morast einer nicht-revolutionären Epoche feststeckte. Wie sollte man das Steuer ausrichten zwischen der ultralinken Scylla in Form des revolutionären Romantizismus, der die Partei von den arbeitenden Massen zu entfremden drohte, und der reformistischen Charybdis in Gestalt des Schulterschlusses mit den Sozialdemokraten in Gewerkschaften und anderen betrieblichen Vereinigungen, der die revolutionäre Kraft und Identität der Partei schwächte? Für die von massiver Fluktuation gezeichnete KPD war keine befriedigende indigene Lösung in Sicht. Ihre Mitglieder wurden dadurch zunehmend passiv, somit vom Parteiapparat abhängig und empfänglich für die Ausstrahlung der erfolgreichen bolschewistischen Revolutionäre.
Für Weber bestand die entscheidende Folge dieser vier Entwicklungslinien in der extremen Abhängigkeit der KPD von der Sowjetunion und ihren stalinistischen Strukturen. In den späten 1920er-Jahren hatte sich eine hochgradig autoritäre stalinistische politische Kultur in der Partei durchgesetzt, die nun gänzlich der Herrschaft des Apparats anheimfiel. Dies bedeutete wiederum die Beschneidung der innerparteilichen Demokratie und die Unterdrückung unabhängigen Denkens. Das Endergebnis war eine starre Diktaturpartei7, die darüber hinaus 1933, vor allem infolge ihrer Stalinisierung, faktisch dezimiert war.
Webers Konzept erwies sich als außerordentlich überzeugend. Weshalb? Weil es entscheidende Entwicklungen in der KPdSU, der KPD, der Komintern und der breiteren internationalen kommunistischen Bewegung greifbar machte. Selbst heute würden nur wenige Historiker, wenn überhaupt, das Ausmaß der Kontrolle der zentralen Kominterngremien durch die stalinistische Führung der KPdSU anzweifeln. Keine Innovation auf strategischer Ebene, organisatorische Initiative oder bedeutende personelle Veränderung konnte ohne die Zustimmung des Politbüros, und das bedeutete unweigerlich Stalin höchstpersönlich, verfügt werden.8 Darüber hinaus herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, dass Strategien, Politik und Strukturen der nationalen kommunistischen Parteien zunehmend durch das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) in Moskau bestimmt wurden, das seinerseits unter dem wachsenden Einfluss seiner KPdSU-Delegation stand. Das deutlichste Beispiel ist die Etablierung des »Sozialfaschisten«-Kurses in den Jahren 1928/29. Danach war der Spielraum für selbstständiges Handeln und Denken massiv eingeschränkt, wenn nicht gar beseitigt. Es ist ebenfalls wahrscheinlich, dass die von den sowjetischen Behörden über die geheimen Kurierdienste der Komintern geleistete finanzielle Unterstützung viele Parteien zahlungsfähig hielt und eine weitere machtvolle Kontrollhandhabe Moskaus darstellte. Viele Dokumente, die seit der teilweisen Öffnung der KPdSU-Archive in den frühen 1990er-Jahren verfügbar sind, belegen die stalinistische Dominanz innerhalb der Komintern und somit der internationalen kommunistischen Bewegung insgesamt.9
Die positive Rezeption der Stalinisierungstheorie resultierte auch aus der Menge empirischer Belege, die Weber zu ihrer Untermauerung zusammengetragen hatte. Was Stalins persönliche Verstrickung in KPD-Angelegenheiten betrifft, verwies er auf die berüchtigte »Wittorf-Affäre« im Herbst 1928. Im September des Jahres beschloss das Zentralkomitee, Ernst Thälmann, einen überzeugten Stalinisten und loyalen Kominternjünger, seiner Funktion als Parteiführer zu entheben, da er die Unterschlagung von 3000 Mark in seinem Hamburger Parteibezirk durch dessen Leiter John Wittorf vertuscht hatte. Die Ausmaße dieses Skandals gingen jedoch weit über finanzielle Unregelmäßigkeiten hinaus. Thälmanns Amtsenthebung war Teil einer Kampagne gemäßigter KPD-Führer. Sie wollten der »ultralinken Wende« in der Komintern entgegenwirken, die man mit dem Schlagwort »sozialfaschistisch« und dem Kurs »Klasse gegen Klasse« verbindet. Dies stellte in der Tat einen Angriff auf die junge revolutionäre Strategie der Komintern und damit eine Bedrohung der stalinistischen Orthodoxie dar. Bemerkenswert ist, dass Stalin selbst schnellstens aktiv wurde, um die Entscheidung des Zentralkomitees rückgängig zu machen. Neue
archivalische Dokumente belegen, dass der sowjetische Parteichef die offiziellen Wege in Komintern und KPD umging und stattdessen ein geheimes Netzwerk persönlicher Kontakte nutzte, das Wjatscheslaw Molotow, Ossip Pjatnitzki, Heinz Neumann, Hermann Remmele und Walter Ulbricht einschloss.10 Weber zufolge markieren die daraus resultierende einhellige Entscheidung für Thälmanns Wiedereinsetzung und der nachfolgende Ausschluss der »Rechten« und »Versöhnler« die letzte Stufe der Stalinisierung der KPD. Sie sicherten den Siegeszug der fatalen »Sozialfaschisten«-Rhetorik, welche nicht den Nazismus, sondern die Sozialdemokratie als Hauptfeind des Kommunismus darstellte.
Doch schon lange vor dem »Thälmann-Skandal« hatte Moskau mit eiserner Hand Einfluss auf die internen politischen und Fraktionsangelegenheiten der KPD ausgeübt. Der fehlgeschlagene Aufstand in Sachsen und Hamburg im Oktober 1923 – der sogenannte »Deutsche Oktober« – wurde direkt von den sowjetischen Oberherren der Komintern angeregt und organisiert; die Beseitigung der »rechten« Führer Heinrich Brandler und August Thalheimer, die den Kopf für die schmachvolle Niederlage von 1923 hinhalten mussten, war sorgfältig von Grigori Sinowjew, dem damaligen Vorsitzenden der Komintern, inszeniert worden; die neuen »links orientierten« Führer Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Thälmann schuldeten einen großen Teil ihrer Autorität in der Partei der Identifizierung mit der »Bolschewisierung« der Komintern, bevor die beiden Erstgenannten Stalins Feldzug gegen die »Sinowjewisten« in KPdSU und Komintern zum Opfer fielen; die »ultralinke« Fraktion der KPD um Werner Scholem, Arthur Rosenberg und Karl Korsch übte am unverhohlensten Kritik an der sowjetischen Dominanz in der Komintern, daraufhin wurden viele ihrer Mitglieder in den Jahren 1926 und 1927 ausgeschlossen; und Thälmanns Aufstieg zum Parteiführer war eine direkte Konsequenz seiner Pro-Komintern-Haltung und engen Bindung an die triumphierende stalinistische Fraktion in Moskau – er war »Stalins Mann«.
Auch organisatorisch begann die KPD, die Eigenschaften einer »bolschewisierten« Partei anzunehmen. In den Jahren 1924 und 1925 startete das Exekutivkomitee der Komintern eine »Bolschewisierungskampagne«. Deren vordergründiges Ziel war es, die organisatorischen Strukturen der kommunistischen Parteien anhand des bolschewistischen Modells neu auszurichten; das heißt, sie sollten echte Massenparteien werden, mit Basis in den Betriebszellen und nicht in den Wohnorten. Fraktionen, abweichende Meinungen oder Gruppierungen erlaubte das Modell nicht. In Wirklichkeit bezeichnete die »Bolschewisierung« unter den Bedingungen der mittleren und späten 1920er-Jahre die zunehmende »Russifizierung« der Komintern und ihrer Mitgliedsparteien sowie die Schaffung streng zentralisierter und disziplinierter leninistischer Organisationen, die absolut loyal zur stalinistischen Mehrheit in der KPdSU standen.11 Dieser Prozess war in der KPD sicher einschneidender als in den anderen kommunistischen Parteien. Zum Beispiel existierte neben der offenen legalen Organisationsstruktur ein geheimes Netzwerk illegaler In7titutionen mit speziellen Funktionen. »Die Apparate […] (M-Apparat für die militärische Organisation, Z-Apparat für die Unterwanderung der Reichswehr, Kurierdienst usw.) unterstanden weitgehend dem EKKI in Moskau, aber auch durch sie verstärkten sich die Apparattendenzen in der KPD. Aus der Abhängigkeit der KPD von der Komintern und der KPdSU resultierte schließlich die kritiklose Übernahme stalinistischer Organisationspraktiken.«12
Zusammengefasst bedeutet dies: »Der hierarchische Zentralismus in der Partei verdrängte die traditionelle Demokratie.« Die Existenz aggressiver Organisationen wie des Roten Frontkämpferbunds sowie die Verherrlichung von Gewalt verdeutlichen die »Militarisierung der Bewegung«.13
Ein weiterer maßgeblicher Grund für die hohe Akzeptanz von Webers Analyse ist ihr komparatives Potenzial. Das Konzept der Stalinisierung ließ sich nicht nur auf die KPD beziehen, sondern auch auf die anderen kommunistischen Parteien, die Komintern und ihre diversen »Front«-Organisationen wie die Profintern, die Rote Gewerkschafts-Internationale (RGI). Die Ereignisse in der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ) sind hierfür bezeichnend. Wie in der KPD waren in der Zeit von Ende 1928 bis Anfang 1929 die amtierenden gemäßigten Parteiführer starkem Druck aus Moskau ausgesetzt. Sie wurden schließlich aus der Partei und den roten Gewerkschaften ausgeschlossen, um durch die »Jungs von Karlín« – Klement Gottwald, Rudolf Slánský und andere, die absolut loyal zu Stalin und dessen Fraktion innerhalb der KPdSU standen – ersetzt zu werden. Ähnliche Entwicklungen gab es in den kommunistischen Parteien der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens usw. Innerhalb der Komintern kulminierte der Stalinisierungsprozess 1928 / 1929 im Fall und in der Entfernung von Nikolai Bucharin und dessen Unterstützern vom »rechten Flügel«. Diese Entwicklung war eng mit den innerparteilichen Auseinandersetzungen in der KPdSU über die Zwangskollektivierung und die rasante Industrialisierung verknüpft. Die bedrohliche Atmosphäre im Kominternhauptquartier wurde treffend vom italienischen Kommunistenführer Palmiro Togliatti charakterisiert, der Ende 1928, als er die folgenden Worte niederschrieb, ein zögerlicher Anhänger der neuen stalinistischen Linie war: »[...] das innere Regime der Komintern ist allgemein [...] schlecht und wird sich weiter verschlimmern. Die Auseinandersetzungen von Gruppierungen und Fraktionen nehmen zu und erstrecken sich auf alle Parteien. Die Entfesslung der Fraktionskämpfe bedeutet das Ende der innerparteilichen Demokratie. Diese Phänomene pervertieren die Entwicklung unserer Parteien und verhindern zugleich ein klares Verständnis der politischen Probleme.«14
Das alltägliche Management der Internationale hatte sich ebenfalls verschlechtert. Es wurde die Domäne hart arbeitender, doch intellektuell zweitrangiger Bolschewiken wie Dmitri Manuilski, Pjatnitzki, Otto Kuusinen und Alexander Losowski. Die bestimmenden Figuren blieben aber weiterhin Stalin, Molotow und andere sowjetische Politbüro-Leuchten. Es wäre kaum übertrieben zu behaupten, dass Ende 1929 die gesamte internationale kommunistische Bewegung »stalinisiert« war. Mit dem Aufkommen des »Stalinkults« in der UdSSR sollte es auch nicht mehr lange dauern, bis Kommunisten weltweit dem »Großen Führer« huldigen würden. Webers klar formulierter analytischer Bezugsrahmen schien diese Entwicklungen bewundernswert auf den Punkt zu bringen.
Doch nicht alle Experten pflichteten dieser Theorie bei. Viele beurteilten die Ansicht, die Stalinisierung habe einer »demokratischen« und pluralistischen Anfangsphase der KPD brutal ein Ende gesetzt, skeptisch. Es wurde darauf hingewiesen, dass zentralistische Tendenzen, Säuberungen und intolerante Haltungen bereits vor dem Einsetzen des »Stalinismus« in der Partei vorherrschend waren. Die wichtigste Herausforderung stellte jedoch das Aufkommen der Sozialgeschichte in den 1970er- und 1980er-Jahren und deren Betonung der »Geschichte von unten« dar. Für die neuen Sozialhistoriker gehörte Webers Ansatz einer relativ veralteten »Geschichte von oben« an, die die große Politik, die parteiinternen Machtkämpfe und die Fähigkeit Moskaus, die Entwicklungen in den nationalen kommunistischen Parteien zu gestalten, überbewertete und die endogenen Quellen der kommunistischen Aktivitäten und Strategien unterschätzte. Die »Zentrum-Peripherie-Debatte« begann in der Kominternforschung Fuß zu fassen. Die Hauptaussage der neuen Denkrichtung bestand darin, dass kommunistische Parteien in spezifischen nationalen, regionalen und lokalen Kontexten operieren – in Kontexten also, die die Formulierung und Umsetzung von Strategien sowie die Reaktionen der Basis beeinflussen müssen. Dieser Auffassung nach war die Komintern bei Entscheidungen nur einer von vielen Einflussfaktoren, und nicht unbedingt der wichtigste.
Der Bezugsrahmen einer »Geschichte von unten« wurde klar von Fraser Ottanelli in dessen Buch zur Kommunistischen Partei der USA (CPUSA) in den 1930er- und 1940er-Jahren umrissen: »[...] die Aktivitäten der Partei konzentrierten sich auf ein endogenes Streben nach politischen Inhalten, Organisationsformen, Sprache und übergreifenden kulturellen Formen, die den Radikalismus der Kommunisten an die örtlichen Gegebenheiten und politischen Traditionen anpassen würden. [...] Der Kurs der CPUSA war [somit] sowohl durch die Suche nach einem politischen Kurs bestimmt, der sie zu einem integralen Bestandteil der Gesellschaft des Landes machen würde, als auch durch die Direktiven der Kommunistischen Internationale.«15
Die kommunistischen Parteien hätten nicht nur versucht, ihre Politik in diversen nationalen Gefügen jeweils spezifisch zu verankern. Ihre Politik sei auch längst nicht so katastrophal gewesen, wie sie die Weber’sche Argumentation darstellt. Dies gelte sogar für das »sozialfaschistische« Intermezzo, das bis dahin allgemein als eine Katastrophe für die KPD, die Komintern und all ihre Mitgliedsparteien angesehen wurde. Sozialhistoriker begründeten dies mit den vernünftigen Beweggründen und den Errungenschaften der kommunistischen Gewerkschaft und der sozialen und kulturellen Aktivitäten der Kommunisten in den frühen 1930er-Jahren. Die aus dem Boden schießenden Arbeiter- und Werkszeitungen, die Entstehung von proletarischen Theatern, Sport- und Freizeitgruppen sowie ihr Einsatz für die Interessen von Frauen und Jugendlichen hoben die Kommunisten, so wurde argumentiert, von ihren trägen und ideologisch kraftlosen sozialdemokratischen Rivalen ab. In bestimmten Kohlerevieren und Textilzentren in Wales und Schottland, den sogenannten »Little Moscows«, erlangten die Kommunisten aufgrund ihrer harten Arbeit und ihres Engagements gegen lokale Probleme und Missstände starken Rückhalt in der Bevölkerung.16
Die »Revolution« in der Sozialgeschichte hatte auch großen Einfluss auf die wissenschaftliche Forschung zur KPD. Unter den nicht-deutschen Wissenschaftlern veröffent-lichten James Wickham und Eric D. Weitz überzeugende Arbeiten, die bedeutende Defizite der Stalinisierungstheorie aufzeigten. Wickham entdeckte für die massive Konkurrenz zwischen KPD und SPD machtvolle endogene Ursachen jenseits des Drucks aus Moskau. Seit 1923/24 hatte die ökonomische Rationalisierung zu struktureller Arbeitslosigkeit und sozialer Fragmentierung in den urbanen Gegenden Deutschlands geführt. Die Mehrheit der arbeitslosen ungelernten Arbeiter stellte sich auf die Seite der KPD, während die erwerbstätigen Facharbeiter meist weiterhin loyal zur SPD standen. Überdies spielten offenbar Konflikte auf Gewerkschafts- und kommunaler Ebene die kommunistischen Arbeiter und Aktivisten gegen die sozialdemokratischen Funktionäre sowie die Justiz- und Sicherheitsbehörden aus. Die SPD als »Hauptfeind« anzusehen erschien so vielen radikalisierten desillusionierten Kommunisten gerechtfertigt.17 Weitz fügte eine neue Dimension hinzu: die Idee vom »politischen Raum«. Für ihn drängten Rationalisierung und hohe Arbeitslosigkeit die KPD vom Arbeitsplatz auf die Straßen. Diese »wurden zunehmend zum ausschlaggebenden Ort für das politische Engagement der KPD. Dort versammelte die Partei ihre Unterstützer in Demonstrationen und kämpferischen Zusammenstößen mit der Polizei, faschistischen Organisationen und sogar der Sozialdemokratischen Partei [...] sowie berufstätigen Arbeitern. [...] die Straßen [...] trugen zur Entstehung einer Parteikultur bei, die männliche Körperstärke als die ultimative revolutionäre Eigenschaft hochhielt.«
Nach Weitz’ Ansicht halfen diese spezifisch deutschen Erfahrungen, die »Sozialfaschisten«-Linie unter den KPD-Mitgliedern zu etablieren. Weitz sieht in ihr die »logische Schlussfolgerung« aus der alten Feindseligkeit der KPD gegenüber der SPD.18 Endogene sozioökonomische und kulturelle Faktoren waren demnach für die Entwicklung der kommunistischen Parteipolitik genauso bedeutend wie die »Moskauer Zentrale«.
Unlängst wandte Norman LaPorte in seiner detaillierten Untersuchung zur KPD in Sachsen einen, in seinen Worten, »post-revisionistischen« Ansatz an. Dieser versucht, die »Geschichte von oben« mit der »Geschichte von unten« zu verschmelzen, indem er zwischen der »Stalinisierung« der Partei per se und den einfachen Parteimitgliedern unterscheidet, die in ihrer unmittelbaren Umgebung verwurzelt blieben. LaPorte akzeptiert bereitwillig, dass »die Parteipolitik in Moskau formuliert wurde, die Positionen der Parteiführer vom Wohlwollen der Komintern abhängig waren und die Reorganisation der KPD nach dem Vorbild des bolschewistischen ›Demokratischen Zentralismus‹ Teil eines hierarchischen Kontrollsystems war. Jedoch konnte auf lokaler Ebene die breite Masse der Mitglieder zu keinem Zeitpunkt dazu gezwungen werden, einer politischen Linie zu folgen, die nicht imstande war, die Realitäten ihres eigenen spezifischen politischen Umfelds zu berücksichtigen.«
In seiner Diskussion des Schlüsselproblems Fraktionalismus innerhalb der KPD, den er als organisierte lokale Antworten auf die zentralen Parteidirektiven definiert, argumentiert LaPorte, dass der Fraktionalismus in Sachsen »nicht einfach die aus Sowjetrussland importierten Debatten widerspiegelte, sondern eher von der Basis ausging in Opposition gegen unangemessene Verbote seitens der Zentrale«. In Sachsen verlief die Trennlinie zwischen denen, die die »Einheitsfront«-Taktik befürworteten und innerhalb der sozialdemokratischen Gremien arbeiten wollten, und jenen eingefleischten »Ultralinken«, die einen brudermörderischen Bürgerkrieg gegen die SPD anstrebten. LaPortes Meinung zufolge sind diese polarisierten Positionen mindestens ebenso sehr den sozioökonomischen Spezifika wie den Anweisungen aus Moskau geschuldet.19 Kurz gesagt stellen LaPortes Schlussfolgerungen eine maßvolle Kritik der Stalinisierungstheorie dar, indem sie die vielfältigen Reaktionen auf die Politik der Zentrale in der bedeutenden Industrieregion Sachsen rekonstruieren.
Die schärfste Kritik an Webers Arbeit kommt jedoch aus seinem näheren Umfeld. Einige deutsche Historiker, die sich mit der Geschichte der KPD befassen, widersprechen der Stalinisierungstheorie ausdrücklich, insbesondere Klaus-Michael Mallmann.20 Seine Schlussfolgerungen beruhen hauptsächlich auf Material aus dem Saarland. Mallmann ficht in der Tat das gesamte Konzept an: Er wertet den Einfluss des kontrollierenden Arms Moskaus ab und charakterisiert den deutschen Kommunismus während der Weimarer Republik »als eine relativ autonome gesellschaftliche Massenbewegung, die ihre Wurzeln in einer Vielzahl lokaler Bedingungen hatte«.21 Während er einräumt, dass KPD und SPD in bestimmten Regionen eine Kluft trennte, identifizierte Mallmann ein von ihm so bezeichnetes »linksproletarisches Milieu«: eine Weiterführung der SPD-»Nischengesellschaft« der Wilhelminischen Ära, in der Kommunisten und Sozialdemokraten auf lokaler Ebene – in den Gewerkschaften, in Sport- und kulturellen Organisationen – über die Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiteten. Er lehnt damit die bis dahin einhellige Annahme einer konstanten binären Opposition zwischen KPD und SPD ab. Mallmanns umstrittenstes Ergebnis ist jedoch, dass das auf geteilten gesellschaftlichen Moralvorstellungen und einer klassenorientierten Ideologie basierende »linksproletarische Milieu« einen Raum für die kommunistische Basis schuf, in dem diese die zentralen Parteidirektiven neu interpretieren, die Politik an der Basis mitformen und somit den lokalen Bedingungen anpassen konnte. Diese Sichtweise suggeriert beinahe, dass die Diktate aus Moskau und Berlin im Grunde ignoriert werden konnten. Mallmanns Kritiker, unter ihnen kaum überraschend Hermann Weber, wiesen auf zahlreiche Fehler in seiner Analyse und der Verwendung von Quellen hin. Nicht zuletzt habe er übersehen, dass die »›demokratisch-zentralistische‹ Organisation der Partei maßgeblich dafür verantwortlich war, dass die Führung die Partei auf lokaler Ebene von Dissidenten säubern konnte«. Überdies wurde Mallmann vorgehalten, Beobachtungen zu pauschalisieren, die auf dem »Spezialfall« Saarland basierten und nach Meinung seiner Kritiker atypisch für den Rest Deutschlands waren.22
Hintergrund der Debatte um die »Stalinisierung« sind radikal unterschiedliche Auffassungen über Methoden der historischen Untersuchung und der Verwendung von Dokumenten. Sollte die Quintessenz der Vorkriegsgeschichte einer kommunistischen Partei vorrangig in ihrer Unterordnung unter die Vorgaben der Komintern und des sowjetischen Staats gesehen werden oder in ihrem Einsatz für national-, regional- und lokalpolitische Ziele? Waren diese Parteien so monolithisch zusammengeschweißt und hierarchisch geordnet, wie es die Stalinisierungstheorie nahelegt, oder gab es Handlungsspielraum für relativ autonome Bestrebungen »von unten«? Waren äußere politisch-ideologische Faktoren die Hauptdeterminanten der Parteipolitik oder endogene soziokulturelle Prozesse? Wie im Fall des historiografischen Dissens über das Wesen des stalinistischen Terrors23 suggerieren auch bezüglich der Meinungsverschiedenheiten über KPD und Komintern archivalische Quellen aus den Moskauer und Berliner Zentralen die Allgegenwart einer reibungslos funktionierenden Führung. Hingegen zeichnen regionale Überlieferungen ein Bild der Desorganisation, Konfusion und, vor allem, des Strebens nach lokalen Antworten auf lokale Probleme, selbst im Angesicht des Drucks aus der Zentrale. Nur eine detaillierte empirische Forschung auf allen Ebenen – zentral, regional und lokal – und nicht nur zur KPD kann die relative Bedeutung und das Erklärungspotenzial dieser beiden rivalisierenden Methodologien herausarbeiten. Die bleibende Stärke der Stalinisierungstheorie von Professor Weber liegt in ihrer überzeugenden Beschreibung wichtiger historischer Entwicklungen in den Zentren der Macht und ihrer gleichzeitigen Sensibilität für endogene Entwicklungen. Sie ist weiterhin das bestimmende Konzept für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der KPD und der Komintern in den 1920er- und 1930er-Jahren.
Aus dem Englischen übersetzt von Diana Jahn.
1 Weber, Hermann: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1969.
2 LaPorte, Norman / Morgan, Kevin / Worley, Matthew (Hrsg.): Stalinisation and Beyond: Problems in Communist History, 1917–53, Basingstoke (in Druck). In Anbetracht der internationalen Bedeutung von Webers Werk ist es umso erstaunlicher, dass dies die erste englischsprachige Studie zur Stalinisierungstheorie ist.
3 Weber, Hermann: Die Stalinisierung der KPD – Alte und neue Einschätzungen, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007, S. 221–244, hier S. 222 u. 234.
4 Weber: Die Wandlung (Anm. 1), S. 13 f.
5 Teile meiner Analyse von Webers vier Grundbedingungen wurden aus LaPorte, Norman / Morgan, Kevin / Worley, Matthew: Stalinisation and Communist Historiography, in: LaPorte / Morgan / Worley: Stalinisation and Beyond (Anm. 2) entnommen. Ich danke den Autoren für die Erlaubnis, ihre Beiträge hier zu zitieren.
6 Siehe Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911.
7 Im Original deutsch.
8 Zu Stalins direkter Einflussnahme auf Kominternangelegenheiten siehe: Firsov, F. I.: Stalin i Komintern (Teil 1), in: Voprosy istorii 8 (1989), S. 3–23, sowie Firsov, F. I.: Stalin i Komintern (Teil 2), in: Voprosy istorii 9 (1989), S. 3–19. Siehe ebenfalls Banac, Ivo (Hrsg.): The Diary of Georgi Dimitrov, 1933–1949, New Haven/London 2003.
9 Für eine ausgeglichene Bewertung der archivalischen Entdeckungen siehe: Studer, Brigitte/Unfried, Berthold: At the Beginning of History: Visions of the Comintern after the Opening of the Archives, in: International Review of Social History 42 (1997), S. 419–446.
10 Für neue Dokumente und Kommentare zur Wittorf-Affäre siehe: Weber, Hermann/Bayerlein,
Bernhard H. (Hrsg.): Der Thälmann-Skandal: Geheime Korrespondenz mit Stalin, Berlin 2003.
11 Für Details zum Thema »Bolschewisierung« siehe: McDermott, Kevin / Agnew, Jeremy: The Comintern: A History of International Communism from Lenin to Stalin, Basingstoke 1996, S. 41–58.
12 Weber: Die Stalinisierung der KPD (Anm. 3), S. 239.
13 Ebenda, S. 239, 241.
14 Zitiert in: Carr, E. H.: Foundations of a Planned Economy, 1926–1929, London 1976, Bd. 3, Teil II, S. 554.
15 Ottanelli, Fraser M.: The Communist Party of the United States: From the Depression to World War II, New Brunswick 1991, S. 4 f.
16 Für Details siehe: Worley, Matthew: Class against Class: The Communist Party in Britain between the Wars, London 2000; sowie Macintyre, Stuart: Little Moscows: Communism and Working-Class Militancy in Inter-War Britain, London 1980.
17 Wickham, James: Social Fascism and the Division of the Working-Class Movement: Workers and Political Parties in the Frankfurt Area 1929/1930, in: Capital and Class 7 (1979), S. 1–34; Wickham, James: Working-Class Movement and Working-Class Life: Frankfurt am Main during the Weimar Republic, Social History 8 (1983), S. 315–43.
18 Weitz, Eric D.: Creating German Communism, 1890–1990: From Popular Protests to Socialist State, Princeton 1997, S. 6–7 und 269 f.; siehe auch: Rosenhaft, Eve: Beating the Fascists? The German Communists and Political Violence, 1929–1933, Cambridge 1993.
19 LaPorte, Norman: The German Communist Party in Saxony, 1924–1933: Factionalism, Fratricide and Political Failure, Bern 2003, Zitate auf S. 31 f. und 361.
20 Mallmann, Klaus-Michael: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996.
21 LaPorte, Norman / Morgan, Kevin / Worley, Matthew: Stalinisation and Communist Historiography, in: LaPorte / Morgan / Worley: Stalinisation and Beyond (Anm. 2).
22 Meine Zusammenfassung von Mallmanns Werk basiert weitestgehend auf: LaPorte: The German Communist Party (Anm. 18), S. 28–30.
23 Siehe: McLoughlin, Barry/McDermott, Kevin (Hrsg.): Stalin’s Terror: High Politics and Mass Repression in the Soviet Union, Basingstoke 2003, S. 1–18; Ilič, Melanie (Hrsg.): Stalin’s Terror Revisited, Basingstoke 2006.