JHK 2009

»Es muss alles daran gesetzt werden, die Beziehungen Schritt für Schritt zu normalisieren …« – Der letzte, erfolglose Versuch einer sowjetisch-chinesischen Versöhnung

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 315-328 | Aufbau Verlag

Autor/in: Michail Prozumenščikov

Im Oktober 1964 kam es in der UdSSR zu einer »Palastrevolution«: Nach einer Verschwörung der höheren Parteinomenklatur wurde der Erste Sekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR, N. S. Chruščev, aller Funktionen enthoben. Die Geschehnisse im Kreml unterlagen strengster Geheimhaltung. Die offizielle Version klang anders: Die Welt, einschließlich der UdSSR, hörte voll Verwunderung, dass der augenscheinlich rüstige und aktive sowjetische Staatsführer unerwartet seinen Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen bekannt gab. Eines der wenigen Länder, in denen diese Nachricht mit unverhohlenem Wohlwollen aufgenommen wurde, war die Volksrepublik China.

Die Differenzen zwischen der Sowjetunion und China, die sich Anfang der Sechziger­jahre verschärft hatten, waren von Jahr zu Jahr angewachsen und beeinträchtigten nicht mehr nur die zwischenparteilichen Beziehungen, sondern auch die zwischenstaatlichen. Die Polemik zwischen der KPCh und der KPdSU nahm immer schärfere und unversöhnlichere Formen an, und da China im Streit mit der UdSSR von Albanien, Nordkorea, Vietnam und einer ganzen Reihe kommunistischer Parteien unterstützt wurde, war die Spaltung der internationalen kommunistischen Bewegung zu einer unumkehrbaren Tatsache geworden. Beide Parteien beschuldigten sich des Verrats an den Lehren des Marxismus-Leninismus und den Anliegen des proletarischen Internationalismus. Chruščev hatte in diesem sowjetisch-chinesischen Streit eine Schlüsselrolle eingenommen.

Am Tag nach Chruščevs Absetzung bat der sowjetische Botschafter in der VR China, S. V. Červonenko, das ZK der KPCh um ein Treffen mit einem ihrer Parteiführer. Červonenko gab zu verstehen, dass er eine äußerst wichtige Information zu übermitteln habe. Daraufhin wurden der Botschafter und seine Begleiter (der erste Botschaftssekretär A. A. Brežnev und der dritte Botschaftssekretär J. M. Galenovič) am 15. Oktober um Mitternacht vom Mitglied des ZK der KPCh Hu Suzuan, dem stellvertretenden Leiter der ZK-Abteilung für Verbindungen mit den Bruderparteien, empfangen. Červonenko teilte ihm mit, dass am 16. Oktober der Beschluss des ZK der KPdSU über die Entfernung Chruščevs aus allen Funktionen veröffentlicht werde. Dabei betonte er, dass »die KPdSU sich auch in Zukunft streng an die Beschlüsse des XX., des XXI., und des XXII. Parteitages sowie an das Programm der KPdSU halten und hartnäckig für die Einheit der internationalen kommunistischen Bewegung, die Geschlossenheit der sozialistischen Länder, basierend auf den Erklärungen und Deklarationen, die bei den Konferenzen von Moskau verabschiedet wurden, kämpfen wird.«1 Hu Suzuan antwortete in der für die sowjetisch-chinesiche Polemik bereits typischen Manier, die Parteitage und das Programm der KPdSU gingen die VR China nichts an. In Peking würde man es jedoch »entsprechend bewerten, wenn es die KPdSU schaffen würde, sich mit aller Ernsthaftigkeit an den revolutionären Geist und die revolutionären Prinzipien der Deklaration und der Erklärung zu halten«.2

Obwohl laut Červonenko »das Verhalten Hu Suzuan den Eindruck erweckte, dass die Chinesen in irgendeiner Form bereits vor diesem Gespräch über unsere Mitteilung Bescheid wussten«,3 wirkte die Reaktion Pekings auf diese Nachricht aufgeregt und widersprüchlich. Offensichtlich versuchte die chinesische Führung, innerhalb weniger Tage eine neue Linie für ihr Verhalten unter den sich verändernden Umständen auszuarbeiten und sich auf mögliche Änderungen in der sowjetischen Außenpolitik einzustellen. Dies erklärt zumindest zum Teil den Stopp der damals seit einigen Monaten laufenden antisowjetischen Propagandakampagne in den chinesischen Medien. Wie man auch in Moskau bemerkte, stellte das Radio in Peking die Übertragung eines antisowjetischen Schreibens des ZK der albanischen KP ein, nachdem die KPCh-Führung die Nachricht von der Absetzung Chruščevs erhalten hatte. Stattdessen wurden TASS-Nachrichten über die Beschlüsse des ZK der KPdSU und des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, die die Absetzung Chruščevs betrafen, ins Programm aufgenommen.4 Am 17. Oktober wurde in der chinesischen Presse der Text eines Glückwunschtelegramms der Parteiführer der KPCh an die neuen sowjetischen Staatsführer L. I. Brežnev und A. N. Kosygin veröffentlicht. Danach verschwand binnen weniger Tage die sowjetische Problematik ganz aus den chinesischen Zeitungen und Radiosendungen.

In China verfolgte man die Reaktionen der anderern vor allem der europäischen kommunistischen Parteien auf die Absetzung Chruščevs und analysierte die Positionen ihrer führenden Funktionäre unter den veränderten Umständen. Besondere Aufmerksamkeit erhielt die Aussage des PVAP-Vorsitzenden Gomułka: »Die größte Verantwortung für die Einheit und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers und der internationalen kommunistischen Bewegung tragen die Sowjetunion und die Volksrepublik China sowie die kommunistischen Parteien dieser beiden größten sozialistischen Länder.« Auch die Aussage des neuen Parteichefs der italienischen Kommunisten, Luigi Longo, wurde hervorgehoben: »Als die sowjetischen Genossen vorschlugen, eine internationale Konferenz mit dem Ziel der Regulierung der Meinungsverschiedenheiten einzuberufen, sprachen wir uns sofort gegen eine solche Konferenz aus.« Wichtig genommen wurden außerdem das Kommuniqué des Politbüros des ZK der KPF und die Resolution des ZK der USAP, in denen die Lage der internationalen kommunistischen Bewegung in der UdSSR analysiert wurde.5

Offenbar sah man sowohl in Moskau als auch in Peking in der Absetzung Chruščevs eine reale Chance zur Verbesserung der Beziehungen. In der UdSSR wurden ab Oktober 1964 antichinesische Publikationen und Radiosendungen eingestellt. Auch die relativ freundlich klingenden ersten Erklärungen der neuen sowjetischen Parteiführer (beim Treffen der Kosmonauten in Moskau und bei einem Empfang zu deren Ehren am 19. Oktober) weckten in den KPCh-Führern gewisse Hoffnung auf positive Veränderungen in der sowjetischen Politik. Darüber hinaus zeigte sich die KPdSU bereit, den Arbeitsbeginn der Redaktionskommission zur Einberufung einer neuen Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien, welche die KPCh und ihre Anhänger boykottieren wollten, nach hinten zu verschieben.6

Wahrscheinlich brachen deshalb die Chinesen das lange währende Schweigen im so­wjetisch-chinesischen Dialog als Erste: Am 28. Oktober wurde Červonenko zum Premier­minister der VR China Zhou Enlai eingeladen – eine Besonderheit, da in den Monaten zuvor ausschließlich zweitrangige Politiker der chinesischen Parteiführung mit dem sowjetischen Botschafter in Kontakt gewesen waren. Zhou Enlai erklärte, die KPCh sei immer für die Geschlossenheit der beiden Parteien und Völker auf Grundlage des Marxismus-Leninismus und des proletarischen Internationalismus gewesen. Zudem wolle die KPCh die Kontakte mit der KPdSU auf parteilicher und staatlicher Ebene ausweiten – im Namen des ZK der KPCh schlug Zhou Enlai vor, eine Partei- und Regierungsdelegation unter seiner Leitung zu den Feierlichkeiten zum 47. Jubiläum der Oktoberrevolution in die So­wjetunion zu schicken sowie auch die Vorsitzenden anderer Bruderparteien nach Moskau einzuladen – diese Parteien sollten jedoch auch selbst die Initiative für eine Reise in die UdSSR ergreifen. Von dem Wunsch, wieder Beziehungen zur KPdSU herzustellen, zeugt auch ein Versprecher des Premierministers. »Wenn«, sagte Zhou Enlai zu Červonenko, »die Realisierung dieses Vorschlages zu Schwierigkeiten führen sollte, dann würde die chinesische Seite einen Besuch der verantwortlichen sowjetischen Vertreter in der VR China begrüßen, um auf offizieller oder inoffizieller Ebene Kontakte mit den chinesischen Parteiführern zu knüpfen.«7

Dass die UdSSR sofort auf diesen Vorschlag reagierte, lässt vermuten, dass man dort mit einer solchen Entwicklung der Ereignisse einverstanden war. Nach einer Beratung mit den Parteichefs der Ostblockländer sagte sie bereits am 30. Oktober zu und informierte auch gleich mehrere westliche kommunistische Parteien von ihrem Entschluss. Den KPCh-Führern erklärte man, man teile ihre Meinung, dass »wir Schritt für Schritt die sowjetisch-chinesischen Beziehungen verbessern müssen«,8 und Vertretern anderer kommunistischer Parteien, dass die KPdSU »wie immer bereit ist, alle vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, um die Einheit der internationalen kommunistischen Bewegung basierend auf den Prinzipien des Marxismus-Leninismus, der Deklaration und der Erklärung der Konferenzen in Moskau zu stärken«.9 Die dringenden Bitten Zhou Enlais, keinen Vertreter Jugoslawiens zu den Feierlichkeiten einzuladen, wurden jedoch in Moskau ignoriert.

Die UdSSR demonstrierte ihrerseits große Bereitschaft zur Wiederaufnahme normaler Beziehungen zwischen beiden Ländern. In diesem Zusammenhang erscheinen die Anweisungen des Politbüros des ZK der KPdSU von Interesse, die am Vortag der chinesischen Feierlichkeiten zum alljährlichen Jubiläum der Oktoberrevolution an den sowjetischen Botschafter in Peking geschickt wurden:

»Alle Veranstaltungen in Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 47. Jubiläum der Oktoberrevolution, an denen chinesische Vertreter teilnehmen werden, sind in freundschaftlicher und ungezwungener Atmosphäre zu halten. Treffen und Empfänge müssen unbedingt so organisiert werden, dass die chinesischen Genossen eine klare Vorstellung davon bekommen, dass wir bereit sind, mit ihnen in Kontakt zu treten und Fragen von allgemeinem Interesse mit ihnen zu erörtern.

Sollten Mao Zedong oder Liu Shaoqi bei einem Empfang anwesend sein, dann muss ihnen und den anderen wichtigen chinesischen Gästen selbstverständlich die nötige Aufmerksamkeit gewidmet werden. Sollten von ihrer Seite Bemerkungen kommen, die wichtige Fragen der sowjetisch-chinesischen Beziehungen betreffen, sind Sie angehalten, sich an unsere Ihnen bekannte prinzipielle Linie zur Stärkung der Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern zu halten. Unterstreichen Sie, dass unsere Partei, das ZK-Präsidium der KPdSU und die sowjetische Regierung alles tun und auch weiterhin alles Nötige tun wollen, um unsere Beziehungen zur VR China weiterzuentwickeln, und dass wir uns von dem Besuch der Partei- und Regierungsdelegation der VR China in Moskau eine positive Bedeutung für unsere Parteien und Völker erwarten. Je nachdem, wie sich die Situation auf dem Empfang entwickelt, können Sie einen Toast aussprechen, in dem Sie den beständigen Wunsch des ZK der KPdSU, der sowjetischen Regierung und des sowjetischen Volkes nach einer Stärkung und Entwicklung der sowjetisch-chinesischen Freundschaft, der Einheit und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers und der kommunistischen Bewegung erwähnen. Wünschen Sie der KPCh und dem chinesischen Volk außerdem viel Erfolg beim Aufbau des Sozialismus.«10

Červonenko wurde vorgeschlagen, bei der feierlichen Versammlung zum Jubiläum der Oktoberrevolution in Peking eine Rede zu halten. Darin sollte das »ehrliche Bestreben des ZK der KPdSU und der sowjetischen Regierung, die brüderliche Freundschaft und die lückenlose Zusammenarbeit mit der KPCh und dem chinesischen Volk auf Grundlage der Prinzipien des Marxismus-Leninismus und des proletarischen Internationalismus zu entwickeln«,11 betont werden, aber die Rede sollte allgemeinpolitischen Charakter haben und schwierige Fragen aussparen.

Es zeigte sich jedoch bald, dass der Wunsch nach Überwindung bestehender Differenzen sehr weit von der Realität entfernt war. Die Hoffnungen speisten sich zum einem guten Teil aus der Spezifik des Konflikts: Sowohl in der UdSSR als auch in China wurde die Politik des Gegners stark mit der Person des jeweiligen Staatsführers verbunden. Auf dieser Basis baute man eine Taktik gegenseitiger Beschuldigungen auf. Wenn er politische Handlungen Chinas kritisierte, hatte sich Chruščev des Öfteren herablassend oder gar beleidigend Über Mao Zedong geäußert, etwa indem er ihn beschuldigte, »den Marxismus nicht zu verstehen«. Die VR China konzentrierte ihre Kritik auf die Figur Chruščev – er wurde als wichtigster Vermittler des »gegenwärtigen Revisionismus« bezeichnet und für die sowjetisch-chinesischen Konfrontationen verantwortlich gemacht. Peking empfand den Sturz des sowjetischen Parteichefs dementsprechend als großen Sieg der Volksrepublik China und rechnete damit, dass der Wechsel an der Parteispitze auch die gesamte Linie der Partei ändern und diese auf den »wahren marxistischen Weg« zurückkehren würde, von dem sie in den Fünfzigerjahren abgekommen sei.

Peking übersah jedoch, dass in der Sowjetunion weiterhin Personen an der Macht blieben (vor allem A. I. Mikojan und M. A. Suslov), die nicht einfach gehorsam dem politischen Zickzackkurs Chruščevs gefolgt, sondern selbst für einige der in China so unbeliebten Ideen verantwortlich waren, die zu den Beschlüssen des XX. und XXI. Parteitags der KPdSU und zum neuen Programm der sowjetischen KP geführt hatten. Und die breite Schicht der Parteinomenklatur, die von Chruščev herangezüchtet worden war (und die man in China als »neue sowjetische Bourgeoisie« bezeichnete), wollte keineswegs Privilegien und gesicherte Verhältnisse den Interessen der Weltrevolution opfern.

Den Mitgliedern der großen, verhältnismäßig hochrangigen chinesischen Delegation,12 die am 5. November 1964 nach Moskau abreiste, war nicht bewusst, dass die sowjetischen Parteiführer vor allem auf Kosten der chinesischen Seite zu Zugeständnissen bereit waren. Der UdSSR konnte freilich nicht entgehen, dass die Vertreter der Volksrepublik China ihrerseits vor dem Treffen von Vertretern beider Parteien in Moskau bei internationalen und gesellschaftlichen Organisationen die sowjetische Position sondierten und beständig versicherten, China werde keine Kompromisse eingehen. So informierte der Sekretär des ZK des Komsomol, S. P. Pavlov, das ZK der KPdSU darüber, dass der chinesische Vertreter beim Internationalen Studentenbund (ISB), Hu Shuji, in Gesprächen mit sowjetischen Vertretern in dieser Organisation die Möglichkeit einer Änderung der sowjetischen Position in prinzipiellen Fragen beschwor. Außerdem habe er nach Anzeichen einer Veränderung der Tätigkeiten des ISB gesucht, die für eine mögliche Normalisierung der Beziehungen zwischen der KPCh und der KPdSU sprechen könnten. Obwohl Hu Shuji hart­näckig wiederholte, »man sollte nicht über die Vergangenheit nachdenken, sondern über die Gegenwart und die Zukunft«, und die chinesische KP vermeide offene Polemik gegen die UdSSR, gab er gleichzeitig zu verstehen, dass die Position der Chinesen »vollkommen klar und unveränderlich ist und sie nicht vorhaben, sich in prinzipiellen Fragen auf irgendwelche Kompromisse einzulassen«.13

Die mangelnde Bereitschaft beider Seiten zu Kompromissen wurde ganz besonders während der sowjetisch-chinesischen Verhandlungen in Moskau deutlich, die im Anschluss an die Feierlichkeiten stattfanden. Die Verhandlungen, die am 8. November begannen und bis zum 11. November fortgesetzt wurden, verliefen äußerst schwierig. Die Vertreter der KPCh erklärten, die politische Linie der KPdSU sei immer noch die »Chruščev-Linie«. Deshalb müsse sie sich von ihr lösen, denn es sei nicht möglich, die »richtige Linie der KPCh« mit der »falschen Linie der KPdSU« zu vereinbaren. Sollte dies nicht geschehen, sehe die KPCh keine Möglichkeit, den Kampf zu beenden.14

Die ultimativen Forderungen der chinesischen Delegation an die KPdSU waren für die sowjetische Seite nicht annehmbar. Ein solches Nachgeben hätte (auch wenn die UdSSR mit einigen chinesischen Forderungen einverstanden gewesen wäre15) dem politischen Image der führenden kommunistischen Partei nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt und zur Überlegenheit der KPCh geführt. Die sowjetischen Verhandlungspartner versuchten deshalb ihren chinesischen Kollegen einzureden, dass die KPdSU nicht »von einer Revision der Parteilinie der KPCh spreche, auch wenn sie in vielen Punkten damit nicht einverstanden ist«, und dass, »wenn jede der beiden Delegationen von der anderen fordern würde, ihre grundlegende Parteilinie zu revidieren, die Verhandlungen wahrscheinlich in eine Sackgasse führen würden«.16 Die drängendste Aufgabe bestehe darin, mit der Normalisierung der Beziehungen unter Berücksichtigung bestehender Differenzen zu beginnen und parallel Bedingungen für eine ruhige Erörterung der prinzipiellen Streitfragen zu schaffen.

Die UdSSR war bereit, frühere Fehler in den sowjetisch-chinesischen Beziehungen einzugestehen, wobei, wie des Öfteren in der sowjetischen Geschichte, dem in Ungnade gefallenen Chruščev die gesamte Schuld zugeschoben wurde. Brežnev bejahte, dass »auch wenn die prinzipielle Linie der KPdSU im Streit mit der KPCh richtig war und ist, einige Aussagen und Handlungen des Genossen Chruščev der Entwicklung der ohnehin schon schwierigen Beziehungen zwischen unseren beiden Parteien und Staaten Schaden zufügten. […] Mit dem Rücktritt des Genossen Chruščev aus der Parteiführung wurden solche Momente zu einem großen Teil aus den sowjetisch-chinesischen Beziehungen gestrichen. Dies erleichtert sowohl uns als auch den chinesischen Parteiführern die Arbeit.«17 Die chinesische Delegation wollte dieser Argumentation jedoch nicht folgen und forderte von den Parteiführern der KPdSU praktisch die »widerstandslose Kapitulation«.

Eine wichtige Frage in den Verhandlungen betraf die Einberufung der Redaktionskommission. Die chinesische Delegation lehnte eine Teilnahme der KPCh kategorisch ab. Die Parteiführer der KPdSU antworteten, der Beschluss, eine solche Kommission einzuberufen und danach eine Konferenz der Bruderparteien durchzuführen, spiegle den Willen von 61 Parteien wider. Die KPdSU würde sich keinesfalls an das Datum 15. Dezember »klammern«, und sollte sich die KPCh für eine Teilnahme an den gemeinsamen Bemühungen zur Überwindung der Meinungsverschiedenheiten aussprechen, so sei man in der UdSSR bereit, jeden Vorschlag bezüglich des Datums der Einberufung der Kommission, ihrer Zusammensetzung, ihres Namens und ihrer Arbeitsmethoden zu überdenken.18

Im Laufe der Verhandlungen versuchte die chinesische Delegation, anhand einzelner Aussagen sowjetischer Parteiführer nachzuweisen, dass die Politik der UdSSR auch ohne Chruščev in dessen Manier weitergeführt werde. Als Zhou Enlai behauptete, die »Befehle Chruščevs« würden weiterhin befolgt, erwiderte Mikojan etwa, dass »es in ideologischen Fragen, die unsere Beziehungen zur Volksrepublik China betreffen, bei uns im ZK keine Differenzen mit Genossen Chruščev, ja nicht einmal kleine Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage gegeben hat«.19 Die Chinesen erklärten daraufhin, dass unter diesen Umständen keine Verbesserung in den Beziehungen mit der KPdSU zu erwarten sei und dass sie keine Basis für weitere Verhandlungen sähen.

Noch größere Empörung auf chinesischer Seite verursachte ein Zwischenfall während des feierlichen Empfangs im Kreml am 7. November. Der Verteidigungsminister der UdSSR, Marschall der Sowjetunion R. J. Malinovskij, schlug Zhou Enlai praktisch vor, mit Mao Zedong dieselbe »Operation« durchzuführen wie mit Chruščev: »Die Ära Chruščevs ist zu Ende, wir dürfen niemandem erlauben, unsere Beziehungen zu trüben, und kein Mao und kein Chruščev sollen uns im Weg stehen.«20 Diese Aussage des angetrunkenen Marschalls fasste einen Gedanken in Worte, der in den Köpfen vieler sowjetischer und chinesischer Politiker umherschwirrte: Chruščev und Mao seien für die Verschlechterung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen verantwortlich; um diese zu verbessern müssten demnach beide Parteichefs die politische Arena verlassen. Dass dies jedoch öffentlich, in einem Saal voller Menschen (darunter auch westliche Diplomaten21), geäußert wurde, sorgte für große Resonanz. Die chinesischen Vertreter verurteilten Malinovskijs Worte als »Aufruf, Mao Zedong zu stürzen«. Sie unterstellten der sowjetischen Führung, diese Aussage spiegle den Standpunkt des ZK der KPdSU wider. Die sowjetische Delegation musste nun ständig beweisen, dass dem nicht so sei, und betonen, dass Malinovskij selbst »sich für den falsch formulierten Gedanken entschuldigt«.22

Gegen Ende beruhigten sich die Verhandlungen. Dies wurde am 12. November beim Austausch gegenseitiger Komplimente und Respektsbekundungen deutlich. Nachdem auf Bitten der chinesischen Delegation Informationen über die Beschlüsse des Oktoberplenums des ZK der KPdSU bekannt gegeben wurden, gaben die chinesischen Vertreter die Erklärung ab, deren Vertraulichkeit zu berücksichtigen. Dabei merkte Zhou Enlai an, dass »gegenseitiges Vertrauen das Minimum dessen ist, was für uns notwendig ist«. Zudem wiederholte er die Worte Mao Zedongs23 an V. V. Grišin, den Leiter der KPdSU-Delegation, die im Herbst 1964 in China gewesen war: »Unser Streit ist eine vorübergehende Erscheinung, unsere Geschlossenheit jedoch soll ewig währen.«24

Die Delegation der KPdSU schlug ein Treffen von Vertretern beider Parteien und Länder auf höchster Ebene vor (»entweder in Moskau oder in Peking, wir können das Treffen öffentlich oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchführen«). Dort sollten Meinungen zu diversen Fragen ausgetauscht werden, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und die Einheit der KPdSU und der KPCh, der Sowjetunion und der Volksrepu­blik China zu stärken. Zhou Enlai versprach die Weiterleitung des Vorschlags an das ZK der KPCh, forderte jedoch Bemühungen beiderseits auf der Suche nach neuen Wegen ein. »Solltet ihr irgendwann meinen, dass der Zeitpunkt für ein solches Treffen gekommen ist«, sagte Zhou Enlai, »dann könnt ihr konkrete Möglichkeiten einbringen – was erörtert werden soll und wie.«25 Er wolle die Türen für eventuelle Beratungen zwischen den beiden Parteien offen lassen.

Der ruhige Abschluss der Verhandlungen konnte gelingen, weil beide Seiten die Position des Gegners für sich bereits geklärt hatten und weitere sinnlose Diskussionen zu vermeiden suchten. Moskau war der Meinung, dass »die chinesischen Parteiführer diese Kontakte als eine Art ›gewaltsamer Aufklärung‹ betrachteten, mithilfe derer sie versuchten, unsere Standhaftigkeit in der Verteidigung der prinzipiellen Linie der KPdSU auszuloten«, schloss aber nicht aus, dass die Beschlüsse des Oktoberplenums des ZK der KPdSU der KPCh die Möglichkeit geben könnten, sich anzunähern, ohne das Gesicht zu verlieren.

Die Mehrheit der Mitglieder des ZK-Präsidiums der KPdSU blieb jedoch skeptisch. Informationen, die von allen Seiten im Kreml eingingen, nährten die Zweifel an der Annäherung Pekings in prinzipiellen Fragen. Dies machte sich vor allem am Verhalten der chinesischen Staatsbürger, wie den Studenten und Aspiranten, die sich in der UdSSR aufhielten, bemerkbar. Diese ließen noch im Oktober 1964 die politischen Veränderungen in der UdSSR unkommentiert, wurden aber bereits im November aktiver. So meldete der KGB zum Beispiel an das ZK der KPdSU, chinesische Studenten begännen immer öfter Gespräche über die Absetzung Chruščevs mit sowjetischen Personen und versuchten, »sie in eine Polemik zu diesem Thema zu ziehen«.26 Die Chinesen bedienten sich in diesen Diskussionen relativ einfacher Hauptthesen: Der wahre Marxismus-Leninismus entwickle sich in China, in der UdSSR gedeihe hingegen der Revisionismus, und die Zeit werde zeigen, dass Mao Zedong recht habe; die Absetzung Chruščevs sei ein Sieg der chinesischen Politik. Und da ironischerweise der Sturz Chruščevs zeitlich mit dem ersten Atombombenversuch Chinas zusammengefallen war – den die UdSSR und die USA vergeblich zu verhindern versucht hatten27 –, wurden die geflügelten Worte Mao Zedongs, dass »der Ostwind nun den Westwind beherrscht«, nun von den Chinesen bei jeder Gelegenheit wiederholt.28

Besondere Unzufriedenheit rief bei den sowjetischen Parteiführern hervor, dass Kritik vonseiten der Chinesen über ideologische Meinungsverschiedenheiten hinauszugehen begann und bald alle Aspekte der sowjetischen Gesellschaft einschloss. Meldungen des KGB verzeichneten, dass Chinesen vom niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung der UdSSR und von einer privilegierten »neuen sowjetischen Bourgeoisie« sprachen. Sie »machten die sowjetische Realität schlecht, verleumdeten unsere Presse, indem sie behaupteten, darin würde alles verzerrt dargestellt, die Pravda schreibe schon längst nicht mehr die Wahrheit usw.«29 Die UdSSR war darüber im Bilde, dass alle Tätigkeiten chinesischer Staatsbürger in der Sowjetunion von der chinesischen Botschaft in Moskau koordiniert und streng kontrolliert wurden. Sie unterstellte deshalb, die Studenten verbreiteten die offizielle Meinung der chinesischen Führung. Nachdem die Verhandlungen ohne Kompromiss endeten, verschärften sich derartige Aussagen.

In Moskau lebende chinesische Bürger wurden »aus erster Hand« über den Ausgang der Verhandlungen im November informiert, während ihre sowjetischen Gegner sich mit Gerüchten oder den äußerst dürftigen Informationen aus der offiziellen Presse zufrieden­geben mussten.30 Am Morgen des 13. November sprachen Zhou Enlai und der Assistent des Außenministers, Ziao Guanhua, in der Botschaft der VR China zu ihren Bürgern. Zhou Enlai rief sie dazu auf, »aktiv gegen den Revisionismus anzukämpfen, denn die Revisionisten leisten Widerstand bis zum Ende […] und ziehen es vor, in die Sackgasse Chruščevs zu laufen«.31 Noch schärfer fiel die Erklärung Ziao Guanhuas aus: »Unsere Freunde, das heißt jene, die die Revolution wollen, das sind die meisten Völker der ganzen Welt. Mit ihnen sprechen wir die gleiche Sprache, mit den Revisionisten jedoch können wir keine gemeinsame Sprache finden. Diese Reise in die UdSSR schürte bei uns nur den Zorn, weil sie weiterhin darauf bestehen, den Kurs Chruščevs weiterzuführen. […] Ihre Tage sind gezählt. Chruščev herrschte zwölf Jahre lang, sie selbst bleiben vielleicht noch drei Jahre und verlassen dann die Arena. Ihr Schicksal wird noch trauriger sein als das von Chruščev. Die Mehrheit des sowjetischen Volkes hofft auf eine Wiederherstellung und Entwicklung der Freundschaft zwischen unseren Ländern. Das Volk war sehr froh darüber, dass der Premierminister angereist ist. Er ist besorgt um den Ausgang der Verhandlungen beider Parteien, er ist besorgt um unsere Freundschaft, die Clique um seine Führungspersonen jedoch handelt im Widerspruch zu den Bestrebungen des Volkes.«32

Es erstaunt nicht, dass derartige Reden zu einer Verschärfung im Ton der Äußerungen chinesischer Staatsbürger führten, wie auch in den Beziehungen zwischen sowjetischen und chinesischen Studenten. Letztere sprachen offen davon, dass »die sowjetischen Parteiführer sehr schlecht sind, keine Verbesserung in den Beziehungen zwischen unseren Ländern wollen«, dass »die Widersprüche zwischen der KPCh und der KPdSU mit den Widersprüchen zwischen Kapitalismus und Sozialismus verglichen werden können, sie haben antagonistischen Charakter« usw.

Ein Treffen in Peking, das von der am 14. November aus Moskau zurückkehrenden Delegation organisiert wurde, diente offensichtlich der Demonstration, dass man die harte und unerbittliche Linie der Volksrepublik China bei den Verhandlungen in Moskau guthieß. Bezeichnend ist, dass die Delegation praktisch auf die gesamte daheim gebliebene chinesische Führung traf, mit Mao Zedong höchstpersönlich an der Spitze.33 Hier drängte sich eine Analogie auf: In genau derselben Besetzung (Zhou Enlai kam an, Mao Zedong empfing) und denselben Ausmaßen war 1961 die chinesische Delegation empfangen worden, die vorzeitig vom XXII. Parteitag der KPdSU zurückkehrte. Dort hatten die sowjetisch-chinesischen Streitigkeiten offiziell begonnen.

Eine Woche später, am 21. November, wurde in Peking der Artikel »Warum Chruščev abgetreten ist« veröffentlicht. Damit begann sich die sowjetisch-chinesische Polemik von Neuem zu verschärfen. Nachdem man sich vergewissert hatte, dass sowjetische Parteiführer einzelne Maßnahmen Chruščevs gegen China verurteilten, ohne sich aber im Ganzen von den Beschlüssen der letzten Parteitage und einigen Leitsätzen des neuen KPdSU-Programms loszusagen, konzentrierte sich die harte chinesische Kritik nunmehr auf die neue sowjetische Führung. Diese sei die Nachfolgegeneration einer gescheiterten ideologischen und politischen Plattform und werde mit ihren Versuchen, einen theoretischen und praktischen »Chruščevismus ohne Chruščev« durchzusetzen, sehr bald zugrunde gehen.34 Das Erscheinen dieses Artikels machte öffentlich, dass es nicht gelungen war, die Spaltung zu überwinden. Brežnevs folgende Aussage, dass es »auf dieser Welt keine solche Macht gibt, die es schaffen könnte, unsere Partei und unser Volk vom vorgesehenen historischen Weg abzubringen«,35 wurde in der VR China erneut mit der These von der inneren Verwandlung der KPdSU zu einer revisionistischen Partei und vom Verlust des sozialistischen Charakters der Sowjetunion beantwortet.

Moskau gab die Hoffnung auf normale Beziehungen dennoch noch nicht auf: Man startete dort neue Initiativen, schlug Treffen auf höchster Ebene vor und verhielt sich ausgesprochen höflich und respektvoll gegenüber den KPCh-Führern. Wie versprochen verschob die UdSSR die Versammlung der Redaktionskommission vom 15. Dezember 1964 auf den Frühling des nächsten Jahres. Am 26. Dezember schickte Brežnev persönlich Geburtstagsgrüße an Mao Zedong, obwohl er keinen runden Geburtstag feierte (er wurde 71 Jahre alt). Seit der Abkühlung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China überbrachte sonst in ähnlichen Fällen der sowjetische Botschafter in Peking Glückwünsche in mündlicher Form.36 Anfang 1965 wurde dann Botschafter Červonenko aus Peking abgezogen, weil er nach Meinung der sowjetischen Parteiführer nicht dazu beitrug, einen konstruktiven Dialog mit Peking in Gang zu bringen.

Ende 1964 bereitete die Kommission für Außenpolitik des ZK der KPdSU Vorschläge zur Normalisierung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen auf einer Sitzung des ZK-Präsidiums vor. Vorgeschlagen wurden eine Reihe von Maßnahmen in den nächsten fünf bis sieben Monaten, um Schritt für Schritt die Beziehungen zur KPCh wieder zu verbessern. Kritische Fragen sollten unbedingt vermieden werden. Vielmehr sollten die gemeinsamen Aufgaben im Kampf für den Frieden, gegen den Imperialismus in den Vordergrund gestellt und Initiativen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit sowie zur Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen im Allgemein ergriffen werden. Im Zuge dessen sollten nach und nach konkrete Vorschläge eingebracht werden.37

Der Plan der Autoren des Dokuments (hauptverantwortlich war Suslov) sah folgendermaßen aus: Sollten die sowjetischen Vorschläge angenommen werden, wäre dies im Interesse beider Seiten und der gesamten kommunistischen Bewegung; sollten sie zurückgewiesen werden, würden die chinesischen Parteiführer damit beweisen, dass sie allein die Verantwortung für die Differenzen in der kommunistischen Bewegung tragen. Die Initiative zur Verbesserung der Beziehungen zur VR China sollte die Darstellung der KPdSU als das Hindernis für die Überwindung der Schwierigkeiten innerhalb der kommunistischen Bewegung unterbinden. Zudem sollte die sowjetische Positionen gegenüber jenen kommunistischen Parteien (zum Beispiel der RAP38), die versuchten, als »Schiedsrichter« oder »Vermittler« zu fungieren, gestärkt werden.

Es war offensichtlich, dass das Dokument, das bei einer Sitzung des ZK-Präsidiums der KPdSU im Januar 1965 angenommen wurde, vorrangig propagandistischen Charakter besaß und kaum ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen würde. Angesichts dessen, dass die antisowjetischen Tendenzen Pekings immer neue Wendungen nahmen, erschienen die Vorschläge – Austausch von Parteidelegationen, Erweiterung der wissenschaftlich-technischen und kulturellen Zusammenarbeit oder Erweiterung des Warenhandels zwischen den beiden Ländern – eher unrealistisch. Weiter erschwert wurden die Bemühungen dadurch, dass China den bereits zuvor erprobten Kampfmethoden – Veröffentlichung antisowjetischer Artikel und Reden, Nachdruck ähnlicher Materialien aus albanischen, indonesischen und anderen Quellen, Fraktionstätigkeiten der chinesischen Delegierten in internationalen Organisationen usw. – neue hinzufügte: Die chinesischen Parteiführer begannen offen zum »Sturz der sowjetischen Revisionisten« aufzurufen und Ultimaten zu stellen.

China begann offensichtlich selbst daran zu glauben, dass die Absetzung Chruščevs ein Verdienst der KPCh und die Reaktion des sowjetischen Volkes auf die Aufforderungen Pekings gewesen sei. Entsprechend hoffte die KPCh noch eine Weile, dass die »Nachfolger Chruščevs« von einer »Welle des Volkszorns« weggefegt und in der UdSSR Männer Macht erlangen würden, die die Ansichten der KPCh-Führung teilten. Immer wieder betonten daher Chinesen in Gesprächen den Unterschied zwischen der »bösen« sowjetischen Regierung und dem »guten« sowjetischen Volk, um die Existenz prochinesicher politischer Kräfte zu beschwören. Bald sollte diese Euphorie in China vorbei sein und die UdSSR zu einer »Hochburg des Revisionismus« werden, doch zu Beginn des Jahres 1965 glaubte die chinesische Führung ernsthaft an mögliche baldige Veränderungen in der sowjetischen politischen Elite.

Dass einzelne sowjetische Parteiführer tatsächlich einen Anknüpfungspunkt zwischen beiden Ländern und Parteien suchten, auch wenn dieser mit großen Zugeständnissen verbunden gewesen wäre, bemerkte man in Peking nicht. Diese Versuche gingen vor allem vom neuen Premierminister Kosygin aus. Er schlug ein Treffen der Regierungschefs der beiden Länder am 1. März 1965 vor (auf diesen Tag war die Versammlung der Redaktionskommission verschoben worden).39 Kurz darauf beantragte er, die Idee einer Redaktionskommission überhaupt wieder zu verwerfen: weil »unser Prestige deswegen keinen Schaden erleiden wird, in der Partei werden von uns richtige Kontakte erwartet«, und weil es ganz allgemein notwendig sei, »das Joch, das Chruščev der kommunist[ischen] Bewegung auferlegt hat, abzuwerfen«.40 Kosygin begann die oben erwähnte Initiative zur Absetzung des sowjetischen Botschafters in der Volksrepublik China (gleichzeitig wurde auch der Botschafter in der Republik Nordkorea abgesetzt!).

In der Versammlung des ZK-Präsidiums der KPdSU erlangte der sowjetische Premier keine Mehrheit. Anfang Januar 1965 unterstützten ihn in der China-Frage noch A. P.Kirilenko, A. N. Šelepin und V. P. Mžavadnadze, und viele Mitglieder der sowjetischen Parteiführung positionierten sich nicht klar, doch kurz darauf änderte sich die Situation. Kosygins Behauptung »Verhandlungen bedeuten immer Kompromisse« sorgte bei Suslov, Mikojan, N. V. Pogdornyj und P. E. Šelest für Widerspruch. Die Chinesen forderten ihrer Ansicht nach nur Kompromisse prinzipieller Art – alle anderen Vorschläge des Premier­ministers seien im disharmonischen Chor der Gegner untergegangen, in dem Phrasen wie: »die Frage betrifft unser Prestige« und »wir könnten eine Ohrfeige einstecken« oft wiederholt wurden.41 Zu maximalen Zugeständnissen von sowjetischer Seite kam es vor allem, weil Kosygin die Erlaubnis erhielt, sich während eines kurzen Aufenthalts in Peking im Zuge seines Staatsbesuchs in Vietnam42 mit Zhou Enlai zu treffen, und weil die Redaktionskommission in ein Konsultationstreffen umbenannt wurde, was aber an den Inhalten nichts änderte.

Die Ereignisse Ende 1964, Anfang 1965 zeigten eindeutig, dass die Differenzen zwischen den beiden Parteien so tief lagen, dass auch der Abgang eines der beiden Hauptverantwortlichen für die Spaltung nicht zu den erwarteten Veränderungen in den sowjetisch-chinesischen Beziehungen führte. Diese verschlechterten sich weiter, und bald kam es zum vollständigen Bruch zwischen beiden Parteien. Die durch die Absetzung Chruščevs entstandene letzte Chance, die Differenzen zwischen den beiden Ländern und den beiden mächtigsten kommunistischen Parteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenigstens teilweise zu überbrücken, wurde nicht genutzt.

Aus dem Russischen von Julija Schellander


1 Russisches Staatsarchiv für neuere Geschichte (Im Folgenden: RGANI), F. 5, op. 49, d. 716, S. 360.

2 RGANI, F. 5, op. 49, d. 716, S. 360. Die Deklaration von 1957 und die Erklärung von 1960, die bei den Konferenzen der Vertreter der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau verabschiedet wurden, hatten Kompromisscharakter, da sowohl die UdSSR als auch die VR China eine für beide Seiten akzeptable Lösung der Probleme anstrebten. Doch inhaltsleere Formulierungen und widersprüchliche Positionen führten zu unterschiedlichen Auslegungen in Moskau und Peking und zur gegenseitigen Beschuldigung, die andere Seite sei nicht bereit, die in den »historischen Dokumenten« gemeinsam ausgearbeiteten Prinzipien einzuhalten.

3 RGANI, F. 5, op. 49, d. 716, S. 361.

4 RGANI, F. 5, op. 30, d. 452, S. 146.

5 In der VR China wurden diese und andere Dokumente in der Regel auf den Titelseiten der Zeitungen »Renmin Ribao«, »Dagongbao«, »Beijing Ribao« und »Gongren Ribao« veröffentlicht.

6 Ende 1961, Anfang 1962 gab es eine Initiative der kommunistischen Parteien einiger Länder (Indonesien, Schweden, Neuseeland), eine neue internationale Konferenz durchzuführen, um die Differenzen in der internationalen kommunistischen Bewegung zu überwinden. Die KPCh und die KPdSU unterstützten diese Idee zunächst, jedoch klafften die Vorstellungen weit auseinander. Peking forderte zuerst ein bilaterales Treffen von Vertretern der KPCh und der KPdSU, im Anschluss eine vorbereitende Konferenz mit 17 willkürlich ausgewählten Parteien, und danach sollte die »große Konferenz« stattfinden. Moskau schlug ein Treffen der Vertreter von 26 Parteien, der Mitglieder der Redaktionskommission der im Jahre 1960 durchgeführten Konferenz der Vertreter der kommunistischen und Arbeiterparteien, am 15. Dezember 1964 vor. Anfang Oktober 1964 unterstützten 45 kommunistische Parteien die Initiative der KPdSU, im November waren es bereits 61. Einige Parteien knüpften ihre Unterstützung des sowjetischen Vorschlags an die Teilnahme der KPCh. Diese wandte sich jedoch (gemeinsam mit den kommunistischen Parteien Koreas, Albaniens, Japans u. a.) offen gegen die Durchführung einer Versammlung der Redaktionskommission. Im ZK der KPdSU ging man im Falle eines Boykotts der Versammlung der Redaktionskommission durch die VR China und ihrer Anhänger von der Teilnahme von nur 16 der 29 Kommunistischen Parteien, die eigentlich Mitglied der Kommission waren, aus (vgl. RGANI, F. 5, op. 49, d. 719, S. 71).

7 RGANI, F. 3, op. 18, d. 293, S. 62.

8 Ebd., S. 65.

9 Ebd., S. 63.

10 Ebd., S. 74.

11 Ebd., S. 75.

12 Der chinesischen Delegation gehörten an: das Mitglied des Politbüros des ZK der KPCh, Premierminister der VR China Zhou Enlai (Leiter der Delegation), das Mitglied des Politbüros des ZK der KPCh, stellvertretender Vorsitzender des Militärkomitees des ZK der KPCh He Long, der Sekretär des ZK der KPCh Kang Sheng, das Mitglied des ZK der KPCh, der stellvertretende Außenminister der VR China Liu Xiao, das Mitglied des ZK der KPCh, stellvertretender Leiter der ZK-Abteilung für Verbindungen mit den Bruderparteien Hu Suzuan, der Kandidat auf Mitgliedschaft im ZK der KPCh, Botschafter der VR China in der UdSSR Pan Zili und der Assistent des Außenministers Ziao Guanhua.

13 RGANI, F. 5, op. 49, d. 719, S. 220.

14 RGANI, F. 2, op. 1, d. 758, S. 11 f.

15 Die chinesische Delegation, die am 6. November bei der feierlichen Sitzung im Kreml anwesend war, bemerkte die Abänderung einiger Thesen in Brežnevs Rede, die in Peking Kritik hervorgerufen hatten: Vor allem fehlte die Behauptung, dass die KPdSU zur Partei des ganzen Volkes geworden sei. Stattdessen fanden sich darin Formulierungen wie: »die kämpferische Avantgarde des sowjetischen Volkes«, »die führende und wegweisende Macht der sowjetischen Gesellschaft« usw. Siehe Pravda vom 7. November 1964.

16 RGANI, F. 2, op. 1, d. 758, S. 11.

17 Ebd., S. 17.

18 Ebd., S. 13 f.

19 Ebd., S. 14.

20 RGANI, F. 3, op. 16, d. 562, S. 20–23.

21 Während der Verhandlungen warf Kang Sheng Kosygin unerwartet vor, dieser hätte sich während des Empfangs im Kreml »überflüssigerweise« freundschaftlich mit dem amerikanischen Botschafter unterhalten. Die sowjetischen Parteiführer rechtfertigen sich und erklären, dies sei eine gewöhnliche diplomatische Praxis, an die sich in ähnlichen Fällen auch Zhou Enlai halte (RGANI, F. 2, op. 1, d. 758, S. 13).

22 RGANI, F. 2, op. 1, d. 758, S. 16.

23 Am 16. September 1964 übergaben der stellvertretende Außenminister der VR China, Wang Bingnan, und der Geschäftsträger der VR China in der UdSSR, Jian Deziun, eine Einladung der chinesischen Führung, eine sowjetische Delegation zu den Feierlichkeiten des 15-jährigen Bestehens der VR China zu entsenden, an das Außenministerium der UdSSR. Dabei nahmen Wang Bingnan und Jian Deziun Rücksicht auf die sowjetisch-chinesischen Beziehungen und stellten der UdSSR die Entscheidung frei, ob sie »eine Partei- und Regierungsdelegation, eine Regierungsdelegation oder eine Delegation von Vertretern gesellschaftlicher Organisationen« oder »gar keine Delegation entsenden möchte« (Pravda vom 25. September 1964). Am 25. September wurde bei der Sitzung des ZK-Präsidiums entschieden, dass eine Delegation unter der Leitung des sowjetischen Gewerkschaftsführers V. V. Grišin in die Volksrepublik China geschickt werden sollte (RGANI, F. 3, op. 16, d. 948, S. 45).

24 RGANI, F. 2, op. 1, d. 758, S. 16.

25 RGANI, F. 2, op. 1, d. 758, S. 15.

26 RGANI, F. 5, op. 30, d. 456, S. 74.

27 Am 16. Oktober 1964 führte China auf dem Testgelände am Lop Nor im Nordosten des Landes seinen ersten Versuch mit Atomwaffen durch, auf den es sich beinahe zehn Jahre vorbereitet hatte. In den ersten Jahren fand die VR China wissenschaftliche und technologische Unterstützung vonseiten der Sowjet­union, ab 1958 musste sie sich jedoch auf eigene Ressourcen verlassen. Dies verzögerte den Bau der Kernwaffen und zeigte sich auch in deren technischer Beschaffenheit. Die erste chinesische Atombombe war »schmutzig«: Im Gegensatz zur amerikanischen und sowjetischen Bombe verwendete China für seine Bombe Uran-235, Plutonium wurde erst ab dem achten Versuch eingesetzt.

28 1957 sagte Mao Zedong: »In China ist folgender Ausspruch sehr verbreitet: ›Wenn nicht der Ostwind den Westwind beherrscht, dann beherrscht der Westwind den Ostwind.‹ Ich denke, dass die derzeitige Situation dadurch charakterisiert werden kann, dass der Ostwind den Westwind beherrscht, das heißt, dass die sozialistischen Kräfte eine große Übermacht gegenüber den Kräften des Imperialismus darstellen.« (Mao Dzedun. Vystuplenie na prochodivšem v Moskve Soveščanii predstavitelej kommunističeskich i rabočich partij socialističeskich stran. 16, 18 nojabrja 1957g., in: Vystuplenija Mao Dzeduna, ranee ne publikovavšiesja v otkrytoj pečati. 2. Auflage, Moskau 1970, S. 89). China verstand unter »Westen« nicht nur imperialistische Länder, sondern auch dieSowjetunion, was für diese eine äußerst unangenehme Tatsache war.

29 RGANI, F. 5, op. 30, d. 456, S. 75.

30 Über den Verlauf der sowjetisch-chinesischen Verhandlungen wurden in der UdSSR nur die Teilnehmer des Plenums des ZK der KPdSU informiert, zu denen Brežnev am 16. 11. 1964 über die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sprach (siehe RGANI, F. 2, op. 1, d. 762, S. 114–131.) Dabei wurde der ursprüngliche Entwurf seiner Rede, der an die Mitglieder des ZK-Präsidiums der KPdSU, an die Kandidaten auf Mitgliedschaft im ZK-Präsidium der KPdSU und an die Sekretäre des ZK der KPdSU geschickt wurde, noch einmal grundlegend lektoriert – sowohl um einige Formulierungen »weicher« zu machen, als auch um einige Teile zu streichen (insbesondere wurde die Erzählung über den Zwischenfall durch die Aussage von Marschall Malinovskij während des Empfangs im Kreml entfernt).

31 RGANI, F. 5, op. 49, d. 720, S. 236.

32 Ebd., S. 236.

33 Renmin Ribao vom 15. 11. 1964.

34 Renmin Ribao vom 21. 11. 1964.

35 Pravda vom 4. 12. 1964.

36 Als der Text des Glückwunschtelegramms Brežnevs lektoriert wurde, wurde im letzten Moment noch folgender Absatz entfernt: »Mit großer Zufriedenheit nehmen wir Ihre wiederholten Aussagen über die Notwendigkeit zur Kenntnis, geschlossen aufzutreten, um den Imperialisten nicht die Freude an unseren Meinungsverschiedenheiten zu gewähren, und darüber, dass wir uns im Allgemeinen einig sind.« RGANI, F. 3, op. 16, d. 593, S. 59.

37 RGANI, F. 3, op. 16, d. 610, S. 117.

38 Die Rumänische Arbeiterpartei (RAP) weigerte sich von Beginn der sowjetisch-chinesischen Streitigkeiten, eine der beiden Seiten zu unterstützen und betonte demonstrativ ihre Ablehnung sowohl einzelner Handlungen und Aussagen aus Peking als auch aus Moskau. Der »Sonderkurs« Rumäniens, der von Gheorghe Gheorgiu-Dej begonnen und ab 1965 von Nicolae Ceauşescu weitergeführt wurde, löste in der UdSSR Unzufriedenheit aus, war doch Rumänien nicht einfach nur ein Teil des sozialistischen Lagers, sondern gehörte auch Organisationen wie dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und dem Warschauer Pakt an.

39 RGANI, F. 3, op. 16, d. 949, S. 18 f.

40 Ebd., S. 22–25.

41 Ebd., S. 25–25.

42 Mit der Reise der sowjetischen Delegation nach Vietnam wurden vor allem zwei Ziele verfolgt: Die politische, wirtschaftliche und teilweise auch militärische Unterstützung Hanois im sich zuspitzenden militärischen Konflikt mit den USA sollte demonstriert und die zwischenparteilichen Beziehungen verbessert werden, solidarisierte sich die vietnamesische Arbeiterpartei in dieser Zeit doch in vielen Fragen der kommunistischen Bewegung mit der Politik der VR China. Der Staatsbesuch in Vietnam fand vom 6. bis 10. Februar. statt. Während der Zwischenstopps in Peking auf der Hin- und Rückreise führte Kosygin Verhandlungen mit den Parteiführern der VR China, die jedoch ohne Resultat blieben.

Inhalt – JHK 2009

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