Vor dreißig Jahren, am 7. Januar 1979, marschierten vietnamesische Truppen in die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh ein und befreiten Kambodscha von der Schreckensherrschaft der Roten Khmer.1 Diese hatten eines der blutigsten Regime des 20. Jahrhunderts, eines an Kriegen, sozialen Verwerfungen und nationalen Katastrophen keineswegs armen Zeitalters, errichtet: Am 17. April 1975 waren Einheiten der in schwarze Uniformen, Gummisandalen und Ballonmützen gekleideten Soldaten der Roten Khmer in die von Flüchtlingen übervölkerte kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh eingedrungen. Der als »Befreiung vom imperialistischen Joch« deklarierte Einmarsch hatte einen fünfjährigen, von allen Seiten gnadenlos geführten Bürgerkrieg beendet, doch zugleich die dunkelste Epoche in der jüngeren Geschichte Kambodschas eingeleitet. In den weniger als vier Jahren seiner Herrschaft hatte das Terrorregime der kommunistischen Roten Khmer unter ihrem Führer Pol Pot bis zu einem Fünftel der damals 7 bis 8 Millionen Einwohner des kleinen südostasiatischen Landes getötet. Gestürzt wurde es dennoch nicht von innen durch einen Volksaufstand; vielmehr fand es sein Ende durch die militärische Invasion des kommunistischen Nachbarn Vietnam, der – Ironie der Geschichte – einst zu den Geburtshelfern der Rote-Khmer-Bewegung gezählt hatte.2
Der 7. Januar 1979 markierte zwar die Befreiung Kambodschas vom Pol-Pot-Regime, zugleich aber auch den Beginn einer mehr als zehn Jahre währenden Okkupation durch Streitkräfte eines ungeliebten Nachbarlands und das erneute Aufflammen des kambodschanischen Bruderkriegs mit heute anachronistisch anmutenden Konfliktlinien. Das faktische Bündnis zwischen den USA und der Volksrepublik China gegen ein als Statthalter des »sowjetischen Expansionismus« und »Kuba Asiens« verfemtes Vietnam verlieh dem Kambodschakonflikt neben einer nationalen und regionalen auch eine globale Dimension.3 Die weltpolitische Lage in der Spätphase des Kalten Krieges verschaffte den Roten Khmer ein unerwartetes politisches und militärisches ›Comeback‹. Unter der nominellen Führung des einstigen Staatschefs Prinz Norodom Sihanouk4 leistete eine politisch heterogene »Koalitionsregierung des Demokratischen Kampuchea« (KRDK) von wechselnden Orten im thai-kambodschanischen Grenzgebiet aus mehr als ein Jahrzehnt lang dem von Hanoi installierten Heng-Samrin-Regime und den vietnamesischen Besatzungstruppen erbitterten Widerstand. Das militärische Rückgrat dieser fragilen Gegenregierung bildeten die in den Untergrund gedrängten Gefolgsleute Pol Pots, die nunmehr von China, Thailand und – wenn auch nur verdeckt – von den USA militärische und logistische Unterstützung erhielten. Jahrelang okkupierten die Roten Khmer unter dem Deckmantel der KRDK sogar den Sitz Kambodschas bei den Vereinten Nationen.5 Erst eine Kehrtwende der so-wjetischen Asien- und Pazifikpolitik ebnete den Weg für langwierige Verhandlungen, die 1991 in das Friedensabkommen von Paris
mündeten.6
Nach anfänglicher Kompromissbereitschaft sabotierten die Roten Khmer allerdings die praktische Umsetzung der Bestimmungen des auch von ihnen unterschriebenen Abkommens. Sie verweigerten die Demobilisierung ihrer Streitkräfte und boykottierten im Mai 1993 die von den Vereinten Nationen überwachten freien Wahlen. Trotz zeitweiliger militärischer Erfolge wurden die national wie international isolierten Roten Khmer jedoch von einem ideologischen Zersetzungsprozess erfasst, der im Juli 1996 zur Spaltung der Organisation führte und ihren endgültigen Untergang innerhalb nur weniger Jahre bewirkte. Tausende der gefürchteten Dschungelkämpfer wechselten auf die Regierungsseite; einige ihrer Führer wie der einstige Außenminister und Vizepremier Ieng Sary wurden von König Sihanouk amnestiert. Pol Pot selbst aber wurde im Juni 1997 von seinen eigenen Anhängern entmachtet und vor ein »Volksgericht« gestellt;7 er verstarb am 15. April 1998 in einem Dschungellager nahe der Grenze zu Thailand. Im April 1999 fand mit der Kapitulation von Armeechef Ta Mok die Rebellion der Roten Khmer ihr spätes Ende.
In der Zeit des Kambodschakriegs (1979–1991) hatten realpolitische Zwänge eine schonungslose Aufklärung und Ahndung der von den früheren Herrschern zu verantwortenden Verbrechen behindert. Die Machtpolitik der Großmächte stand einer juristischen Aufarbeitung der Geschehnisse im Weg. Noch das Friedensabkommen von Paris vermied jeglichen direkten Bezug auf die Massenmorde des Pol-Pot-Regimes und warnte nur vage vor einem Wiederaufleben von »Praktiken der Vergangenheit«. Erst der vollständige Zusammenbruch der Roten Khmer als politische und militärische Organisation in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre sowie eine Neubewertung bislang als sakrosankt geltender Grundsätze der internationalen Politik – etwa des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten – verliehen dem Streben nach einer Aufarbeitung der im Namen der »kambodschanischen Revolution« begangenen Massenmorde Auftrieb.8
Im März 2003 kam es endlich zu einem Durchbruch in den langjährigen Verhandlungen zwischen der kambodschanischen Regierung und den Vereinten Nationen über die Bildung eines Tribunals zur strafrechtlichen Verfolgung der zwischen 1975 und 1978 begangenen Verbrechen. Ein im Oktober 2004 vom kambodschanischen Parlament ratifiziertes Gesetzeswerk und ein Rechtsabkommen mit den Vereinten Nationen bilden die rechtliche Grundlage für ein internationales Sondergericht, das im Juli 2006 etabliert wurde. Gegen fünf ehemalige Führungskader der Roten Khmer sind inzwischen Haftbefehle erlassen worden.9 Die ersten Verhandlungen begannen im November 2007. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Angeklagten (Jahrgänge 1925 bis 1942) geraten die Prozesse allerdings zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Dennoch besteht heute die realistische Hoffnung, dass die noch lebenden Hauptverantwortlichen des kambodschanischen Massenmords zur Rechenschaft gezogen werden und die in Südostasien beispiellose Gewaltherrschaft der Khmer-Kommunisten so doch noch eine späte juristische Aufarbeitung erfährt. Dies gibt Anlass, mit einem zeitlichen Abstand von drei Jahrzehnten erneut nach den Ursachen und dem genauen Ablauf der kambodschanischen Tragödie zu fragen. In welchem historischen Kontext spielte sich die Revolution der Roten Khmer ab? Welche Ziele verfolgten die Revolutionäre? Von welchen ideologischen Vorbildern ließen sie sich leiten? Weshalb ging das kommunistische Regime so brutal gegen das eigene Volk vor? Wie viele Menschenleben forderten die Massenmorde der Jahre 1975 bis 1978 tatsächlich? Diesen Fragen soll im Folgenden unter Berücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse nachgegangen werden.
1. Der historische Kontext
Die kambodschanischen Kommunisten zählten zu den Verlierern des Genfer Abkommens vom Juli 1954, das den ersten Indochinakrieg offiziell beendete. Anders als ihre laotischen Genossen erhielten sie keine autonomen Zonen zwecks Umgruppierung ihrer Streitkräfte zugewiesen, sondern mussten sich der königlichen Regierung bedingungslos unterordnen.10 Die Wahlen von 1955 bescherten der von König Sihanouk gegründeten »Sozialistischen Volksgemeinschaft« (Sangkhum Reastr Niyum) einen überwältigenden Wahlsieg. Die prokommunistische »Revolutionäre Volkspartei« (Pracheachon Padevoat Khmer) vermochte lediglich vier Prozent der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen und erlitt in der Folgezeit einen dramatischen Rückgang der Mitgliederzahlen. Nach dem offenen Überlaufen von Parteichef Sieu Heng zur Regierungsseite brachen die Parteistrukturen praktisch zusammen.11 Nur ein Viertel der 850 Parteimitglieder (Stand 1957) war verblieben, als Ende September 1960 auf einer Versammlung von 21 Führungskadern eine neue Partei gegründet wurde: die »Arbeiterpartei Kampucheas«.12 Nach der Ermordung ihres ersten Vorsitzenden Touch Samouth durch Sihanouks Geheimpolizei im Juli 1962 ging die Leitung der sich ausdrücklich als marxistisch-leninistische Vorhut verstehenden Partei auf eine Gruppe junger Funktionäre über, die Anfang der Fünfzigerjahre während ihres Studiums in Paris durch den Parti Communiste Français politisch sozialisiert worden waren. Einer ihrer Wortführer, der 1925 im zentralkambodschanischen Kompong Thom geborene Saloth Sar,13 stieg 1963 zum Ersten Sekretär der nun in Kommunistische Partei Kampucheas (KPK) umbenannten Organisation auf.
In einer bemerkenswerten Untersuchung vertraulicher vietnamesischer Parteidokumente konnten die Historiker Thomas Engelbert und Christopher Goscha nachweisen, dass die Entfremdung zwischen der KPK, die Sihanouk als Khmer Rouge zu bezeichnen pflegte,14 und der vietnamesischen Bruderpartei bereits Mitte 1965 begann, als in Hanoi Parteisekretär Le Duan in belehrendem Ton seinem kambodschanischen Genossen Saloth Sar – der später den Nom de Guerre Pol Pot annehmen sollte – eine Verständigung mit dem neutralistischen und daher in den Augen Hanois »progressiven« Regime des Prinzen Sihanouk nahelegte.15 Zu wichtig war Kambodscha seit 1964 als Rückzugsgebiet für den von Hanoi unterstützten südvietnamesischen Vietcong geworden, als dass die kambodschanischen Kommunisten durch eine »sektiererische« Konfrontationsstrategie die Ziele der vietnamesischen Revolution gefährden durften. Ihr großes Vorbild fanden diese schließlich im kulturrevolutionären China. Anfang 1968 begannen sie den bewaffneten Kampf um die Macht im Staat, der aber unter der königstreuen Landbevölkerung nur wenig Widerhall fand und daher zunächst auf einige unwegsame Grenzgebiete im Nordosten des Landes beschränkt blieb.16
Im Jahre 1969, auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs, begannen die USA jedoch, kambodschanisches Hoheitsgebiet zu bombardieren, um die durch Laos und Nordostkambodscha führenden Nachschubwege des Vietcong, den sogenannten Ho-Chi-Minh-Pfad, zu zerstören.17 Unter dem verstärkten außenpolitischen Druck der USA bekam Sihanouks neutralistisches Regime immer tiefere Risse. Am 18. März 1970 holte das zunehmend westlich orientierte kambodschanische Militär zum Schlag gegen den Autokraten aus. Sihanouk, der sich zum Zeitpunkt des Coup d’État im Rahmen eines Staatsbesuchs in Moskau aufhielt, entschloss sich nach einem Moment des Zögerns zur Gegenwehr. Er flog weiter nach Beijing, wo ihn sein Gönner und Förderer Chou En-lai mit führenden Vertretern der kambodschanischen Kommunisten, darunter Ieng Sary, zusammenbrachte. In Beijing entstand nun der Front Uni National du Kampuchea (FUNK), der Monarchisten, nationale Linke und Kommunisten mit dem Ziel zusammenschloss, die Neutralität und territoriale Integrität Kambodschas wiederherzustellen. Der Prinz rief sein Volk zum Widerstand gegen das proamerikanische und mit Südvietnam verbündete Regime von General Lon Nol auf, das als Antwort auf Sihanouks Bündnis mit den Kommunisten die Monarchie als Institution abschaffte und die »Republik Khmer« proklamierte. Hunderttausende junger Kambodschaner, vor allem auf dem Land, folgten dem Aufruf des gestürzten Staatsoberhaupts und schlossen sich den politischen und militärischen Organisationen des FUNK an. Hinter der Fassade der »Königlichen Regierung der nationalen Einheit« (GRUNC),18 in der anfangs noch die Monarchisten dominierten, gelang so den kambodschanischen Kommunisten der Aufstieg von einer kleinen, im Untergrund operierenden Gruppe zu einer schlagkräftigen Armee. Dem maoistischen Volkskriegskonzept folgend, eroberten die Roten Khmer systematisch die ländlichen Gebiete und schlossen schon seit 1972 den Ring um Phnom Penh und andere Städte immer enger.19
Aus heutiger Sicht kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Khmer-Kommunisten nur unter Ausnutzung der Popularität des »Gottkönigs« Sihanouk das Volk für den »antiimperialistischen Widerstandskrieg« gewinnen konnten. Der Bürgerkrieg wurde in Kambodscha sehr viel härter und erbitterter als im benachbarten Vietnam und Laos geführt. Als dort im Januar 1973 das Waffenstillstandsabkommen von Paris umgesetzt wurde, gingen die Kämpfe in Kambodscha weiter. Pol Pot lehnte eine Verhandlungslösung mit der Regierung in Phnom Penh ab und setzte stattdessen auf den vollständigen Sieg. Um eine strategische Wende zugunsten der Khmer-Republik General Lon Nols herbeizuführen und den Widerstandswillen des FUNK zu brechen, warfen die USA zwischen Februar und September 1973 mehr als eine Viertel Million Tonnen Bomben auf fruchtbare Reisanbaugebiete.20 Den Niedergang der zunehmend an Popularität verlierenden und durch Misswirtschaft paralysierten Khmer-Republik vermochte Washington jedoch nicht zu verhindern. Ende 1974 kontrollierten die Streitkräfte des FUNK bereits neun Zehntel des Landes. Der Machtbereich des Lon-Nol-Regimes beschränkte sich nunmehr im Wesentlichen auf die Provinz Battambang an der Grenze zu Thailand und einen Verteidigungsring um die Hauptstadt, deren Bevölkerungszahl sich durch einen Flüchtlingsstrom aus den Kampfzonen innerhalb weniger Jahre fast vervierfacht hatte und auf mehr als zwei Millionen angewachsen war. Am Ende stand die Kapitulation der Regierung in Phnom Penh.
Als die Soldaten der Roten Khmer, viele von ihnen halbwüchsige Bauernburschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Stadt sahen, am 17. April 1975 in Phnom Penh einmarschierten, wurden sie von zahlreichen, des Krieges überdrüssigen Menschen begrüßt. Doch innerhalb weniger Stunden änderte sich die Lage; denn die vermeintlichen »Befreier« forderten die »Befreiten« auf, innerhalb von zwei Tagen mit ihren Habseligkeiten einen langen Marsch anzutreten, um fortan in den seit 1972 / 73 in den FUNK-Zonen errichteten landwirtschaftlichen Kooperativen21 als Reisbauern zu arbeiten.
Der radikale Bruch mit der Vergangenheit, der die Evakuierung Phnom Penhs zweifellos war, bot Pol Pot die Möglichkeit, sein Konzept der »totalen Revolution« durch die vollständige Zerschlagung des politischen Gegners voranzutreiben. Das Eisen sollte geschmiedet werden, solange es noch heiß war. Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass der folgenschwere Entschluss zur Evakuierung der Hauptstadt bereits im Januar 1975 auf einer Sitzung des Zentralkomitees der KPK gefasst worden war, zu einem Zeitpunkt also, als die humanitäre Lage in Phnom Penh noch keineswegs so dramatisch war wie drei Monate später. Die Entscheidung im ZK fiel nahezu einstimmig. Lediglich Hou Youn, neben Khieu Samphan und Hu Nim einer von drei populären Linksintellektuellen, die sich 1967 nach dem Aufstand von Samlaut22 dem bewaffneten Kampf der Roten Khmer angeschlossen hatten, wagte Bedenken zu äußern. Er stimmte gegen eine Total-Evakuierung und favorisierte eine schrittweise Reduzierung der Stadtbevölkerung auf ein »vertretbares Maß«. Auch mit seinen Vorbehalten gegen die Abschaffung des Geldes und die Rückkehr zum Tauschhandel stand Hou Youn wie ein einsamer Rufer in der Wüste. Völlig isoliert, wählte er noch vor der »Befreiung« Phnom Penhs den Freitod.23
Obwohl die Roten Khmer die Evakuierung Phnom Penhs über Monate hinweg geplant und an vielen Sammelpunkten für Verpflegung gesorgt hatten, verlief die Umsiedlung insgesamt recht chaotisch; zahllose Kranke, Alte und Kleinkinder starben an Erschöpfung.24 Des Weiteren wurden in den ersten Tagen und Wochen Tausende Offiziere des alten Regimes hingerichtet. Die Evakuierung Phnom Penhs wie auch sämtlicher von der Lon-Nol-Regierung bis zum Kriegsende gehaltenen Provinzstädte war unmenschlich, grausam und ohne Parallele. Zumindest in der Geschichte des 20. Jahrhunderts hatte es eine vergleichbare Maßnahme nicht gegeben. Allerdings reiht sich die Deportation der Stadtbevölkerung in eine unrühmliche Tradition der Kriegsführung im vorkolonialen Südostasien ein: Siegreiche Armeen verschleppten gewöhnlich große Teile der unterworfenen Bevölkerung in das engere Herrschaftsgebiet ihrer eigenen Könige oder Fürsten, wo sie als Arbeitskräfte benötigt wurden.25 Die Radikalität der Deurbanisierung war ein Vorbote der sich anbahnenden Tragödie, deren wahre Ausmaße allerdings erst 1979 nach dem Sturz des Pol-Pot-Regimes offenkundig wurden.
2. Politische Ziele der Roten Khmer
Nach dem Einmarsch der Roten Khmer in Phnom Penh wurde das »Demokratische Kampuchea«, so der offizielle Staatsname seit Anfang 1976, aus der Taufe gehoben, das drei Jahre, acht Monate und zwanzig Tage Bestand habe sollte.26 Der Text der der Marseillaise nachempfundenen Nationalhymne verrät viel über die menschenverachtende, den permanenten revolutionären Kampf betonende Denkweise der kambodschanischen Kommunisten:
Purpurnes Blut, das Städte und Ebenen
Kampucheas durchtränkt, unser Vaterland!
Kostbares Blut der Arbeiter und Bauern,
Kostbares Blut der revolutionären Kämpfer und Kämpferinnen!
Dieses Blut, verwandelt in unerbittlichen Haß,
Und entschiedenen Kampf,
Am 17. April, unter der Fahne der Revolution,
Befreite es uns von der Knechtschaft! 27
Die Pol-Pot-Führung schloss einen längeren Transformationsprozess zu einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft, wie er in Vietnam und Laos angestrebt wurde, aus. Sie ließ sich stärker vom chinesischen Vorbild der Kulturrevolution und insbesondere des »Großen Sprungs nach vorn« inspirieren. Innerhalb weniger Monate verwandelten die neuen Herrscher das Land in eine gigantische Baustelle, ein riesiges Arbeitslager. Das Ziel der Roten Khmer war die Errichtung einer kollektivistischen und egalitären Bauerngesellschaft, in der es weder Arme noch Reiche geben würde.28
Das gesamte Volk wurde für die Realisierung ehrgeiziger Wasserbauprojekte eingesetzt. Kambodscha sollte ein einziges »blühendes Reisfeld« werden. Der Erlös erzielter Reisüberschüsse sollte den offiziellen Proklamationen zufolge für den Aufbau einer Schwer- und Leichtindustrie Verwendung finden. Diese Zielsetzung spiegelt sich auch im Nationalwappen des Demokratischen Kampuchea wider, das ein System von Deichen und Bewässerungskanälen darstellt, welches die moderne Landwirtschaft versinnbildlicht, sowie eine Fabrik als Symbol der Industrie.29 »Wenn wir Wasser haben, haben wir Reis. Wenn wir Reis haben, können wir alles haben: Stahl, Fabriken, Energie und Traktoren«, lautete ein bekannter Slogan.30 Wie in der stalinistischen Sowjetunion der Dreißigerjahre nahm die kommunistische Führung in Phnom Penh für die Durchsetzung ihrer Agrarutopie bedenkenlos den Tod zahlloser Menschen in Kauf. Während in den Jahren 1977 und 1978 mehrere Hunderttausend Tonnen Reis nach China, Hongkong und Madagaskar exportiert wurden,31 herrschte in weiten Teilen Kambodschas Hunger. Davon waren die Angehörigen verschiedener sozialer Gruppen in unterschiedlichem Umfang betroffen. Auch wenn offizielle Dokumente der Roten Khmer die Bevölkerung des Landes nach orthodox-marxistischer Analyse in eine Vielzahl gesellschaftlicher Klassen untergliederten,32 spielte in der Praxis folgende Zweiteilung eine weit bedeutsamere und verhängnisvolle Rolle: Auf der einen Seite standen die bereits vor dem 17. April 1975 unter der politischen Kontrolle der Roten Khmer lebenden Menschen (ca. 60 Prozent der Bevölkerung). Sie genossen als sogenanntes »Altvolk« oder »Basisvolk« (neak multhan) gewisse Privilegien. Nur sie konnten vollwertige Mitglieder der bäuerlichen Genossenschaften werden und politische Funktionen in Partei und Administration wahrnehmen. Sie erhielten in der Regel auch eine bessere medizinische Versorgung und großzügiger bemessene Nahrungsmittelrationen. Auf der anderen Seite befanden sich die vor 1975 in Phnom Penh und den noch von der Lon-Nol-Regierung gehaltenen städtischen und ländlichen Enklaven lebenden Menschen. Sie besaßen als »Neuvolk« (neak thmey) keinerlei politische Rechte. Das Neuvolk war der Willkür der kommunistischen Machthaber schutzlos ausgeliefert; mancherorts wurden seine Angehörigen durch harte körperliche Arbeit, die viele nicht gewohnt waren, durch den Entzug von Nahrung und die Verweigerung medizinischer Versorgung sogar systematisch vernichtet. Man schätzt, dass der Blutzoll unter den Angehörigen des Neuvolks ungefähr doppelt so hoch war wie unter denen des Altvolks.33
Der revolutionäre Terror richtete sich zunächst gegen die militärischen und zivilen Funk-tionäre des Lon-Nol-Regimes (1975) und dann gegen Widerstand im Neuvolk (1976), ab 1977 nahm er schließlich auch die eigene politische Basis, das Altvolk, ins Visier. Am Ende fraß die Revolution nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Väter; denn drei der neun Minister und zwei der drei Mitglieder des Staatspräsidiums sowie zahlreiche Mitglieder des Zentralkomitees der KPK fielen innerparteilichen Säuberungen zum Opfer. Unter den Betroffenen waren auch enge Vertraute von Parteichef Pol Pot wie der Wirtschaftsminister Sok Thuok (alias Vorn Vet), der unmittelbar nach Beendigung des Fünften Parteitags (1.–2. November 1978), der ihn zu einem von sieben Mitgliedern des Ständigen Ausschusses des Zentralkomitees bestimmt hatte, verhaftet und wenige Wochen später in Tuol Sleng (siehe folgenden Abschnitt) liquidiert wurde.34
Im Mai 1978 kam es in der an Vietnam grenzenden Ostregion zu einem Aufstand aus den Reihen der Roten Khmer selbst. Zwar wurde die Revolte blutig niedergeschlagen, aber einigen regionalen Kommandeuren wie Chea Sim35 gelang die Flucht nach Vietnam, das seit Ende 1977 einen blutigen Grenzkrieg mit Kambodscha führte. Als immer deutlicher wurde, dass ein Sturz des Pol-Pot-Regimes von innen heraus nicht mehr möglich war, wurde Anfang Dezember 1978 im Süden Vietnams aus übergelaufenen Kadern der Roten Khmer eine »nationale Rettungsfront« gegründet. Nach den Überlegungen Hanois, das seit Februar 1978 aktiv auf einen Regimewechsel in Phnom Penh hinarbeitete, sollte diese Front den Kern eines neuen, mit Vietnam verbündeten Kambodscha bilden.
3. S-21: Arbeitsweise einer Todesmaschine
Am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1978 begann Hanois Großoffensive, an der mehr als 120 000 vietnamesische Soldaten beteiligt waren. Ihnen hatte die militärisch weit unterlegene, kaum halb so starke kambodschanische Armee wenig entgegenzusetzen. Dennoch überraschte die Schnelligkeit des vietnamesischen Vormarschs. Bereits am 7. Januar 1979 gegen 11 Uhr vormittags brachten vietnamesische Panzerverbände Phnom Penh unter ihre Kontrolle. Anders als die Roten Khmer im April 1975 fanden die Vietnamesen eine menschenleere Geisterstadt vor. Die Machthaber hatten die Stadt, in der Ende 1978 nur ungefähr 30 000 Kader und Industriearbeiter lebten, vollständig geräumt.36
Als einer der Letzten verließ Phnom Penh ein gewisser Kang Kek Ieu, der wegen seiner geringen Körpergröße Duch, »der Kleine«, genannt wurde. Duch war der gefürchtete Chef von Tuol Sleng, dem zentralen Gefängnis der kambodschanischen Staatssicherheit. Noch während des Einmarschs vietnamesischer Truppen in die östlichen Außenbezirke der Stadt befahl er die Ermordung aller Häftlinge und versuchte, belastende Dokumente zu vernichten, was aufgrund der schieren Menge des Materials in der kurzen Zeit nur teilweise zu realisieren war. Duch verließ schließlich Phnom Penh, als vietnamesische Stoßtrupps bereits seit einer Stunde das menschenleere Stadtzentrum kontrollierten.37
Das auf dem Gelände eines 1962 gegründeten Gymnasiums errichtete geheime Foltergefängnis Tuol Sleng war Teil eines sich – wie wir inzwischen wissen – über das gesamte Land ziehenden Netzes von mehr als 160 Gefängnissen. In Tuol Sleng wurden über einen Zeitraum von drei Jahren bis zu 14 000 politische Gefangene – tatsächliche wie vermeintliche Gegner des Regimes – verhört, gefoltert und, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nach der Erpressung von »Geständnissen« exekutiert.38 Die Hinrichtungen geschahen seit 1977 zumeist nicht in Tuol Sleng selbst, sondern auf dem Gelände eines ehemaligen chinesischen Friedhofs in dem Dorf Choeng Ek, fünfzehn Kilometer südwestlich der Hauptstadt. Dieser grausige Ort ist mit den berüchtigten »Killing Fields« gemeint.
Als 1997 der amerikanische Journalist Nate Thayer die Gelegenheit erhielt, dem von den Roten Khmer selbst inszenierten Schauprozess gegen ihr einstiges Idol Pol Pot beizuwohnen, wurde ihm als einzigem westlichen Journalisten seit fast zwei Jahrzehnten ein Interview mit dem Mann gewährt, der für den kambodschanischen Völkermord während der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre in erster Linie die politische Verantwortung trägt. Ohne Reue zu zeigen, gab der kranke und gebrechliche Pol Pot an, von einem »Tuol-Sleng-Gefängnis« erst nach dem Sturz seines Regimes gehört zu haben. Wohl aber sagte ihm der Begriff »S-21« etwas; mit diesem Code hatten die kambodschanischen Kommunisten ihren geheimen Staatssicherheitsapparat bezeichnet. Der Buchstabe S steht für sala, was auf Khmer »Halle« bedeutet, der Zusatz »21« war ein Code (ohne inhaltliche Bedeutung) für den »santebal«, eine Wortschöpfung aus den beiden Khmer-Begriffen santisuk (Sicherheit) und nokorbal (Polizei).39
4. S-21: Versuch einer Erklärung
Auch wenn sich gewisse Parallelen zu Gefängnissen des sowjetischen NKVD ziehen ließen, fällt doch eine wichtige Besonderheit des kambodschanischen S-21 auf: Der Weg dorthin war eine Einbahnstraße. Sie führte fast zwangsläufig in den Tod. Kein einziger Fall ist bekannt, in dem ein Gefangener nach Feststellung seiner Unschuld rehabilitiert und wieder aus dem Gefängnis entlassen worden wäre. In gewisser Weise stand die ›Schuld‹ der Inhaftierten bereits bei ihrer Einlieferung fest. Von den Gefangenen wurde ausschließlich das Eingeständnis ihrer »Verbrechen gegen Partei und Volk« erwartet. Bezeichnenderweise lautet der kambodschanische Ausdruck für »Gefangener« ähnlich wie im Thai oder Lao neak thos, was »schuldige Person« bedeutet.40 In größtenteils unter Folter erzwungenen Geständnissen bezichtigten sich Gefangene der Agententätigkeit für den amerikanischen CIA, den sowjetischen KGB oder den vietnamesischen Geheimdienst.41 Eine Umerziehung der »Feinde« oder »Verräter«, wie sie im benachbarten China und Vietnam durchaus üblich war, wurde offenbar zu keiner Zeit ernsthaft erwogen. In den Augen der Pol-Pot-Führung waren die Inhaftierten Teile feindlicher »geheimer Netzwerke« (khsae somngat), die es zu zerstören galt.
Als sich 1977 die Misserfolge der Agrarrevolution immer deutlicher abzeichneten und Sündenböcke gesucht wurden, behauptete Pol Pot in einer Rede vor Parteikadern, »Mikroben« (merok), gefährliche Krankheitskeime, drohten die Kommunistische Partei Kampucheas von innen zu zerfressen.42 In der Folge wandte sich die Todesmaschine S-21 (seit Mitte 1977) ausschließlich gegen den unsichtbaren, imaginären »Feind in den eigenen Reihen«. Verschärft wurde die Paranoia der Parteiführung durch den größtenteils selbst verschuldeten Grenzkrieg mit dem früheren Verbündeten Vietnam. Weit mehr als die Hälfte der Opfer von S-21 waren im Zeitraum zwischen Herbst 1977 und Frühjahr 1978 zu beklagen, als die Säuberungswelle ihren Zenit erreichte.43 Die Säuberungen folgten der Maxime »Dich zu halten ist kein Gewinn, dich zu verlieren ist kein Verlust.«44
Neben der systematischen Entmenschlichung der Opfer45 trägt noch ein weiterer Aspekt zur Erklärung der besonderen Grausamkeit der Roten Khmer bei: die Besessenheit vom Gedanken der Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung. Während andere kommunistische Parteien nach ihrer Machtergreifung das Prinzip der illegalen und geheimen Arbeit aufgaben und zu Massenparteien mutierten,46 behielten die Roten Khmer es auch nach ihrem Sieg bei. Erst im September 1977 wurde unter chinesischem Druck die Existenz der Kommunistischen Partei Kampucheas, die zuvor nebulös »Revolutionäre Organisation« (Angkar Padevoat) genannt worden war, zugegeben.47 Selbst die wahre Identität Pol Pots wurde erst jetzt offengelegt. Die Obsession, nach innen wie nach außen die Namen der Partei- und Staatsführer sowie die innerparteilichen Arbeitsweisen und Strukturen geheim zu halten, verrät nicht die Stärke, sondern die Schwäche der Roten Khmer; denn ihre Verankerung in den breiten Massen des kambodschanischen Volks war, sofern sie jemals existiert hatte, nach der Ausschaltung des 1976 unter Hausarrest gestellten Norodom
Sihanouk geschwunden.
Das Prinzip striktester Geheimhaltung machte es erforderlich, sicherzustellen, dass keinerlei Informationen über das grausame Vorgehen von S-21 oder auch nur über die bloße Existenz dieser Institution nach außen dringen konnten. Die Einlieferung nach Tuol Sleng bedeutete dieser perversen Logik zufolge das sichere Todesurteil. Ein Slogan der Roten Khmer lautete: »Es ist besser, zehn Personen fälschlich zu verhaften, als auch nur einen einzigen Schuldigen entkommen zu lassen.«48 Diese Denkweise brachte Nuon Chea, die für ideologische Fragen zuständige »Nummer zwei« der Partei, im August 1978 gegenüber dänischen Maoisten wie folgt zum Ausdruck: »Der Führungsapparat muss um jeden Preis verteidigt werden. Wenn wir Mitglieder verlieren, die Führung jedoch behalten, können wir fortfahren, Siege zu erringen. […] Es kann keinen Vergleich geben zwischen dem Verlust von zwei oder drei Führungskadern und 200–300 [Partei-]Mitgliedern. Lieber die Letzteren als die Ersteren. Denn sonst hat die Partei keinen Kopf und kann den Kampf nicht führen.«49 Diese Worte sprechen für sich.
Nicht nur in Deutschland wurden häufig Vergleiche zwischen dem Terrorregime der Roten Khmer und der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie gezogen. Diese Parallele erscheint auf den ersten Blick nicht völlig abwegig, führt aber aufgrund der sehr verschiedenen Sozialutopien analytisch in die Sackgasse. Auch die These des amerikanischen Historikers Michael Vickery, die Roten Khmer hätten den Marxismus-Leninismus gründlich missverstanden und eine stärkere Geistesverwandtschaft zu den russischen Anarchisten und Sozialrevolutionären (Narodniki) gezeigt,50 überzeugt angesichts der hierarchischen und zentralistischen Strukturen ihrer Organisation kaum.51
Der australische Historiker Ben Kiernan, Direktor des Genozidstudien-Programms der Yale University, vertritt hingegen die Ansicht, dass neben dem agrarrevolutionären Programm ein radikaler Nationalismus, ja ein ausgeprägter Khmer-Chauvinismus der Hauptantrieb der Rote-Khmer-Führung gewesen sei.52 Die besonders harte Unterdrückung der islamischen Minderheit der Cham, die während der Pol-Pot-Herrschaft ein Drittel ihrer 250 000 Angehörigen verlor,53 stützt Kiernans These. Doch die große Mehrheit der Opfer waren ethnische Khmer (daher der verbreitete Vorwurf des Autogenozids); und Angehörige ethnischer Minderheiten wie Chinesen oder Thai wurden nicht wegen ihrer »Rassenzugehörigkeit«, sondern ebenso wie die ethnischen Khmer aufgrund sozialer und politischer Kriterien verfolgt. Als konsequenten Kommunisten war den Roten Khmer der Klassenkampf wichtiger als Konflikte zwischen Rassen oder Völkern. Daher ist Kiernans These vom »rassistisch-nationalistischen« Charakter des Pol-Pot-Regimes zurückzuweisen.
Sowohl in Fragen der Parteiorganisation als auch der Agrarpolitik sind die Einflüsse des chinesischen und vietnamesischen Kommunismus auf seine kambodschanische Spielart evident. So war beispielsweise die Dreiteilung der Arbeitskräfte in den ländlichen Kooperativen in »Vollmitglieder« (ben siddhi), »Kandidaten« (triem) und »Nichtmitglieder« (pracheachon phnhaoe) nicht rassistischen, gegen ethnische Minderheiten gerichteten Motiven geschuldet, sondern ging direkt auf vietnamesische Vorbilder aus den Fünfzigerjahren zurück.54 Auch wenn angesichts des starken chinesischen Einflusses auf den vietnamesischen Kommunismus (bis weit in die Sechzigerjahre hinein) im Einzelfall schwer zu entscheiden ist, welche Einflüsse die Roten Khmer direkt aus Beijing und welche sie auf dem Umweg über Hanoi erreichten, erinnern einige weitere Besonderheiten stark an Praktiken des vietnamesischen Kommunismus. Hierzu zählen die obsessiv betriebene Geheimhaltung der innerparteilichen Strukturen und die Verschleierung der eigentlichen politischen Ziele. Am Maoismus faszinierten die Führung der kambodschanischen Kommunisten dagegen dessen voluntaristische Züge. Chinas desaströser »Großer Sprung nach vorn« (1958), weniger die von urbanen Schichten getragene »Große Proletarische Kulturrevolution« (1966) galt als Vorbild.55 Doch weder in Chinas noch in Vietnams Kommunistischer Partei gab es jemals ernsthafte Bestrebungen, die Städte zu evakuieren, die Bevölkerung ganzer Regionen umzusiedeln oder gar das Geld abzuschaffen, wie es tatsächlich in Kambodscha geschah.
An dieser Stelle sei nochmals auf die strukturelle Schwäche des kambodschanischen Kommunismus hingewiesen; anders als in China und Vietnam errangen die Kommunisten in Kambodscha die Staatsmacht in erster Linie mit militärischen Mitteln, eine starke politische und soziale Basis besaßen sie nicht. Die sich seit Anfang der Siebzigerjahre abzeichnende und ab 1977 eskalierende machtpolitische und ideologische Feindschaft zu Vietnam verschärfte den Terror der Roten Khmer. Ihr totalitärer Anspruch auf Unfehlbarkeit, wie er in der Metapher von den »Ananasaugen der Partei« zum Ausdruck gebracht wurde,56 bestärkte die Pol-Pot-Führung im Versuch der gewaltsamen Lösung der durch ihre selbstzerstörerische Innen- und Außenpolitik hervorgerufenen Krise des Landes.
5. Das Ausmaß der demografischen Katastrophe
Wie viele Menschen wurden Opfer des Terrorregimes der Roten Khmer? Verlässliche Schätzungen sind kaum möglich, zumal weder die Bevölkerungszahl Kambodschas bei deren Machtübernahme bekannt ist noch das genaue Ausmaß der Verluste durch Krieg, Hunger und Flucht in den ersten beiden Jahren nach dem vietnamesischen Einmarsch. Die erste moderne Volkszählung von 1962 (5,73 Millionen Einwohner) liegt weit zurück,57 und der nächste Zensus erfolgte erst 1998 (11,43 Millionen Einwohner),58 d. h. zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Pol-Pot-Regimes. Während der französische Demograf Jaques Migozzi die Bevölkerungszahl zu Beginn des Bürgerkriegs im März 1970 auf 7,36 Millionen Menschen schätzt,59 geht eine Projektion der Vereinten Nationen von lediglich 7,14 Millionen aus.60 Auch über die während des Kriegs 1970–1975 zu beklagenden Verluste an Menschenleben besteht in der Forschung kein Einvernehmen. Während die von Sihanouk und den Roten Khmer 1975 verbreitete Zahl von 600–800 000 Kriegsopfern61 weit übertrieben erscheint, ist die Angabe von nur 150 000 toten Zivilisten (Kiernan)62 sicherlich zu niedrig. Am realistischsten dürfte die gut begründete Schätzung des polnischen Demografen Marek Sliwinski sein, wonach die kriegsbedingte Sterblichkeit (verursacht durch Kampfhandlungen, Bombenopfer etc.) bei etwa 300 000 Menschen lag.63 Je nachdem, welche Projektionen und Grundannahmen für die Bevölkerungsentwicklung im Zeitraum 1962–1975 akzeptiert werden, lassen sich für April 1975 Bevölkerungszahlen zwischen 7,3 und 7,9 Millionen Einwohnern errechnen. Da zwischen März 1970 und April 1975 insgesamt 350 000 Bewohner Kambodschas, darunter zahlreiche ethnische Vietnamesen, außer Landes flüchteten,64 dürfte zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Roten Khmer die Gesamtbevölkerung maximal 7,6 Millionen Menschen betragen haben.
In der bislang sorgfältigsten und methodisch überzeugendsten Untersuchung zur Bevölkerungsentwicklung Kambodschas nach 1970 errechnen Judith Banister und Paige Johnson einen absoluten Rückgang der Bevölkerung während des Pol-Pot-Regimes von 7,3 Millionen auf 6,4 Millionen Einwohner.65 Unter Berücksichtigung der über 200 000 Flüchtlinge und eines Rückgangs der Geburtenrate aufgrund verschlechterter Lebensbedingungen beziffern die Autoren den über die »normale Sterblichkeit« hinausgehenden Bevölkerungsverlust (»excess deaths«) auf 1,05 Millionen Menschen. Andere seriöse Studien gehen von etwas niedrigeren oder auch weitaus höheren Opferzahlen aus, die insgesamt eine Bandbreite von 740 00066 bis 1,8 Millionen67 aufweisen. Einigkeit besteht unter den Forschern jedoch in der Einschätzung, dass die Mehrzahl – nämlich ungefähr die Hälfte bis zwei Drittel – der Opfer an Krankheiten, Hunger und Entkräftung verstarb. Doch Hunderttausende wurden auch von den Schergen des Pol-Pot-Regimes hingerichtet. Der Verlust von 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung innerhalb von weniger als vier Jahren bleibt jedenfalls ohne Beispiel in der Geschichte kommunistischer Revolutionen. Inwieweit die unter der Herrschaft Pol Pots begangenen Verbrechen auch den juristischen Tatbestand des Völkermords erfüllen, kann im Rahmen dieses Artikels nicht geklärt werden. Diese schwierige und juristisch komplexe Problematik wird von Experten sehr kontrovers erörtert und berührt im Falle Kambodschas die Frage, inwieweit der Begriff des Genozids auch die gezielte Vernichtung von Angehörigen bestimmter sozialer Schichten des eigenen Volks umfasst.
Zusammenfassend könnte man sagen: Der 17. April 1975 war kein Fanal zum Aufbruch, sondern der Abgesang auf eine bereits morsche kommunistische Utopie. Nur wenige Jahre nach dem Sieg der Roten Khmer nahm China – das ideologische Vorbild – Kurs auf eine kapitalistische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, und ein Jahrzehnt später brach das kommunistische System in Osteuropa und der Sowjetunion zusammen. So können wir die Machtübernahme der Roten Khmer als eine historische Ausnahme begreifen: Ihre Herrschaft verkörperte weniger eine Utopie als vielmehr einen Anachronismus. Sie war ein »Spätkommunismus«, die Schlussphase eines ausgehenden Zeitalters, das durch ein neues abgelöst wurde. Dieser Anachronismus wurde vom kambodschanischen Volk mit einem hohen, allzu hohen Blutzoll bezahlt.
1 »Khmer« ist die Bezeichnung für das Staatsvolk Kambodschas und seine Sprache. Neben den ethnischen Khmer, die 85 bis 90 Prozent der heute 14 Millionen Einwohner stellen, leben in Kambodscha (Landesbezeichnung auf Khmer: Kampuchea) auch nationale Minderheiten wie Chinesen, Vietnamesen, Lao und islamische Cham. Die international gängige Bezeichnung »Rote Khmer« (»Khmer Rouge«) für die kambodschanischen Kommunisten geht auf Sihanouk zurück, der seit Anfang der Sechzigerjahre die kambodschanische Linke pauschal mit diesem abwertenden Begriff titulierte, um sie von den »Blauen Khmer« (»Khmer Bleu«), seinen prowestlichen innenpolitischen Gegnern, abzugrenzen.
2 Die militärische Unterstützung der Roten Khmer durch Nordvietnam in den Jahren 1970 und 1971 war für den zügigen Aufbau einer kambodschanischen Rebellenarmee von unschätzbarer Bedeutung. Ende 1970 standen vier nordvietnamesische Kampfdivisionen mit mehreren Zehntausend Soldaten in Kambo-dscha, die nicht nur den Ho-Chi-Minh-Pfad schützten, sondern auch aktiv in Kämpfe gegen die Streitkräfte der Lon-Nol-Armee eingriffen. Siehe Stephen J. Morris: Why Vietnam Invaded Cambodia. Political Culture and the Causes of War, Stanford, Calif. 1999, S. 49 f.
3 Zur Entwicklung des Konflikts in und um Kambodscha aus politikwissenschaftlicher Sicht siehe Renate Strassner: Der Kambodscha-Konflikt unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Vietnams, Münster–Hamburg 1991. Eine gründliche zeithistorische Analyse liefert Nicolas Regaud: Le Cambodge dans la tourmente. Le troisième conflit indochinois 1978–1991, Paris 1992. Zur Chronologie siehe Patrick Raszelenberg / Peter Schier: The Cambodia Conflict. Search for a Settlement, 1979–1991. An Analytical Chronology, Hamburg 1995; siehe auch Raoul Jennar: Les clés du Cambodge, Paris 1995.
4 Norodom Sihanouk hatte 1941 im Alter von 18 Jahren den Thron bestiegen. Als junger König setzte er sich aktiv für die Unabhängigkeit seines Landes von Frankreich (1953) ein. Um im Rahmen einer kon-stitutionellen Monarchie fortan die kambodschanische Politik aktiv gestalten zu können, dankte Sihanouk 1955 zugunsten seines Vaters Suranarit ab, der zuvor bei der Thronfolge übergangen worden war. Nach dessen Tod 1960 blieb der kambodschanische Thron vakant, doch die Staatsform der Monarchie erhalten. Der nur noch »Prinz« genannte Exkönig Sihanouk schuf für sich nun eigens das neue Amt des »Staatsoberhaupts«. Der im März 1970 gegen Sihanouk putschende General Lon Nol schaffte schließlich die Monarchie ab und proklamierte die »Republik Khmer«. Erst nach dem Ende des Kambodscha-Konflikts 1993 wurde die Monarchie erneut eingeführt. Nun bestieg Sihanouk ein zweites Mal den Königsthron. Im Oktober 2004 dankte er aus Gesundheitsgründen endgültig zugunsten seines Sohnes Sihamoni ab.
5 Während die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit den meisten westlichen und blockfreien Staaten auf den jährlichen Vollversammlungen der UNO in den Jahren 1979–1982 – also auch schon vor Bildung der KRDK – die Regierung des Demokratischen Kampuchea (DK) als rechtmäßige Vertreterin des kambodschanischen Volks anerkannte, votierte die Regierung der DDR stets für die Aberkennung der Akkreditierung der DK-Vertreter. Zum Abstimmungsverhalten der einzelnen UN-Mitgliedsstaaten in der Kambodschafrage siehe Ministry of Foreign Affairs [Thailand]: Documents on the Kampuchean Problem 1979–1985, Bangkok 1985, S. 126–141.
6 Zu den Bestimmungen des Pariser Friedensabkommens vom 23. Oktober 1991 und seiner Umsetzung mithilfe der »UN Transitional Authority in Cambodia« (UNTAC) siehe u. a. Trevor Findlay: Cambodia. The Legacy and Lessons of UNTAC, Oxford 1995 (SIPRI Research Report No. 9).
7 Am 25. Juli 1997 wurde Pol Pot wegen der Ermordung seines einstigen Mitstreiters, des Verteidigungsministers Son Sen, dessen Frau Yun Yat und mehrerer Familienangehöriger vor ein sogenanntes ›Volksgericht‹ gestellt, das ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte. Der amerikanische Journalist Nate Thayer, der als einziger ausländischer Beobachter der von den Roten Khmer in ihrem Hauptquartier Anlong Veng inszenierten Farce beiwohnte, erhielt die Gelegenheit zu einem letzten ausführlichen Interview mit Pol Pot. Siehe Nate Thayer: Brother enemy No. 1, in: Phnom Penh Post, 15.–18. August 1997, S. 1 u. 8 f.
8 Im August 1979 hatte die provietnamesische Regierung in Phnom Penh einen Schauprozess gegen Pol Pot und Ieng Sary abgehalten, in dessen Verlauf zahlreiche Zeugen über Massaker und andere Grausamkeiten des gestürzten Regimes berichteten. Die beiden Hauptverantwortlichen der Terrorherrschaft wurden in absentia zum Tode verurteilt. Wegen der politischen Instrumentalisierung durch die vietnamesische Regierung und ihre sowjetischen Verbündeten wurde der Prozess von der internationalen Öffentlichkeit nicht als adäquate juristische Aufarbeitung der Jahre 1975–78 angesehen. Siehe Howard J. De Nike / John Quigley / Kenneth J. Robinson: Genocide in Cambodia. Documents from the Trial of Pol Pot and Ieng Sary, Philadelphia 2000. Die internationalen Reaktionen auf das Terrorregime der Roten Khmer und die Problematik einer juristischen Aufarbeitung der Verbrechen sind Gegenstand einer Monografie von Tom Fawthrop und Helen Jarvis: Getting Away With Genocide? Elusive Justice and the Khmer Rouge Tribunal, London–Ann Arbor 2004.
9 Bei den fünf Angeklagten handelt es sich um Nuon Chea, Ieng Sary, Khieu Samphan, Ieng Thirith (Ieng Sarys Ehefrau) und Kang Kek Ieu. Siehe: Kambodschas Massenmörder vor Gericht, in: Neue Zürcher Zeitung vom 23. 11. 2007. Die persönliche Verwicklung der drei erstgenannten Politiker in die Vernichtungsmaschinerie des von ihnen geführten Regimes wird detailliert belegt in Stephen Heder / Brian Tittemore: Seven Candidates for Prosecution. Accountability for the Crimes of the Khmer Rouge, Phnom Penh 2004, S. 59–100. Zielsetzungen, Aufgaben und Arbeitsweise des Tribunals werden umfassend dargestellt in John D. Ciorciari (Hg.): The Khmer Rouge Tribunal, Phnom Penh 2006.
10 Ungefähr 1000 kommunistische Khmer-Kader verließen mit ihrem Führer Son Ngoc Minh 1954 / 55 Kambodscha und zogen sich nach Nordvietnam zurück. Siehe Michael Vickery: Kampuchea. Politics, Economics and Society, London 1986, S. 13.
11 Für eine Analyse der Parlamentswahlen und ihrer Bedeutung für die kambodschanische Linke siehe Ben Kiernan: How Pol Pot Came to Power. A History of Communism in Kampuchea, 1930–1975, London 1985, S. 161 ff.; Michael Vickery: Looking Back at Cambodia, 1942–76, in: Ben Kiernan / Chanthou Boua: Peasants and Politics in Kampuchea 1942–1981, London–New York 1982, S. 89–113, bes. 96–99.
12 Siehe Philip Short: Pol Pot. The History of a Nightmare, London 2004, S. 120; David P. Chandler: Brother Number One. A Political Biography of Pol Pot, Boulder, Colo. 1992, S. 63 f.
13 Das erst einige Jahre nach Saloth Sars Geburt ins Melderegister eingetragene Geburtsdatum ist der 19. Mai 1928. Aus schulischen Gründen wurde – im ländlichen Kambodscha zu der Zeit keineswegs ungewöhnlich – das tatsächliche Geburtsdatum (März 1925) drei Jahre vorverlegt. Siehe Short: Pol Pot (Anm. 12), S. 15 f.
14 Siehe dazu Anm. 1.
15 Thomas Engelbert / Christopher Goscha: Falling Out of Touch. A Study on Vietnamese Communist Policy Towards an Emerging Cambodian Communist Movement, 1930–1975, Clayton, Australien 1995, S. 71–77.
16 Siehe Bernhard Dahm: Die kommunistischen Bewegungen in Vietnam, Laos und Kambodscha, in: Werner Draguhn / Peter Schier: Indochina. Der permanente Konflikt?, Hamburg 1981, S. 65–67.
17 Siehe William Shawcross: Schattenkrieg. Kissinger, Nixon und die Zerstörung Kambodschas, Berlin–Frankfurt a. M.–Wien 1980, S. 89–102.
18 Akronym für »Gouvernement Royal d’Union Nationale du Cambodge«.
19 Die bislang gründlichste Untersuchung der politischen und militärischen Entwicklungen in Kambodscha während des fünfjährigen Bürgerkriegs ist Justin Corfield: Khmers Stand Up! A History of the Cambodian Government 1970–1975, Clayton, Australien 1994. Eine Darstellung des Kriegs aus der Sicht des FUNK liefern Malcolm Caldwell und Lek Tan: Cambodia in the Southeast Asian War, New York–London 1973. Zu den militärischen Operationen während des Kriegs siehe Walter von Marschall: The War in Cambodia. Its Causes and Military Development and the Political History of the Khmer Republic 1970–1975, Royal College of Defence Studies 1975 Course.
20 Zum Ausmaß der Bombardements siehe Shawcross: Schattenkrieg (Anm. 17), S. 304–326.
21 Zur Errichtung von Kooperativen in den »befreiten Zonen« – offiziell am 20. Mai 1973 proklamiert – siehe Laura Summers: Cooperatives in Democratic Kampuchea, paper presented at the SSRC [Scientific Studies and Research Center; USA] Conference on Kampuchea in Chiang Mai, 11.–13. August 1981.
22 Der Bauernaufstand im Neusiedlungsgebiet von Samlaut im Westen der Provinz Battambang richtete sich gegen die katastermäßige Erfassung des zumeist »illegal« in Besitz genommenen Landes durch die Regierung in Phnom Penh. Obwohl die kambodschanischen Kommunisten vom Ausbruch der Rebellion überrascht gewesen sein sollen, trieb das harte Vorgehen des Militärs den Roten Khmer mehrere Tausend bäuerliche Aktivisten in die Arme. Siehe Ben Kiernan: The Samlaut Rebellion, in: Kiernan / Boua: Peasants and Politics (Anm. 11), S. 166–205.
23 Short: Pol Pot (Anm. 12), S. 10; Ben Kiernan: The Pol Pot Regime. Race, Power, and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge, 1975–79, New Haven–London 1996, S. 33.
24 Die Evakuierung der Stadtbevölkerung und ihre Umsiedlung aufs Land wird erörtert in Kiernan: The Pol Pot Regime (Anm. 23), S. 31–64; Michael Vickery: Cambodia 1975–1982, Boston 1984, S. 72–82.
25 Zum Phänomen erzwungener Bevölkerungsumsiedlungen im chronisch unterbevölkerten vormodernen Südostasien siehe Volker Grabowsky: Bevölkerung und Staat in Lan Na. Ein Beitrag zur Bevölkerungsgeschichte Südostasiens, Wiesbaden 2004, insbes. S. 1–38.
26 Sihanouk kehrte Mitte 1975 aus dem chinesischen Exil nach Phnom Penh zurück, wo er im Königspalast residierte. Faktisch ohne bestimmenden politischen Einfluss, blieb er bis zu seinem Rücktritt am 2. April 1976 formal Staatschef Kambodschas, dem im Januar 1976 die Staatsform einer Volksrepublik gegeben worden war.
27 Botschaft des Demokratischen Kampuchea (DDR): Khèm, die junge Kämpferin und andere Erzählungen des kambodschanischen Widerstands, Berlin 1976, S. 69 (oben der Text der ersten beiden Strophen).
28 Der agrarkommunistische Egalitarismus der kambodschanischen Revolutionäre wird am deutlichsten veranschaulicht in einer Schrift des britischen Südostasienwissenschaftlers Malcolm Caldwell, eines der wenigen prominenten Sympathisanten, die die Roten Khmer in der westlichen Welt besaßen. Unmittelbar vor Beginn der vietnamesischen Invasion Ende Dezember 1978 bereiste Caldwell auf Einladung der Pol-Pot-Regierung zwei Wochen lang Kambodscha und fiel am Tag seines Rückflugs einem Attentat zum Opfer, dessen Hintergründe ungeklärt blieben. Malcolm Caldwell: Kampuchea. Rationale for a Rural Policy, Hyderabad 1979.
29 Siehe die Erläuterung in Artikel 17 der Verfassung des Demokratischen Kampuchea, zu finden in: Botschaft des Demokratischen Kampuchea (DDR): Ein Jahr Demokratisches Kampuchea. Text der Verfassung des Demokratischen Kampuchea. Dokumente und Bilder, Berlin 1976, S. 18.
30 Zit. nach François Ponchaud: Kampuchea. Une économie révolutionnaire, in: Mondes en développement 28 (1979), S. 716 f.
31 Siehe Far Eastern Economic Review Year Book, Hongkong 1979.
32 Siehe Timothy Carney: The Organization of Power, in: Karl D. Jackson (Hg.): Cambodia 1975–1978. Rendezvous with Death, Princeton, NJ 1989, S. 99 f.
33 Siehe Marek Sliwinski: Le génocide Khmer Rouge. Une analyse démographique, Paris 1995, S. 49–67; Vickery: Cambodia 1975–1982 (Anm. 24), S. 139 ff.
34 Short: Pol Pot (Anm. 12), S. 392. Zu den Begleitumständen der Verhaftung Vorn Vets siehe auch die Erinnerungen einer französischen Kommunistin, die mit einem hohen Funktionär der Roten Khmer verheiratet war und 1975–78 als Übersetzerin im kambodschanischen Außenministerium arbeitete: Laurence Picq: Au delà du ciel. Cinq ans chez les Khmers Rouges, Paris 1984, S. 140. Wenige Monate vor Vorn Vet war Kang Chap, der Parteisekretär der Nordregion um Siem Reap, seiner Ämter enthoben und in Tuol Sleng eingeliefert worden. Kang Chap hatte noch Ende Mai 1978 während des Staatsbesuchs von Nicolae Ceauşescu und seiner Frau Elena in Kambodscha eine hervorgehobene Rolle gespielt. Siehe Comité des Patriotes du Kampuchea Démocratique en France: Visite officielle d’amitié du camarade Nicolae Ceauşescu (28–30 mai 1978), Paris 1978.
35 Der im November 1932 in der südöstlichen Provinz Svay Rieng (»Papageienschnabel«) geborene Chea Sim stieg während der Pol-Pot-Herrschaft zum Sekretär der KPK in der an Vietnam grenzenden Zone 20 (Provinz Prey Veng) auf. Nach der vietnamesischen Invasion kehrte er nach Phnom Penh zurück und ist seitdem eine der wichtigsten Führungspersönlichkeiten Kambodschas: als Generalsekretär der Kambo-dschanischen Volkspartei (bis 1991), Parlamentspräsident (seit 1993) und Vorsitzender des Kronrats. Siehe Jennar: Les clés du Cambodge (Anm. 3), S. 191.
36 Siehe Chanda, Nayan: Brother Enemy. The War after the War, San Diego–New York–London 1986, S. 344.
37 Siehe ebd., S. 345.
38 Die umfassendste Darstellung der Terrormaschinerie des Pol-Pot-Regimes ist David Chandler: Voices from S-21. Terror and History in Pol Pot’s Secret Prison, Chiang Mai 2000. Die Studie basiert vor allem auf der Auswertung von mehreren Hundert Geständnisprotokollen vornehmlich prominenter Häftlinge. Das vom US-Kongress seit 1994 finanziell unterstützte Documentation Center of Cambodia hat bis 2005 mehr als eine Million Seiten Primärquellen aus der Zeit des Pol-Pot-Regimes sowie 25 000 Fotografien archiviert. Dieses Beweismaterial dürfte für die Vorbereitung der Anklageschriften gegen die überlebenden Führungskader der Roten Khmer von größter Bedeutung sein. Zum Quellenbestand des Dokumentationszentrums siehe Craig Etcheson: After the Killing Fields: Lessons from the Cambodian Genocide, Lubbock, Tex. 2005, S. 53–66.
39 Chandler: Voices from S-21 (Anm. 38), S. 3.
40 Ebd., S. 6. Die analoge Bezeichnung im Thai und Lao ist »nak thot« (Sanskrit: dos.a = Fehler, Schuld).
41 Es drängen sich Parallelen zur Wagenburgmentalität des stalinistischen Regimes von Enver Hodscha in Albanien auf. Innerparteilicher Dissens wurde vom albanischen Sicherheitsapparat stets mit Sabotagetätigkeit des »US-Imperialismus«, des »sowjetischen Sozialimperialismus« und der jugoslawischen »Tito-Clique« erklärt. Aus internen Papieren geht hervor, dass die Roten Khmer mindestens bis Mitte 1977 die USA als ihren Hauptfeind betrachteten. Ab Herbst 1977 wird auch Vietnam als »tödliche Gefahr« für die kambodschanische Revolution bestimmt. Zeitweilig ging die Pol-Pot-Führung sogar von einem amerikanisch-vietnamesischen Komplott zum Sturz ihres Regimes aus. Erst relativ spät – in der zweiten Hälfte des Jahres 1978 – machte ihre Propaganda auch die Sowjetunion und den Warschauer Pakt als Feinde aus.
42 Siehe Chandler: Voices from S-21 (Anm. 38), S. 44.
43 Der »Buchhaltung des Todes« von S-21 zufolge erreichte die Terrorwelle im Mai 1978 ihren Höhepunkt. Allein am 27. Mai 1978, unmittelbar nach der »Säuberung« der Ostregion, wurden 582 Exekutionen vermeldet. Siehe David Hawk: Tuol Sleng extermination centre, in: Index of Censorship, Nr. 1, 1986, S. 28.
44 Khmer Institute: Judgment of the Reviled, in: www.khmerinstitute.org / krtrial / judgment.html (ges. am 23. 6. 2008).
45 In einem stimulierenden Essay mit dem Titel »Why Did You Kill?: The Cambodian Genocide and the Dark Side of the Face and Honour« (in: Journal of Asian Studies [1998], H. 1, S. 93–122) weist der amerikanische Anthropologe Alexander Hinton, der während seiner Feldforschung auch ehemalige Angehörige des Wachpersonals von S-21 befragen konnte, auf die Manipulation oder besser Pervertierung traditioneller kambodschanischer Tugenden wie des Gehorsams gegenüber Älteren und Vorgesetzten oder der Wahrung der Ehre (ketteyos) gegenüber Angehörigen der eigenen peer group durch die Roten Khmer hin. Durch die systematische Entmenschlichung des politischen Gegners und die Sanktionierung »revolutionärer Gewalt« durch den Staatsapparat wurde für zahlreiche jugendliche Kader die Hemmschwelle für die Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit drastisch gesenkt.
46 Auch die Laotische Revolutionäre Volkspartei verbarg ihre Existenz während des Kriegs gegen die Königlich-Laotische Regierung hinter der Fassade einer »Laotischen Patriotischen Front« (Naeo Lao Hak Sat), doch unmittelbar nach Gründung der Volksrepublik am 2. Dezember 1975 trat sie selbstbewusst an die Öffentlichkeit. Siehe Volker Grabowsky: Kommunismus und Opposition in Laos, in: Hermann Weber et al. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007, Berlin 2007, S. 58–79, hier S. 65.
47 Anlässlich des 17. Jahrestags der Parteigründung enthüllte Pol Pot die Existenz der Kommunistischen Partei Kampucheas in einer mehrstündigen, vom kambodschanischen Rundfunk übertragenen Rede vor ausgesuchten Kadern in Phnom Penh. Dies geschah wenige Tage vor Antritt seines Staatsbesuchs in China und Nordkorea. Siehe Pol Pot: Die großartigen Siege der kampucheanischen Revolution unter der richtigen und klaren Führung der Kommunistischen Partei Kampucheas, in: Kommunistische Volkszeitung, Dokumentation vom 22. Januar 1979, S. 1–15.
48 Henri Locard: Le »petit livre rouge« de Pol Pot ou les paroles de l’Angkar, Paris 1996, S. 175.
49 Nuon Chea: Statement of the Communist Party of Kampuchea to the Communist Workers Party of Denmark, July 30–31, 1978, in: Journal of Communist Studies 3 (1987), H. 1. Dem Verfasser liegt das dänische Original des Interviews mit Nuon Chea vor.
50 Siehe Vickery: Cambodia 1975–1982 (Anm. 24), S. 283 f.
51 Die zentrale Steuerung der Säuberungen wird zum Beispiel von Craig Etcheson hervorgehoben; siehe After the Killing Fields (Anm. 38), S. 85.
52 Siehe Kiernan: The Pol Pot Regime (Anm. 23).
53 Siehe ebd., S. 458 u. 252–288 (detaillierte Erörterung des Schicksals der Cham unter dem Pol-Pot-Regime).
54 Siehe Steve Heder: Racism, Marxism, Labelling, and Genocide in Ben Kiernan’s The Pol Pot Regime, in: South East Asia Research 5 (1997), H. 2, S. 101–153.
55 Siehe Karl D. Jackson: The Ideology of Total Revolution, in: ders.: Cambodia 1975–1978 (Anm. 32), S. 59 ff.; siehe auch Patrick Raszelenberg: Die Roten Khmer und der Dritte Indochina-Krieg, Hamburg 1995, S. 101 ff.
56 Mit dem Allmacht suggerierenden Slogan »Angka: phnè:k monoah« (Die Organisation hat die Augen einer Ananas) schüchterten die Roten Khmer die Bevölkerung ein. Siehe Locard: Le »petit livre rouge« (Anm. 48), S. 88. Siehe auch Roel A. Burgler: The Eyes of the Pineapple. Revolutionary Intellectuals and Terror in Democratic Kampuchea, Saarbrücken–Fort Lauderdale 1990.
57 Der Zensus von 1962 wird systematisch ausgewertet und analysiert in der Monografie von Jacques Migozzi: Cambodge. Faits et problèmes de population, Paris 1973.
58 National Institute of Statistics, Ministry of Planning: General Population Census of Cambodia 1998. Final Census Results, Phnom Penh 1999.
59 Migozzi: Cambodge (Anm. 57), S. 212 u. 226.
60 George S. Siampos: The Population of Cambodia 1945–1980, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, July 1970, S. 81 f. Die niedrigere Schätzung von Siampos beruht auf der durchaus begründeten Annahme eines leichten Rückgangs der Geburtenrate um ca. 5 % im Zeitraum 1965–1970.
61 Botschaft des Demokratischen Kampuchea (DDR): Ein Jahr Demokratisches Kampuchea (Anm. 29), S. 61.
62 Kiernan: The Pol Pot Regime (Anm. 23), S. 24.
63 Sliwinski: Le génocide Khmer Rouge (Anm. 33), S. 48.
64 Judith Banister / Paige Johnson: After the Nightmare. The Population of Cambodia, in: Ben Kiernan: Genocide and Democracy in Cambodia. The Khmer Rouge, the United Nations and the International Community, New Haven, Conn. 1993, S. 87.
65 Ebd., S. 90.
66 Vickery: Cambodia 1975–1982 (Anm. 24), S. 187.
67 Kiernan: The Pol Pot Regime (Anm. 23), S. 458 (1,67 Mio.); Sliwinski: Le génocide Khmer Rouge (Anm. 33), S. 57 (1,84–1,87 Mio.).