Die überraschend schnelle, fast widerstandslose Kapitulation des SED-Regimes, das sich zuvor so massiv zu schützen gesucht hatte, lässt sich nur erklären, wenn man den Blick auf Veränderungen richtet, die dessen Herrschaft bereits seit den frühen Siebzigerjahren untergraben hatten. Als sie im Herbst 1989 zu voller Wirkung kamen, waren Führung und Sicherheitskräfte mit einer neuartigen Lage konfrontiert, die sich mit den bis dahin üblichen Mitteln nicht bewältigen ließ. Dies stiftete Verwirrung und verhinderte eine kohärente Verteidigung von Regime und System.
Die DDR im Zwiespalt
Das Schicksal der DDR wurde von gegensätzlichen politischen Zentren bestimmt: der Sowjetunion und der Bundesrepublik. Mit der UdSSR teilte sie das sozialistische System, das diese der Bevölkerung mitsamt dem SED-Regime aufgezwungen hatte. Damit war und blieb die DDR das künstliche Geschöpf der UdSSR, das bis zum Ende nicht aus eigener Kraft existierte, sondern abhängig blieb. Mit bemerkenswerter Klarheit brachte das Brežnev zum Ausdruck, als er Honecker nach dessen Amtsantritt erklärte: »Erich, ich sage dir offen, vergiss das nie: Die DDR kann ohne uns, ohne die Sowjetunion, ihre Macht und Stärke nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR.«1
Mit der Bundesrepublik war die DDR durch geschichtliche und nationale Gemeinsamkeiten verbunden. Nach dem Scheitern von Stalins Versuch, das Streben der Deutschen nach staatlicher Einheit für seine Pläne zu instrumentalisieren, erschien die Anziehungskraft Westdeutschlands als Herausforderung, der man durch »Abgrenzung«, vor allem durch physische Abschottung, zu begegnen suchte. Diese Politik kulminierte im Bau der Berliner Mauer, welche die Verbindungen über die Systemgrenze hinweg auf ein Minimum reduzierte. Das beseitigte jedoch weder das Bewusstsein der nationalen und menschlichen Zusammengehörigkeit noch den Wunsch der Ostdeutschen nach Verhältnissen wie im Westen. Im Grundlagenvertrag, der 1972 das Ende der internationalen Anerkennungsblockade einleitete, kam die SED-Führung dem Verlangen der Bundesregierung nach »Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland« entgegen. Zwar setzte ihr Bestreben, den Exodus arbeitsfähiger Bürger zu verhindern und die Begegnungen zu kontrollieren, enge Grenzen, doch waren fortan wieder mehr Kontakt und Kommunikation möglich.
Mit der Politik beschränkter Öffnung erfüllte das SED-Regime nicht nur Wünsche der Bevölkerung, sondern befriedigte auch sein eigenes Bedürfnis nach Stärkung der Wirtschaft. Chruščëv war mit dem Versuch gescheitert, die überlegene Leistungsfähigkeit des Sozialismus am Beispiel der beiden deutschen Staaten zu beweisen. Die DDR blieb immer weiter zurück, statt erwartungsgemäß auf die Überholspur zu wechseln und die Bundesrepublik hinter sich zu lassen. Als Honecker 1971 die Führung übernahm, suchte er sich mit Wohlfahrtspolitik Zustimmung zu verschaffen. Wenn man die Menschen besser versorge, so seine Annahme, werde die Produktivität zunehmen und die höheren Kosten wieder hereinbringen. Das war ein Irrtum. Zur Deckung des Defizits wurden vereinbarte Zahlungen aus Bonn unverzichtbar. Aber diese reichten nicht aus. Ost-Berlin bemühte sich um weitere Devisenquellen. Der für Besucher aus dem Westen eingeführte Zwangsumtausch ließ ein finanzielles Interesse an deren Kommen entstehen, und die Möglichkeit, von der Bundesregierung Geld für den Ausbau innerdeutscher Verkehrsanlagen zu erhalten, wurde zum Motor entsprechender Kooperationsprojekte.
Die Auswirkungen der Öffnung suchte das SED-Regime so weit wie möglich durch Gegenmaßnahmen auszugleichen. Es baute die Sicherheitsorgane in beispiellosem Umfang aus, um die – weitgehend auf das Gebiet der DDR beschränkten – Begegnungen sowie den Telefon- und Postverkehr zu überwachen. Durch ein Verbot für alle »Geheimnisträger« begrenzte das Regime den Personenkreis, der mit Westdeutschen verkehren durfte. So wollte man die Bediensteten von Partei und Staat, oft hinunter bis zu den untersten Chargen, vom »Klassenfeind« fernhalten. Das hatte jedoch die bedenkliche Konsequenz, dass sich gerade diejenigen, auf die das Regime primär angewiesen war, unterprivilegiert fühlten. Sie sahen sich nicht nur von der Verbindung zum Westen als der großen, weiten und begehrenswerten Welt ausgeschlossen, sondern mussten auch auf die Sach- und Devisengeschenke verzichten, die Besuche und Sendungen von dort einbrachten. Damit zerfiel die ostdeutsche Gesellschaft in zwei Teile: Wer nicht direkt mit dem Regime verbunden war oder gar zu den Rentnern gehörte, die als für die Produktion unwichtig in den Westen reisen durften, war im Vorteil, während die Kräfte, die das Herrschaftssystem trugen, das Nachsehen hatten. Die staatlichen Läden, in denen sonst nicht erhältliche Vorzugswaren für Westmark zu kaufen waren, machten augenfällig, dass es materiell Bevorzugte und Diskriminierte gab.
Die Unzufriedenheit der Benachteiligten war groß. Sie erhielt öffentliche Resonanz durch die elektronischen Medien des Westens. Nach zahlreichen vergeblichen Bemühungen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, den Empfang von Westsendungen zu verhindern, hatte sich Honecker 1973 zur Freigabe veranlasst gesehen. Seitdem kam, wie es in amtlichen Kreisen hieß, allabendlich ungehindert »der Klassenfeind ins Wohnzimmer« der Ostdeutschen. Die auf der Basis des Grundlagenvertrags in Ost-Berlin akkreditierten Journalisten aus der Bundesrepublik griffen das Problem der gesellschaftlichen Zweiteilung auf und interviewten betroffene Personen – mit dem Ergebnis, dass das Westfernsehen in der DDR eine Diskussion über das tabuisierte Thema in Gang brachte. Die SED-Führung sah sich dadurch bedroht. Mithilfe von Ausweisungen, des Widerrufs vereinbarter Tätigkeitsrechte und des Verbots, »ausländischen« Korrespondenten Auskunft zu geben, gelang es ihr bis zum Ende des Jahrzehnts, die Information über politisch relevante Vorgänge im eigenen Land vollkommen unter Kontrolle zu bekommen.2
Mit repressiven Maßnahmen ließ sich jedoch nicht verhindern, dass die Ostdeutschen durch die Westmedien einen Eindruck vom Wohlstand in der Bundesrepublik bekamen. Die Rentner, die dort gewesen waren, verbreiteten ebenfalls die Botschaft, die Verhältnisse »drüben« seien viel besser als im eigenen Land. Steigende materielle Ansprüche in der DDR waren die Folge. Die staatlichen Leistungen wurden daraufhin ausgeweitet. Das dadurch vergrößerte ökonomische Defizit und der steigende Bedarf an Qualitätsgütern, die die östlichen »Bruderstaaten« nicht liefern konnten, bewogen das SED-Regime, sich um höhere Devisenzuflüsse aus Bonn zu bemühen, für die dann Zahlungen in der Währung »menschliche Erleichterungen« fällig wurden, und weitere Projekte mit der Bundesregierung zu beginnen, die das Kooperationsverhältnis intensivierten. Die erlösten Mittel wurden primär zur Stabilisierung im Innern eingesetzt. Die Annahme, die Existenzgarantie der UdSSR verbiete der westdeutschen Seite jede politische Instrumentalisierung ihrer Hilfe, ließ das Risiko der Abhängigkeit vernachlässigbar erscheinen. In Wirklichkeit war die sowjetische Interventionsbereitschaft schon Anfang der Achtzigerjahre nicht mehr sicher gewährleistet.3
Wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen war freilich nichts Neues. Als UdSSR und DDR 1960 / 61 vor der Frage gestanden hatten, ob Letztere die ökonomische Standfestigkeit besitze, um bei einer Konfrontation wegen West-Berlin ein Totalembargo aushalten zu können, mussten sie erkennen, dass dies nicht der Fall war.4 Vor allem auf den innerdeutschen Handel konnte man nicht verzichten. Über ihn bezog das SED-Regime ohne Valuta und durch Inanspruchnahme zinsloser Überziehungskredite hochwertige Industrieprodukte, die es im Osten nirgends gab. Da die DDR jedoch nur über ein begrenztes Angebot an Waren verfügte, die außerhalb der Staaten des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) konkurrenzfähig waren, musste sie für knappe Devisen zusätzliche Einkäufe im Westen vornehmen. Da die Mittel hierfür nie ausreichten, wurden zunehmend Schulden bei westlichen Banken gemacht. Für den Fall, dass diese eines Tages keine Kredite mehr gewähren würden, drohten politisch fatale Einschränkungen des Konsums und wirtschaftlich fatale Einschränkungen der Industrieproduktion.
Differenzen mit der UdSSR
Der Kurswechsel, den die DDR mit dem Abschluss des Grundlagenvertrags vollzogen hatte, ging nicht zuletzt auf das Drängen der Kremlführung zurück, die ihren Machtbereich durch Verträge mit dem Westen, namentlich der Bundesrepublik, abzusichern suchte. Dennoch wurden die innerdeutschen Beziehungen, die damit zustande kamen, bald zum Gegenstand heftigen Streits. Die sowjetische Seite fürchtete, die materielle Abhängigkeit der DDR von Westdeutschland untergrabe die Zugehörigkeit zum sozialistischen Lager. Der – stetig wachsende – Argwohn wurde auch dadurch genährt, dass Moskau keinen Einblick in die Geschäfte mit Bonn erhielt. Im Unterschied zur sonstigen Offenheit in Fragen der Außenpolitik ließ sich Ost-Berlin hier nicht in die Karten blicken und gab erst im Nachhinein die nötigsten Informationen über erzielte Vereinbarungen.5 Die DDR wurde fortwährend ermahnt, sie dürfe sich nicht um finanzieller Vorteile willen wirtschaftlich vom Gegner abhängig machen. Sie habe die politischen Folgen der Hilfe aus Bonn zu bedenken und die Abschottung gegen den Westen aufrechtzuerhalten.6 Im Dezember 1979 forderte Gromyko mit großer Schärfe eine drastische Einschränkung der Verbindungen zur Bundesrepublik.7
All diese Aufforderungen blieben ohne nachhaltige Wirkung. Honecker ließ sich nicht von seinem Kurs abbringen. Aus seiner Sicht war das enge ökonomische Verhältnis zu Bonn sowohl generell zur Stützung der Wirtschaft als auch speziell zum Erhalt der staatlichen Leistungen notwendig, mit denen er sich die Zustimmung im Lande zu sichern hoffte. Da die DDR weder Erdöl oder Erdgas noch sonstige wichtige Rohstoffe besaß, war sie freilich ebenfalls auf Lieferungen aus der UdSSR angewiesen. Der SED-Chef suchte erfolglos deren Ausweitung zu erreichen. Das bestärkte ihn in der Auffassung, auf die Hilfe aus Bonn unter keinen Umständen verzichten zu können. Dem Kreml versicherte er, die Zugeständnisse an die Wünsche der westdeutschen Seite hielten sich in vertretbaren Grenzen, sodass kein Anlass zur Sorge bestehe. Demgegenüber hatten nach seiner Meinung, die er durch das Urteil sowjetischer Geheimdienstkreise bestätigt sah, Brežnevs Konzessionen auf dem KSZE-Gipfel in Helsinki im gesamten Lager der sozialistischen Staaten, vor allem aber in der DDR, fatale Folgen gezeitigt.8
Vor diesem Hintergrund kam es zum akuten Konflikt mit dem Kreml, als dieser im Dezember 1979 zunächst Honeckers Versuch verhinderte, zusammen mit Bundeskanzler Schmidt einen Kompromiss in der Euroraketenfrage zu formulieren, und dann nach dem daraufhin unvermeidlich gewordenen Beschluss der NATO, die SS-20 notfalls durch eine Gegenstationierung zu kontern, auf Konfrontation zum Westen ging. Wie Brežnev wandte sich zwar auch Honecker gegen den Plan des atlantischen Bündnisses und unterstützte die protestierenden westdeutschen »Friedenskämpfer«, hielt aber weiter an der Zusammenarbeit mit der Bundesregierung fest.9 Als der Westen trotz allen Gegenaktionen vier Jahre später mit der Stationierung begann und die UdSSR danach die Kontakte zur Bundesregierung auf ein Minimum reduzierte, scherte Honecker aus der Ablehnungsfront aus und sprach von einer »Koalition der Vernunft« zwischen den deutschen Staaten, die in einer »Verantwortungsgemeinschaft« für den Frieden zum Ausdruck komme. Auch bereitete er wenig später eine Reise nach Bonn vor, die den Dissens mit der sowjetischen Führungsmacht in noch helleres Licht zu rücken geeignet war. Das bewog die Kremlführung dazu, Honeckers Politik erstmals öffentlich zu kritisieren, intern heftige Vorwürfe zu erheben und, als das keinen Sinneswandel herbeiführte, ihn zur Aufgabe des Vorhabens zu zwingen.10
Ärger rief in Moskau auch die Tatsache hervor, dass die DDR das aus der UdSSR zu günstigen Konditionen gelieferte Öl weitgehend nicht selbst verwendete. Um sich Devisen für Importe aus dem Westen zu beschaffen, deckte das SED-Regime seinen Energiebedarf zu hohen finanziellen und ökologischen Kosten mit heimischer Braunkohle und verarbeitete die so gesparten Erdölmengen weiter, um Endprodukte wie Benzin und Plastikwaren mit hohem Gewinn an Abnehmer im Westen zu verkaufen. Aufgrund der erheblichen Differenz zwischen den Erlösen im RGW-Handel und den Preisen auf dem Weltmarkt musste die sowjetische Seite große Einkommenseinbußen hinnehmen, damit sich der ostdeutsche Verbündete bereichern konnte.11
Schon deswegen konnte das SED-Regime kein Entgegenkommen erwarten, als es sich 1976 um eine Erhöhung der Lieferungen aus der UdSSR bemühte, um seine Bilanz auf deren Kosten in Ordnung zu bringen. Anfang der Achtzigerjahre reduzierte der Kreml seine Kontingente an die RGW-Staaten sogar und verschlechterte die terms of trade, weil sowohl das Förderaufkommen als auch die Ölpreise im Westen sanken.12 Honeckers Einwand, das gefährde die Stabilität seines Landes, fand kein Gehör. Eines der Motive für sein Ersuchen war, dass der Preisverfall auch die von der DDR in den Westen verkauften Raffinerieprodukte betraf, was die Verschuldung bei den internationalen Banken enorm ansteigen ließ. 1981 konnte die Zahlungsunfähigkeit, die den Stopp aller Lieferungen aus den westlichen Ländern nach sich gezogen hätte, nur noch kurzfristig mit Tricks und Manipulationen abgewendet werden. Das Vertrauen der Banken konnten schließlich zwei Milliardenkredite retten, die die Bundesregierung gegen Entgegenkommen in humanitären Fragen vermittelte und für die sie gegen Verpfändung vereinbarter Pauschalzahlungen bürgte. In Moskau war man entsetzt und bestellte Vertreter der SED zum Rapport, ohne an der Sache etwas ändern zu können. 13
Zwist zwischen Gorbačëv und Honecker
Die UdSSR war durch übermäßige Rüstungsausgaben erschöpft.14 Wirtschaftliches Leistungsdefizit und technische Rückständigkeit drohten sie in ein unterentwickeltes, verarmtes Land zu verwandeln; trotz Nuklearraketen war ihre Weltmachtstellung gefährdet. Anders als seine Vorgänger war Gorbačëv zum Verzicht auf das Streben nach militärischer Überlegenheit bereit, um sich durch Abrüstungsvereinbarungen mit den USA materiellen Spielraum zu verschaffen. Anfang 1986 verschärfte sich die ökonomische Lage durch die auf dem Weltmarkt weiterhin fallenden Ölpreise, während zugleich die Förderung im eigenen Land abnahm. Die Exporterlöse, mit denen man die großen Getreide- und Technologieimporte aus dem Westen finanzierte, gingen drastisch zurück; Devisendefizit und Auslandsverschuldung wurden zu drängenden Problemen. Zugleich verschlechterte sich die Leistungsbilanz der UdSSR im RGW-Handel.
Die sowjetische Außenpolitik orientierte sich auf ökonomische Kriterien um. In wachsendem Maße bestimmten Überlegungen der Profitabilität die Beziehungen zu anderen Staaten. Ein gutes Verhältnis zu westlichen und neutralen Ländern, die bis dahin aus politischen Gründen wenig geschätzt worden waren, erschien nun vorteilhaft, während man die sozialistischen Regime in Mittel- und Osteuropa als verlustbringende Last betrachtete. Zudem galten sie als sicherheitspolitisch entbehrlich, denn die UdSSR sah sich aufgrund ihres gewaltigen nuklearen Arsenals in der Lage, auch ohne geografischen Schutzschild mögliche Feinde abzuschrecken. In dieser neuen Betrachtungsweise war etwa Finnland trotz seines westlichen Systems ein idealer Partner, der die »Bruderländer« in den Schatten stellte: Der Warenverkehr brachte Gewinn, die Beziehungen zur Sowjetunion waren eng, und das Land stand außerhalb der NATO. Wenn sich auch im sozialistischen Lager Entwicklungen in diese Richtung anbahnten, war dies aus Gorbačëvs Sicht zu begrüßen. Der sowjetische Parteichef hegte daher deutliche Sympathie für die reformistischen Tendenzen in der ungarischen Führung und drängte Ende der Achtzigerjahre die polnischen Genossen zu einer Verständigung mit der 1981 / 82 unterdrückten, aber nach wie vor kraftvollen Opposition.
Die hohen Kosten, die dem Kreml durch die anderen Warschauer-Pakt-Staaten entstanden, waren durch den asymmetrischen Charakter der Beziehungen bedingt. Gorbačëv suchte daher die UdSSR durch ein neues, auf Gleichberechtigung und Nichteinmischung gegründetes Verhältnis von der belastenden Verantwortung zu befreien. Im Oktober 1986 erklärte er eine »Umgestaltung des Mechanismus der Zusammenarbeit« für notwendig. Unter anderem wollte er die dem Warenverkehr im RGW anhaftenden Effizienzmängel durch neue Strukturen des Güteraustauschs und die Herstellung von Währungskonvertibilität beheben. Das setzte eine sukzessive Angleichung der Preise an das Weltmarktniveau – und damit das Ende der indirekten Subventionen durch die UdSSR – voraus.15 Auf dem Treffen des RGW am 10. / 11. November übertrug Gorbačëv den Partnern die souveräne Entscheidungskompetenz in allen wirtschaftlichen Angelegenheiten und erklärte, niemand habe Anspruch auf eine Sonderrolle.16 Damit verzichtete er ausdrücklich auf die sowjetische Führungsposition und die damit verbundene Verantwortung. Er billigte den Verbündeten zudem »Wahlfreiheit« bei der Formulierung ihrer Politik zu.17 In Moskau erläuterte er intern, man werde nicht mehr dem »sozialistischen Internationalismus« – also der »Brežnev-Doktrin« – folgen und wolle künftig auf jede Intervention verzichten.18 Bei alldem ging er allerdings davon aus, dass die anstehenden wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in den Bruderstaaten das Bekenntnis zum Sozialismus und die Bindung an die UdSSR nicht infrage stellen würden. Er handelte als »Achtundsechziger«, den der Prager Frühling beeindruckt hatte und der erwartete, dass sich das sozialistische System auf der Grundlage der damals entwickelten Vorstellungen humanisieren und revitalisieren lasse.
Der Entschluss, die Verbündeten sich selbst zu überlassen, gefährdete nicht nur Honeckers Sozialpolitik, sondern auch die Existenz der DDR insgesamt. Als Gorbačëv die Zusage des bewaffneten Schutzes für die kommunistischen Regime zurückzog, hielt er den SED-Staat wie auch die übrige »sozialistische Gemeinschaft« für selbstbehauptungsfähig. Das glaubte er noch bis Ende 1989, denn zunächst änderte sich scheinbar nichts. Die osteuropäischen Länder schienen weiterhin stabil, und weder die Öffentlichkeit noch die westlichen Regierungen nahmen die untergründigen Veränderungen wahr. Auch Honecker sah zunächst nicht, was sich anbahnte, und meinte, mit starrem Festhalten an der bisherigen Politik über die Runden zu kommen. Ein Kurswechsel hätte seiner Ansicht nach die inneren Verhältnisse gefährlich destabilisiert. Wie man im Kreml wusste, lehnte er die Reformen in der UdSSR kategorisch ab. Das damit gegebene Beispiel hielt er für eine tödliche Gefahr, die er abzuwehren suchte.19 Als Gorbačëv sich gar um demokratische Verhältnisse bemühte, indem er etwa echte Wahlen zum Obersten Sowjet abhalten ließ oder abweichende Meinungen duldete, sah der SED-Chef darin eine Abkehr vom Sozialismus überhaupt.20 Besonders empörte ihn, dass er in Moskau kein Gehör fand mit der Forderung, Plädoyers sowjetischer Bürger für die Vereinigung Deutschlands und den Abriss der Berliner Mauer abzustellen. Das Verhältnis zwischen beiden Politikern war spätestens 1988 völlig zerrüttet. Intern machten sie jeweils keinen Hehl aus ihrer Hoffnung auf Ablösung des anderen.21
Die innerdeutschen Beziehungen gehörten von Anfang an zu den großen Streitpunkten zwischen ihnen. Gorbačëv hatte wie seine Vorgänger die Sorge, die SED-Führung werde sich auf Gedeih und Verderb der Bundesrepublik überantworten. 22 Solange er vom Führungsanspruch im sozialistischen Lager noch nicht abgerückt war, hinderte er deshalb Honecker am Besuch in Bonn.23 Danach – seit Anfang 1987 – ließ dieser sich nicht mehr in die Beziehungen zu Westdeutschland hineinreden. Nach heftigem Wortwechsel mit dem Kremlchef gab er bekannt, dass er die Einladung der Bundesrepublik annehme.24 Seine folgende Reise hatte nach Moskauer Einschätzung den fatalen Effekt, der Einflussnahme von West- auf Ostdeutschland Tür und Tor zu öffnen. Führende sowjetische Geheimdienstkreise urteilten, es zeichne sich eine wachsende Dynamik zur Einheit Deutschlands nach westlichen Vorstellungen ab.25 Gorbačëv hielt dennoch am proklamierten Grundsatz der Nichteinmischung fest und nutzte seinen Einfluss nicht zur Entfernung des ostdeutschen Parteichefs. Stattdessen hoffte er, diesen davon überzeugen zu können, dass die in der UdSSR begonnene Umgestaltung der inneren Verhältnisse (Perestrojka) auch für die DDR richtig sei.26
Um sich der Kosten des Imperiums vollständig zu entledigen, wollte Gorbačëv das Pendant zur Brežnev-Doktrin, die indirekten Subventionen für die Verbündeten, restlos abbauen. Die Beziehungen sollten auf dem Prinzip des wechselseitigen wirtschaftlichen Vorteils beruhen.27 Ein Plan zur völligen Umstellung des Ölexports auf Weltmarktkonditionen bis Anfang der Neunzigerjahre wurde ausgearbeitet. Allein für die Lieferungen nach Ostdeutschland würde man dann jährlich 3,3 bis 4 Milliarden Dollar mehr erhalten.28 1989 entschloss sich der Kremlchef, jeden Zweifel daran zu beseitigen, dass er dem SED-Regime nicht nur weitere materielle Unterstützung verweigerte, sondern auch nicht mehr militärisch für sein Bestehen eintrete. Ende Juni teilte er Honecker mit, die UdSSR werde nicht eingreifen, falls die DDR in innenpolitische Schwierigkeiten geraten sollte.29 Anfang Juli erklärte er vor dem Europarat, dass alle Staaten ihre Ordnung frei wählen könnten.30 Der SED-Chef griff ihn deswegen zwei Tage später auf der Warschauer-Pakt-Tagung in Bukarest an, wurde aber nur von Ceauşescu unterstützt, der sich wie er verzweifelt um eine Erneuerung der früheren Schutzzusage bemühte. Dessen ungeachtet legte das Kommuniqué das Recht jedes Bündnismitglieds fest, »selbständig seine eigene Linie, Strategie und Taktik ohne Einmischung von außen auszuarbeiten«.31 Damit wurden alle Länder bei der Lösung ihrer Probleme auf sich selbst verwiesen. Honecker erlitt eine Gallenkolik und war fast drei Monate lang nicht arbeitsfähig. Seine Vertreter – zuerst Krenz, dann ab Mitte August Mittag – besaßen nicht die Amtsautorität, die für weitreichende Entschlüsse notwendig gewesen wäre. Während der folgenden drei für die DDR entscheidenden Monate fehlte daher bei den zu treffenden Entscheidungen die Autorität des Parteichefs.
Annäherung zwischen Gorbačëv und Kohl
Nicht nur für die DDR, sondern auch für die UdSSR war die Bundesrepublik wegen ihrer Wirtschaftskraft attraktiv. Gorbačëv hielt zwar zunächst Abstand, um Bundeskanzler Kohl für dessen Goebbels-Vergleich eine Lektion zu erteilen, wollte aber von Anfang an längerfristig ein kooperatives Verhältnis herstellen. Anders als bei seinen Vorgängern sollte dies auch den Abbau der ideologischen Barrieren einschließen. Während er sich in Washington um Abrüstungsvereinbarungen bemühte, um die Militärausgaben zu reduzieren, versprach er sich vom Einvernehmen mit Bonn ökonomische Unterstützung. Je mehr die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zunahmen, desto größer wurde sein Interesse an einem partnerschaftlichen Verhältnis zu Westdeutschland. Zunächst hoffte er dabei auf eine Regierungsübernahme der SPD,32 doch nach deren Niederlage bei der Bundestagswahl vom Januar 1987 stellte er sich auf die CDU / CSU-FDP-Koalition ein. Bereits im folgenden Monat kam Außenminister Ševardnadze nach Bonn; Anfang Juli wurde Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Moskau empfangen. Das Politbüro der KPdSU zog eine positive Bilanz, schränkte aber ein, die Beziehungen seien weiter durch die Stationierung der NATO-Raketen in der Bundesrepublik belastet.33 Der INF-Vertrag der UdSSR mit den USA vom 8. Dezember 1987 über den Abbau aller Nuklearraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern, zu dem die Bundesregierung durch ihren Verzicht auf die Pershing I A beigetragen hatte, beseitigte das Hindernis, und der Weg wurde frei für die Entwicklung generell guter Beziehungen. Besuche führender Politiker von CDU / CSU und FDP in der sowjetischen Hauptstadt machten den Anfang.34
Im Oktober 1988 reiste Bundeskanzler Kohl nach Moskau. Ihm versicherte Gorbačëv, sein Land wünsche ein freundschaftliches Verhältnis; ein »neues Kapitel« solle aufgeschlagen werden. Abschließend versicherte man sich gegenseitig der Bereitschaft zur Zusammenarbeit.35 In ihren Bonner Unterredungen vom 12. bis 15. Juni 1989 bekräftigten beide den Willen zu umfassender Kooperation und schlossen entsprechende Vereinbarungen. Sie erklärten auch ihr grundsätzliches Eintreten für eine Verminderung der Rüstung. Kohl betonte nachdrücklich, anders als ihm vielfach unterstellt werde, habe er nicht die Absicht, die DDR zu destabilisieren. Vielmehr sei er an der Stabilität des Partners in Ost-Berlin interessiert. Ohne Widerspruch hervorzurufen, warf er Honecker vor, er trage durch die Verweigerung notwendiger Reformen dazu bei, dass sein Land an Stabilität verliere. Kohl und Gorbačëv verstanden sich insgesamt gut und erzielten weitreichende Übereinstimmung. Der Kremlchef trat zwar bei seinen westdeutschen Gesprächspartnern für die souveränen Rechte der DDR ein, bekundete jedoch im informellen Gedankenaustausch Verständnis dafür, dass sich der Bundeskanzler für die Wiedervereinigung einsetze. Diese komme freilich nur langfristig in Betracht.36 Nachdem man in Moskau bis dahin jeden Hinweis auf das Thema der staatlichen Einheit zurückgewiesen hatte, deutete diese Äußerung eine gewisse Bereitschaft zum Haltungswechsel an. Gorbačëv entfernte sich damit von der – zuvor selbstverständlichen – Solidarisierung mit der DDR in der deutschen Frage.37
Entwicklung der innenpolitischen Verhältnisse in der DDR
Solange der Konflikt Ost-Berlins mit Moskau noch hinter verschlossenen Türen stattfand, wirkte er sich nur in der obersten Führung aus. Schon die Weigerung Honeckers, 1983 / 84 nach Beginn der NATO-Stationierung die Wendung der UdSSR gegen die Bundesrepublik mitzuvollziehen, führte zu Kritik einiger Spitzenfunktionäre. Deren Skepsis gegenüber dem Parteichef verstärkte sich, als dieser nach Gorbačëvs Amtsantritt gegen die sowjetische Politik Front machte und so in ihren Augen das vitale Interesse an einem guten Verhältnis zur UdSSR missachtete. Im Frühjahr 1986 fassten der Vorsitzende des Ministerrats, Willi Stoph, sein auch als ZK-Sekretär wichtiger Stellvertreter Egon Krenz und der Erste Stellvertretende Außenminister Herbert Krolikowski die Ablösung Honeckers ins Auge. Staatssicherheitsminister Erich Mielke wusste davon und bekundete allem Anschein nach Sympathie. Stoph und andere Mitglieder der Gruppe wandten sich wiederholt über Mittelsmänner wie Botschafter Kočemasov oder auch direkt an Gorbačëv, um dessen Einverständnis zu erhalten. Der aber versagte sich, obwohl er das gleiche Anliegen hatte. Die Frondeure sahen sich zwar in der Mehrheit, waren aber ohne Unterstützung aus Moskau nicht zum Handeln bereit.38
Daneben bildete sich ein Netzwerk von Geheimdienstlern, die ebenfalls um einen Führungswechsel bemüht waren. Der Leiter der Auslandsaufklärung, Markus Wolf, gab sein Amt 1987 auf, um sein Bemühen statt auf das Spionagegeschäft auf die Veränderung der Machtverhältnisse in der DDR zu richten. Seiner Ansicht nach galt es, einen flexibleren, im Einvernehmen mit dem Kreml agierenden Funktionär an die Spitze zu bringen. Sein Favorit war der Dresdner Bezirkssekretär Hans Modrow, dessen Aufnahme ins Politbüro Honecker verhindert hatte und der seinen Posten nur aufgrund Moskauer Protektion behalten hatte. Als der stellvertretende KGB-Vorsitzende Vladimir Krjučkov 1987 auf einer Reise durch die DDR nach Dresden kam, machte Wolf beide miteinander bekannt.39 Nach eigenen Angaben nahm er weiterhin Kontakt zu ZK-Sekretär Valentin Falin in Moskau auf und überzeugte ihn von der Notwendigkeit einer Neubesetzung in Ost-Berlin. Als Exponent einer altkommunistischen Linie hatte Falin jedoch nur noch wenig Einfluss.40 Auch Stasichef Mielke hielt Änderungen für erforderlich, die sich freilich in engen Grenzen halten sollten. Im April 1989 erklärte er dem neu ernannten Leiter der sowjetischen Auslandsaufklärung, Leonid Šebaršin, Reformen seien zwar notwendig, sollten aber nichts an den wirtschaftlichen und politischen Grundlagen des Sozialismus ändern, sondern nur die Effizienz steigern. Auch müsse der Widerruf der Brežnev-Doktrin rückgängig gemacht werden. Die UdSSR lasse vom alten Kurs abweichende Meinungen und Kräfte gewähren oder fördere sie sogar und gebe damit den innenpolitischen Feinden des Sozialismus den Weg frei.41
Das Engagement der DDR im »Friedenskampf« gegen die Stationierung der NATO-Raketen in der Bundesrepublik hatte den ostdeutschen Pazifisten schon Anfang der Achtzigerjahre einen gewissen Spielraum verschafft. Diese kleinen, vor allem im evangelisch-kirchlichen Raum tätigen Gruppen machten sich die – mit Blick auf die Bundesrepublik erklärte – amtliche Billigung des Friedensgedankens zunutze und bedienten sich des in der Chruščëv-Zeit offiziell approbierten Slogans »Schwerter zu Pflugscharen«. Das Interesse des SED-Regimes an guten Beziehungen zu den nicht-kommunistischen »Verbündeten« in Westdeutschland, etwa dem pazifistischen Flügel der Grünen, namentlich Petra Kelly, oder kirchlichen Raketengegnern, erschwerte es ihm, offen gegen Leute vorzugehen, die sich in der DDR zu Frieden und Abrüstung bekannten. Waffen in den Händen der westlichen »Imperialisten« galten amtlicherseits zwar als etwas völlig anderes als solche im Besitz der sozialistischen Staaten, die mit ihnen nur »den Frieden verteidigten«, doch ließ sich diese ideologische Rechtfertigung für die gegensätzliche Haltung zum Pazifismus in West und Ost gegenüber Außenstehenden kaum überzeugend vertreten. Daher sah sich die SED-Führung zu partieller Zurückhaltung veranlasst, solange mit öffentlicher Aufmerksamkeit zu rechnen war. Erst als der Raketenstreit in der Bundesrepublik entschieden war, mithin die dortigen »Verbündeten« nicht mehr benötigt wurden, setzte die Verfolgung voll ein. Die vorangegangene Atempause hatte gleichwohl die kritischen Kräfte gestärkt.42
Als der politische Gegensatz zwischen Gorbačëv und Honecker allgemein sichtbar wurde, gab das den Opponenten in der DDR, die sich inzwischen oft scheinbar unpolitischen Umweltthemen zugewandt hatten, neuen Auftrieb. Der Dissens mit der Führungsmacht, die eine wesentliche Legitimationsquelle des SED-Regimes gewesen war, unterminierte dessen moralische Autorität. Wer mit amtlichen Vorstellungen und Schritten nicht einverstanden war, konnte sich auf das Beispiel der UdSSR berufen, die bis dahin von offizieller Seite zum leuchtenden Vorbild erklärt worden war. Zudem ging die Kritik am Verhalten der Behörden, die vor allem im Umkreis der evangelischen Kirche laut wurde, mit einer prinzipiellen Bejahung des sozialistischen Staates einher; auch dies setzte der Repression Grenzen. Man konnte schließlich weder Gorbačëv zum Feind erklären noch das Bekenntnis zum Sozialismus verurteilen. Auch mit Blick auf die Bundesrepublik war Vorsicht geboten, um keine Einschränkung ihrer materiellen Hilfe zu riskieren.
Die Möglichkeiten des Kontakts und der Kommunikation im innerdeutschen Verhältnis, deren Ausweitung Honecker in wachsendem Maße zugestand, um noch mehr Hilfe aus Bonn zu erhalten, wirkten sich ebenfalls aus. Einer steigenden Anzahl von Westdeutschen genehmigte die Volkspolizei die Einreise aufgrund vorgelegter Einladungen von Verwandten und zunehmend auch von Freunden und gestattete ihnen auch, was ursprünglich nicht vorgesehen gewesen war, generell ihren Wagen zu benutzen und sich an weitere Orte in der DDR zu begeben. Der schiere Umfang der sich mehrenden Besuchs-, Telefon- und Postkontakte hinderte die Sicherheitsorgane daran, auf alles ein Auge zu haben und schränkte so die Überwachung ein. Die in wachsender Zahl wegen dringender Familienangelegenheiten genehmigten Westreisen von Berufstätigen schufen weitere Freiräume.
Bis weit in die SED hinein setzte eine Abkehr vom herrschenden Regime und den staatstragenden Vorstellungen ein. Zudem wurde die ideologische Orientierung, an der gefestigte Kader bis dahin festgehalten hatten, im August 1987 durch das Ergebnis des »Dialogs« mit der SPD erschüttert, das Honecker ohne Rücksprache mit seinen Führungskollegen gebilligt hatte, um in der Bundesrepublik durch die Verbindung zu dieser Partei an Einfluss zu gewinnen. Das gemeinsame Dokument der Arbeitsgruppen beider Seiten sah eine »Streitkultur« vor, die den Sozialdemokraten ihre abweichende politische Position nicht mehr zum Vorwurf machte. Damit war das Gebot der Ablehnung »klassenfremder« Standpunkte, das den Kern der prinzipiellen Feindschaft gegen den Westen bildete, in direktem Widerspruch zu Lenins Gebot der »sozialistischen Parteilichkeit« außer Kraft gesetzt. Auch hieß es in dem Papier, Differenzen seien friedlich auszutragen, sollten also nicht mehr gewaltsam unterdrückt werden.43 Der SED-Chef widerrief zwar seine Zustimmung später, konnte aber nicht mehr verhindern, dass entscheidende Herrschaftspraktiken des SED-Regimes infrage gestellt waren.
In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre regte sich in der DDR wachsende Unzufriedenheit. Die Herausforderung war kaum zu fassen und erlaubte daher keine zielgerichtete Reaktion,44 doch die Stimmung verschlechterte sich fortlaufend. Der Direktor des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung legte Krenz seit 1987 immer wieder Berichte vor, die zunehmende Kritikbereitschaft und Aufsässigkeit erkennen ließen.45 Während die große Mehrheit der Bevölkerung Sympathien für Gorbačëv bekundete, sank die Zustimmung zu Honecker auf sehr geringe Werte. Selbst von den Parteimitgliedern waren nicht einmal mehr die Hälfte für ihn. Von Januar bis November 1987 verzeichnete die SED 66 000 Ausschlüsse, Streichungen und Austritte.46 Symptomatisch war auch die Zunahme der Ausreiseanträge, die trotz der zu erwartenden Repressalien gestellt wurden. 1987 registrierte das DDR-Innenministerium 105 131 Gesuche, ein Jahr später 113 521.47 1988 suchte die Führung den Druck dadurch abzubauen, dass sie den Antragstellern massenhaft die Ausreise genehmigte. Das ermutigte jedoch zahllose andere, sich auch um Entlassung aus der DDR zu bemühen. Die Aktion wurde daraufhin abgebrochen. Nach westlichen Informationen sollen 1987 / 88 400 000 Anträge eingereicht worden sein. In der Residentur des KGB wurden bis Mitte 1989 125 000 Fälle bekannt.48
Wie weit der Kontrollverlust der DDR-Führung ging, zeigte sich bei den Kommunalwahlen im Mai 1989, als ein amtliches Abstimmungsergebnis erstmals öffentlich angezweifelt und als belegbar gefälscht decouvriert wurde. Unter Zugrundelegung der offiziellen Prämisse, alle unerwünschten Tendenzen seien vom Westen zielstrebig herbeigeführt worden, stellte ein Bericht des Staatssicherheitsdiensts im Juni 1989 fest, die subversive Tätigkeit des Feindes gelte der Schaffung und Legalisierung einer Opposition sowie der Organisierung eines Untergrunds zwecks Ausübung inneren Drucks und einer auf schließliche Liquidierung abzielenden Destabilisierung der DDR. Zusammen mit Entwicklungen in einigen sozialistischen Ländern beeinflusse das einen Teil der Bevölkerung. Demnach bildeten sich Gruppen und Grüppchen, die auf persönlichen Verbindungen beruhten und »gemäß der Strategie des Feindes« gemeinsam mit reaktionären kirchlichen Amtsträgern und ausländischen Korrespondenten sowie westlichen Diplomaten agierten.49
Entwicklung der wirtschaftlichen Lage
Nach den Bonner Milliardenkrediten 1981 und 1982 blieb der Schuldenstand der DDR im Westen zunächst stabil. Als seit Mitte der Achtzigerjahre der Ölpreis auf dem Weltmarkt weiter zurückging, verringerten sich die sowjetischen und ostdeutschen Deviseneinnahmen erheblich. Während die UdSSR die Einbußen durch verminderte Ölexporte in die RGW-Länder einschließlich der DDR wenigstens zum Teil zu kompensieren wusste, sah sich diese doppelt in der Klemme. Das Bemühen, in erhöhtem Umfang andere Waren an westliche Länder zu verkaufen, blieb erfolglos, weil ihr Güterangebot wegen weithin fehlender Hochtechnologie international nicht konkurrenzfähig war. Zwecks Abhilfe wurde 1986 ein Modernisierungsprogramm beschlossen. Dieses war nur durch importierte Produktionsanlagen auf der Basis hoher Kredite zu verwirklichen, deren Rückzahlung später aus den erwarteten Gewinnen erfolgen sollte. Das erwies sich jedoch als Fehlkalkulation: Die entstehenden Kosten lagen weit über dem anderswo erforderlichen Aufwand. Das galt vor allem für das Kernstück, die Mikroelektronik: Die Chip-Herstellung kostete teilweise mehr als 200-mal so viel wie im Westen. Sie verschlang gewaltige Summen, statt Devisen zu erbringen.50
Die hohen Kosten der Warenerzeugung waren generell ein gravierendes Problem. Die kollektiv organisierte, meist mit veralteter Technik betriebene Landwirtschaft erforderte sehr viel Personal, die industriell hergestellten Güter waren teuer, weil der Maschinenpark nicht dem Stand der Zeit entsprach und vielfach geradezu marode war. Es gab museumsreife Anlagen, die noch vor dem Ersten Weltkrieg installiert worden waren. Bis zu Honeckers Amtsantritt hatte man, auch wenn man technisch zurückblieb, die Produktionsmittel zumindest noch laufend instand gehalten und bei dringendem Bedarf erneuert. Seither hatte jedoch der Konsum Vorrang; der Kapitalstock wurde vernachlässigt. Wegen des Modernisierungsprogramms von 1986 wurden auch die bis dahin noch vorgesehenen Mittel für die allernötigsten Neuinvestitionen gestrichen, ohne dass die Staatliche Plankommission mit ihrem Widerspruch etwas ausrichten konnte. Fortan waren nur noch Reparaturen möglich, die oft notdürftigen Charakter hatten, aber unverhältnismäßige Kosten verursachten. Das verteuerte auch die Verbrauchsgüter. Der Staat sah sich zu vermehrten Subventionen genötigt, die von den Einnahmen nicht gedeckt waren.51 Bereits 1987 zeichnete sich so der ökonomische Kollaps zum Ende des Jahrzehnts ab.52
Die Wirtschaftsplaner kamen, späteren Angaben zufolge, schon 1985 / 86 zu der Ansicht, die herannahende Zahlungsunfähigkeit lasse sich nur abwenden, wenn man die Bundesrepublik durch eine Konföderationsregelung oder etwas Ähnliches zur laufenden Begleichung des Defizits veranlassen könnte.53 Eine derartige Änderung des politischen Kurses kam jedoch für Honecker nicht in Betracht. Die Lage verschärfte sich weiter, als die UdSSR Anstalten machte, nur noch zu Weltmarktkonditionen zu liefern. Wie man in Ost-Berlin berechnete, war auf dieser Basis ein 2,8-facher Inlandsaufwand zur Begleichung der Einfuhren notwendig.54 1988 / 89 spitzten sich die Verhältnisse dramatisch zu. Das SED-Regime bemühte sich zwar verzweifelt, die Devisenbilanz ohne Rücksicht auf die Kosten im eigenen Land durch Warenexporte ins Lot zu bringen, doch blieb die Ausfuhr ins westliche Ausland viermal geringer als die Nettoneuverschuldung. Dem Einnahmeüberschuss standen gleichzeitige Verbindlichkeiten in fast zwanzigfacher Höhe gegenüber. Für Ende 1989 war ein Schuldensaldo in Höhe von 57 Milliarden Verrechnungsmark zu erwarten. Die Zahlungsunfähigkeit stand im Spätherbst unmittelbar bevor.55 Angesichts der wirtschaftlichen Katastrophe würde der Konsum um ein Drittel gesenkt werden müssen. Das aber konnte sich die DDR-Regierung nicht leisten, weil sie ihre Bürger nur mithilfe des überhöhten Lebensstandards bei der Stange hielt.56
Verlust des Rückhalts in den ostmitteleuropäischen Volksdemokratien
Noch bevor der Staatsbankrott offen zutage getreten war, brachen der DDR die politischen Stützen im Rücken weg. In Polen war es General Jaruzelski nach der Verkündung des Kriegsrechts im Dezember 1981 nicht gelungen, den Einfluss der Oppositionsbewegung Solidarność zu beseitigen. In der Gesellschaft stand man nach wie vor an ihrer Seite. In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre nahm die Unruhe zu. Als die kommunistische Führung im Frühjahr 1988 Proteste und Streiks mit Polizeigewalt beendete, ohne damit den Ruf nach Aufhebung des Verbots zum Verstummen zu bringen, schaltete sich Gorbačëv ein und setzte nach langem Hin und Her durch, dass die Partei im Februar 1989 mit Solidarność Gespräche am »runden Tisch« über deren Legalisierung begann. Auf sowjetisches Betreiben wurden im April Parlamentswahlen vereinbart, die zwar keine demokratische Repräsentation vorsahen, aber der Bevölkerung eine unverfälschte Bekundung ihres politischen Willens erlaubten. Das Ergebnis fiel so überwältigend zugunsten der Opposition aus, dass es keine Zweifel an der komplett fehlenden Unterstützung für die Herrschenden mehr gab. Wiederum auf Druck des Kremls sah sich Jaruzelski daraufhin genötigt, der Bildung einer Koalitionsregierung unter dem Solidarność-Politiker Mazowiecki zuzustimmen. Diese kam am 24. August 1989 ins Amt und wurde von Gorbačëv sogleich seines Wohlwollens versichert. Die SED sah sich nun nicht nur im Westen, sondern auch im Osten einem nichtkommunistisch geführten Staat gegenüber.57
In Ungarn hatte das Regime wie in der DDR auf Wohlstandspolitik gesetzt. Als diese ebenfalls Anfang der Achtzigerjahre in eine Krise geriet, begannen sich Teile der kommunistischen Führung um ökonomische Reformen und Annäherung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu bemühen. Sie hofften dabei auf westdeutsche Unterstützung, doch Bundeskanzler Schmidt verhielt sich ablehnend, weil er mit Blick auf das Verhältnis zu den anderen Warschauer-Pakt-Staaten, namentlich zur sowjetischen Führungsmacht, an der östlichen Blockintegrität nicht rühren wollte. Die Bonner Haltung änderte sich, als Kohl im Herbst 1982 die Regierung übernahm. Er hatte ein offenes Ohr für die Reformer, die ihr Land durch Kredite des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank und die damit verbundene Mitgliedschaft in diesen westlich dominierten Organisationen vor dem Bankrott retteten. In den folgenden Jahren entwickelte sich ein enges Verhältnis zwischen Bonn und Budapest, das der Wirtschaftsreform, die im Zusammenhang mit den Krediten eingeleitet worden war, zusätzliche Impulse verlieh.58 Voraussetzung für die einsetzende Umorientierung war das Einverständnis von Parteichef Kádár, der am »Gulaschkommunismus« festhielt und ihn durch betonte Loyalität gegenüber dem Kreml politisch absicherte.
Nachdem Gorbačëv in der UdSSR die Abkehr von der bis dahin verfolgten Politik eingeleitet hatte, konnten die Reformer in Budapest auf seine Sympathie zählen. Nicht zuletzt aufgrund des Rückhalts in der Bundesrepublik konnten sie den innerparteilichen Machtkampf für sich entscheiden. 1987 entstand als erste Oppositionspartei das Ungarische Demokratische Forum (Magyar Demokrata Fórum, MDF), im Mai 1988 wurde Kádár abgelöst. Ein am 1. Juli geschlossener Vertrag mit der Weltbank sah Darlehen zur Umstrukturierung der Industrie vor. Ende des Jahres kam ein von Bonn vermittelter Vertrag mit der EG zustande, der dem Land Anschluss an die westeuropäische Entwicklung verschaffte. Mit der feierlichen Beisetzung Imre Nagys, des 1958 als Verräter am Sozialismus hingerichteten Ministerpräsidenten des Volksaufstands, am 16. Juni 1989 wurde für alle Welt klar, dass eine neue Zeit begonnen hatte.
Im März 1989 trat die Regierung in Budapest der Genfer Flüchtlingskonvention bei und übernahm damit die Verpflichtung, allen rassisch, religiös, national oder politisch Verfolgten Schutz zu gewähren. Nachdem am 18. April der Abbau der Grenzanlagen zu Österreich eingeleitet worden war, reisten DDR-Bürger in großer Zahl nach Ungarn, um von dort in den Westen zu gelangen. Während des Sommers wurde ihnen freilich die Ausreise nicht gewährt, sodass nur wenige das Land illegal verlassen konnten. Angesichts der Masse ostdeutscher Fluchtwilliger entschloss sich die Regierung, insbesondere auf Drängen von Außenminister Gyula Horn, sie ab 10. September ziehen zu lassen. Der Versuch von DDR-Außenminister Oskar Fischer, seinen ungarischen Amtskollegen unter Hinweis auf eine vertragliche Verpflichtung gegenüber seinem Staat davon abzubringen, blieb erfolglos.59 Diese eklatante Aufkündigung der Solidarität mit dem SED-Regime wurde vom Kreml stillschweigend gebilligt.
Der Weg in den Untergang des SED-Regimes
Die dadurch entstandene Lücke im System der Abschottung gegen den Westen, auf dem die Existenz der DDR seit dem Mauerbau beruhte, ließ sich nicht mehr schließen. Von nun an gab es kein Halten mehr. Der Aufhebung des visafreien Reiseverkehrs nach Ungarn durch das SED-Regime folgte eine massenhafte Asylsuche bei der westdeutschen Botschaft in Prag. Druck aus Bonn und die unerwünschte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ließen die Regierung der Tschechoslowakei bei der Ost-Berliner Führung darauf dringen, sich mit der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik einverstanden zu erklären. Die SED-Führung sah sich nun auch vom Prager Verbündeten im Stich gelassen. Ihr blieb keine andere Möglichkeit als nachzugeben. Sie machte zur Bedingung, die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft erfordere einen ordnungsgemäßen Antrag, der in der DDR gestellt und genehmigt werden müsse.
Die daraufhin arrangierten Zugfahrten über ostdeutsches Gebiet hatten fatale Folgen. An den Haltestationen sammelten sich Scharen von Unzufriedenen mit dem lautstarken Verlangen, ebenfalls ausreisen zu dürfen. Das wurde zum Ausgangspunkt für weitere Unruhen, die sich auf andere Regionen ausbreiteten und eine Folge anschwellender Demonstrationen nach sich zogen. Das SED-Regime griff zu polizeilicher Repression, ohne die öffentlichen Proteste stoppen zu können. Während es sich wegen Gorbačëvs Besuch aus Anlass der Feiern zum 40. Jahrestags der DDR-Gründung am 7. Oktober 1989 eine gewisse Zurückhaltung auferlegt hatte, ließ es für die Zeit danach Schritte zur rücksichtslosen Abrechnung mit den Opponenten vorbereiten. Gegen ein solches Vorgehen sprachen freilich gewichtige Gründe. Konnte man es sich angesichts wachsender Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Hilfe der Bundesrepublik politisch leisten? Was würde geschehen, wenn die Unterdrückung scheiterte und die sowjetischen Einheiten nicht wie am 17. Juni 1953 rettend eingriffen? Den zum Einsatz befohlenen Sicherheitskräften wiederum musste der Umstand zu denken geben, dass sie trotz der sich zuspitzenden Lage in den Kasernen blieben. Die Verteidiger des Regimes vor Ort waren dadurch verunsichert. Viele von ihnen, vor allem auch Einsatzleiter, fragten sich, ob sie nicht durch Gewaltanwendung ein persönliches Risiko eingehen würden. Sie waren daher ebenso wie die Demonstranten, die dem Bild des aggressiven Klassenfeinds in keiner Weise entsprachen, bemüht, Blutvergießen zu vermeiden.
Krenz und Modrow hatten noch weitere Motive für ihre Zurückhaltung. Ersterer wusste als Politbüromitglied durch informelle Kontakte in groben Zügen Bescheid über die finanzielle Pleite, und Letzterer dürfte als Dresdner Bezirkssekretär durch Markus Wolf und andere zumindest generell über die Unhaltbarkeit der bestehenden Verhältnisse unterrichtet gewesen sein. Als Honeckers innerparteiliche Rivalen sahen sich beide zugleich durch Gorbačëvs Ermahnungen während dessen Besuch ermutigt, den Protest der Massen zu nutzen, um den überfälligen Wechsel der Führung einzuleiten. Modrow einigte sich daher am 8. Oktober mit den Demonstranten in seiner Stadt, und Krenz ließ sich nicht zu einer rechtzeitigen Entscheidung bewegen, als er am folgenden Tag vor die Frage gestellt wurde, ob die in Leipzig aufmarschierten Sicherheitskräfte tatsächlich eingreifen sollten. Mit dem Handlungsverzicht des Spitzenfunktionärs, der für die innere Sicherheit zuständig war, erzielte die Protestbewegung den Durchbruch.
Von da an stellte sich den Demonstranten niemand mehr entgegen. Honeckers innerparteiliche Gegner, die ihn acht Tage später absetzten und an seiner Stelle Krenz an die Spitze der SED stellten, beriefen sich zur Begründung auf den Willen des Volkes, dem sie fortan folgen wollten. Die Rechnung der neuen Herren, anschließend nach ihren eigenen Vorstellungen Macht ausüben und den Staat erneuern zu können, ging nicht auf: Die Bevölkerung lehnte sie ab, die Institutionen des Landes waren in rapidem Verfall, und die Zahlungsunfähigkeit stand unmittelbar bevor. Rettung konnte nur noch von der Bundesrepublik kommen. Diese Situation verbot eine repressive Herrschaftspraxis. Das aber war das Todesurteil für Regime, System und Staat.
Rückblickende Überlegungen
Der Urgrund aller Probleme war das Leistungs- und Innovationsdefizit der sozialistischen Wirtschaft. Während die Regime der DDR und der Volksdemokratien in ihrem Bemühen, die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen, in immer größere materielle Nöte gerieten, sah sich die UdSSR zunehmend außerstande, die Kosten des Imperiums zu tragen, und verlor damit die Fähigkeit, die inneren Verhältnisse der Gefolgschaftsstaaten zu bestimmen. Nachdem bereits Brežnev und Andropov an die Grenzen ihrer Durchsetzungskraft im äußeren Imperium gestoßen waren, zog Gorbačëv die Konsequenz, nicht länger die mit fundamentalen Richtungsentscheidungen verbundene Verantwortung für die anderen sozialistischen Länder zu übernehmen.
Das starre Festhalten Honeckers an den alten Verhältnissen in der DDR, obwohl dort die Aufzehrung der materiellen Substanz aufgrund der sozialpolitischen Überforderung besonders weit fortgeschritten war, beruhte darauf, dass er angesichts der nationalen Gemeinsamkeiten und menschlichen Verbindungen mit der attraktiven Bundesrepublik fürchtete, dass jedwede Reformen zum politischen Dammbruch führen würden. Es war zu erwarten, dass sich die Bevölkerung am Ziel der gesamtdeutschen Einheit orientieren würde, sobald der amtliche Zwang und die Abschottung gegen den Westen gelockert und die sozialistischen Machtstrukturen verändert würden. Anders als in den osteuropäischen Volksdemokratien ging es nicht nur um das Regime und System, sondern um die Aufrechterhaltung des Staates überhaupt. Eine Orientierung der DDR an Gorbačëvs Reformvorstellungen einschließlich einer Öffnung gegenüber dem Westen bei gleichzeitiger Wahrung des Abstands zur Bundesrepublik erschien so gut wie unmöglich, zumal man in Ost-Berlin zugleich deren materielle Leistungen benötigte.
Das Beharren auf dem Status quo war freilich langfristig ohne Perspektive. Zwar sprang die Bundesrepublik vorerst helfend ein, weil sie die erreichten Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland aufrechterhalten und erweitern wollte, aber mit dem Verlass darauf begab sich das ökonomisch bedrängte SED-Regime auf eine schiefe Ebene, die keinen Halt bot. Vor die Wahl zwischen den Risiken der Reform und dem sicheren Staatsbankrott gestellt, wählte Honecker, die Augen fest vor der nahenden Gefahr verschließend, das Zweite, denn so konnte er sich so für eine gewisse Zeit über die Probleme hinwegretten. Er blockierte damit Gorbačëvs Bemühen, die DDR zu politischen Veränderungen zu bewegen. Der Preis dafür war der Verlust des existenznotwendigen politischen Rückhalts der UdSSR. Je länger an den alten Verhältnissen festgehalten wurde, desto tiefer führte dies in den Ruin. Das unausweichliche Ergebnis war die totale Abhängigkeit von der Bundesrepublik. Nach Honeckers Sturz war es zu spät, daran noch etwas zu ändern.
Der Zwist zwischen den beiden Führern in Ost-Berlin und Moskau verhinderte, dass ein Ausweg aus der Krise gesucht wurde, solange noch Zeit dazu war. Ohne dass ein Versuch der Gegensteuerung unternommen worden wäre, trieb die Entwicklung dem neuralgischen Punkt zu, an dem das Bestehen der DDR definitiv infrage gestellt sein würde: der Demontage der Abschottung gegenüber der Bundesrepublik. Dieser Prozess begann mit der Freigabe des Exodus über Ungarn und entfaltete sich konsequent und unaufhaltsam weiter, bis er schließlich zwei Monate später mit dem Fall der Mauer den Höhepunkt erreichte. Das SED-Regime hatte damit den letzten Rest an Kontrolle über die Bevölkerung und zugleich die Aussicht auf den weiteren Erhalt des ostdeutschen Separatstaates verloren. Zumindest Letzteres war nicht im Sinne Gorbačëvs, doch hätte dieser, wenn er den Wünschen einiger Hardliner in Moskau gefolgt wäre und die Grenze in Berlin mit Gewalt wieder zu schließen gesucht hätte, die Ergebnisse seiner Innen- und Außenpolitik insgesamt aufs Spiel gesetzt. Nach der Hinnahme des Mauerfalls als vollendeter Tatsache war später die Zustimmung des Kremlchefs zur Auflösung der DDR und zur deutschen Einheit nur folgerichtig.
1 Brežnev im Gespräch mit Honecker, 28. 7. 1971, zit. nach Hans-Hermann Hertle / Konrad H. Jarausch (Hg.): Risse im Bruderbund. Die Gespräche Honecker – Breshnew 1974 bis 1982, Berlin 2006, S. 19.
2 Für Näheres hierzu siehe Gerhard Wettig: German Democratic Republic Censorship and West German Broadcasting, in: K.R.M. Short (Hg.): Western Broadcasting over the Iron Curtain, London–Sydney 1986, S. 204–223.
3 Ende 1980 urteilte einer der Hardliner im KPdSU-Politbüro, der KGB-Vorsitzende Andropov, angesichts der Probleme im eigenen Land sei man nicht länger in der Lage, die Krise in Polen durch den Einsatz sowjetischer Streitkräfte zu beenden. Siehe Nicolaj S. Leonov: Licholet‘e [Zeit der Wirren], Moskau 1995, S. 212.
4 Gerhard Wettig: Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963. Drohpolitik und Mauerbau, München 2006, S. 107–128, 201 f. u. 205 f.
5 Anatolij S. Černjaev: Moja žizn‘, moë vremja [Mein Leben, meine Zeit], Moskau 1995, S. 338 f.; Siehe auch Anatolij Tschernjaew: Mein deutsches Tagebuch. Die deutsche Frage im ZK der KPdSU (1972–1991), Klitzschen 2005, S. 49 f.
6 Siehe Hertle / Jarausch: Risse im Bruderbund (Anm. 1), insbes. S. 46–48.
7 Gespräch Honecker – Gromyko, 4. 12. 1979, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (im Folgenden: SAPMO-BArch), DY 30 / 2378, Bl. 159–163.
8 Leonov: Licholet‘e (Anm. 3), S. 163–166. Die UdSSR hatte auf der KSZE unter anderem das Prinzip der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, freiere Bewegung und Kontakte auf individueller und kollektiver, privater und offizieller Grundlage sowie eine verbesserte systemüberschreitende Verbreitung von Informationen akzeptiert.
9 Hermann Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München–Oldenbourg 2007, S. 402–410.
10 Ebd., S. 422–425 u. 481–485.
11 Brežnev an Honecker, 19. 2. 1981, in: Hertle / Jarausch: Risse im Bruderbund (Anm. 1), S. 43.
12 Siehe Hans-Hermann Hertle: Die Diskussion der ökonomischen Krisen in der Führungsspitze der SED, in: Theo Pirker / M. Rainer Lepsius / Rainer Weinert / Hans-Hermann Hertle (Hg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR, Opladen 1995, S. 320–328; sowie S. 60, 127 f., 179 u. 196 f. (Aussagen von Claus Krömke, Harry Tisch, Alexander Schalck-Golodkowski und Wolfgang Rauchfuß); siehe auch: Hans-Hermann Hertle: Der Staatsbankrott. Der ökonomische Untergang des SED-Staates, in: Deutschland Archiv 35 (1992), H. 10, S. 1034; ders.: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 1996, S. 36–38.
13 Siehe ebd., S. 53–57.
14 So das Urteil der sowjetischen Geheimdienste; siehe dazu: Leonid Šebaršin [Chef der Auslandsaufklärung]: Cholodnuju vojnu my proigrali … [Den Kalten Krieg haben wir verloren …], in: Komsomol‘skaja pravda vom 31. Juli 1992.
15 Hertle: Die Diskussion (Anm. 12), S. 336–338.
16 Daniel Küchenmeister / Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): Gorbatschows Entfernung von der Breshnew-Doktrin. Die Moskauer Beratung der Partei- und Staatschefs des Warschauer Vertrages vom 10. / 11. November 1986, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1994), H. 8, S. 713–723.
17 Karin Dawisha: Eastern Europe, Gorbachev and Reform. The Great Challenge, Cambridge, Mass. 1990, S. 87 f.
18 V. Aleksandrov: Vnešnjaja politika – algoritmy perechoda? [Die Außenpolitik – Algorithmen des Übergangs?], in: Meždunarodnaja žizn‘ (1991), H. 5, S. 21.
19 Siehe Ė. A. Ševardnadze auf der Sitzung des Politbüros der KPdSU, 12. 2. 1987, in: Aleksandr Galkin /
Anatolij Černjaev (Hg.): Michail Gorbačëv i germanskij vopros. Sbornik dokumentov [Michail Gorbačëv und die deutsche Frage. Dokumentensammlung], Moskau 2006, S. 32; siehe auch Wjatscheslaw Kotschemassow: Meine letzte Mission, Berlin 1994, S. 72–77.
20 Für Honecker war Lenins Grundsatz des »demokratischen Zentralismus« der Kern des sozialistischen Systems.
21 Siehe dazu die Aussage von Johannes König in: Der Spiegel Nr. 6 vom 5. Februar 1990, S. 164; siehe auch: Manfred Uschner: Die roten Socken, Berlin 1997, S. 183 f., 197 f. u. 211–214; Jens Kaiser: Zwischen angestrebter Eigenständigkeit und traditioneller Unterordnung, in: Deutschland Archiv 34 (1991), H. 5, S. 489–493; Eduard Schewardnadse: Die Zukunft gehört der Freiheit, Reinbek 1991, S. 210 f.; Valerij Musatov: Vostočnaja Evropa: Tajfun peremen [Osteuropa. Ein Taifun von Veränderungen], in: Pravda vom 13. März 1991.
22 M. S. Gorbačëv auf den Sitzungen des Politbüros der KPdSU, 27. 3. 1986 / 27. 1.1987, in: Galkin /Černjaev: Michail Gorbačëv i germanskij vopros (Anm. 19), S. 6 u. 29.
23 Siehe Gespräch M. S. Gorbačëv – E. Honecker, 20.4.1986, in: Daniel Küchenmeister (Hg.): Honecker –Gorbatschow. Vieraugengespräche, Berlin 1993, S. 89–92.
24 Siehe Ivan N. Kuz‘min [Chef der Informationsabt. der KGB-Residentur in Ost-Berlin]: Šest‘ osennich let, Berlin 1985–1990 [Fünf herbstliche Jahre, Berlin 1985–1990], Moskau 1999, S. 58 f.
25 Siehe ebd., S. 77–81 u. 89; siehe auch: Ivan N. Kuz‘min: Sekretnye služby mnogoe znali: No rešenija prinimali politiki [Die Geheimdienste wussten vieles, aber die Entscheidungen trafen die Politiker], in: Novoe vremja (1993), H. 20, S. 27; Konrad H. Jarausch: Die unverhoffte Einheit 1989–1990, Frankfurt a. M. 1995, S. 34 f.
26 Siehe Gespräch M. S. Gorbačëv – E. Honecker, 28. 9. 1988, ebd., S. 114–128.
27 Siehe Michail Gorbatschow: Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit, Berlin 1993, S. 192 f.
28 Siehe Leonid Cedilin [Leiter der beauftragten Gruppe]: Torgovat‘ civilizovano – značit vzaimovygodno [Zivilisiert Handel treiben heißt zu wechselseitigem Vorteil <Handel treiben>], in: Kommunist, September 1990, S. 114–123; siehe auch Leonid Zedilin: Sowjetunion, DDR und RGW in der Ära Gorbatschows (=Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Bd. 34), Köln 1995.
29 Siehe Valentin A. Falin: Politische Erinnerungen, München 1993, S. 483.
30 Abgedruckt in: Pravda vom 6. Juli 1989.
31 Aufzeichnungen über die Sitzungen des Politischen Konsultativkomitees (Auszüge), 7. / 8.7.1989, in: Vojtech Mastny / Malcom Byrne (Hg.): A Cardboard Castle? An Inside History of the Warsaw Pact, 1955–1991, Budapest–New York 2005, S. 644–654; siehe auch Hertle: Der Fall der Mauer (Anm. 12), S. 75.
32 Siehe Gespräch Gorbačëvs mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Johannes Rau (Auszug), 25.6.1986, in: Galkin / Černjaev: Michail Gorbačëv i germanskij vopros (Anm. 19), S. 7–14.
33 Siehe Gespräch M. S. Gorbačëv – R. von Weizsäcker (Auszug), 7.7.1987, ebd., S. 44–54; Beratungen des Politbüros des ZK der KPdSU (Auszug), 16.7.1987, ebd., S. 55–58.
34 Zu den Besuchen von Strauß, Späth, Bangemann und Genscher siehe die Auszüge aus den Protokollen der mit ihnen geführten Gespräche, ebd., S. 62–78, 81 f. u. 96–113.
35 Siehe Gespräch M. S. Gorbačëv – H. Kohl (Auszug), 24.10.1988, ebd., S. 131–134; siehe auch Helmut Kohl: Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 755–772.
36 Siehe ebd., S. 885–888 u. 891–895; siehe auch: Gespräche M. S. Gorbačëv – H. Kohl, 12. / 13.6.1988, in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989 / 90, München 1998, S. 276–299; Protokolle der Gepräche Gorbačëvs in Bonn, 12.–15.6.1989, in: Galkin / Černjaev: Michail Gorbačëv i germanskij vopros (Anm. 19), S. 152–200; Pressekonferenz von M. S. Gorbačëv in Bonn (Auszüge), ebd., S. 201–203.
37 Siehe Kohl: Erinnerungen (Anm. 35), S. 888–891.
38 Siehe Kuz‘min: Šest‘ osennich let (Anm. 24), S. 38 f; Ivan N. Kuz‘min: Krušenie GDR. Istorija. Posledstva [Der Zusammenbruch der DDR. Geschichte. Folgen], Moskau 1996, S. 31; Kotschemassow: Meine letzte Mission (Anm. 19), S. 59 f. u. 68–71.
39 Siehe Günter Schabowski: Vor fünf Jahren barst die Mauer, in: FAZ vom 8. November 1994; Interview mit Pëtr Abrasimov, ebd.
40 Siehe ebd.; Kuz‘min: Krušenie GDR (Anm. 38), S. 75 f. u. 129–132; Schabowski: Vor fünf Jahren (Anm. 39); Markus Wolf: In eigenem Auftrag, München 1991, S. 37–40, 60 f. u. 142–153.
41 Siehe Gespräch E. Mielke – L. Šebaršin, 7. 4. 1989, in: Deutschland Archiv 36 (1993), H. 9, S. 1019–1034.
42 Für Näheres dazu siehe Ehrhard Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1997, S. 381–498.
43 Siehe Frank Fischer: »Im deutschen Interesse«. Die Ostpolitik der SPD von 1969 bis 1989, Husum 2001, S. 169–216 u. 317–333; Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED, Frankfurt a. M. 2002; Erich Hahn: SED und SPD. Ein Dialog, Berlin 2002. Für den Text des Dokuments »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« vom 27.8.1987 siehe ebd., S. 267–277.
44 Siehe Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): »Vorwärts immer, rückwärts nimmer!«. Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988 / 89, Berlin 1994, S. 36–53 u. 89–94.
45 Siehe ders.: Die Führung der FDJ und die Krise der DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, in: Helga Gottschlich (Hg.): »Links und links und Schritt gehalten …«. Die FDJ: Konzepte – Abläufe – Grenzen, Berlin 1994, S. 316–319.
46 Siehe Uschner: Die roten Socken (Anm. 21), S. 149 f.
47 Siehe Konrad H. Jarausch: Die unverhoffte Einheit 1989–1990, Frankfurt a. M. 1995, S. 34.
48 Siehe Kuz‘min: Sekretnye služby mnogoe znali (Anm. 25), S. 27.
49 Siehe Berichte des Ministeriums für Staatssicherheit, 19. 5. / 1. 6.1989, in: Armin Mitter / Stefan Wolle (Hg.): »Ich liebe euch doch alle!« Befehle und Tagesberichte des MfS, Januar–November 1989, Berlin 1990, S. 46–71.
50 Siehe Hertle: Der Fall der Mauer (Anm. 12), S. 59–65.
51 Siehe ders.: Die Diskussion (Anm. 12), S. 333–336.
52 Siehe ders.: Der Fall der Mauer (Anm. 12), S. 65 f.
53 Siehe Aussagen von Gerhard Schürer und Siegfried Wenzel, in: Pirker / Lepsius / Weinert / Hertle: Der Plan (Anm. 12), S. 111 f. u. 119 f.
54 Siehe Hertle: Die Diskussion (Anm. 12), S. 336–338.
55 Siehe Vorlage von G. Schürer für das SED-Politbüro, 30.10.1989, in: Deutschland Archiv 35 (1992), H. 10, S. 1116; Jörg Roesler: Der Einfluss der Außenwirtschaftspolitik auf die Beziehungen DDR – Bundesrepublik, in: Deutschland Archiv 36 (1993), H. 5, S. 568 f.; Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen (Anm. 9), S. 520 f.
56 Siehe Hertle: Der Fall der Mauer (Anm. 12), S. 66–73.
57 Siehe Mark Kramer: The Collapse of East European Communism and the Repercussion within the Soviet Union (Part I), in: Journal of Cold War Studies 5 (2003), H. 4, S. 192–200.
58 Siehe István Horváth: Die Sonne ging in Ungarn auf. Erinnerungen an eine besondere Freundschaft, München 2000, S. 144–170.
59 Siehe ebd., S. 279–333.