JHK 2011

Momentaufnahme: Aktuelle Fragen der Erinnerungskultur in Ungarn. Debatten außerhalb der Geschichtswissenschaft

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 299-306 | Aufbau Verlag

Autor/in: Krisztián Ungváry

Dass die Geschichte von jeder Generation neu interpretiert wird, ist eine normale Erscheinung. In Ungarn können diesbezüglich in den letzten zehn Jahren auf allen Gebieten der Erinnerungskultur Neuinterpretationen festgestellt werden. Die meisten werden jedoch nicht von Wissenschaftlern entworfen. Vielmehr geht es um die gesellschaftliche Neuverortung von historischen Ereignissen. Bestes Beispiel ist die hier nicht in aller Ausführlichkeit erörterbare Debatte über den Ursprung der Madjaren. Obwohl in der Geschichts- und Sprachwissenschaft Einigkeit über die finnisch-ugrische Abstammung der Madjaren herrscht, gibt es in bestimmten Kreisen Bedarf an einer anderen Interpretation, die die Genese des ungarischen Volkes in Mesopotamien und Tibet ansiedelt. Demnach sei selbst Christus ein Madjare gewesen. Die finnisch-ugrische Abstammung diene nur dazu, die »echten Wurzeln« des wahren Madjarentums zu verwestlichen. Wie beliebt derartige Debatten sind, zeigt sich auch im Internet. Auf der Website der größten konservativen Zeitung Magyar Nemzet beschäftigen sich sieben der zehn beliebtesten Themen in der Kategorie »Geschichte« mit der Ethnogenese der Madjaren: »Die älteste Zivilisation der Welt kommt aus Ungarn«, »Brauchen wir die sumerische Abstammung?«, »Warum heißt das ABC ABC?«, »Unsere finnisch-ugrische Abstammung« usw. Meistens wird schon an den Überschriften deutlich, dass man die Verfasser der Einträge nicht wirklich ernst nehmen kann.

Im Folgenden beschränke ich mich nur auf solche Fragen, die die ungarische Erinnerungskultur im zwanzigsten Jahrhundert betreffen. Da die meisten Debatten nicht in der Wissenschaft, sondern in der Politik geführt werden, zeigt diese Momentaufnahme weder den Stand der ungarischen Geschichtswissenschaft noch stellt sie wissenschaftlich fundierte Diskussionen in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Im Gegensatz zu den anderen Staaten des Warschauer Paktes, konnte sich die ungarische Wissenschaft bereits in den Siebzigerjahren von vielen politischen Vorgaben lösen und war weitgehend frei von nationalen Mythenbildungen. Demzufolge fanden ungarische Historiker sehr schnell Anschluss an ihre westlichen Kollegen. Im Gegensatz zu Wissenschaftlern aus der Slowakei, aus Serbien oder Rumänien, herrscht unter den ungarischen Historikern bezüglich vieler Fragen (noch) Konsens, die in anderen osteuropäischen Ländern Gegenstand heftiger Diskussionen sind.

Neue Rechte – neue Interpretationen

Auch wenn die Sozialistische Partei (Magyar Szocialista Párt, MSZP) nach der Wende lange Zeit die politische Macht für sich beanspruchen konnte, gelang es ihr nicht, eine führende Rolle in der Geschichtsinterpretation zu übernehmen. Mochten viele Persönlichkeiten der ungarischen Gesellschaft lange dem Mythos der Sozialisten als den wahren Demokraten und rechtmäßigen Nachfolgern Imre Nagys erlegen sein, stieß diese Interpretation in der Öffentlichkeit bald immer weniger auf Zustimmung. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Führung der Sozialistischen Partei sich lange Zeit aus Personen zusammensetzte, die gegen die ungarische Revolution von 1956 gekämpft oder sie nachträglich jahrzehntelang verunglimpft hatten. Und dass, obwohl das Gedenken an diese Revolution zu den wichtigsten staatlichen Feiertagen zählt. Auch die mit der Sozialistischen Partei koalierenden Liberalen, die Freien Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége, SZDSZ), vermochten keine überzeugenden Interpretationen für die Ereignisse von 1919, 1945 und 1956 zu liefern. Dies verwundert nicht, waren sie doch bei ihrer Gründung 1988/1989 noch streng antikommunistisch und gingen nichtsdestotrotz schon nach wenigen Jahren eine Koalition mit der früheren Staatspartei ein – lieber hüllten sie sich in Schweigen.

Die FIDESZ-Regierung, von 1998 bis 2002 im Amt, bedeutete für die Erinnerungskultur eine radikale Veränderung. Die Partei FIDESZ (Fiatal Demokraták Szövetsége, Verband Junger Demokraten) war zur Zeit ihrer Gründung eine linksliberal-alternative Gruppierung. Doch nach 1994 entging es der Parteiführung nicht, dass es weder gelang, die Nachfrage des rechten Wählerspektrums zu befriedigen, noch ausreichend linke Wähler von SZDSZ und MSZP für sich zu gewinnen. Dementsprechend erfolgte eine bewusste Umorientierung, die auch Auswirkungen auf das Parteiprogramm hatte, in dem 1998 bereits traditionelle und konservative Werte propagiert wurden. Die Ideologen von FIDESZ hatten eine neue, und wie sich erwies, populäre Vision über die Deutung der Geschichte entworfen.

Aus verschiedenen Gründen bot es sich an, den Schwerpunkt dabei auf das Gedenken an die Opfer kommunistischer Verbrechen zu legen. Ausschlaggebend war mit Sicherheit, dass sich der Partei hier ein breites Spektrum bot, aktiv zu werden, denn trotz einiger Versuche hatte der Staat Ungarn bis 1998 wenig unternommen, sichbare Zeichen für die Opfer des Kommunismus zu setzen. Da FIDESZ sich mittlerweile primär als bürgerlich-konservative Partei definierte, lag es nahe, dass sie sich der Erinnerung an die Verbrechen der »anderen Seite« annahm.

So wurde im Rahmen der Erinnerung an die kommunistischen Verbrechen im Jahr 2000 der »Tag der Opfer des Kommunismus« eingeführt. Seitdem wird jährlich am 25. Februar an die rechtswidrige Verhaftung des Vorsitzenden der Kleinlandwirtepartei (Független Kisgazdapárt, FKGP) Béla Kovács am 25. Februar 1947 erinnert.

Der »Tag der Opfer des Kommunismus« steht in direktem Zusammenhang mit dem Holocaust-Gedenktag. Der gesetzlichen Verankerung des letzteren wurde nur unter der Bedingung zugestimmt, dass ebenso ein Tag zur Erinnerung an die Opfer des Kommunismus in die Liturgie der staatlichen Erinnerungkultur aufgenommen würde. Hier endet Erinnerungskultur in einer Sackgasse: Anstatt darauf hinzuweisen, dass Menschenrechte unteilbar und totalitäre Diktaturen jeglicher Couleur generell zu verurteilen sind, zeigte sich keine der Parteien bereit, auf die andere zuzugehen, lieber wird einer selektiven Erinnerungskultur Vorschub geleistet. Damit soll nicht gesagt werden, dass nur ein einziger Gedenktag für die Opfer aller totalitären Regime legitim wäre. Sehr wohl kann und soll beider verbrecherischen Diktaturen gedacht werden. Wichtig ist jedoch, dass diese Gedenkfeierlichkeiten nicht dazu dienen sollten, Schuld unterschiedlich zu gewichten.

Streit um das Terrorhaus

Die Neudeutung der ungarischen Geschichte verlangte sowohl symbolische Gesten, wie die Überführung der Stephanskrone in das Parlament, als auch die Gründung neuer Stiftungen im Rahmen von Forschungseinrichtungen und Dokumentationsstätten. Ein Höhepunkt dieser Maßnahmen war die Eröffnung des »Terrorhauses« im Jahr 2001 in Budapest. Das »Terrorhaus« ist die erste Ausstellung zur Geschichte des Landes, bei der man fast das Gefühl bekommt, Hannah Arendts Totalitarismustheorie solle hier verwirklicht werden. Schon am Eingang wird auf die Vergleichbarkeit hingewiesen – beide totalitären Symbole, Hakenkreuz und ungarisches Pfeilkreuz, werden nebeneinander gezeigt.

Das Haus an der Andrássy-Straße 60 war geradezu prädestiniert für ein Museum, beherbergte es doch bis 1945 das Hauptquartier der ungarischen Nazis, der Pfeilkreuzler. Im Anschluss bezog die kommunistische politische Polizei hier ihr Quartier. Das Gebäude hatte jedoch derart mit seinem Ruf zu kämpfen, dass es nach 1951 als Polizeisitz wieder aufgegeben wurde. Nach der Wende zog eine Bank ein. Bis 1998 erinnerte nichts außer einer bescheidenen Tafel an die unsagbaren Verbrechen, die in diesem Haus begangen worden sind. Die FIDESZ-Regierung scheute jedoch keine Kosten und baute hier das imposanteste Museum der letzten zwanzig Jahre auf. Kritik kam von Anfang an aus dem Lager der Sozialisten und der SZDSZ. Die Politiker stellten sich grundsätzlich gegen die Idee einer Dokumentationsstätte in diesem Haus. Außenminister László Kovács forderte, anstatt eines »Terrorhauses« solle man ein »Haus der Erinnerung und Versöhnung« an einem anderem Ort errichten. Katalin Szili, stellvertretender Präsident der MSZP, sagte auf einer Pressekonferenz, dass die »Sozialisten um Entschuldigung bitten, unabhängig davon, ob die Verbrechen von uns begangen worden sind oder nicht. Wir bitten die ungarische Nation, die Verbrechen der Vergangenheit zu verzeihen, sowie auch wir denjenigen verzeihen, die gegen uns gesündigt haben.« Diese Aussage macht deutlich, dass die Sozialisten ihre eigene Verantwortung nur bedingt und heuchlerisch anerkennen, denn zwischen 1945 und 1990 hatte niemand Gelegenheit, gegen die Sozialisten »zu sündigen«, während diejenigen, die vor 1945 gegen die linke Bewegung »gesündigt« haben, nach 1945 vor Gericht gestellt und zu harten Strafen verurteilt worden sind.

Im »Terrorhaus« wird der Geschichte des Holocaust bewusst wenig Platz eingeräumt. Dies ist grundsätzlich kein Problem und leicht zu begründen, wäre es doch durchaus legitim, für dieses Thema ein separates Museum zu schaffen. So wurde in den Diskussionen um das »Terrorhaus« seitens der Regierung auch betont, dass der Geschichte des Holocaust in einem eigenen Museum Platz gegeben werden sollte. Die jüdische Gemeinde zeigte sich damit zufrieden und bot für diesen Zweck eine abseits gelegene, baufällige Synagoge an. Die Präsentation in einer Synagoge eröffnete jedoch sehr ungünstige Interpretationsmodelle, wie »Die Geschichte des Holocausts sei eine Sache der Juden«, also eine Art Entsorgung der nationalen Geschichte. Bei der Planung dieses Konzeptes hatte man außerdem fatalerweise übersehen, dass die antisemitische Deutung, die Juden unabhängig von ihrem Eigenbekenntnis als rassische Gruppe zu definieren, der Botschaft eines solchen, in einer Synagoge untergebrachten Museums sehr ähnlich ist.

Die Inhalte des »Terrorhauses« sind schon von vielen Autoren eingehend untersucht worden, sodass hier eine Wiederholung nicht notwendig ist. Lediglich auf den letzten Satz des Ausstellungskataloges soll hingewiesen werden: »Das ehemalige Haus des Terrors zeigt uns, dass die Opfer für die Freiheit nicht unnötig waren. Im Kampf gegen die zwei tödlichen politischen Systeme siegten schließlich Freiheit und Unabhängigkeit.« Dieser letzte Satz ist für die ganze Ausstellung typisch, aber falsch. Die Leiden derjenigen, die die Auswüchse der Diktaturen am eigenen Leib zu spüren bekamen, könnten nur dann als »Opfer für die Freiheit« bezeichnet werden, wenn sie sie aktiv und bewusst in Kauf genommen hätten. Die Betroffenen mussten jedoch nicht deshalb leiden, weil sie aktiv für »Freiheit und Unabhängigkeit« gekämpft hatten, sondern weil sie als Juden oder »Bourgeois« geboren worden waren. Sicher sind auch sie Opfer, aber nicht im Sinne der Darstellung des Museums. Hätte man zielbewusst die Konzeption des Totalitarismus vertreten, wäre es nicht zu solchen Fehlgriffen gekommen. So aber entstand eine inhaltlich stark vereinfachte und politisch instrumentalisierbare Ausstellung, an deren Ende das »Gute«, welches identisch mit dem heutigen »wir« ist, das »Böse«, also die »Fremden« besiegt. Diese Sichtsweise entstammt einer im Westen hoffentlich bereits veralteten Vorstellung von nationaler Identität aus der Perspektive der Opfer.

Panzer auf der Straße

Die Feiern zum fünfzigsten Jahrestag der ungarischen Revolution am 23. Oktober 2006 rückten unerwartet in den Mittelpunkt auch der internationalen Berichterstattung. Aus Budapest boten sich sonderbare Bilder: Ungeachtet der Staatsfeierlichkeiten waren tausende Demonstranten, Schlachtszenen und sogar ein von Regierungsgegnern erbeuteter rollender Sowjetpanzer zu sehen. Damit übertrafen die Krawalle in Budapest bei Weitem Ereignisse, wie sie sich z. B. in Berlin am 1. Mai alljährlich abspielen.

Die Auseinandersetzungen waren eine Reaktion auf eine nicht-öffentliche Rede des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány in Öszöd. In seiner Rede bezichtigte dieser die eigene Partei, aber auch sich selbst, jahrelang gelogen zu haben. Auf diese Weise hoffte er die Zuhörer von tiefgreifenden wirtschaftlichen Reformen zu überzeugen. Der Wortlaut der Rede gelangte auf unbekanntem Weg an die Öffentlichkeit und schon bald versammelten sich empörte Bürger vor dem Parlament. Viele Demonstranten stellten dort sogar Zelte auf und kampierten wochenlang am Kossuth tér. Am 19. September 2006 stürmten die Demonstranten den Fernsehpalast – die Polizei leistete keinen Widerstand, obwohl sie über ausreichende Mittel zur Verteidigung verfügt hätte. Die Bilder von Vandalismus, brennenden Fahrzeugen und verwundeten Polizisten trugen maßgeblich zum Wahlsieg der Sozialistischen Partei bei den Kommunalwahlen im folgenden Oktober bei. Als Reaktion bezeichnete die Opposition die Regierung als nicht legitim, und die Demonstrationen verstärkten sich. Ein Teil der Demonstranten waren FIDESZ-Anhänger. Ein anderer Teil ordnete sich jedoch schon damals einem ultra-rechten Lager zu und organisierte sich separat. Sie verwandelten die Budapester Innenstadt im Kampf mit wütenden Polizisten in ein Schlachtfeld. Wichtige kommunale Verkehrsmittel stellten ihren Betrieb während der Demonstrationen ein, Tränengas und Gummigeschosse wurden in einer Größenordnung eingesetzt, wie man es im Westen nicht gewöhnt ist. Höhepunkt dieser Demonstrationen war ein altgedienter Soldat, der einen T-34 Panzer, der anlässlich der Jahresfeierlichkeiten als Showobjekt dienen sollte, plötzlich in Betrieb nahm und auf die Polizisten zufuhr.

Historisch interessant an diesen Demonstrationen ist die Tatsache, dass die Teilnehmer sich als die wahren Erben der Revolution von 1956 definerten und die Regierung von Ferenc Gyurcsány (2004 bis 2009) mit dem kommunistischen Terror gleichsetzten. Hier zeigten sich auch die riesigen Risse in der ungarischen Gesellschaft, die sich zwischen 2006 und 2009 in einer bürgerkriegsähnlichen Stimmung befand.

»Großungarn – alles was im Karpatenbecken passierte«

Neben den schon seit Jahrzehnten existierenden populärwissenschaftlichen Zeitschriften História und Rubicon erscheint seit 2009 unter dem Titel Nagymagyarország – minden ami a Kárpát-medencében történt [Großungarn – alles was im Karpatenbecken passierte] ein weiteres Magazin. In diesem Blatt wird offen für ultra-rechte Internetforen und Homepages geworben. Jeder, der die ungarische Politik ein wenig kennt, merkt schnell, dass es sich hier um die gängige Geschichtsinterpretation der Partei Jobbik, der Bewegung für ein besseres Ungarn handelt (diese Partei steht eindeutig weiter rechts als FPÖ oder DNP und ist offen rassistisch). Die Autoren sind teils unbekannte, teils aber auch in der Geschichtswissenschaft bekannte, und was erschreckend ist, sogar renommierte Personen. Bisher sind sieben Hefte erschienen. Ihre Titel stehen stellvertretend für ungarische Reizthemen: »Die franzözische Karte« (die dahinter stehende Botschaft: Warum Frankreich am Friedensvertrag von Trianon die Schuld trägt, aufgrunddessen Ungarn auf dreißig Prozent seiner früheren Größe schrumpfte), »Bewaffneter Widerstand [gegen Trianon]« (Bewaffnete Aktionen waren und sind auch heute (!) eine reale und richtige Möglichkeit, um Ungarn zu vergrößern), »Geschichte der Slowaken« (Die Slowaken verdanken Ungarn alles), »Warum ist die alte ungarische Verfassung historisch?« (Weil sie als sakral angesehen werden muss), »Der letze Staatsmann – Miklós Horthy«, »Die Székler-Divison 1919« (Eine verpasste Möglichkeit, die Grenzen mit Rumänien zu revidieren), »Ungarn in den Händen von Idioten« (Die Ereignisse von 1918/1919, also die Entthronung des Königs, die Ausrufung der Republik am 16. November 1918 und die Proklamation der kommunistischen Räterepublik am 21. März 1919 kamen einer Selbstkastrierung Ungarns gleich. Der erste Ministerpräsident, Mihály Károlyi, und seine Politiker waren Idioten, die ihm folgenden Kommunisten lediglich Verbrecher großen Stils.). Es ist offensichtlich, dass die Zeitschrift nur Themen behandelt, die für eine viktimologische Sichtweise taugen. Für Selbstkritik jeglicher Art ist in diesem Blatt kein Platz.

Das letzte, Mihály Károlyi (Ministerpräsident 1918/1919) gewidmete Heft, steht sozusagen als Pars pro Toto. Károlyi wird hier nicht nur als Dilettant, sondern als böswilliger Landesverräter dargestellt (parallel dazu forderte Jobbik kürzlich die Entfernung des Károlyi-Denkmals vor dem Parlament). Obwohl gerade zu Károlyi seit den Siebzigerjahren eine kritische Forschung in Ungarn existiert, werden deren Ergebnisse nicht zur Kenntnis genommen. Károlyi ist für die Autoren des Blattes nichts weiter als ein psychisch schwacher Tölpel, der seine Kontrahenten ermorden lässt und das Land leichtsinnig in die Hände der Kommunisten gibt, um anschließend für einige Jahrzehnte die Rolle des »nützlichen Idioten« auf sich zu nehmen. Bezeichnend dabei ist, dass selbst diejenigen, die heute kritisch zu Károlyi Stellung beziehen, jedoch nicht bereit sind, ihn gleichzeitig als Landesverräter abzustempeln, in rechten und rechtsradikalen Internetforen sofort einstimmig als »Marxisten« und als »Geschichtsfälscher« abgekanzelt werden.

Verfassungsrichter und Facebook

Für eine andere Ebene der Erinnerungskultur stehen die Prozesse, die gegen Historiker geführt werden. Ich selbst war davon bisher am meisten betroffen: ein Bischof, das Amt für Nationale Sicherheit (der ungarische Verfassungsschutz), ein früherer Hauptverwaltungsleiter im Innenministerium und ein früherer Parteisekretär bilden die Gruppe der bisherigen Kläger. Alle diese Klagen hingen mit wissenschaftlichen Publikationen über die Helfer der Staatssicherheit zusammen. Stellvertretend für die anderen, soll hier nur der Fall des zweimaligen Verfassungsrichters László Kiss zusammengefasst werden.

Kiss war ab 1979 stellvertretender Parteisekretär der Universität Pécs. In dieser Eigenschaft nahm er an der Zerschlagung der unabhängingen Friedensbewegung teil. Die Staatssicherheit fertigte darüber operative Pläne an, wonach Kiss bestimmte, in diesen Plänen erwähnte Aktionen durchführte. Im Jahr 2007 publizierte ich einen Aufsatz über die Zerschlagung der Friedensbewegung, worauf Kiss sowohl einen Straf- als auch einen zivilrechtlichen Prozess einleitete. Den Strafprozess konnte ich in allen Fragen für mich entscheiden, den zivilrechtlichen Prozess habe ich jedoch verloren. Das Oberste Landgericht verurteilte mich rechtskräftig zu 13 000 Euro Geldstrafe, weil ich nicht nachweisen konnte, dass die nicht zu bestreitenden, da durch Dokumente nachgewiesenen Aktivitäten Kiss’ direkt auf Weisung der Staatssicherheit durchgeführt worden waren. Schließlich hätte er auch aus eigenem Antrieb oder auf Geheiß der Partei handeln können. Laut Gerichtsurteil ist es unzulässig, Kiss einen Helfer der Staatssicherheit zu nennen. Er selbst bezeichnete die Parteiorganisation an der Universität als »Wohltätigkeitsverein«, in dem »Kinder die geheimen Meldungen für eine Kugel Eis geschrieben« hätten; die Diktatur hielt er für eine »Bagatelle«. Diese Aussagen stehen in einem krassen Gegensatz zur wirklichen Funktion der Partei in einer kommunistischen Diktatur und zeigen die gänzlich fehlende Selbstreflektion in Bezug auf die Unterdrückungsmechanismen in einem Einparteiensystem.

Das Urteil löste in Ungarn einen Skandal aus. Unbekannte Personen fingen an, auf Facebook Geld zu sammeln, Stichwort: »Wir zahlen die Strafe für Krisztián Ungváry«. Innerhalb von vier Wochen kamen 10 000 Euro zusammen. Ich werde selbstverständlich vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg klagen.

»Letzte Chance« – der Fall Béla Biszku

Im Sommer 2010 wollten Tamás Novák und Fruzsina Skrabski einen Film mit dem früheren Innenminister (1957–1961) und stellvertretenden Ministerpräsidenten (1961/1962) Béla Biszku drehen. Zu dem Plan beigetragen haben sicherlich die Aktivitäten des Simon-Wiesenthal-Zentrums, das unter dem Stichwort »Letzte Chance« weltweit vermeintliche NS-Täter verfolgt. Biszku ist einer der letzten hochrangigen Verantwortlichen für die Repressalien nach 1956, der bei den Sitzungen des Koordinationsbüros der Ungarisch-Sozialistischen Arbeiterpartei USAP (Magyar Szocialista Munkáspárt, MSZMP) persönlich »mehr physische Zerstörung« bei den Urteilsverkündungen forderte. Seit 1978 lebte Biszku zurückgezogen in einer vornehmen Villa in Budapest und genießt bis heute eine stattliche Rente.

Um auf Nummer sicher zu gehen, gaben Novák und Skrabski vor, dass sie aus dem Geburtsort von Biszku stammten, wo sie im Heimatverein tätig seien und zum neunzigsten Geburtstag einen Film über den berühmtesten Sohn des Dorfes produzieren wollten. Nachdem sie in der Privatwohnung von Biszku gedreht hatten, luden sie ihn auch in sein Heimatdorf ein und organisierten dort eine vorgetäuschte Pressekonferenz, auf der er »unerwartet« zur Rede gestellt wurde. Er hatte nicht damit gerechnet, auf Themen wie die ungarische Revolution 1956 angesprochen zu werden. Dennoch stellte sich Biszku der Diskussion, verkündete dass er sich wegen nichts zu schämen brauche und bezeichnete alles, was nach 1956 geschehen war, als rechtstaatlich. Danach suchten ihn die Filmemacher noch einmal in seiner Wohnung auf und gaben zu, dass sie in Wahrheit nicht für den Heimatverein tätig waren. Vor laufender Kamera stellten sie ihm weitere Fragen über Schuld und Sühne, und Biszku wies erneut in ruhigem Ton jegliche Schuld von sich, da er sich wegen nichts zu schämen brauche. Seiner Meinung nach, hätten alle Todesurteile ihre Berechtigung gehabt. Letzlich verbot er die Vorführung des Dokumentarfilms.

Novák und Skrabski entschlossen sich daraufhin zu einer illegalen Vorführung des gesamten Materials in einer Gaststätte. Der Titel des Films lautete Schuld und Schuldlosigkeit. Die Presse berichtete in aller Ausführlichkeit über das Verbot, was noch mehr Interessenten anlockte und für tumultartige Szenen bei der Vorführung sorgte. Der »Fall Biszku«, genauer gesagt folgende Fragen wurden schließlich landesweit diskutiert:

1. Ist das Filmen von kommunistischen Tätern durch vorgetäuschte Methoden zulässig?

2. Sollen diese Täter bestraft werden?

3. Sollte die Bestrafung in Form einer Pensionskürzung oder einer Gefängnisstrafe erfolgen?

4. Ist ein Vergleich mit auch jetzt noch »offiziell« verfolgten NS-Tätern zulässig?

Im Parlament reichte FIDESZ eine Gesetzesvorlage ein, wonach die Berufung auf Persönlichkeitsrechte die Publikation wichtiger historischer Tatsachen nicht in allen Fällen blockieren dürfe. Es bleibt jedoch offen, wie die neue FIDESZ-Regierung dieses Gesetz durchsetzen will, denn selbst in der jetzigen Regierung sitzen Minister, die vor 1990 von der Staatssicherheit als inoffizielle Mitarbeiter geführt worden sind.

Fazit

Man würde erwarten, dass zwei Jahrzehnte nach der Befreiung von der kommunistischen Diktatur auch eine Befreiung in den Köpfen der Menschen stattgefunden hat. Was die historischen Debatten angeht, ist leider das Gegenteil der Fall. Vor zwanzig Jahren war die ungarische Gesellschaft von nationaler Überheblichkeit, Opfermythos und Auserwähltsein bei Weitem nicht so narkotisiert wie heute. Besorgniserregend daran ist, dass diese Befindlichkeiten langsam auch in den Wissenschaften Einzug halten, nachdem sie in der Politik schon seit über zehn Jahren Fuß gefasst haben. So betrachtet hat Ungarn wieder einen Platz im Klub der östlichen Nachbarn. Die Staatsnationen in Serbien, Rumänien oder in der Slowakei kämpfen schon seit Langem mit denselben Problemen.

Anscheinend hatte der Gulaschkommunismus auch große Vorteile für die ungarische Geschichtswissenschaft, die, von bestimmten Themen abgesehen, relative Freiheit genießen konnte. Diese relative Freiheit war auch das Ergebnis eines »Burgfriedens«, der durch das Totschweigen bestimmter Themen symbolisiert wurde. Den Preis für diese Scheinfreiheit bezahlen wir jetzt mit sehr langen Raten. Der nahtlose Übergang der Einparteienregierung in eine Demokratie zwischen 1988 und 1990 wurde weltweit gefeiert. Die Hypothek, die damit verbunden ist, ist nicht nur der extreme Glaubwürdigkeitsverlust der Sozialistischen Partei, neben weiteren Einbußen anderer Parteien, die seit 1989 neu entstanden sind. Leider geht damit auch ein Legitimitätsverlust der Demokratie selbst einher. Mit diesem politischen Problem geht die Enttabuisierung der Geschichtswissenschaft Hand in Hand – weil kein demokratischer Konsens mehr existiert, können auch chauvinistische Geschichtsbilder ihre Auferstehung feiern.

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