JHK 2010

Die Weisungen der Komintern nach dem Molotov-Ribbentrop-Pakt an die kommunistischen Parteien am 30. Dezember 1939 – die bisher unbekannten Aufzeichnungen von Zoltán Schönherz

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 267-274 | Aufbau Verlag

Autor/in: Krisztián Ungváry

Die Hintergründe des Molotov-Ribbentrop-Paktes sind bis heute umstritten. Kein Wunder, denn das Rätsel um die Motive Stalins kann ohne die vollständige Öffnung der sowjetischen Archive nicht mit völliger Sicherheit gelöst werden. Die ältere Forschung und auch die heutige offizielle Geschichtsschreibung Russlands neigen dazu, den Pakt als eine Präventivmaßnahme zu erklären: Da die Westmächte nicht mit der Sowjetunion kooperieren wollten, war diese sozusagen gezwungen, auf das Angebot Nazi-Deutschlands einzugehen, um Zeit für die Vorbereitung der Verteidigung zu gewinnen.1

Überrachenderweise fanden sich auch westliche Historiker, die die These der defensiven Sowjetunion untermauern wollten, wie z. B. Bianka Pietrow-Ennker.2 Die »revisionistische« Forschung betonte demgegenüber die von Anfang an imperialistischen Ziele der Sowjetunion.3 Ein Teil der Diskussion berührte auch die konkreten Kriegspläne der Sowjetunion im Jahre 1941, woraus sich eine teils sehr emotionale Debatte entwickelte. Dabei ging es um die Frage, ob die Sowjetunion Deutschland angreifen wollte. Die Diskussion wurde dadurch verkompliziert, dass manche Autoren schon die Fragestellung als illegitim empfanden, konnte doch aus ihr gefolgert werden, dass Hitler über die Kriegsvorbereitungen wusste und »nur« deshalb einen Präventivkrieg führte.4 Der verbrecherische und eigenständige Charakter des NS-Vernichtungskrieges ist jedoch in der Wissenschaft mit aller Eindeutigkeit mehrfach nachgewiesen worden.

Ein anderer Teil der Debatte beschäftigte sich mit dem Jahr 1939 bzw. mit den Motiven Stalins, die zum Abschluss des Paktes mit Hitler geführt haben. Hier war eine angebliche Rede Stalins vom 19. August 1939 vor dem Politbüro von entscheidender Bedeutung. Laut dieser Rede hatte Stalin absichtlich einen Krieg provozieren wollen, an dem er jedoch nicht teilgenommen hätte. Die Rede ist inzwischen eingehend untersucht worden. Nach den Urteilen von Eberhard Jäckel und Sergej Slutsch handelt es sich dabei um eine Fälschung – Slutsch bekräftigt jedoch, dass ihr Inhalt, nämlich die politische Bestrebung Stalins, einen Weltkrieg ohne sowjetische Beteiligung anzuzetteln, der Wahrheit entspricht.5

Seit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes erschienen viele Quellen und Untersuchungen, die das schematische Bild einer friedliebenden Sowjetunion stark infrage stellen.6 Kürzlich untersuchte Bernhard H. Bayerlein die Politik der Komintern und publizierte eine Reihe wichtiger Dokumente.7 Diese belegen eindrucksvoll, wie die Sowjet­union durch die Komintern die kommunistischen Parteien für ihre machtpolitischen Ziele instrumentalisierte. Bayerlein unterstreicht auch, dass es sich bei dem Pakt »keineswegs um ein defensiv ausgerichtetes sowjetisch-deutsches Bündnis« handelte. Andererseits versucht er diese Aussage zu relativieren, indem er die offensiven Kriegspläne der Sowjet­union abstreitet und das Bündnis doch als »aus Angst vor der Bedrohung gegründet«8 darstellt. Welche Bedrohungsängste Stalin empfunden haben soll, wird allerdings nicht offengelegt. Bayerlein behauptet auch, dass der Pakt den Zielen der proletarischen Weltrevolution widersprach,9 weil er die kommunistischen Parteien in Westeuropa und in Deutschland in schwere Existenznöte brachte und die kommunistische Bewegung weltweit weitgehend isoliert habe. Eine absolut konträre Wertung des Paktes vertreten andere Autoren,10 die sogar verschiedene Dokumente nahelegen. Bayerlein geht jedoch auf diese Interpretationsmöglichkeiten nicht ein, obwohl er eine Reihe jener einschlägigen Dokumente selbst zitiert, wie z. B. das Gespräch zwischen Dmitrij Manuil’skij und Jesus Hernandez, in dem Manuil’skij den Pakt folgendermaßen begründet: »Wir werden eine gemeinsame Grenze mit Deutschland haben. […] Alles ist eingeplant und kalkuliert. Wir können nicht verlieren. […] Wenn sich die Kapitalisten untereinander niedermetzeln wollen, um so besser. Zum gegebenen Zeitpunkt, wenn sie die ersten Anzeichen der Erschöpfung zeigen, wird man uns bestimmt von beiden Seiten umwerben.«11 Noch eindeutiger äußerte sich Stalin selbst, als er am 7. September 1939 zu Dimitrov sagte: »Hitler selber zerrüttet und untergräbt, ohne es zu verstehen und zu wollen, das kapitalistische System. Wir können manövrieren, eine Seite gegen die andere aufbringen, damit sie sich noch stärker in die Haare kriegen.«12 In diesem Sinne beauftragte er sodann Dimitrov, den Führer der Komintern, Thesen zum neuen Krieg aufzustellen. Diese wurden noch im November 1939 unter dem Titel »Der Krieg und die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder«13 in Moskau in mehreren Sprachen herausgegeben. Die Generallinie der Komintern bestand demnach wieder in der These des »Sozialfaschismus« und in der Schuldzuweisung an die Westmächte.

Vor Kurzem ist eine Quelle aufgetaucht, die zu diesem Themenkomplex weitere Erkenntnisse liefern kann. Es handelt sich um die Aufzeichnungen von Zoltán Schönherz14 über die Weisungen der Komintern vom 30. Dezember 1939,15 zu denen die Forschung bisher keinen Zugang hatte. Diese waren bindend für alle kommunistischen Parteien, sie standen für die aktuelle »Linie« der Partei und waren dringend erforderlich, weil die kommunistischen Parteien Westeuropas und Amerikas vom Molotov-Ribbentrop-Pakt völlig überrascht waren.

Wie schon erwähnt, wies Stalin Dimitrov am 7. September 1939 an, Thesen über den neuen Krieg zu formulieren. Diese und die Weisungen der Komintern scheinen jedoch nicht eindeutig genug gewesen zu sein. Vielerorts breitete sich in den kommunistischen Organisationen Verwirrung aus. Um die politische Linie durchzusetzen bzw. die wahren Hintergründe für die Spitzen der Parteien zu erklären, sandte die Komintern Kuriere nach Westeuropa. Einer dieser Kuriere war Zoltán Schönherz, der im Januar 1940 illegal nach Ungarn eingeschleust wurde. Einige Wochen früher, noch in Moskau, hatte Schönherz Aufzeichnungen über die Argumentationslinie angefertigt, die er zu vertreten hatte. Im Mai 1940 wurde sein Versteck von der ungarischen Militärabwehr entdeckt. Schönherz konnte sich zwar noch rechtzeitig absetzen, seine Aufzeichnungen fielen jedoch in die Hände der Militärabwehr. Das Original bestand aus Stichpunkten und Verkürzungen und konnte nur durch Aussagen der verhafteten Parteiführung entziffert werden. Der Text ist eine logische Folge der hier zuvor zitierten Dokumente und belegt eindeutig die agressiven Absichten der Sowjetunion bzw. die Planung der proletarischen Weltrevolution.

Dokument16

Die Aufzeichnungen von Zoltán Schönherz über die Sitzung der Komintern
am 30. Dezember 1939

Hier muss darüber gesprochen werden, was im Dimitrov-Aufsatz17 nur zwischen den Zeilen zu lesen ist, was Dimitrov aus taktischen Gründen in seinem Aufsatz nicht schreiben konnte. Die politischen Leiter müssen jedoch den Sinn verstehen, damit sie die jetzige Lage begreifen können. Weder dürfen sie darüber schreiben, noch es während der Agitation nutzen, im Gegenteil, sie müssen sich an die offen geschriebenen Sätze des Dimitrov-Artikels halten. Die Parteiführung ist von ihrer Zentrale abgeschnitten und auf diesem Wege muss sie Information erhalten.18 Die für Kommunisten eingerichtete Presse hätte auch schreiben müssen, dass der deutsch-sowjetische Pakt lediglich ein taktischer Trick sei.

Die objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer revolutionären Krise reifen in einer Reihe kapitalistischer Staaten heran.

Die erste große revolutionäre Krise fällt in die Zeit 1918–1923, in dieser Zeit waren die proletarischen Revolutionen an der Tagesordnung, an mehreren Stellen ist es auch tatsächlich zur Machtergreifung gekommen. Die Nachwirkungen dieser Revolutionen waren noch lange zu spüren, und das Bezwingen dieser Wellen der Revolution stellte selbst in England nach 1923 eine Herausforderung dar. Der Bourgeoisie ist es gelungen, die Revolution überall mithilfe der Sozialdemokratie zu ersticken. In Russland wollte sie dies durch die Partei der Menschewiki erreichen, aber es konnte dort nicht gelingen, weil die Menschewiki schwach, die Kommunisten dagegen stark waren.

Die zweite Krise fällt in die Zeit zwischen 1929–1932. Die Kapitalismus kam nach der Rationalisierung in eine Krise, was die ganze kapitalistische Produktion erschütterte. Aber es gelang dem Kapitalismus, seine Macht mithilfe der Sozialdemokratischen Partei erneut zu sichern, indem er zur Entstehung faschistischer Systeme beitrug. Das war die Zeit des Zurückdrängens der Proletarischen Revolution, das revolutionäre Proletariat wurde in die Defensive gezwungen. Die Ziele des VII. Kongresses waren:

1. Den Krieg zu verschieben, damit die Sowjetunion sich militärisch und wirtschaftlich vorbereiten kann. Deshalb trat die Sowjetunion dem Völkerbund bei und unterstützte seine Politik.

2. Das Lebensniveau der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, um zu vermeiden, dass beim Ausbruch einer revolutionären Aktion eine geschwächte Arbeiterklasse auf das Schlachtfeld ziehen muss.

3. Die bisherigen Errungenschaften beizubehalten und mit den demokratisch gesinnten Massen Vereinbarungen zu erzielen. Die Ergebnisse dieser Politik waren die Offensiven in Frankreich und in Spanien, wo das Proletariat sich entfalten konnte, mit der Zerschlagung Spaniens wurde es jedoch in die Defensive gedrängt.

Mit der Zeit der Defensive ist es jetzt jedoch vorbei und das Proletariat übernimmt wieder die Rolle des Angreifers. Zum Beispiel hat sich auch die Sowjetunion aus ihrer abwartenden Haltung erhoben. Kriege in Polen und in Finnland. Das zeigt, dass eine neue revolutionäre Krise bevorsteht. Die kapitalistischen Staaten wollten stets einen gemeinsamen Interventionskrieg gegen die Sowjetunion. Dies wurde verhindert, weil die Gegensätze zwischen den Kapitalisten inzwischen größer sind als das gemeinsame Interesse an der Niederschlagung der Sowjetunion. Deshalb waren sie nicht imstande [gegen die Sowjetunion] einen Krieg zu organisieren. Der Krieg brach unter ihnen aus. Das ist nichts anderes als ein Selbstmord der imperialistischen Staaten. Die Gegensätze der kapitalistischen Staaten sind auch ein Zeichen dieser Krise.

Selbst die sogenannten demokratischen Staaten können nicht mehr mit den alten demokratischen Mitteln regieren. Ein Beispiel dafür ist Frankreich, wo die Linke unterdrückt und eine rechte Regierung gebildet wurde. So lösen sich die Unterschiede zwischen faschistischen und demokratischen Staaten auf. Alle kapitalistischen Staaten sind in einem gewissen Maß reaktionär geworden. Deshalb verwirrt es, wenn heute über Faschismus und Demokratie gesprochen wird. Der Begriff »Faschismus« darf also nicht genutzt werden, weil dadurch Verwirrungen und Illusionen entstehen. Der richtige Ausdruck lautet stattdessen: Reaktion.

Die politische Stellung der Sowjetunion ist enorm stark geworden. Aus einer aus Osteuropa verdrängten Macht ist eine mitteleuropäische Macht geworden. Die heutigen kapitalistischen Staaten müssen mit ihr sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen rechnen. Diese Sowjetunion wurde zu einer revolutionären Kraft in der Masse der kapitalistischen Staaten, nicht nur in der Karpatho-Ukraine,19 wo dies am deutlichsten zu spüren ist. Die Lage nach dem I. imperialistischen Weltkrieg hat sich in der letzten Zeit radikal verändert. Die Sieger versuchten so lange es nur ging, im Sinne der Versailler Verträge und aufgrund ihrer Machtstellung sowie ihrer wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Heute befindet sich das Ganze im Niedergang, eine revolutionäre Krise reift heran.

Unter den Massen ist jetzt keine Kriegsbegeisterung festzustellen, wie es zur Zeit des I. Weltkrieges der Fall war. Die Sozialdemokratische Partei stellt sich ganz auf die Basis der Kriegshetze, demgegenüber steht jedoch die Kommunistische Partei. Die Partei hat zwar nicht viel Einfluss und beging teilweise Fehler, aber trotzdem wird sie mit Erfolg ihre Friedenspolitik verwirklichen. Unter den Massen breitet sich der Wunsch nach Frieden immer mehr aus. Dieses Begehren ist bislang noch ein unbewusstes und natürliches Gefühl, das jedoch in einen Angriff gegen den Kapitalismus umgewandelt werden kann. Die Aufgabe der Kommunistischen Partei ist es, die Friedenswünsche der Massen in Richtung des Kampfes gegen den Kapitalismus umzulenken.

Die Freiheitsbewegungen der Kolonievölker sind Ort für ein riesiges Reservoir an Kräften der proletarischen Revolution. Diese sind allein in der Lage, den Kapitalismus in seinem Fundament zu erschüttern. In China ist dieser Prozess bereits im Gange. In Indien kann ein Drittel der Bevölkerung schon als erwachsenes Proletariat bezeichnet werden. Diese riesigen Proletariermassen zeigen, dass auch Indien einem kapitalistischen Staat mit einer bedeutenden Arbeiterklasse ähnelt. Allein in Bombay wohnen 90 000 Proletarier. Das wirft schon die Schatten einer beginnenden proletarischen Revolution voraus.

Diese Umstände beweisen sowohl im Einzelnen als auch in ihrer Gesamtheit, dass die objektiven und subjektiven Kräfte der revolutionären Krise heran­reifen.

Wir müssen die I. revolutionäre Krise, die Zeit des I. imperialistischen Weltkrieges, näher untersuchen, um daraus die Lehren für das Proletariat auf dem Weg zum Sieg zu ziehen. Wir sollen untersuchen, welche Gemeinsamkeiten es mit dem jetzigen Krieg gibt.

Auch der jetzige Krieg ist ein Kampf der imperialistischen Interessen und es besteht die Möglichkeit, diesen Krieg in einen anderen Krieg umzulenken. Es besteht die Möglichkeit, dass dieser Krieg in bestimmten Staaten zu einem Bürgerkrieg wird, dessen Ziel im Sturz des Kapitalismus besteht. Während dieses Krieges lautet die Parole also:

1. Die eigene Bourgeoisie niederzuschlagen.

2. Den Krieg in einen Bürgerkrieg umzulenken.

Das ist nicht einfach, weil es auch unter den kapitalistischen Staaten wesentliche Unterschiede gibt.

Die kapitalistischen Staaten teilen sich in verschiedene Interessengruppen auf. Eigentlich stehen sich zwei Systeme gegenüber: das kapitalistische und das Sowjetsystem. […]20 Die Sowjetunion ist nichts anderes als die Elite-Stoßtruppe des Weltproletariats, deshalb ist die Sowjetunion das Mittel, das anderen Staaten helfen kann, den Kapitalismus zu stürzen. Der Sturz des Kapitalismus kann nicht in der Karpatho-Ukraine, auch nicht in Ungarn oder in Deutschland erreicht werden. Man muss sich auf die Vernichtung des Stinnes-Konzerns konzentrieren, denn dieser besitzt fast die gesamten Rohstoffreserven der Welt. Die wahren Zentren des Stinnes-Konzerns sind in England, in Frankreich und in den USA. Auf diese Punkte müssen also die Kräfte konzentriert werden, die den Sturz erreichen können, weil ein Sturz des Kapitalismus in diesen Ländern das ganze kapitalistische System der Welt mit sich zieht.

Die Kräfte der Sowjetunion reichen für den Sturz des Kapitalismus nicht aus, denn das Potenzial der Sowjetunion steht in einem Verhältnis zu dem der kapitalistischen Staaten wie 1:10. In unterentwickelten Regionen können jedoch auch mit weniger Aufwand Erfolge erzielt werden, wie z. B. in Indien oder in den Kolonien.

Die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten sollen genutzt werden, indem wir beim Sturz des einen Kapitalismus auf die volle Kraft des anderen Kapitalismus zählen können. Als Folge der Genialität Stalins konnte der englisch-deutsche Krieg ausbrechen, deshalb wird England durch die deutsche Armee geschwächt. Die Folge des Krieges wird die Schwächung beider Länder sein, sodass die Sowjetunion über beide einen leichten Sieg erringen kann. Das bedeutet jedoch keine Kriegspolitik seitens der Sowjetunion, weil sie bis zur letzten Minute für den Frieden kämpfte und sogar auch heute für den Frieden kämpft. Wenn sie jedoch nichtsdestotrotz gezwungen wird, in den Krieg einzutreten, dann wird sie diese Möglichkeit zugunsten des Proletariats ausnutzen. Wir sind wahrlich für den Frieden, weil wir die Massen retten wollen, aber wir wissen, dass wir uns aus dem Krieg nicht heraushalten können, und deshalb verbinden wir unsere Beteiligung im imperialistischen Krieg mit dem Sturz des Kapitalismus: Stalin verwirklicht den Traum Lenins: die gemeinsame deutsch-sowjetische Grenze.

Hier geht es nicht um Deutschland als einen besonderen Staat, sondern um ein Fundament des Kapitalismus. Wenn in Deutschland eine revolutionäre Krise entstehen würde, würde das nicht bedeuten, dass diese Krise bei uns [in Ungarn] nicht auftreten würde. Das Proletariat kalkuliert in seiner Taktik im Kampf gegen den Kapitalismus auch die Rote Armee mit ein.

Jedoch hat auch die Bourgeoisie seit dem Weltkrieg viel gelernt. Die jetzige Bourgeoisie ist nicht mit der von 1917 identisch. Sie ist sehr vorsichtig geworden.

Eine Folge dieser Vorsicht ist, dass auch die Sowjetunion vorsichtig geworden ist und ihre Stellungnahme Hitler gegenüber nicht offen kundtun kann. Der sowjetische Rundfunk ist den strategischen Zielen unterstellt. Das müssen die­jenigen verstehen, die erwarten, dass die Sowjetunion ihre strategischen Ziele der ganzen Welt offenbart.

Losungen müssen sehr sorgfältig ausgegeben werden und nicht auf entschlossene Art. Dafür ein Beispiel: »Die Ursachen des Krieges sollten abgeschafft werden« – also keine revolutionären Parolen. Man muss darüber wachen, dass keine Parolen in Verkehr kommen, die der Bewegung schaden. Auf dem Gebiet der Losungen und in schriftlichen Fragen muss Zensur eingesetzt werden. Die einzelnen revolutionären Phasen dürfen nicht übersprungen werden, die Massen müssen die einzelnen Etappen durchschreiten. Dazu kann in den verschiedenen Staaten mit folgenden Entwicklungen gerechnet werden:

Deutsch­land, die Aussichten des deutsch-englischen Krieges: 1. Übereinkunft zwischen Deutschland und England ist wegen der Person Hitlers unwahrscheilich.
2. Hitlers Sieg ist ebenfalls nicht wahrscheinlich. 3. Am wahrscheinlichsten er­scheint es, dass England Deutschland besiegt, zerstückelt und eine englisch-freundliche Regierung an die Spitze stellt, mit welcher England in einen gemeinsamen Krieg gegen die Sowjetunion eintreten kann.

Daraus muss das Proletariat schließen, dass der Angriff nicht wie bisher auf zwei Fronten erfolgt, auf der Front des Faschismus und des Antifaschismus, sondern auf drei Fronten, und zwar 1. Hitler und die NS-Regierung, deren Sturz vom deutschen Proletariat angestrebt wird, 2. Zum zweiten Gegner, der auch besiegt werden sollte, gehören die Gruppe der Thyssen-Großkapitalisten, die auch heute noch existierende Gruppe der Monarchisten, die Front der Sozialdemokraten und Katholiken, 3. Obwohl die Volksfront des Proletariats diese zwei Feinde besiegen will, ist ihr klar, dass diese zwei Fronten auch gegeneinander kämpfen. […]21

Es stellt sich die Frage, ob es sofort zu einer proletarischen Revolution kommt oder ob davor, für eine Übergangszeit, eine demokratische Regierung eingesetzt wird. Angesichts der Tatsache, dass in Ungarn Reste der Leibeigenschaft (feudale Latifundien), unterdrückte Minderheiten, breite Bauernmassen existieren, muss damit gerechnet werden, dass es vor der endgültigen Revolution des Proletariats auch zu demokratischen revolutionären Bewegungen kommt. Da die Erörterung dieser Fragen zu schwer erklärbaren Problemen führt, sollte darüber nicht diskutiert werden. […]22


1 Für diese Ansichten sei hier auf die Arbeiten von Lev Bezymenskij verwiesen, der im Parteiauftrag vor 1989 und seit der friedlichen Revolution als Historiker publiziert. Bis 1989 leugnete auch er die Existenz des geheimen Zusatzabkommens des Molotov-Ribbentrop-Paktes. Eine teils korrigierte Neuauflage seiner Arbeiten ist: Lev A. Bezymenskij: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin 2002.

2 Siehe Bianka Pietrow-Ennker: Stalinismus, Sicherheit. Offensive. Das »Dritte Reich« in der Konzeption der sowjetischen Außenpolitik 1933–1941, Melsungen 1983. Ferner: dies.: Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt a. M. 2000.

3 Siehe z. B. Philipp W. Fabry: Die Sowjetunion und das Dritte Reich. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1933 bis 1941, Stuttgart 1971; Joachim Hoffmann: Die Sowjetunion bis zum Vorabend des deutschen Angriffs, in: Horst Boog u. a. (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4, Stuttgart 1983, S. 38–76.

4 Eine tendenziöse Zusammenfassung siehe bei Gerd R. Ueberschär / Lev A. Bezymenskij (Hg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese, Darmstadt 1998; Pietrow-Ennker: Präventivkrieg? (Anm. 2).

5 Siehe Sergej Slutsch: Stalins »Kriegsszenario 1939«. Eine Rede die es nie gab, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (2004), H. 4, S. 629.

6 Siehe Joachim Hoffmann: Stalins Vernichtungskrieg. Planung, Ausführung und Dokumentation. München 2001; Richard C. Raack: Stalin’s Role in the Coming of Word War II. The International Debate
Goes On, in: World Affairs 159 (1996), H. 2.; Heinz Magenheimer: Neue Erkenntnisse zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und zum deutsch-sowjetischen Krieg 1941, in: Geschichte und Gegenwart
(2000), H. 2; Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Georgi Dimitroff. Tagebücher 1933–1943, Berlin 2000; ­
ders. / Wladislaw Hedeler (Hg.): Georgi Dimitroff. Kommentare und Materialien zu den Tagebüchern 1933–1943, Berlin 2000.

7 Siehe Bernhard H. Bayerlein: »Der Verräter, Stalin, bist Du«. Vom Ende der linken Solidarität 1939–1941, Berlin 2008.

8 Ebd., S. 60. Wie Bezymenskij führt auch Bayerlein zur Stützung des defensiven Charakters des Paktes die tendenziöse Arbeit von Bianka Pietrow-Ennker heran.

9 Ebd., S. 103.

10 Siehe dazu z. B. Hoffmann: Die Sowjetunion bis zum Vorabend (Anm. 3); Sven Allard: Stalin und Hitler. Die sowjetrussische Außenpolitik 1930–1941, Bern 1974; Fabry: Die Sowjetunion und das Dritte Reich (Anm. 3).

11 Bayerlein: »Der Verräter, Stalin, bist Du« (Anm. 7), S. 107.

12 Ebd., S. 125.

13 Die ungariche Version trug den Titel: Dimitrov: A háború és a kapitalista országok munkásosztálya. Idegennyelvű Irodalmi Kiadó [Der Krieg und die Arbeiterklasse der kapitalistischen Staaten], Moskau 1939. Unverständlicherweise behauptet Bayerlein, dass die Thesen Dimitrovs nicht an die kommunis­tischen Parteien verschickt worden seien (Bayerlein: »Der Verräter, Stalin, bist Du« [Anm. 7], S. 154). Diese Behauptung wird schon durch die Veröffentlichung der Broschüre in mehreren Sprachen und mit der im Folgenden abgedruckten Quelle wiederlegt, selbst Bayerlein zitiert aus diesem Dokument, siehe ebd., S. 178.

14 Zoltán Schönherz (1905–1942), in Kaschau geboren, studierte Elektroingenieurwesen; Berufspolitiker, seit Sommer 1939 Leiter der KP-Organisationen in den an Ungarn rückgegliederten Gebieten der Slowakei. Ab Herbst 1939 Leiter der gesamtungarischen KP-Organisation. Im Sommer 1940 floh er in die Sowjet­union, im November kam er zurück nach Ungarn und übernahm die Führung der Budapester Parteiorgane. Er organisierte mehrere antifaschistische Aktionen. Am 6. Juni 1942 wurde er verhaftet, später zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im Verfahren spielte das hier behandelte Dokument jedoch keine Rolle.

15 Die Weisungen sind nur in der im Folgenden abgedruckten Zusammenfassung in den Aufzeichnungen von Zoltán Schönherz auffindbar. Siehe Politikatörténeti Intézet Levéltára [Archiv des Politikwissenschaftlichen Instituts], 698. fond, 203. őrzési egység [Aufbewahrungseinheit], S. 16–27.

16 Das Dokument liegt im Original in ungarischer Sprache vor (siehe Anm. 15). Für diesen Beitrag wurde es von Krisztián Ungváry ins Deutsche übersetzt.

17 Siehe Dimitrov: A háború (Anm. 13).

18 Im Original in Konjunktivform, so jedoch unverständlich.

19 Im Original »Kárpátalja«, gemeint ist aus der Sicht Mitteleuropas Subkarpatien.

20 Die folgenden fünf Sätze behandeln die Rolle Lenins bei der Errichtung der Sowjetunion.

21 In den ausgelassenen acht Seiten behandelt Schönherz einzelne taktische Fragen der Komintern.

22 In den weiteren drei Seiten behandelt Schönherz die taktischen Fragen in der Karpatho-Ukraine sowie in der Slowakei, die Grundsätze der Kaderpolitik, den Gebrauch des »kurzen Lehrgangs« und die Taktik gegen »Sozialfaschismus«.

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