JHK 2009

Editorial

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite IX-XI | Aufbau Verlag

Zwischen Wahlkämpfen und Weltwirtschaftskrise wird in Deutschland 2009 auf die Grün­dung der Bundesrepublik vor 60 sowie die Friedliche Revolution vor 20 Jahren zurückgeblickt. Das Erinnerungsjahr 2009 hat nicht zuletzt auch für die internationale historische Kommunismusforschung und ihre deutschsprachige Plattform, das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, besondere Relevanz: Vor 90 Jahren gab die Gründung der Kommunistischen Internationale dem globalen ideologischen Vormachtanspruch der Bolschewiki organisatorische Gestalt. Vor 20 Jahren bewahrheitete sich schließlich in Ostmitteleuropa Lenins apodiktische Feststellung, Revolution sei, wenn »die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können«. 70 Jahre währte das kurze 20. Jahrhundert des Kommunismus in Europa, dessen unterschiedlichste Ausprägungen im Mittelpunkt der Analysen und Dokumentationen stehen, die seit 1993 im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung erschienen sind.

Zu den drei Schwerpunkten, die das Jahrbuch 2009 setzt, zählt selbstredend das Umbruchjahr 1989. Bernd Bonwetsch widmet sich dabei der KPdSU im Zeichen von Glasnost und Perestroika. Gerhard Wettig zeichnet nach, welche Bedingungsfaktoren für die Überwindung der SED-Diktatur in der DDR verantwortlich waren. Bislang unbekannte Quellen aus Archiven in Washington und Moskau konnte Mary E. Sarotte auswerten und so die US-Deutschlandpolitik in unmittelbarer Folge des Mauerfalls neu ausleuchten. Stephan Ruderer schließlich befasst sich mit der Entwicklung der politischen Linken in Lateinamerika, die nach 1989 eine unerwartete Renaissance erfuhr.

Der zweite Schwerpunkt widmet sich dem kommunistischen Regime in China, das im Herbst vor 60 Jahren seine Macht errichtete und sie im Sommer vor 20 Jahren mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens behauptete. Die Herausgeber danken Felix Wemheuer für seine Unterstützung, Themen zu benennen sowie Autorinnen und Autoren für eine Mitarbeit zu gewinnen. Acht Beiträge thematisieren die Gegenwart der Vergangenheit im heutigen China und beschreiben, wie unterschiedliche Protagonisten und Traditionen des Geschichts- bzw. Erinnerungsdiskurses im Reich der Mitte miteinander konkurrieren. Ergänzt wird dieser Schwerpunkt durch eine Studie von Michail Prozumenščikov, der anhand bislang unbekannter russischer Quellen den vergeblichen Versuch Moskaus rekapituliert, Mitte der Sechzigerjahre nach der Absetzung Chruščevs die zerrütteten Beziehungen zu Peking zu verbessern.

Den dritten Schwerpunkt des Jahrbuchs bilden Beiträge zum Verhältnis von Kommunismus und Religion und hier insbesondere zu den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Islam bzw. islamischen Ländern. Stephen Schwartz, Ragna Boden und Dianne Kirby dokumentieren, wie alle antiimperialistische Befreiungsrhetorik der atheistischen Sowjetunion und ihrer lokalen Satrapen in islamischen Ländern letztlich ins Leere lief. Patrice Ladwigs Blick auf Laos und die Studie von Claudia Rauhut zur Santería-Religion in Kuba zeigen lokale Ausprägungen des schwierigen Wechselverhältnisses von atheistischer und religiöser Weltanschauung.

Dem Schwerpunkt 1989 sind auch die drei Beiträge zuzurechnen, die in der Rubrik »Forum« erscheinen: Die Herausgeber haben die vormalige lettische Außenministerin und EU-Kommissarin Sandra Kalniete sowie den polnischen Botschafter in Berlin, den Soziologen Marek Prawda, dazu eingeladen, die geteilte Erinnerung im vereinten Europa zu vermessen und Leerstellen aufzuzeigen, die es in einer europäischen Erinnerungskultur zu füllen gilt. Beide Beiträge sollen zur Debatte über den angemessenen Umgang mit den zwei totalitären diktatorischen Systemen im Europa des 20. Jahrhunderts beitragen, die seit den Neunzigerjahren geführt wird und in der sich noch kein gesamteuropäischer Konsens abzeichnet. Keine Übereinstimmung gab es im Herausgeberkreis im Hinblick auf die Analyse und Bewertung der gegenwärtigen Archivsituation in Moskau, die Markus Wehner für das Jahrbuch verfasst hat. Der Osteuropahistoriker und Journalist beschreibt, auf welche Weise immer neue Hürden den Zugang zu russischen Archiven erschweren und wie der russische Staat momentan versucht, die russische Geschichtswissenschaft erneut in seine ideologischen Dienste zu stellen. Gleichwohl dokumentiert – bei aller Kritik – nicht zuletzt das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung Jahr für Jahr aufs Neue, wie gerade mithilfe russischer Archive die Geschichte des Kommunismus weiter ausgeleuchtet werden kann. Und so hoffen die Herausgeber darauf, mit Wehners Beitrag eine Debatte über die Archivsituation und die zeitgeschichtliche Forschung in Russland anzustoßen.

Wie stets erscheinen auch 2009 im Jahrbuch Beiträge und Miszellen, die keinem thematischen Schwerpunkt zuzuordnen sind. Ottokar Luban zeichnet die Kontakte zwischen den deutschen Linkssozialisten und den Bolschewiki am Vorabend der Novemberrevolution nach. Die Fehleinschätzungen des Nationalsozialismus durch die KPdSU und die Komintern beschreibt Leonid Luks im 70. Jahr des unseligen Hitler-Stalin-Pakts. Dieser wurde zum Symbol der Kumpanei zwischen den beiden totalitären Diktaturen, die damit ihren weltanschaulichen Anspruch, Todfeinde zu sein, temporär begruben, um Ostmitteleuropa zwischen sich aufzuteilen. Zugleich war der Pakt die entscheidende Voraussetzung für den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem deutschen Überfall auf Polen. 30 Jahre nach dem Ende des massenmörderischen Steinzeitkommunismus der Roten Khmer lenkt Volker Grabowsky die Aufmerksamkeit auf den Verlauf und die ideologischen Wurzeln des kambodschanischen »Roten Terrors«, der seit Anfang 2009 endlich strafrechtlich geahndet wird. Matthey Worley schließlich gibt einen ausführlichen Überblick über die aktuellen Tendenzen der Forschung zur Kommunistischen Partei Großbritanniens.

Der von Mitherausgeber Bernhard H. Bayerlein herausgegebene Internationale Newsletter der Kommunismusforschung informiert über Neuerscheinungen, Konferenzen und aktuelle Forschungsvorhaben. Eine ausführlichere Fassung des Newsletters findet sich im Internet.

Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit. Dank gilt auch den internationalen Beiräten des Jahrbuchs, die dessen Erarbeitung engagiert befördert haben. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat die materiellen Voraussetzungen für sein Erscheinen geschaffen, neben der Hermann-Weber-Stiftung (Mannheim) sowie der Gerda-und-Hermann-Weber-Stiftung (Berlin). Allen drei Stiftungen sei herzlich und ausdrücklich gedankt! Karin Jaeger hat das Lektorat des Jahrbuchs zuverlässig, mit Ausdauer und großem Einsatz besorgt, sie wurde dabei von Maria Matschuk, der Lektorin des Aufbau-Verlags, unterstützt. Thomas Klemm kümmerte sich akribisch um den Satz des Jahrbuchs. Ihnen allen gilt großer Dank!

Die Herausgeber hoffen, dass das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2009 wieder aufmerksame Leser findet. Im Mittelpunkt der Ausgabe 2010 werden Studien zur Geschichte der kommunistischen Bewegung Westeuropas nach 1945 stehen. Einer der Schwerpunkte des Bandes 2011 wird die Geschichte des Antikommunismus seit 1917 sein. Die Herausgeber und die Redaktion freuen sich auf interessante Beitragsangebote.

Berlin, 28. Februar 2009 Die Herausgeber

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