JHK 2011

»Der staatliche Arbeiter« - Zur Rolle von Arbeitern, Angestellten und Gewerkschaften im »Arbeiterstaat« DDR im Spiegel der neueren Literatur

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 359-366 | Aufbau Verlag

Autor/in: Klaus J. Becker

Jens Hildebrandt: Gewerkschaften im geteilten Deutschland. Die Beziehungen zwischen DGB und FDGB vom Kalten Krieg bis zur Neuen Ostpolitik 1955 bis 1969, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2010, 723 S., ISBN 978-3-86110-476-6

Renate Hürtgen: Angestellt im VEB. Loyalitäten, Machtressourcen und soziale Lagen der Industrieangestellten in der DDR, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2009, 309 S., ISBN 978-3-89691-774-4

Christoph Kleßmann: Arbeiter im »Arbeiterstaat« DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971), Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 2007, 896 S., ISBN 978-3-8012-5034-8

Klaus Schönhoven/Hermann Weber (Hg.): Die Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaften 1946–1948 (= Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 
20. Jahrhundert, Bd. 14), eingeleitet und bearbeitet von Werner Müller, Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 2007, 519 S., ISBN 978-3-8012-4158-2

»Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.«1

Mit dem Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung vom 7. Oktober 1974, sollte die DDR-Verfassung zum 25. Jahrestag der Staatsgründung in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gebracht werden.2 Im Anspruchsdenken der SED hatte sich die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung mit der DDR also vollendet: Die Arbeiterklasse hatte dank der Führung durch die »Partei«, laut deren Eigenperzeption und Verfassungstext von 1974, den Sozialismus auf dem Boden Ostdeutschlands verwirklicht. Eine kritische Studie, die die sozialen Konturen der neuen »sozialistischen« Gesellschaft nachzeichnet, blieb die SED jedoch bis 1989 schuldig. Dieser Aufgabe hat sich Christoph Kleßmann mit seinem Buch Arbeiter im »Arbeiterstaat« DDR gestellt, in dem er für die Ära Ulbricht (1945 bis 1971) die Spannungslinien und Interessenkonflikte zwischen der »Arbeiterklasse« sowie ihrer selbsternannten Avantgarde umfassend darstellt. Er folgt der zentralen Fragestellung, was es eigentlich bedeutete, Arbeiter im »Arbeiterstaat« gewesen zu sein. War die »führende Klasse« in der ehemaligen DDR tatsächlich die führende Klasse? Folgerichtig beschäftigt sich Kleßmann ausführlich mit der sozialen und ökonomischen Entwicklung der Arbeiterschaft in der DDR. Dabei stützt er sich auf eine Fülle verschiedenster Quellen und beweist eine souveräne Kenntnis der einschlägigen Literatur. Kleßmann macht deutlich, dass von den freiheitlichen deutschen Traditionen der Arbeiterbewegung nach dem Terror des Nationalsozialismus und aufgrund des den Arbeitern nachfolgend übergestülpten sowjetischen Diktaturmodells nur wenig geblieben war – auch wenn sie im missionarischen Eifer der KPD/SED (»Schulungshefte am laufenden Band«3) ständig betont wurden. Allerdings war noch genug übrig, um hinhaltenden Widerstand gegen die Pseudogewerkschaft FDGB zu leisten, zu deren Hauptaufgaben es nach dem sowjetischen Modell gehörte, durch Ausübung von Druck Produktivitätssteigerungen zu erzwingen. Gleichzeitig büßte die SED unter den Arbeitern so viel an Reputation ein, dass diese sich am 17. Juni 1953 offen gegen »ihre« Partei erhoben.

Kleßmann analysiert daneben ausführlich das System der Brigaden, die als neue kollektive Arbeitsorganisationen unrealistische Planvorgaben umsetzen sollten. Sie entwickelten jedoch eine erstaunliche Eigendynamik4 und widersprachen im Verlauf der DDR-Geschichte immer mehr den allumfassenden Steuerungsinteressen von SED und FDGB. Auch durch die am 10. Juli 1958 von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED vollmundig vorgebrachte Ankündigung, dass die »Lebenshaltung in der Deutschen Demokratischen Republik die Westdeutschlands schon Ende 1961 übertrifft«,5 verbesserte sich das Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse und »ihrer Partei« nicht, da sich diese Aussage als reine Luftblase entpuppte.6 Der dazu notwendige Übergang von einer industriellen hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft war durch das Festhalten der SED an der nach sowjetischem Vorbild ausgelegten Schwerindustriepolitik blockiert worden. Diese systembedingte mangelnde Arbeitsproduktivität ließ, verbunden mit der Unterdrückung der Eigenkreativität, die aus einer Fabrikarbeitermasse im Verlauf der Industriellen Revolution erst eine Arbeiterklasse hatte entstehen lassen, den »Arbeiterstaat« DDR letztlich an dem von ihm generierten »staatlichen Arbeiter« scheitern.

Auf 896 Seiten ist es Kleßmann gelungen, umfassend die essenziellen Gründe für das Scheitern der SED als Arbeiterpartei aufzuzeigen. Seine Darstellung ist damit auch für zukünftige Gesamtdeutungen der DDR-Geschichte unverzichtbar.

Wertvolle Ergänzungen zur Arbeit von Christoph Kleßmann bietet die von Renate Hürtgen 2009 vorgelegte Studie Angestellt im VEB. Loyalitäten, Machtressourcen und soziale Lagen der Industrieangestellten in der DDR. Mit den Angestellten wendet sich Hürtgen einer sozialen Gruppe zu, die in Ostdeutschland seit den Sechzigerjahren nur noch unter dem Oberbegriff »Arbeiter und Angestellte« subsummiert wurde. Dennoch nahm die Zahl der zu »Facharbeitern« transformierten Angestellten auch in den Jahren danach innerhalb der planwirtschaftlichen Produktionsabläufe weiter zu. Ihr Aufgabenspektrum reichte von niedrig bezahlten und in der Regel von Frauen ausgeführten Tätigkeiten im Verwaltungsbereich der Staatsbetriebe bis zu privilegierten Leitungsfunktionen in den Kombinaten. Lediglich der Dienstleistungssektor spielte in der DDR aus den oben genannten Gründen eine untergeordnete Rolle. Neben die traditionellen Vorurteile aus der Arbeiterschaft gegen die »Träger der weißen Kittel« trat in der DDR noch die Ablehnung der leitenden Angestellten als Repräsentanten der »Partei« in den Betrieben. Die Angestellten in der DDR waren insgesamt durch SED-Mitgliedschaft und unterschiedlichste Funktionen weit stärker in das politische Herrschaftssystem eingebunden als die laut Honecker-Verfassung von 1974 führende Arbeiterklasse. Die leitenden Angestellten profitierten nicht nur in Form eines deutlich höheren Einkommens, sondern waren auch Adressaten, wenn es um die Verteilung von begehrten Konsumgütern (»Bückware«) über Beziehungen ging – ein System an dem mitunter auch die niedriger bezahlten Angestellten teilhatten. So hatte schon in den Fünfzigerjahren jeder zweite Angestellte mindestens einen Ferienreisescheck des FDGB einlösen können, aber nur zwölf Prozent der Arbeiter.

Im Gegensatz zu dem den Arbeitern im »Arbeiterstaat« gewidmeten »Opus magnum« von Kleßmann kann Hürtgen auf 309 Seiten zwar den Prozess der Milieubildung der DDR-Angestellten nicht vollständig erfassen, dennoch bietet sie die Grundlage zur weiteren Erforschung der »Angestelltenfrage in der DDR« – einem Milieu, das aus Sicht der Betriebsarbeiter im »Faultierhaus« der Werkleitung ansässig war und sich selbst als diszipliniert, anpassungsfähig und politisch »vernünftiger« als die Arbeiter aus der Produktion wahrnahm.

Trotz dieser »Vernunft« und »Disziplin« war nicht nur bei den »staatlichen Arbeitern«, sondern auch bei den zu »Facharbeitern« transformierten Angestellten der Systemvergleich mit Westdeutschland ständig präsent. Zwar saß z. B. nach Auffassung von freigestellten Betriebsratsmitgliedern mit DKP-Parteibuch in der BASF in Ludwigshafen – namentlich Otto Zimpelmann, Heinz Kissel und Erich Schach – bei den Tarifauseinandersetzungen in der Chemieindustrie selbst in den Siebzigerjahren die »DDR immer mit am Verhandlungstisch«.7 Allerdings herrschte beim Ost-West-Vergleich unter den Arbeitnehmern längst keine Symmetrie mehr, denn je länger die SED-Diktatur andauerte, desto stärker schaute die DDR-Seite auf den Westen. Umgekehrt hatte die Entwicklung Ostdeutschlands für westdeutsche Arbeitnehmer jeglichen Modellcharakter verloren. Jedoch wurde diese deutsche »asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte«8 von den Repräsentanten der deutschen Arbeiterbewegung nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 in ihren Besatzungszonen keineswegs als gegeben hingenommen. Anschaulich macht dies die Quellenedition zu den Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaften zwischen 1946 und 1948, die Werner Müller eingeleitet und bearbeitet hat. Zu diesem Zeitpunkt strebten die Gewerkschaften noch eine Zusammenarbeit über die vier Zonengrenzen hinweg an. Ausgehend von der ersten Konferenz im Juli 1946 in Frankfurt am Main bis zur neunten Interzonenkonferenz im August 1948 behandelten die Delegierten der Gewerkschaftsverbände wichtige Grundfragen und Probleme ihrer Zeit. Themen waren dabei u. a. eine »Zentralstelle für sämtliche Zonen«, das Sozialversicherungssystem, Tarifpolitik und Tarifverträge, Betriebsräte und Mitbestimmung, die Organisationsfrage von Angestellten, Frauen und Jugend, aber auch die »Neuordnung der Wirtschaft« und die Entnazifizierung. Die fünfte Interzonenkonferenz in Badenweiler debattierte im August 1947 noch über einen deutschen Gewerkschaftskongress und die Bildung eines gesamtdeutschen Dachverbandes. Natürlich wurde dabei hinreichend deutlich, dass der im SED-Fahrwasser agierende ostdeutsche FDGB noch immer den gewerkschaftsspalterischen Positionen der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition vor 1933 anhing, während sich die westdeutschen Gewerkschafter mehrheitlich wie die ADGB-Verbände vor 1933 eindeutig zur parlamentarisch-pluralistischen Demokratie mit freien Wahlen, Mehrheitsprinzip, Schutz der Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Freiheit von Furcht bekannten. Zwangsläufig musste es deshalb auf der neunten Interzonenkonferenz bei der Diskussion über die Hinzuziehung der Berliner »Unabhängigen Gewerkschaftsopposition« zum Bruch kommen. Diese zwei einander ausschließenden Grundrichtungen innerhalb der deutschen Gewerkschaftsbewegung und der zeitgleich offene Ausbruch des Ost-West-Konflikts bildeten unüberbrückbare Gegensätze, an denen die seit 1946 angestrebte Gewerkschaftseinheit in einem vereinten Deutschland scheitern musste. Dennoch belegt Müllers Edition, dass die Repräsentanten der deutschen Arbeitnehmer sich neben den beiden großen Kirchen nach 1945 zunächst am intensivsten für einen Zusammenhalt der vier Besatzungszonen einsetzten.

Mit dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges fanden sich DGB und FDGB an vorderster Front wieder. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Gewerkschaftszentralverbänden stand der Wettbewerb um die gesamtdeutsche »Arbeiternehmerschaft« – verbunden jeweils mit einer Debatte über Ziele und Mittel der Deutschland- und Sozialpolitik. Dabei hielten DGB und FDGB bis zum Mauerbau an der Wiedervereinigungsoption fest. Erst nach 1961 wurden beiderseits neue deutschlandpolitische Perspektiven diskutiert und eine Neuinterpretation der internationalen Lage vorgenommen. Doch erst mit dem Antritt der Großen Koalition in Bonn 1966 wurden zögerlich wieder innerdeutsche Gewerkschaftsbeziehungen aufgenommen. Wie konfrontativ die Auseinandersetzungen bis zum Amtsantritt der Regierung Brandt/Scheel waren, zeigt die 2010 vorgelegte Studie von Jens Hildebrandt zu den Beziehungen zwischen DGB und FDGB in den Jahren von 1955 bis 1969. Diese werden von Hildebrandt akribisch nachgezeichnet – gestützt auf die erstmalige umfassende Auswertung des zentralen Quellenmaterials für die Spitzenorgane der Gewerkschaften in Ost und West. Die streng chronologisch aufgebaute Arbeit liest sich trotz des großen Umfangs (723 Seiten) flüssig und spannend. Ausgehend vom Bundeskongress des DGB im Oktober 1954, auf dem die Delegierten einerseits unmissverständlich den Gesprächsofferten des FDGB eine Absage erteilten, anderseits aber noch einmal Viktor Agartz’ linkssozialistischen Positionen applaudierten, behandelt Hildebrandt in seinem ersten Großkapitel, das den Zeitraum zwischen 1955 und 1958 umfasst, zunächst den Alleinvertretungsanspruch des DGB in der Deutschlandpolitik. Diesem stellte sich die mit hohem organisatorischem und materiellem Aufwand betriebene »Westarbeit« des FDGB entgegen, wobei bekanntermaßen der politische Gewinn in keinem Verhältnis zum Aufwand stand,9 sondern nicht selten sogar das Gegenteil des Gewollten erreichte. Entsprechend wünschte Walter Ulbricht schon 1955 eine Kontrolle westdeutscher Arbeiterdelegationen, da deren Besuche zuweilen mehr Interesse am Weststaat bei den Gastgebern als Begeisterung für die DDR bei den Besuchern hervorriefen. Gleiches galt auch für die Besuchsreisen westdeutscher kirchlicher Gruppen nach Ostdeutschland, und selbst bei KPD- und später dann DKP-Delegationen ließ die Begeisterung für die DDR aus Sicht der SED immer mehr zu wünschen übrig. In seinem zweiten Großkapitel arbeitet Hildebrandt den Schulterschluss zwischen DGB und Bundesregierung in der Deutschlandpolitik bis zum Mauerbau 1961 heraus, den SED und FDGB mit einer Schmutzkampagne gegen die »Richter-Gruppe« im DGB zu kontern versuchten. Die Abriegelung West-Berlins machte auf der DGB-Seite zwangsläufig eine deutschlandpolitische Diskursverschiebung notwendig. Zwar blieben Beziehungen zu Funktionären des FDGB, der FDJ und der SED untersagt, grundsätzlich war gewerkschaftlichen Delegationen aber das Reisen nach Osteuropa ab Oktober 1964 gestattet. Während SED und FDGB dahinter die neuerliche Gefahr der Marginalisierung der DDR innerhalb des Ostblocks witterten, suchten westdeutsche Spitzenfunktionäre wie der ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker ab 1967 den Weg der Aussöhnung mit den osteuropäischen Staaten. Unterbrochen durch die Niederschlagung des Prager Frühlings, auf die der DGB noch einmal kurzfristig mit dem Aussetzen der Beziehungen zu den Ostblockstaaten reagierte, wurde die Strategie Klunckers ab Mai 1969 offiziell vom DGB mitgetragen und zu einem Bestandteil der Neuen Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel ab September 1969.

Hildebrandts Darstellung ist durchgängig fundiert, literatur- und insbesondere quellengestützt – unvermeidlich ist jedoch der Hinweis auf die von Hermann Weber schon 1994 angestoßene Kontroverse zum Aussagewert von DDR-Akten.10 So konstatiert der FDGB z. B. im Juni 1957 (!) (bei Hildebrandt siehe S. 240), dass es zufriedenstellende deutsch-deutsche Kontakte nur zum Betriebsratsvorsitzenden der BASF in Ludwigshafen gebe, der einer gewerkschaftlichen Einheitsliste zugestimmt habe, »in der z. B. sechs ehemalige KPD-Mitglieder aufgenommen wurden, obwohl er vor ca. drei Jahren sich noch gegen die Aktionseinheit mit den Kommunisten ausgesprochen hatte.« Tatsächlich waren aber schon 1951 (!) keine Mitglieder der KPD von den Vertrauensmännerversammlungen der IG Chemie in der BASF für den Betriebsrat nominiert worden. Daraufhin hatte die KPD bei der Betriebsratswahl 1953 eine eigene Liste aufgestellt und acht Betriebsratssitze errungen. Zur Eindämmung des KPD-Einflusses in der BASF öffnete die IG-Chemie daraufhin bereits bei der nachfolgenden Betriebsratswahl 1955 ihre Liste wieder für KPD-Mitglieder – nominiert und gewählt wurden – wie auch 1957 – allerdings nur noch vier Kommunisten. Ganz offensichtlich zählte der FDGB also in seiner bescheidenen Erfolgsmeldung zwei bereits vor 1953 von der KPD zur SPD übergetretene Betriebsratsmitglieder mit!11

Alle vier Studien machen deutlich, dass die deutsche Arbeiterbewegung und ihre Traditionen trotz unnachsichtiger Verfolgung durch den Nationalsozialismus 1945 keineswegs völlig zerstört waren. Aber durch die Übernahme des sowjetischen Diktaturmodells – verbunden mit der Rückkehr zu den sektiererischen Positionen der KPD aus der Endphase der Weimarer Republik – wurde ein gemeinsamer Neubeginn sowohl auf der Partei- als auch auf der Gewerkschaftsebene unmöglich gemacht. Dadurch verlor das in der DDR praktizierte Politikmodell binnen kürzester Zeit nicht nur jede Akzeptanz bei der westdeutschen Arbeiterschaft – selbst in den ehemaligen KPD-Hochburgen –, sondern konnte auch zu keinem Zeitpunkt auf dem Gebiet des »Arbeiter- und Bauernstaates« die Mehrheit der Arbeitnehmer hinter sich bringen. Erstarrt in inhaltsleere Rituale, die zwar der Arbeiterbewegung entliehen waren, aber aufgrund von Routine jede Attraktivität verloren hatten, entfernte sich die selbsternannte Avantgarde immer mehr von ihrer ursprünglichen Basis. Diese nahm »ihren Staat« als eine durch die Sowjetunion implantierte Diktatur wahr, deren Struktur sie kaum beeinflussen konnte. Auch auf der betrieblichen Ebene lag die Macht nicht bei der »führenden Klasse«, sondern bei einer der Parteidisziplin ergebenen mittleren und höheren Angestelltenstruktur, die von den Arbeitern paradoxerweise als »rote Socken« empfunden wurden, was die Distanz zu ihrem »Arbeiterstaat« schlagwortartig zusammenfasste. Während Christoph Kleßmann dem durch die Staatspartei stilisierten »Staatsarbeiter« besonders in seinem letzten Kapitel »Arbeiterleben im Arbeiter- und Bauern-Staat« ein reales Bild gibt, skizziert Renate Hürtgen mit den Angestellten im VEB die Gruppe, auf die sich letztlich die SED-Diktatur stützte. So stellten die zu Facharbeitern mutierten angestellten SED-Mitglieder z. B. die Mehrheit in den Betriebskampfgruppen – optische Anleihen an die Wehrverbände der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik konnten so kaum glaubhaft mit Leben erfüllt werden. Den vergeblichen Kampf um das Festhalten und Fortführen gemeinsamer gewerkschaftlicher Traditionslinien in Ost und West dokumentiert ausführlich Werner Müller, während Jens Hildebrandt anhand der Beziehungen zwischen DGB und FDBG zwischen 1955 und 1969 verdeutlicht, dass auch auf der Gewerkschaftsebene erst durch die Akzeptanz von Spaltung und Trennung letztlich deren Überwindung 1989 möglich war. Mit der vorgelegten umfassenden Aufarbeitung der Ulbricht-Ära steht die noch ausstehende Forschung zur Rolle von Arbeitern, Angestellten und Gewerkschaften im »Arbeiterstaat« DDR während der Honecker-Ära auf einer fundierten Basis.


1 Erster Satz des Artikel 1 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974.

2 Siehe Hermann Weber: Die DDR 1945–1990, 3. , überarb. und erw. Aufl. München 1999, S. 84.

3 Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln/Berlin [West] 1955, S. 416.

4 Bildhaft umgesetzt in dem DEFA-Film Spur der Steine von Frank Beyer, der 1966 bereits nach drei Tagen wegen »antisozialistischer Tendenzen« aus dem Programm genommen wurde.

5 Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 1, Berlin [Ost] 1959, S. 23.

6 Konsequenterweise wurde diese Passage schon 1964 aus Ulbrichts Parteitagsrede im siebten Band seiner ausgewählten Reden und Aufsätze gestrichen. Siehe Walter Ulbricht: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VII: 1957–1959, Berlin [Ost] 1964, S. 284. Hierzu auch: Hermann Weber: Ulbricht fälscht Geschichte, Köln 1964.

7 Klaus J. Becker: Die KPD in Rheinland-Pfalz, Mainz 2001, S. 522.

8 Bernd Faulenbach/Franz J. Jelich (Hg.): Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte? Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, Essen 2005 sowie Christoph Kleßmann: Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990, in: Christoph Kleßmann/Peter Lautzas (Hg.): Teilung und Integration, Bonn 2005, S. 20–36.

9 Siehe Josef Kaiser: »Der politische Gewinn steht in keinem Verhältnis zum Aufwand«. Zur Westarbeit des FDGB im Kalten Krieg, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (im Folgenden: JHK), Berlin 1996, S. 106–131.

10 Siehe Hermann Weber: Zum Umgang mit DDR-Archivalien – am Beispiel von Berichten über die Weltjugendfestspiele 1959, in: JHK, Berlin 1994, S. 165–178 und ders.: Was beweisen die Akten? Anmerkungen zu Veröffentlichungen von Archivalien aus der DDR, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 33 (1997), H. 2, S. 232–243.

11 Siehe Becker: Die KPD (Anm. 7), S. 261–264 und 309.

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