JHK 2011

Der Kommunismus als Plusquamperfekt in Ungarn. Randbemerkungen zur Optik der Erinnerung

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 307-310 | Aufbau Verlag

Autor/in: György Dalos

Das Haus Erinnerung hat tausend Türen.

Und du hast doch den Weg umsonst gemacht.

Du weißt nicht mehr, wohin die Türen führen.

Und in den Korridoren lehnt die Nacht.

(Erich Kästner)

Am 1. September 1930 fand in Budapest die größte Arbeiterdemonstration der Zwischenkriegszeit statt. 150 000 Menschen marschierten durch die Andrássy-Straße unter der Losung: »Arbeit und Brot«. Die Horthy-Polizei eröffnete im Stadtpark das Feuer auf die Demonstranten. Hunderte wurden verletzt und der achtundzwanzigjährige Bauarbeiter Pál Darnyik fand den Tod. Obwohl hinter der Massenkundgebung die ansonsten eher gemäßigte sozialdemokratische Partei und die ebenso gemäßigten Gewerkschaften standen, verlieh ihr die wegen der katastrophalen Weltwirtschaftskrise verzweifelte Stimmung der Arbeiterschaft eine besondere Radikalität. Das Regime hatte panische Angst vor einer Revolution und witterte in jedem Protest Umtriebe der verbotenen und höchstens 5000 Mitglieder zählenden Kommunistischen Partei.

Nach der kommunistischen Machtübernahme verwandelte sich der 1. September in einen offiziellen Erinnerungstag, wurde die Kundgebung zu einer mustergültigen Klassenschlacht hochstilisiert und der tote Bauarbeiter postum zum illegalen Genossen erklärt. Am 25. Jahrestag der Kundgebung saß sogar Darnyiks Witwe, eine alte Arbeiterfrau mit Kopftuch, im Präsidium der Gedenkveranstaltung. An der Wand der Kunsthalle im Stadtpark befestigte man eine Tafel, welche den proletarischen Protest von damals verewigen sollte. Obwohl Historiker die Ereignisse jenes Herbsttages später etwas differenzierter behandelt haben, gehörten diese nunmehr untrennbar zum kanonisierten Erbe der KP – zumal sich auch der damals junge Kommunist János Kádár unter den Demonstranten befand.

Kurz vor dem 80. Jahrestag der Arbeiterkundgebung stellte der in Budapest lebende britische Journalist Bob Dent 2010 fest, dass die Gedenktafel von der Wand der Kunsthalle verschwunden war. Offensichtlich fiel sie keineswegs irgendeiner antikommunistischen Götzenzerstörung zum Opfer, aber sie wurde weder wiederhergestellt noch erneuert – wahrscheinlich samt ihrer Inschrift schlicht und einfach vergessen. Davon zeugt nicht zuletzt die Tatsache, das bei den runden Jahrestagen des 1. Septembers, so anno 1990 und 2000, die linken Blätter Népszabadság und die ursprünglich sozialdemokratische Népszava das historische Ereignis offenkundig nicht als erinnerungswürdig befanden. Um den Arbeiterprotest von einst, sei er kommunistisch oder sozialdemokratisch gewesen, ist es im postmodernen Ungarn recht still geworden. »Diese Stille ist verständlich, obwohl bedauerlich«, fasste Bob Dent seine ergebnislosen Recherchen zusammen. »Verständlich, weil die Menschen die Geschichte der Arbeiterbewegung mit derjenigen der Kommunistischen Partei verbinden, die sie vergessen wollen, obwohl die beiden nicht identisch sind. Und es ist bedauerlich, dass die von der KP manipulierte Propaganda, Geschichtsschreibung und Ideologie bis heute nachwirkt.«

Es wäre federleicht, die obige Geschichte als Beweis dafür zu betrachten, dass die Kommunisten an allem, selbst an ihrer Verdammung durch die Nachwelt, schuld sind – ganz unschuldig sind sie daran sicher nicht. Trotzdem müssen wir davon ausgehen, dass man das Vergessen eines historischen Ereignisses niemals auf einen einzigen Grund zurückführen kann. In unserem Fall geht es nämlich auch darum, dass den Arbeiterprotest von vor 80 Jahren keine sozial relevante Gruppe in ihre Erinnerung aufnehmen will, was womöglich auch mit der Tatsache zusammenhängt, dass im heutigen Ungarn kein Protest wegen Mangel an Arbeit und Brot Menschen auf die Straße treibt. Hingegen gelingt es einem anderen Jubiläum, dem 90. Jahrestag des Friedens von Trianon (4. Juni 1920), die Öffentlichkeit in seinen Bann zu ziehen. Der damalige Verlust von zwei Dritteln des Landesterritoriums samt mehrerer Millionen Ungarn bewog das Budapester Parlament dazu, per Gesetz einen »Tag der nationalen Zusammengehörigkeit« einzurichten. In dieser Weise kann die politische Entwicklung ein historisches Faktum ins Nichts verbannen und gleichzeitig dem anderen eine Quasiaktualität verleihen.

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Für meine Generation war das Bild des Vorkriegssystems in der offiziellen kommunistischen Lesart fertig vorgegeben. Die Herrschaft zwischen 1919 und 1945 bezeichneten Politiker und Historiker pauschal als Horthy-Faschismus, in dem die Arbeiter und Bauern Hunger und Unterdrückung zu erleiden hatten, bis endlich die Rote Armee Ungarn befreite und eine Volksdemokratie entstand, welche das Wohlergehen der Werktätigen zu garantieren versprach. Erst in den Sechziger-, Siebzigerjahren begann eine differenziertere Betrachtung der ein Vierteljahrhundert währenden Amtszeit des Reichsverwesers Nikolaus von Horthy. Vor allem verfuhr die neue Interpretation chronologisch – auf die Phase des weißen Terrors (1919–1920) folgte die Konsolidierung des Regimes (1921–1928), die Wirtschaftskrise (1928–1932), der erneute Aufschwung (1933–1939), Ungarns Beteiligung im Krieg an der Seite Hitlerdeutschlands (1940–1944) und schließlich die Agonie des Systems, die in der fürchterlichen Herrschaft der Pfeilkreuzler mündete (Ende 1944). Statt »faschistisch« operierte man mit Begriffen wie »halbfeudal«, »autoritär« und »reaktionär«. In den Achtzigerjahren konnten sich Wissenschaftler in Teilfragen eine relativ objektive Darstellung erlauben, politisch liberale und wirtschaftlich erfolgreiche Tendenzen wahrnehmen.

Nach der Wende begann eine seltsame »Metamorphose« der Ära Horthy in der Öffentlichkeit. Die neuen Publikationen befriedigten den offenkundigen Nachholbedarf und korrigierten die frühere Einseitigkeit der kommunistischen Sichtweise. Erst in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre kippte das Gleichgewicht um: Immer häufiger und von immer mehr Personen der Öffentlichkeit wurde das Vorkriegsregime beschönigt, ja, idealisiert, manche seiner Repräsentanten wie der erzkonservative Regierungschef der Zwanzigerjahre, Graf Bethlen sogar zum Vorbild der Fidesz-Regierung zwischen 1998 und 2002 erkoren. Aufgrund seiner tatsächlich vorhandenen, obwohl wenig wirksamen pluralistischen Institutionen, rühmten die Ideologen der »Bürgerpartei« das damalige System als Demokratie, und versuchten, selbst so manifeste Gegenbeweise wie dessen offen antisemitischen Charakter zu relativieren.

Diese Meinungsmacher behandeln gleichzeitig die Jahre zwischen 1945 und 1990 als eine einzige »Willkürherrschaft« und sehen keinen Unterschied zwischen ihren Phasen. Dabei existiert im historischen Rückblick eine ziemlich klare Trennlinie: Der Volksaufstand 1956. Obwohl dieser mithilfe sowjetischer Panzer und durch Terror brutal unterdrückt wurde, war das Ungarn davor und danach bei Weitem nicht das gleiche Land. Der herrschenden Partei gelang es nicht mehr, ihre absolute Kontrolle über die Gesellschaft wiederherzustellen, es entstanden Freiräume vor allem im Bereich Konsum und Kultur. Chronologisch lässt sich die Differenzierung ziemlich exakt festsetzen: Die begrenzte Nachkriegsdemokratie (1945–1948) wurde durch die stalinistische Diktatur abgelöst (1948–1953), darauf folgte eine kurzlebige Reformperiode (1953–1956), die bereits erwähnte Trennlinie 1956, die mit Vergeltungen und kleinen Zugeständnissen erkämpfte Restauration des Regimes (1957–1961), die Entstehung des »Gulaschkommunismus« (1962–1968), die angefangene und gescheiterte Wirtschaftsreform (1968–1972), die stabilen Siebzigerjahre und schließlich die Entfaltung der Systemkrise, welche ihre Lösung in dem friedlichen Übergang zu pluralistischen Strukturen fand (1985–1989).

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Eine »Aufarbeitung« der vorsozialistischen Vergangenheit konnte den Kommunisten nicht gelingen, weil sie jede Beziehung zu dieser leugnen wollten. Die 1990 entstandenen neuen mitteleuropäischen Demokratien lavieren bis heute zwischen Bruch und Kontinuität, was ihnen eine ausgewogene Beurteilung ihrer Vorgänger ungemein erschwert. Die mangelnde Distanz zeigt sich in einer Sehnsucht nach der sogenannten weichen Diktatur mit ihren kleinen Freiheiten und bescheidenem aber garantierten Wohlstand. Gleichzeitig und besonders auf der Ebene der großen Politik dominiert ein posthumer Antikommunismus, der immer weniger mit seinem vermeintlichen Gegenstand zu tun hat. Vielmehr wird der Begriff »Kommunist« als Schimpfwort gegen den jeweiligen politischen Rivalen eingesetzt, als hätten die Beteiligten die entsprechenden sarkastischen Sätze des Manifestes illustrieren wollen: »Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus nicht zurückgeschleudert hätte?« Der Kommunismus wird nicht als Praxis und Theorie der nahen Vergangenheit aufs Korn genommen, sondern als Teufel an die Wand gemalt. Angesichts des konkreten und aktuellen Auftauchens dieses Beelzebubs wirken manche Personen der Öffentlichkeit eher ratlos.

Im Sommer 2010 löste ein Dokumentarfilm geradezu Furore in der Öffentlichkeit aus.1 Zwei jungen Journalisten gelang es durch verschiedene Tricks, den früheren Innenminister der Ära Kádár, Béla Biszku, zu einem langen Interview zu überreden. Der heute neunzigjährige Biszku war eine Schlüsselfigur des auf den Volksaufstand 1956 folgenden blutigen Terrors, er hatte sogar in einer Rede vor dem Politbüro seinerzeit die »Zahl der physischen Vernichtungen« für zu niedrig gehalten. Offensichtlich fanden die Autoren das bei ihm gesammelte Material zu dünn, denn sie befragten parallel zu Biszku auch überlebende Opfer, Historiker sowie Kollegen des Spitzenfunktionärs. Selbst mit diesen Interviews hinterließ der Film Verbrechen und Straffreiheit einen unbefriedigenden Eindruck, vor allem deswegen, weil die jungen Leute mangels konkreter historischer Kenntnisse nicht die richtigen Fragen an ihren Protagonisten stellen konnten. Biszku erwies sich sowohl im Film als auch in einem Fernsehinterview als geistig frisch und selbstbewusst, verdammte wie stets die »Konterrevolution« und ging mit seinen »Fakten« ziemlich frei um, ohne auf offene Polemik seitens der Fragesteller zu stoßen. Die konservativen Zeitungen sprachen von dem kommunistischen Mörder, verknüpften den Terror von 1957/1958 mit den Korruptionsaffären der Sozialisten zwischen 2002 und 2010, die anonymen Online-Leserbriefe verlangten gar das Todesurteil. Die Sensation dauerte aber nur einige Tage und was ausblieb, war die gründlichere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die tiefere Durchleuchtung des Funktionierens jenes Systems, das den Terror ermöglichte.

Der Kommunismus in Ungarn und Osteuropa ist zum Plusquamperfekt geworden, eine Rückkehr zu ihm so gut wie ausgeschlossen, seine Anhänger scharen sich um isolierte und einander befehdende Sekten. Einerseits erscheint es uns so, als hätten die heutige Welt Sternjahre von der gestrigen getrennt, andererseits wissen wir, dass die Diktatur kaum mehr als ein Menschenalter zurückliegt. Auf halbem Wege zwischen Gestern und Heute gibt es vielleicht noch die Chance, dieses historische Phänomen der nachfolgenden Generation zu vermitteln. Man braucht dazu jedoch viel Wissen und vielleicht sogar noch mehr Vorstellungs- und Überzeugungskraft, um die Wahrheit über die bereits weit zurückliegende Epoche vermitteln zu können.


1 Siehe auch den Aufsatz von Krisztián Ungváry in diesem Band.

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