JHK 2010

Der Fall »Blinkfüer«. Das Bundesverfassungsgericht und die »Umgründung« der KPD zur DKP in den Sechzigerjahren

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 67-80 | Aufbau Verlag

Autor/in: Lena Darabeygi

Mit dem Mauerbau am 13. August 1961, der die deutsche Teilung für Jahrzehnte zementieren sollte, erreichte der Ost-West-Konflikt unzweifelhaft einen traurigen Höhepunkt. Vor dem Hintergrund der gespannten und konfrontativen politischen Situation wurden die Ost-Berliner Ereignisse in der Bundesrepublik mittelbar zum Auslöser eines ungewöhnlichen, geradezu grotesken Rechtsstreits: der jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen den Verlagshäusern des marktführenden Springer-Konzerns und Ernst August Aust, dem Herausgeber einer kleinen kommunistischen Wochenzeitung namens Blinkfüer.

Ein Boykottaufruf gegen den Vertrieb von DDR-Rundfunkprogrammen

Die zum Springer-Konzern gehörenden Unternehmen Axel Springer & Sohn KG sowie Die Welt Verlags-GmbH sahen sich Ende August 1961 durch den Mauerbau und seine Folgen in die Pflicht genommen, die Ideale der Bundesrepublik zu verteidigen. Dabei schöpften sie nicht ausschließlich ihre journalistischen und publizistischen Möglichkeiten aus, sondern riefen auch die Hamburger und Berliner Zeitungs- und Zeitschriftenhändler in einem Rundschreiben zu einem Boykott auf.

Das streitauslösende Rundschreiben

Das Rundschreiben kritisierte die politischen Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten in der DDR und verlangte von den westdeutschen Händlern, Farbe zu bekennen, indem sie sich für den bundesrepublikanischen Rechtsstaat und seine Demokratie einsetzten.1 Teils emotional, teils bestimmend ermahnte das Schreiben die »lieben Geschäftsfreunde«, klare Entscheidungen zu treffen, denn »die Machthaber der Zone [gebrauchten] Rundfunk und Fernsehen als reines Propaganda-Instrument«. Unterhaltungssendungen würden willkürlich unterbrochen, um Hetzreden der SED-Propagandisten gegen die Bundesregierung zu senden. Noch immer gebe es in der Bundesrepublik profitgierige Händler, »die sich zu dem Abdruck der Ostzonenprogramme für die Verbreitung der Lügen aus Pankow hergeben«. Von verantwortungsvollen Zeitungs- und Zeitschriftenhändlern müsse man jedoch erwarten, dass sie sich vom Vertrieb solcher Blätter distanzierten. Zugleich warnten die Verfasser, dass sie die Geschäftsbeziehungen zu jenen Händlern abbrechen würden, die nicht am Boykott teilnähmen. Mit dem Rundschreiben, das hauptsächlich im Raum Hamburg verbreitet wurde, gelang es den Verlagen Axel Springers aufgrund ihrer Machtposition auf dem Zeitungsmarkt, wirtschaftlichen Druck auf die von ihnen abhängigen Händler auszuüben.2

Der Journalist und Marxist Ernst August Aust widersetzte sich dem Boykott. 1953 hatte er die in Hamburg und West-Berlin erscheinende »Unabhängige Wochenzeitung«3 Blinkfüer (niederdeutsch für Blinklicht oder Leuchtfeuer) gegründet und trat zugleich als ihr Herausgeber und Chefredakteur auf. Als aktives KPD-Mitglied und Anhänger der UdSSR und der von ihr gestützten Regime in Osteuropa setzte er die Publikation in der Ära des »antikommunistischen Grundkonsens« innerhalb der Bundesrepublik beharrlich dazu ein, für kommunistisches Gedankengut zu werben. Das Zirkular der Springer-Verlage richtete sich zwar namentlich gegen die Zeitschriften Bildfunk, Fernsehprogramme und Lotto-Toto-Expreß, mittelbar aber auch gegen das Blinkfüer,4 das nicht nur in seiner Fernsehbeilage die West- und Ost-Rundfunkprogramme abdruckte, sondern darüber hinaus inhaltlich eine DDR-freundliche5 bzw. BRD-feindliche Position vertrat.

Charakteristisch für die Diktion der Zeitung waren kurze, pointierte Artikel, die sich mit aktuellen politischen Fragen wie dem Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander beschäftigten, dabei aber gezielt die politische Aktualität als Vorwand nutzten, um grundsätzlichere Themen – Wiedervereinigung, Entspannungspolitik, Atomwaffenverzicht, Kritik an dem in der Bundesrepublik vorherrschenden »Antikommunismus« – ins Spiel zu bringen und dabei aggressiv, polemisch und polarisierend gegen die Bundesregierung und ihre Politik zu mobilisieren. So wurde beispielsweise 1964 in dem Beitrag »Vernunft wider die Inquisition« behauptet, dass das Erste Passierschein-Abkommen zwischen West-Berlin und der DDR, das Verwandtenbesuche zwischen West- und Ost-Berlin zu Weihnachten 1963 / 64 gewährleisten sollte, in der Bundesrepublik Hoffnung auf eine Entspannungspolitik geweckt habe. Zugleich, so hieß es weiter, belege das vereinbarte Abkommen, dass der von Altkanzler Konrad Adenauer eingeschlagene Weg der Nicht­anerkennung der DDR erfolglos gewesen sei, im Gegensatz zu einer Politik der Verhandlungen zwischen beiden Staaten.6 Kritische Aussagen über das DDR-Regime – etwa dass dieses durch den Mauerbau die Besuche unmöglich gemacht und die Notwendigkeit von Passierscheinabkommen erst verursacht hatte – waren dagegen nicht zu finden.

Lobende Worte fand das Blinkfüer in derselben Ausgabe für den damaligen Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, da dieser in einem Brief an Bundeskanzler Ludwig Erhard vorbildlich zum beidseitigen Atomwaffenverzicht aufgerufen und damit Verhandlungsbereitschaft signalisiert habe. Der Autor des Artikels erachtete das Schreiben nicht nur als glaubwürdig, sondern hielt westdeutsche Verhandlungen mit der DDR über einen Atomwaffenverzicht für unumgänglich, um eine Wiedervereinigung zu erreichen. Die Zeitung empörte sich darüber, dass Ludwig Erhard jenen Brief unbeantwortet ließ, und verglich den politischen Weg der Bundesregierung gar mit spätmittelalterlichen Gerichtsverfahren gegen Häretiker: »Ähnlich der Inquisition des Mittelalters wachen sie ängstlich und mißtrauisch darüber, daß niemand vom ausgetretenen Pfad der längst gescheiterten ›Politik der Stärke‹, der Atomrüstung, des Antikommunismus und der Nichtanerkennung der Existenz zweier deutscher Staaten […] abweicht.«7 Der höhnische Tonfall des Artikels war kennzeichnend für das Blinkfüer. Stets wurde eine tiefe Feindschaft gegen­über der Bundesrepublik und ihrer politischen Führung, die sich weitgehend geschlossen gegen eine Anerkennung der DDR aussprach, sowie ihren westlichen Verbündeten zum Ausdruck gebracht. Noch kurz vor dem Mauerbau, am 21. Juli 1961, forderte das Blatt die Bundesrepublik zur Anerkennung der DDR auf8 und bekundete damit Sympathie für das DDR-Regime.

Gerade aufgrund seiner Forderung nach einer baldigen Wiedervereinigung9 sympathisierten viele Leser, die ähnlich dachten, mit Aust und seiner Zeitung. Die meisten Blinkfüer-Leser kauften die Zeitung allerdings wohl weniger wegen ihrer politischen Ausrichtung, sondern eher um sich über die Ost-Rundfunkprogramme zu informieren. Diese waren für viele Bundesbürger vor allem deshalb attraktiv, weil das DDR-Fernsehen in den Vormittagsstunden Spielfilme ausstrahlte, die beispielsweise Schichtarbeiter sehen konnten.

Der Boykottaufruf hatte anfangs kurzfristig den gewünschten Erfolg. Als die meis­ten Grossisten zu Beginn der Aktion (teils freiwillig, teils aufgrund des wirtschaftlichen Drucks) darauf verzichteten, Ostprogramme anzubieten, mussten sich viele kleinere Zeitungs- und Zeitschriftenverleger damit arrangieren und vorübergehend die Veröffentlichung von Ostprogrammen einstellen.10 Die Folge war, dass die wenigen Publikationen, die nach wie vor Ostprogramme druckten und in wenigen Läden erhältlich waren, verstärkten Absatz fanden. Dies galt auch für das Blinkfüer: Nicht nur der feste Abonnentenkreis der Zeitung, sondern auch Zuschauer der Ostprogramme griffen zu Austs Zeitung. Während der Boykottaktion konnte sie eine deutliche Auflagensteigerung von 10 000 auf 50 000 Exemplare verzeichnen.11 Bald jedoch kritisierten die größeren Unternehmen den Boy­kott. Als schließlich ein wichtiger Konkurrent des Spiegel, der heute fest etablierte Stern, den Abdruck der Ostprogramme wieder aufnahm, folgten diesem Beispiel viele andere Verleger, sodass im September 1964 selbst der Hörzu-Chefredakteur Eduard Rhein, einer der Initiatoren des Boykotts, diese wieder abdrucken ließ.12 Freudig und spöttisch verkündete das Blinkfüer schon im August des Jahres 1964 die Erfolglosigkeit des Boykotts unter dem Titel »Springerpleite«.13

Ernst Austs Blinkfüer und die KPD

Mit der Veröffentlichung der DDR-Programme verlieh Ernst Aust nicht zuletzt seiner eigenen ideologischen Haltung Ausdruck. Trotz des vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im August 1956 ausgesprochenen KPD-Verbots, das die Auflösung der Partei anordnete und die Gründung von Ersatz- oder Nachfolgeparteien untersagte, blieb Ernst Aust Mitglied der KPD.14 Aufgrund seiner Parteimitgliedschaft gab Aust, der zeit seines Lebens von marxistisch-stalinistischen Theorien überzeugt war, das Blinkfüer von 1953 bis Ende 1966 im Auftrag der Partei heraus.15 Dabei setzte er – ebenso wie viele andere KPD-nahe Verleger – seine Zeitung dazu ein, die verbotene Partei und ihre Mitglieder gegen Vorwürfe der Strafjustiz zu verteidigen.16

Zahlreiche Artikel mit Titeln wie »Schluß mit der Hexenjagd«,17 worin das »antidemokratische KPD-Verbot« kritisiert wurde, oder »Verhaftung in Hamburg«,18 in welchem das Vorgehen der Justizbehörden infrage gestellt wurde, sowie polemische Kritik an der Bundesrepublik, die sich lieber um die Nähe zu den Westmächten kümmere als um die Wiedervereinigung, unterstrichen die links orientierte, BRD-feindliche und sowjetfreundliche Ausrichtung von Blinkfüer in den frühen Sechzigerjahren.19

Mit dem Ersten Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 war ein neues politisches Strafrecht in Kraft getreten, das in einem Abschnitt des Strafgesetzbuchs über Staatsgefährdung die Möglichkeit eröffnete, unter anderem kommunistische Aktivitäten als Hochverrat oder Landesverrat einzustufen.20 Um sich vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen, leugnete Aust stets linksextreme Tendenzen und seine Abhängigkeit von der KPD. In einem Blinkfüer-Artikel versicherte er beispielsweise, dass seine Zeitung »keine demokratische Tarnung« sei, um Ziele der KPD verfolgen zu können.21 Blinkfüer setze sich nicht für typisch kommunistische Ziele wie die Diktatur des Proletariats ein, sondern vielmehr für Entspannungspolitik und Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten sowie für atomwaffenfreie Zonen in Mitteleuropa, jene Ziele also, die demokratische Parteien wie die SPD verfolgten.

Das Revisionsurteil des BGH vom 10. Juli 1963

Obwohl Austs kleine Zeitung von den Boykottaktionen letztlich profitierte, verlangte er Schadensersatz von den Verlagshäusern Axel Springer & Sohn KG und Die Welt Verlags-GmbH. Nachdem das Hamburger Oberlandesgericht der Schadensersatzklage wegen Beeinträchtigung der Gewerbefreiheit zunächst stattgegeben hatte,22 wies der Bundesgerichtshof (BGH) als Revisionsinstanz die Klage am 10. Juli 1963 ab. In der Begründung des Urteils zeigte sich das Revisionsgericht selbstbewusst parteiisch. Es sprach damit ein politisches Urteil zugunsten der beklagten Verlage, die es als Wahrer und Beschützer der Demokratie würdigte. Der BGH erklärte die Interessen der Springer-Verlage für schutzwürdiger als die Austs. Nach Meinung des Gerichts dürfe es den einflussreichen Verlagen nicht verwehrt werden, ihre wirtschaftliche Machtstellung auf dem Zeitungsmarkt zu nutzen, um andere von ihrer politischen Meinung zu überzeugen.23 Das Gericht argumentierte moralisierend, dass sich die bundesdeutsche Bevölkerung Ende August 1961, als das Rundschreiben verschickt wurde, vorwiegend mit den Geschehnissen in der DDR befasst habe. Der Boykottaufruf der Verlage Axel Springers stellte dabei eine »spontane Gegenwehr gegen die […] in den sowjetzonalen Sendungen unternommenen Angriffe gegen eine freiheitliche staatliche Ordnung […]« dar. Vor allem die allgemeine westdeutsche Empörung über den Mauerbau und »die Unterdrückung menschlicher Kontakte zwischen den getrennten Teilen Deutschlands« durch die Machthaber des DDR-Regimes hätten ein Verhalten wie das des Zeitungsherausgebers Aust fragwürdig erscheinen lassen, weil er durch den Abdruck der Ostprogramme dazu beigetragen habe, die politische Propaganda des Unrechtsregimes aufrechtzuerhalten und zu unterstützen.24 Gerade weil er mit seinem Fehlverhalten die Kritik der Allgemeinheit herausgefordert habe, seien in diesem Zusammenhang die wirtschaftlichen Interessen Austs belanglos.

Offenbar widerstrebte es dem Gericht, einem Kommunisten wie Ernst Aust, dem An­-
hänger eines totalitären Regimes, gerichtlichen Schutz zu gewähren. Obwohl das Gericht es
vermied, in seinen Urteilsargumenten auf die kommunistische Gesamthaltung des Blinkfüer einzugehen,25 trat die antikommunistische Haltung der BGH-Richter offen zutage. Dass sie nicht zögerten, gegen den Kommunismus Position zu beziehen und sich mit aller Deutlichkeit gegen das SED-Regime sowie die Errichtung der Berliner Mauer zu wenden, war evident. Damit bewerteten sie den Fall in seiner politischen Dimension. Problematisch war allerdings die Tatsache, dass der Antikommunismus als Ermächtigung benutzt wurde, um das Verhalten des Springer Verlags zu rechtfertigen und andere Meinungen, wie jene des Kommunisten Aust, für nicht schützenswert zu erklären, weil dieser mit seinen »unrichtigen« Ansichten die Allgemeinheit herausgefordert hatte.

Ein halbes Jahr nach dem Revisionsverfahren wurde Aust am 6. Januar 1964 von der Ersten Strafkammer des Hamburger Landgerichts zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil er in seiner Zeitung die Bundesrepublik beleidigt und Wahlwerbung für kommunistische Kandidaten betrieben habe.26 Kurioserweise wurde aber weder seine offensichtlich kommunistische Zeitung verboten, noch wurde ihm die journalis­tische Tätigkeit untersagt. Auf dem Titelblatt von Blinkfüer feierte er am 10. Januar 1964 seine Verurteilung als einen »Sieg der Pressefreiheit«,27 weil die Staatsanwaltschaft ihm die Unterstützung der KPD nicht hatte nachweisen können. Die Haftstrafe verbüßte Aust vermutlich nie.28 Dies lässt sich insbesondere daraus ableiten, dass er weiterhin als Herausgeber und Chefredakteur in Erscheinung trat.

Die Formierung der DKP und der Blinkfüer-Beschluss

In der Weigerung des BGH, Aust einen Schadensersatzanspruch wegen unzulässigen Boykotts zu gewähren, sah dieser eine Verletzung seiner Grundrechte und legte Verfassungsbeschwerde gegen das Revisionsurteil ein.29 Erst knapp sechs Jahre später erging der BVerfG-Beschluss zugunsten Austs und gegen den Springer-Konzern. Die Gründe für diese Verzögerung der höchstrichterlichen Entscheidung lagen vermutlich in den gesellschaftspolitischen Veränderungen durch die Liberalisierungs- und Entspannungspolitik der Bundesregierung.

Je länger die deutsche Teilung bestand, desto schwieriger schien es der Bundesregierung, auf der seit 1955 bestehenden Hallstein-Doktrin und dem darin postulierten Alleinvertretungsanspruch für Deutschland zu beharren.30 Die Bundesrepublik drohte demnach, die diplomatischen Beziehungen zu jenen Ländern abzubrechen, die sich auf diplomatische Beziehungen zur DDR einließen. Der 1963 von Egon Bahr in seiner Tutzinger Rede verkündete »Wandel durch Annäherung« erforderte eine neue Strategie gegenüber der DDR, Osteuropa und den westdeutschen Kommunisten. Diese Haltung entsprach weitgehend der vom amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy akzentuierten Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion, die am 5. August 1963 im Atomteststopp-Abkommen Ausdruck fand.

Nach und nach fügten sich die westdeutschen Politiker in diese Änderungen der Weltpolitik ein und begannen, sie umzusetzen. Innerhalb der noch in der Opposition stehenden SPD war bereits seit Mitte 1966 ein außen- und innenpolitischer Wandel zu verzeichnen. Allmählich kam es zu ersten Annäherungsversuchen zwischen SPD und SED, um politische und militärische Spannungen abzubauen und so das Verhältnis zur DDR zu verbessern.31 Ende 1966, als die erste Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger als Bundeskanzler und Willy Brandt als Außenminister gebildet wurde, bekam die SPD dann die Möglichkeit, ihre politischen Ziele in einem größeren Rahmen umzusetzen.

Die Diskussionen um die Aufhebung des KPD-Verbots

Vor allem aus Sicht der Ostblockstaaten hing die Glaubwürdigkeit einer neuen Ostpolitik vom Umgang der Bundesregierung mit dem KPD-Verbot ab.32 Obwohl schon unmittelbar nach dem KPD-Verbot von 1956 im westdeutschen kommunistischen Milieu erste Diskussionen über dessen Aufhebung begannen, dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis weite Teile der Öffentlichkeit (vor Bildung der Großen Koalition) offen über die politische Zweckmäßigkeit des KPD-Verbots diskutierten. Unterschiedlichste politische Motive standen hinter den Forderungen nach einer Aufhebung des Verbotsurteils. 33 Aus eigenem Interesse wiesen vor allem Mitglieder der illegal tätigen KPD kontinuierlich darauf hin, wie schädlich das Verbot für die Entspannungspolitik sei.34

Einen wichtigen neuen Impuls erhielt die rechtswissenschaftlich wie politisch teils kontrovers geführte Debatte 1967, als Bundesjustizminister Gustav Heinemann (SPD) – ein überzeugter Verfechter der neuen Entspannungspolitik – für die namhafte Juristenzeitung einen Artikel mit dem Titel »Wiederzulassung der KPD?« verfasste.35 Er wies darauf hin, dass das Grundgesetz anders als die Weimarer Reichsverfassung den Erhalt positiver Werte und Freiheitsprinzipien als Fundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung schütze und deshalb über Art. 21 Abs. 2 GG das Verbot jener Parteien ermögliche, die jene Grundordnung gefährden. Solange dieser Artikel des Grundgesetzes Bestand habe, könne die KPD rechtlich nicht zugelassen werden. Es sei jedoch möglich, eine neue kommunistische Partei zu gründen, die sich sowohl von den marxistisch-leninistischen Ideen als auch vom Ziel der Diktatur des Proletariats abwende. Heinemann wies zudem darauf hin, dass der Bundestag durch Strafrechtsreformen den Weg für eine solche Gründung ebnen müsse, damit eine neue Partei nicht Gefahr laufe, als Ersatz- oder Nachfolgeorganisation verboten zu werden.36

Damit hatte erstmals während des Ost-West-Konflikts ein Bundesjustizminister, ob­wohl er offenkundig kein Sympathisant des Kommunismus war, öffentlich Stellung be­zogen und sich für die Zulassung einer kommunistischen Gruppierung in der Bundes­repu­blik ausgesprochen. Vermutlich hatte Heinemann realisiert, dass zum einen die DDR seit Mitte der Sechzigerjahre ihr Herrschaftssystem stabilisieren konnte und zum anderen der offene Kampf gegen den Kommunismus und seine Protagonisten auf Dauer nicht zu einer friedenssichernden Lösung für die Bundesrepublik führen würde, sondern allein die Annäherung an den politischen Gegner, die Kommunikation mit westdeutschen Kommunisten, der SED und der KPdSU, dazu beitragen würde.

Einen gänzlich anderen Standpunkt in der Debatte um die KPD nahm der Verfassungsrechtler und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Gießen, Helmut Ridder, ein. Er trat vehement für die Wiederzulassung der alten KPD ein, da diese längst nicht mehr das im Verbotsverfahren von 1956 als verfassungswidrig angesehene »Programm der nationalen Wiedervereinigung Deutschlands« propagiere. Sei die Partei einst von der Notwendigkeit eines gewaltsamen Sturzes der Bundesregierung ausgegangen, propagiere sie nun in Anlehnung an den von Nikita Chruščëv auf dem XX. Parteitag der KPdSU vorgegebenen Weg den friedlichen Übergang zum Sozialismus.37 Damit konnte seines Erachtens der KPD nicht mehr vorgeworfen werden, sie verstoße mit ihren Zielen gegen das Grundgesetz. Selbst der CSU-Politiker Franz Josef Strauß sprach sich für die Wiederzulassung der KPD aus, um ein Gegengewicht zur NPD zu erhalten.38 Allerdings hatte das KPD-Verbot von 1956 Rechtskraft,39 sodass dessen förmliche Aufhebung illusorisch war; im Übrigen gab und gibt es im Verfassungsprozessrecht anders als im Strafverfahren kein Wiederaufnahmeverfahren.

Es war eine Premiere in der noch jungen Bundesrepublik, dass führende Politiker ebenso wie Wissenschaftler bereit waren, sich im Interesse der Entspannungspolitik für die Zulassung einer kommunistischen Partei einzusetzen und somit – entgegen der in der westdeutschen Gesellschaft noch vorherrschenden Angst vor dem Kommunismus – eine Beteiligung von Kommunisten an der politischen Meinungsbildung zu akzeptieren. Wer sich wie Justizminister Heinemann für die Zulassung einer kommunistischen Partei aussprach,40 hatte jedoch zum damaligen Zeitpunkt nicht bedacht, dass die Zulassung einer kommunistischen Partei die Gründung einer Vielzahl anderer linksextremer Parteien nach sich ziehen könnte. Möglicherweise ließ sich noch nicht erkennen, dass es unterschiedliche kommunistische Strömungen in der Bundesrepublik geben könnte und eine einzige Partei nicht als Auffangbecken für all jene Kräfte dienen konnte.

Die Formierung der DKP – ein »Umgründungsakt« der KPD

Es blieb nicht bei Diskussionen. Parallel dazu wurden die Funktionäre der illegalen KPD aktiv, die nach der faktischen Überwindung des Verbots strebten41 – die Stunde der moskautreuen Kommunisten war gekommen. Bereits im Dezember 1966 – fast zeitgleich mit der Bildung der ersten Großen Koalition – tagte das Zentralkomitee der verbotenen KPD, um einen »Initiativ-Ausschuß für die Wiederzulassung der KPD« zu gründen.42 Auf einer Konferenz in Düsseldorf am 6. und 7. Mai 1967 lehnte Franz Ahrens, der dem Initiativ-Ausschuss angehörte, den Vorschlag Heinemanns bezüglich der Gründung einer neuen kommunistischen Partei kategorisch ab und attackierte die Bundesregierung. Seine Haltung begründete er damit, dass die Kommunisten in Westdeutschland nicht dazu bereit seien, »an der Verketzerung der DDR teilzunehmen«, geschweige denn sich »an die Leine westdeutscher Regierungspolitiker zu legen«.43 Offenbar hatte die KPD ihre Grundposition in den Jahren der Illegalität nicht wesentlich geändert; die feindliche Haltung gegenüber der Bundesregierung schien sich vielmehr als Resultat der verstärkten Abhängigkeit von der DDR weiter gefestigt zu haben. Doch dies sollte sich allmählich ändern.

Durch die regen Aktivitäten des Initiativ-Ausschusses sahen sich Bundesregierung und Länderregierungen alsbald veranlasst, eine öffentliche Erklärung abzugeben.44 Am 12. Oktober 1967 gab die Innenministerkonferenz bekannt, dass die Gründung einer kommunistischen Partei mit verfassungskonformen Zielen nach Art. 21 Abs. 1 GG ge­neh­migungsfrei sei. Diese politisch brisante Erklärung – die juristisch gesehen offenkundig korrekt war – wurde von den Kommunisten zu Recht als Signal zur Gründung einer legalen Partei interpretiert.45 Es war in der Tat aufsehenerregend, dass die Innen­minister­konferenz zu Zeiten des Ost-West-Konflikts eine solche Erklärung abgab. Die westdeutschen Politiker bewiesen damit, dass sie sich entschieden für die neue Linie der Entspannungspolitik einsetzten und bereit waren, politische Zugeständnisse sowohl gegenüber den Kommunisten im eigenen Land als auch gegenüber der DDR und der UdSSR zu machen.

Nachdem im Frühjahr 1968 durch das Achte Strafrechtsänderungsgesetz wesentliche Regelungen der »politischen Strafgesetzgebung«, die die Grundlage für die Verfolgung von Kommunisten bildeten, aufgehoben worden waren, konnten weitere Schritte der Liberalisierungs- und Entspannungspolitik eingeleitet werden.46 Federführend war hierbei abermals Bundesjustizminister Heinemann. Am 4. Juli 1968 traf er sich in seinem Amtssitz auf der Bonner Rosenburg mit zwei Mitgliedern des Zentralkomitees der KPD, Max Schäfer und Grete Thiele, und signalisierte Verhandlungsbereitschaft, als es um die Frage der Gründung einer neuen kommunistischen Partei in der Bundesrepublik ging.47 Dieses Gespräch durfte im Nachhinein als zentrale Weichenstellung für eine »regierungsamtlich geduldete Neugründung einer kommunistischen Partei« betrachtet werden,48 denn im darauffolgenden Herbst beschlossen die westdeutschen Kommunisten die Neukonstituierung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Diese Entscheidung erfolgte in enger Abstimmung mit der KPD, der SED und der KPdSU.49 Einer der vielen Gründe für diesen Schritt war, dass die KPD, die in den Jahren der Illegalität unter Mitgliederschwund gelitten und an Einfluss verloren hatte,50 darin ihre Chance erblickte, sich in der westdeutschen Gesellschaft zu rehabilitieren. Zudem gingen die Kommunisten nach den Hinweisen des Justizministers und der Innenministerkonferenz zur Zulässigkeit der Gründung einer neuen Partei nur noch ein geringes Risiko ein.51 Selbst internationale Krisen, wie der Einmarsch der Sowjetunion und ihrer Verbündeten in die ČSSR am 21. August 1968, durch den der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, konnten die Gründung der DKP nicht mehr verhindern. Wegen der Entspannungspolitik erwies sich die Bundesrepublik den westdeutschen Kommunisten gegenüber als großzügig; die Beziehungen zum Osten sollten dadurch dauerhaft verbessert und somit eine Deeskalation des Kalten Krieges erreicht werden.

Trotz der außenpolitisch noch angespannten Lage hielt Kurt Bachmann, ein Mitglied des Zentralkomitees der illegalen KPD, am 26. September 1968 in Frankfurt am Main eine Pressekonferenz ab, bei der die »Erklärung zur Neukonstituierung einer Kommunis­tischen Partei« veröffentlicht wurde.52 Vor allem beim Parteiaufbau konnte sich die DKP auf die Mitarbeit der verbotenen KPD stützen.53 Aufgrund der unveränderten Rechtslage – die KPD und eventuelle Nachfolgeorganisationen waren weiterhin verboten – charakterisierten die Kommunisten den Gründungsvorgang ausdrücklich als Neukonstituierung.54 Der DKP-Mitbegründer Kurt Erlebach leugnete in einem Spiegel-Interview jegliche Beziehungen zur verbotenen KPD. Er behauptete, die KPD-Führung sei an der Gründung der DKP nicht beteiligt gewesen und die DKP verfolge als Endziel den Sozialismus, nicht jedoch die Diktatur des Proletariats.55 Gleichwohl bekannte er sich offen zur Verbundenheit mit der DDR und der UdSSR, wobei er ganz in KPD-Manier die Linientreue der DKP-Mitglieder gegenüber der UdSSR voraussetzte und der Tschechoslowakei und China vorwarf, von den marxistischen Ideen abzuweichen.56 Damit rechtfertigte er zugleich die militärische Intervention des Warschauer Pakts in der ČSSR und offenbarte die ideologisch-politische Abhängigkeit von den Kommunisten in Osteuropa.

Eben weil sich in der DKP viele ehemalige und aktive KPD-Funktionäre zusammenfanden, die eine klare Nähe, wenn nicht sogar eine bewusst »enge Verwandtschaft« zur KPD aufgrund personeller und inhaltlicher Kontinuitäten erzeugten, konnte kein tatsächlicher Bruch mit der KPD vollzogen werden.57 Es wäre deshalb präziser gewesen, die Formierung der DKP als »Umgründungsakt« – Umgründung58 der KPD zur DKP – zu bezeichnen. Obwohl sich die führenden Bundespolitiker dessen durchaus bewusst gewesen sein dürften, hielten sie sich mit kritischen Kommentaren zurück, um die fortschreitende Entspannung des Ost-West-Verhältnisses nicht zu konterkarieren.

Der Blinkfüer-Beschluss und Verbotsdiskussionen innerhalb der Bundesregierung

Möglicherweise hatte das BVerfG die »Umgründung« der KPD zur DKP abgewartet, bevor es am 26. Februar 1969 in einem Beschluss zugunsten Austs entschied und damit den Fall zurück an den BGH verwies. Für das Gericht waren zwei Fragen entscheidend: War der Boykott der beklagten Verlage von der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt? Und inwiefern stand dem kommunistischen Beschwerdeführer Aust das Grundrecht auf Pressefreiheit zu?

Das BVerfG kam zu dem Schluss, ein Boykottaufruf seitens eines auf dem Zeitungsmarkt führenden Unternehmens sei zwar grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt, allerdings sei es nicht gestattet, die eigene marktbeherrschende Position ausnutzen, um Schwächere durch wirtschaftlichen Druck von politischen Anliegen zu überzeugen. Die Androhung der Unterzeichner, die Geschäftsbeziehungen zu den Händlern zu unterbrechen, habe diesen die Möglichkeit der freien Entscheidung genomm­en.59 Eine öffentliche »geistige Auseinandersetzung« über die Zweckmäßigkeit der Veröffentlichung der Ost-Rundfunkprogramme in der Bundesrepublik und die allgemeine Rolle des Rundfunks für die SED-Propaganda habe durch den Boykott nicht herbeigeführt werden können,60 weil die Aktion die westdeutschen Leser, die wirtschaftlich vom Springer-Konzern unabhängig waren und zur öffentlichen Meinungsbildung hätten beitragen können, nicht erreichte. Die Freiheit der geistigen Auseinandersetzung mit politischen Ansichten und Ideen sei jedoch notwendig für das Funktionieren der Demokratie, weil nur sie eine öffentliche Diskussion über Gegenstände von allgemeinem Interesse und staatspolitischer Bedeutung gewährleiste.61 Die Ausübung wirtschaftlichen Drucks – selbst wenn damit moralisch achtenswerte Ziele wie die Kritik am DDR-System verfolgt würden – widerspreche dem Sinn und Zweck der Meinungsfreiheit. Darüber hinaus stehe dem Beschwerdeführer Aust als Zeitungsherausgeber das Grundrecht auf Pressefreiheit zu, weil der Abdruck der DDR-Rundfunkprogramme von der Pressefreiheit geschützt werde und die Leser ein Recht auf Informationsfreiheit hätten. Zum Schutz der Informationsfreiheit und einer unabhängigen Presse stellte das BVerfG fest, dass es rechtswidrig war, wenn der Springer-Konzern im Meinungskampf mit anderen – selbst kommunistischen – Presseunternehmen seine wirtschaftliche Macht einsetzte.

Erstaunlich an dieser Entscheidung war, dass das BVerfG im Zuge der Entspannungs- und Liberalisierungspolitik seine Haltung gegenüber Kommunisten dahingehend veränderte, dass es nunmehr vor einer geistig-politischen Auseinandersetzung mit Kommunisten nicht mehr zurückschreckte, sondern den Weg für eine liberale, pluralistische Demokratie ebnete. Möglicherweise ging es dem BVerfG bei dem zugunsten Austs ausgesprochenen Beschluss mittelbar auch darum, die »Umgründung« der KPD zur DKP zu billigen, denn die Entscheidung fiel in eine Zeit, in der bereits ein gesellschaftspolitischer Wandel im Umgang mit Kommunisten verzeichnet werden konnte. Die höchstrichterliche Rechtsprechung vollzog, was schon politisch und gesellschaftlich verhandelt war.

Das BVerfG hatte zwar am 26. Februar 1969 durch Beschluss zugunsten des Beschwerdeführers Aust entschieden, jedoch blieb diese Entscheidung über zwei Monate lang unveröffentlicht. Das ist erstaunlich, sowohl im Hinblick auf die übliche Zeitspanne zwischen Entscheidung und Verkündung, als auch wegen der evidenten politischen Bedeutung eines Verfahrens eines Kommunisten im zeitlichen Zusammenhang mit der erwähnten Umgründung der KPD zur DKP.

Eine Erklärung muss vermutlich die Diskussionen um Verbotsanträge gegen die NPD und die DKP berücksichtigen – jene Diskussion fand seit Dezember 1968 auf Initiative des Bundesinnenministers Ernst Benda (CDU) statt. Als die CSU forderte, dass ein Parteiverbotsantrag vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die NPD zwangsläufig einen ebensolchen gegen die DKP zur Folge haben müsse,62 legte Benda Hinweise darauf vor, dass die DKP als Nachfolge- oder zumindest Ersatzorganisation der illegalen KPD tätig sei.63 Dennoch scheiterte die Verbotsinitiative schließlich am 23. April 1969 angesichts erheblicher Beweisschwierigkeiten.64 Gut eine Woche später verkündete das BVerfG die monatelang »auf Eis« gelegte Entscheidung und ließ sie ausfertigen.65

Eine zeitliche Beeinflussung der Entscheidungsverkündung ist zwar nicht aus Quellen belegbar, die aus dem BVerfG stammen – insoweit öffnet das Gericht seine Archive nicht. Für einen Zusammenhang mit der Verbotsinitiative gegen die DKP sprechen aber mehrere Indizien: Neben der erwähnten, kaum zufälligen zeitlichen Nähe von Verkündung und dem Ende der Verbotsinitiative lohnt auch ein Blick auf mögliche weitere Verläufe bei einem Verbotsantrag gegen die DKP: Wäre es vorstellbar und politisch vermittelbar gewesen, dass erst der Altstalinist Aust vor dem BVerfG gewinnt und später die nach Moskau orientierte DKP von demselben Gericht verboten wird? Dieser Ablauf war bis Ende April 1969 möglich, danach aber mangels Verbotsantrag nicht mehr. Und just dann erfolgte die Verkündung des juristischen Sieges von Aust.

Dieser kam dem Blinkfüer aber nicht mehr zugute, denn die Zeitung war Ende März 1969 zum letzten Mal erschienen. Aust selbst hatte sich schon zweieinhalb Jahre zuvor von der Publikation getrennt, allerdings führte er den Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht noch zu Ende. Sein Nachfolger, das DKP-Mitglied Harald Dötze, einigte sich außergerichtlich mit dem Springer Verlag und erhielt 50 000 DM, die er der DKP zufließen ließ. Dies war mit ziemlicher Sicherheit die einzige Zahlung des Springer-Konzerns an die DKP.

Fazit

Zu den weitreichendsten Folgen der Entspannungs- und Liberalisierungspolitik gehörte wohl, dass sich in den späten Sechzigerjahren eine Vielzahl von kommunistischen Gruppen bilden und etablieren konnte. Eine von ihnen gründete Ernst Aust, nachdem er sich schrittweise von der illegalen KPD abgewandt hatte. Noch als KPD-Mitglied hatte er im Juli 1967 anonym und ohne Wissen der Partei eine neu gegründete Zeitung namens Roter Morgen an Kommunisten in Norddeutschland, vornehmlich Abonnenten des Blinkfüer, verschickt.66 Darin brandmarkte er die von Chruščëv auf dem XX. Parteitag der KPdSU eingeleitete Politik der friedlichen Koexistenz, die von der SED und der KPD verfolgt wurde, als »antimarxistische Linie« und warb für »eine kämpferisch positive Haltung zur Volksrepublik China« unter Mao Tse-tung, die einen revolutionären Weg des Kommunismus propagiere.67 Freilich konnte Aust erst am 31. Dezember 1968 seine Abkehr von der KPD offen zur Schau stellen, als er seine eigene linksextreme Partei, die KPD / ML (Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten), gründete und sich zu ihrem Vorsitzenden wählen ließ.68

Die KPD / ML, die bis Mitte der Siebzigerjahre ein gutes Verhältnis zu China hatte und in engem Kontakt mit der Kommunistischen Partei Albaniens stand,69 war nur eine der sogenannten K-Gruppen der Sechzigerjahre, die der Vorwurf des »Sozialimperialismus« gegen die UdSSR verband.70 Die Existenz dieser Gruppen, die sich untereinander heftig bekämpften, veranschaulicht, dass die diversen Forderungen im Rahmen der Entspannungspolitik nach der Zulassung einer kommunistischen Partei in der Bundesrepublik realitätsfern waren. Der westdeutsche Kommunismus wurde nicht von einer einheitlichen Strömung bestimmt, sondern es existierten – ausgelöst durch den Konflikt zwischen der UdSSR und China über den richtigen Weg des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus71 und in Fortführung von Debatten seit den frühsozialistischen Autoren des 19. Jahrhunderts – unterschiedliche Denkmodelle. Wie aus dem Fall Ernst Aust ersichtlich, konnte die von der KPD zur DKP umgegründete Partei nicht als Sammelbecken für alle westdeutschen Kommunisten dienen.

Anhand des Blinkfüer-Falls kann nachvollzogen werden, wie die westdeutschen Kommunisten, begünstigt durch den innen- und außenpolitischen Wandel, in der Bundesrepublik Fuß fassen konnten. Die Richter des BVerfG reagierten auf diese Veränderungen in den späten Sechzigerjahren, indem sie Aust das im Grundgesetz verankerte Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit zusicherten, um damit einen geistigen Meinungskampf unter Einbeziehung kommunistischer Auffassungen in einer pluralistischen Demokratie zu realisieren. Der Blinkfüer-Beschluss markierte also vor dem Hintergrund der DKP-Formierung den Beginn eines neuen Umgangs mit Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland.


1 * Herrn Priv.-Doz. Dr. Thomas Henne, LL. M. (Berkeley) danke ich für seine Hinweise.

1 Das Rundschreiben ist abgedruckt in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 25, Tübingen [1969], S. 256 ff., hier S. 257 f.

2 Siehe Günter Weick: Der Boykott zur Verfolgung nichtwirtschaftlicher Interessen, Frankfurt a. M.
1970, S. 189; Kurt H. Biedenkopf: Zum politischen Boykott, in: Juristenzeitung, 20. Jg. (1965), H. 18, S. 553–558, hier S. 555.

3 So der Untertitel der Zeitung.

4 Weick: Der Boykott (Anm. 2), S. 189, Fußnote 881.

5 Siehe Blinkfüer vom 31. Januar 1964 sowie vom 7. Februar 1964.

6 Siehe Blinkfüer vom 24. Januar 1964.

7 Ebd.

8 Siehe »DDR anerkennen!«, ges. unter www.hans-bredow-institut.de / ws-lehr / blinkfueer / index.html am 13. April 2009.

9 Siehe Blinkfüer vom 31. Januar 1964.

10 Siehe Der Spiegel Nr. 38 vom 13. September 1961, S. 57 f., hier S. 58.

11 Siehe Der Spiegel Nr. 37 vom 9. September 1964, S. 37.

12 Siehe ebd. sowie Nr. 20 vom 12. Mai 1969, S. 99.

13 Blinkfüer vom 28. August 1964.

14 Siehe Andreas Kühn: Der Zukunft getreue Kämpfer: Die maoistischen K-Gruppen als Lebenswelt junger Intellektueller in der Bundesrepublik Deutschland 1970–1980, Frankfurt a. M. 2005, S. 21; Frank Karl: K-Gruppen. Entwicklung – Ideologie – Programme, Bonn 1976, S. 15.

15 Siehe Siegfried Heimann: Die Deutsche Kommunistische Partei, in: Richard Stöss (Hg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. I: AUD–EFP, Opladen 1984, S. 901–981, hier S. 974; Georg Fülberth: KPD und DKP 1945–1990. Zwei kommunistische Parteien in der vierten Periode kapitalistischer Entwicklung, Heilbronn 1990, S. 115.

16 Siehe Blinkfüer vom 17. April 1964, S. 4; vom 22. Mai 1964, S. 2; vom 14. Januar 1965, S. 4.

17 Blinkfüer vom 31. Januar 1964.

18 Blinkfüer vom 14. Februar 1964.

19 Siehe u. a. Blinkfüer vom 14. Februar, 17. April und 5. Juni 1964.

20 Siehe Alexander v. Brünneck: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, Frankfurt a. M. 1978, S. 75.

21 Blinkfüer vom 3. April 1964.

22 Siehe Neue Juristische Wochenschrift (im Folgenden: NJW) 1962, S. 917.

23 Siehe BGH NJW 1964, S. 29 ff., hier S. 32. (Die »Blinkfüer«-Entscheidung des BGH wurde nicht in die Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen aufgenommen und ist deshalb u. a. in der zitierten NJW nachzulesen.)

24 Siehe ebd., S. 31.

25 Siehe ebd., S. 30; siehe auch Adolf Arndt: Der Fall »Blinkfüer« (Art. 5 GG) – Die Last der Freiheit oder Justiz und Presse, in: NJW 17 (1964), H.1 / 2, S. 23 f., hier S. 24.

26 Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung (im Folgenden: FAZ) vom 7. Januar 1964; Die Zeit vom 10. Januar 1964.

27 Blinkfüer vom 10. Januar 1964.

28 Siehe Friedrich-Wilhelm Schlomann / Paulette Friedlingstein: Die Maoisten – Pekings Filialen in Westeu­ropa, Frankfurt a. M. 1970, S. 249.

29 Siehe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 25, Tübingen [1969], S. 256 ff., hier S. 261.

30 Siehe Dietmar Willoweit: Bundesrepublik Deutschland, in: Albrecht Cordes / Heiner Lück / Dieter Werkmüller (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. Berlin 2008, Bd. 1, Sp. 718–731, hier Sp. 725; Wilhelm Mensing: Nehmen oder Annehmen. Die verbotene KPD auf der Suche nach politischer Teilhabe, Zürich, Osnabrück 1989, S. 23.

31 Siehe Fülberth: KPD und DKP (Anm. 15), S. 107; Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine
deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001, S. 262; Gerhard Jahn: Ostpolitik nicht hinter dem Rücken der Sowjetunion, in: Deutschland-Archiv: Zeitschrift für Fragen der DDR und Deutschland­-
politik 1 (1968), H. 1, S. 806 ff., hier S. 808.

32 Siehe u. a. Michael Roik: Die DKP und die demokratischen Parteien 1968–1984, Paderborn 2006, S. 59; Koenen: Das rote Jahrzehnt (Anm. 31), S. 262.

33 Siehe Helmut Ridder: Aktuelle Rechtsfragen des KPD-Verbots, Neuwied, Berlin 1966, S. 14; Roik: Die DKP (Anm. 32), S. 62; Horst Meier: Parteiverbote und demokratische Republik: Zur Interpretation und Kritik von Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden 1993, S. 219.

34 Siehe Heimann: Die Deutsche Kommunistische Partei (Anm. 15), S. 904.

35 Siehe Gustav Heinemann: Wiederzulassung der KPD?, in: Juristenzeitung 22 (1967), H. 14, S. 425 f.

36 Siehe ebd., S. 426.

37 Siehe Helmut Ridder: Gibt es nach geltendem Recht der Bundesrepublik Deutschland Möglichkeiten einer »Legalisierung« der KPD?, in: Wolfgang Abendroth / Helmut Ridder / Otto Schönfeldt (Hg.): KPD-Verbot oder Mit Kommunisten leben, Hamburg 1968, S. 108 ff., hier S. 109.

38 Siehe Mensing: Nehmen (Anm. 30), S. 27; Roik: Die DKP (Anm. 32), S. 64.

39 Siehe Heinemann: Wiederzulassung (Anm. 35), S. 425; Helmut Bärwald: Die DKP – Ursprung, Weg, Ziel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19 (1969), Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament« vom 22. Februar 1969, S. 3–33, hier S. 9.

40 Heinemann sprach ohne weitere Problematisierung von der »Gründung einer neuen Partei«, an der auch frühere KPD-Mitglieder beteiligt sein könnten (Wiederzulassung [Anm. 35], S. 426).

41 Siehe Mensing: Nehmen (Anm. 30), S. 21.

42 Siehe Bärwald: Die DKP (Anm. 39), S. 9; Helmut Bilstein u. a.: Organisierter Kommunismus in der Bundesrepublik. DKP, SDAJ, MSB Spartakus, KPD / KPD(ML), KBW / KB, 4. Aufl. Opladen 1977, S. 15.

43 Franz Ahrens: Der Initiativ-Ausschuß für die Wiederzulassung der KPD, in: Abendroth u. a.: KPD-Verbot (Anm. 37), S. 72–76, hier S. 75.

44 Siehe Heimann: Die Deutsche Kommunistische Partei (Anm. 15), S. 905.

45 Siehe Roik: Die DKP (Anm. 32), S. 67, Fußnote 191.

46 Siehe v. Brünneck: Politische Justiz (Anm. 20), S. 324 u. 326; Jutta Limbach: Politische Justiz im Kalten Krieg, in: Neue Justiz 48 (1994), H. 2, S. 49–52, hier S. 50.

47 Siehe Wilhelm Mensing: Wir wollen unsere Kommunisten wieder haben …: Demokratische Starthilfen für die Gründung der DKP, Zürich, Osnabrück 1989, S. 15.

48 Roik: Die DKP (Anm. 32), S. 67.

49 Siehe Mensing: Wir wollen unsere Kommunisten (Anm. 47), S. 26–29 u. 32; Bärwald: Die DKP (Anm. 39), S. 13 f.

50 Siehe Bilstein u. a.: Organisierter Kommunismus (Anm. 42), S. 15; Heimann: Die Deutsche Kommunistische Partei (Anm. 15), S. 972.

51 Siehe v. Brünneck: Politische Justiz (Anm. 20), S. 327; Meier: Parteiverbote (Anm. 33), S. 221; Koenen: Das rote Jahrzehnt (Anm. 31), S. 262.

52 Siehe Heimann: Die Deutsche Kommunistische Partei (Anm. 15), S. 901; Bilstein u. a.: Organisierter Kommunismus (Anm. 42), S. 16.

53 Siehe Fülberth: KPD und DKP (Anm. 15), S. 120, Mensing: Wir wollen unsere Kommunisten (Anm. 47), S. 54.

54 Siehe Bärwald: Die DKP (Anm. 39), S. 4.

55 Siehe Der Spiegel Nr. 43 vom 21. Oktober 1968, S. 38–49, hier S. 41.

56 Siehe ebd., S. 42.

57 Siehe Mensing: Nehmen (Anm. 30), S. 14. Siehe auch Bärwald: Die DKP (Anm. 39), S. 23; Bilstein u. a.: Organisierter Kommunismus (Anm. 42), S. 17; Koenen: Das rote Jahrzehnt (Anm. 31), S. 262; Roik: Die DKP (Anm. 32), S. 70; Heimann: Die Deutsche Kommunistische Partei (Anm. 15), S. 972; FAZ vom 28. Oktober 1968.

58 Rudolf Wassermann: »Streitbare Demokratie«, in: Die Welt vom 21. August 1996, nachzulesen unter
www.welt.de / print-welt / article654385 / Streitbare_Demokratie.html, ges. am 3. Februar 2010.

59 Siehe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 25, Tübingen [1969], S. 256 ff., hier S. 263.

60 Siehe ebd., S. 266.

61 Siehe ebd., S. 265.

62 Siehe Roik: Die DKP (Anm. 32), S. 65; siehe auch Mensing: Wir wollen unsere Kommunisten (Anm. 47), S. 61.

63 Siehe ebd., S. 64 f.

64 Siehe Bilstein u. a.: Organisierter Kommunismus (Anm. 42), S. 65; Mensing: Wir wollen unsere Kommunisten (Anm. 47), S. 65 f. u. 68.

65 Dies geht aus der Blinkfüer-Akte zum Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 619 / 63, S. 226 hervor.

66 Siehe Roter Morgen Nr. 25 vom 24. Juni 1977, S. 11; Jürgen Bacia: Die Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten, in: Stöss: Parteien-Handbuch (Anm. 15), Bd. II: DP-WAV, S. 1831–1851, hier S. 1834; Schlomann / Friedlingstein: Die Maoisten (Anm. 28), S. 249.

67 Siehe Erklärung der Marxisten-Leninisten der Kommunistischen Partei Deutschlands, in: Roter Morgen Nr. 1 vom Juli 1967, S. 2.

68 Siehe Karl: K-Gruppen (Anm. 14), S. 15; Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III: Dokumentation, 4. Aufl. Bonn 1996, S. 275; Bärwald: Die DKP (Anm. 39), S. 33.

69 Siehe Bilstein u. a.: Organisierter Kommunismus (Anm. 42), S. 93; Koenen: Das rote Jahrzehnt (Anm. 31), S. 296; Backes / Jesse: Politischer Extremismus (Anm. 68), S. 276.

70 Siehe Kühn: Maoistische K-Gruppen (Anm. 14), S. 101.

71 Siehe u. a. Bacia: Die Kommunistische Partei (Anm. 66), S. 1832; zu den Auswirkungen des XX. Parteitags der KPdSU ferner Michail Prozumenscikov: Ereignisse, die die kommunistische Welt erschütterten. Zum 50. Jahrestag des XX. Parteitags der KPdSU, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2006, S. 49–65. 

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