1Keine Diktatur hatte so viel Zeit, ihre Utopien bzw. Dystopien von Mensch und Natur zu verwirklichen wie die stalinistische. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurden Stalins Lager des Gulag in erster Linie als Vernichtungslager des totalitären Wahnsinns betrachtet, deren einziger Zweck darin bestand, politische Gegner, unerwünschte gesellschaftliche Gruppen und Nationalitäten zu eliminieren. Seit den Neunzigerjahren rückt die Forschung den Aufbau des Sozialismus und die damit verbundene erzwungene Modernisierung Russlands als strukturelles Motiv (wenn auch nicht als Initialzündung) für die Arbeitslager mit mehreren Millionen Insassen, die als Zwangsarbeiter herangezogen wurden, in den Blickpunkt.2 Dazwischen mischt sich neuerdings die Perspektive der »internen Kolonisation«: Die erzwungene und radikale Neugestaltung von Mensch, Gesellschaft und Natur kulminierte in Großprojekten wie dem Belomorkanal zwischen der Ostsee und dem Weißen Meer. Dieses Projekt (1931–1933) sollte der Welt vor allem zeigen, was der Sowjetsozialismus vermochte, weiterhin sollte es die Modernisierung des Sowjetlandes vorantreiben und die (Zwangs)arbeiter in Sowjetmenschen verwandeln. Typisch für derartige kommunistische Utopien waren die Verflechtungen zwischen dem »neuen Menschen« und der Umgestaltung seiner Umwelt sowie die Hybris der bautechnischen Großprojekte. Während solche Projekte im neunzehnten Jahrhundert noch unter der Ägide des menschlichen Fortschritts oder aus geostrategischen Erwägungen in Angriff genommen wurden (z. B. der Panamakanal), wurden sie im zwanzigsten Jahrhundert von einem Staat, einem Regime und einer Ideologie vorangetrieben und vereinnahmt.
Neben Stalins Belomorkanal, Hitlers Autobahn und Mussolinis Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe zählt zu diesen auch Gheorghiu-Dejs Auftrag zum Bau des Donau-Schwarzmeer-Kanals. Allerdings bildet das rumänische Kanalbauprojekt in doppelter Hinsicht eine Ausnahme. Moskau, Berlin und Rom verfügten über eigene technische sowie Finanz- und Arbeitsressourcen, um – die entsprechende Rücksichtslosigkeit und Priorisierung vorausgesetzt – ein solches Großvorhaben zu verwirklichen. Rumänien dagegen war in der ersten Bauphase (1949–1953) auf die Unterstützung der Sowjetunion angewiesen. Die stolze Behauptung, die Großbaustelle sei ein Nachweis der Leistungsfähigkeit der eigenen ideologischen Bewegung bzw. Nation stand damit von vornherein auf wackeligen Füßen. Im Übrigen war die Zeit der utopischen Großprojekte zur Neugestaltung von Mensch und Natur längst abgelaufen, als die rumänische Großbaustelle überhaupt erst geplant wurde. Die Dreißigerjahre waren in ganz Europa die Ära der Machbarkeitsutopien, die sich fernab wirtschaftlicher und technischer Vernunft bewegten. Stalins arktischer Eisenbahnbau nach Norilsk (1947–1951) war eigentlich das letzte (ebenfalls gescheiterte) Vorhaben, das von ähnlicher Hybris gekennzeichnet war. Somit entsprang der Plan des Donau-Schwarzmeer-Kanals nicht nur einer anderen Zeit, sondern wurde nach dem Tod Stalins bald von neuen rationalen Überlegungen und Zwängen eingeholt.
Der Kanal des Todes
Am 4. März 2010 wurde in Bukarest von der Stiftung Bürgerakademie und der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und für den Widerstand eine Ausstellung über den Donau-Schwarzmeer-Kanal eröffnet. Sie rief Rumänen und internationalen Besuchern unter der Überschrift »Der Donau-Schwarzmeer-Kanal. Ein programmierter Friedhof« das menschliche Leiden und die Grausamkeit dieses kommunistischen Vorzeigeprojekts der Fünfzigerjahre in Erinnerung. Die ausgestellte Liste mit 8100 Namen von rumänischen Oppositionellen, Regimegegnern und chiaburi [Kulaken], die die schwere Arbeit und unvorstellbare Entbehrungen nicht überlebten, ist nur ein Indiz dafür, warum dieser »Kanal des Todes« als beispielhaft für die Terrorherrschaft der Kommunisten gilt.3
Ebenso wie mit der Geschichte des Donau-Schwarzmeer-Kanals beschäftigt sich die rumänische Öffentlichkeit mit dem sogenannten Piteşti-Experiment: Kurz nach der Machtübernahme durch die Kommunisten begannen unter Gheorghe Gheorghiu-Dej mit der Unterstützung Moskaus erste »Umerziehungsexperimente« an Jugendlichen im gleichnamigen Piteşti-Gefängnis. In diesen lange verheimlichten Experimenten kamen nicht nur körperliche Foltermethoden zum Einsatz, die jungen Gefangenen wurden gleichsam einer Gehirnwäsche unterzogen, um ihnen die irregeleiteten ideologischen und religiösen Überzeugungen auszutreiben und sie in Modellkommunisten zu verwandeln. Die Grausamkeit dieser Experimente an Hunderten Gefangenen wurde (abgesehen von den Enthüllungen von Radio Free Europe in den Achtzigerjahren) erst nach der Dezemberrevolution 1989 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und im weiteren Verlauf diskutiert, dokumentiert und dargestellt. Piteşti bestätigte das Bild des menschenverachtenden totalitären Regimes, das ausschließlich auf Gewalt, Repression und der Unterstützung aus Moskau basierte. Die Tatsache, dass manche der Aufseher selbst »Bekehrte« und »Überläufer« der faschistischen Garda de Fier [Eisernen Garde] waren, lässt sich als Beweis für die Unterordnung von ideologischen Idealen unter nackte Machtpolitik lesen. »Umerzogene« Studenten aus Piteşti sollten anschließend als Scharfmacher und Folterer in Lagern in der Dobrudscha und anderswo Angst und Schrecken verbreiten.4
In letzter Zeit nimmt in der historischen Forschung das Interesse an der ideologisch-utopischen Dimension des kommunistischen Regimes von Gheorghe Gheorghiu-Dej (1947–1965) zu. Hinsichtlich des Piteşti-Experiments werden dabei nicht das Wegsperren und die Ermordung politischer Gegner durch Lagerarbeit (u. a. am Donau-Schwarzmeer-Kanal), sondern die ernst zu nehmenden Versuche der Umerziehung in den Mittelpunkt gestellt. Die Forschung konzentriert sich also nicht auf die »Dystopie« – die moralisch verwerflichen Methoden und Ziele dieser Umerziehung durch physische und psychologische Gewaltanwendung –, sondern auf die »Utopie« des Glaubens an die »Machbarkeit« von Mensch, Gesellschaft und Natur gleichermaßen. Die utopische Dimension von Faschismus und Kommunismus ist im Rahmen der historischen Forschung demnach in den Vordergrund gerückt. Dies betraf zuerst Mussolinis Italien, dann Hitlers Drittes Reich und Stalins Sowjetunion, zusehends aber auch marginale totalitäre Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts wie die Volksrepublik Rumänien. Unstrittig war der Kanal sowohl aus Sicht der Opfer als auch aus heutiger Retrospektive eine Dystopie. Für Historiker sind die utopischen Triebfedern heute jedoch nicht weniger aufschlussreich, wenn auch bestürzend.5
Der Kanal zwischen Plan und Realität
Ein Blick auf die Karte Rumäniens genügt, um festzustellen, dass eine Kanalverbindung zwischen dem Donaufluss und dem Schwarzen Meer verkehrstechnisch sinnvoll ist. Der Fluss bildet die Südgrenze des Landes, bis er in der Nähe von Silistra seinen Kurs ändert und über eine Strecke von gut 250 Kilometern parallel zur Schwarzmeerküste gen Norden fließt. Die Entfernung zum Meer beträgt Luftlinie nie mehr als 100 Kilometer und bei Cernavodă kaum 50 Kilometer. Bei Galaţi angekommen macht der Fluss erneut eine 90-Grad-Wende gen Osten und teilt sich bei Tulcea in drei Arme, die zusammen das weltweit einzigartige Naturreservat des Donaudeltas bilden. Das größte Flussdelta Europas ist jedoch kaum schiffbar, ein zusätzliches Argument für einen Kanal zwischen der Donau und dem Schwarzen Meer, der außerdem die Fahrdistanz von Cernavodă bis zum Meer von 450 auf gut 60 Kilometer verkürzt.6
Ähnlich wie bei anderen Großprojekten des Wasserbaus weltweit stammen auch die ersten Pläne für den Bau des Donau-Schwarzmeer-Kanals aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Der älteste bekannte Plan datiert aus dem Jahr 1837. Skizzen, die unrealistischen Überlegungen folgten, die Zuiderzee (IJsselmeer) in den Niederlanden teilweise trockenzulegen, wurden ebenfalls um 1848 entworfen; Baubeginn für den Suezkanal war 1859, für den Panamakanal 1881. Sogar Stalins Prestigeprojekt, der Weißmeer-Ostsee-Kanal (Belomorkanal), geht auf mehr oder weniger realistische Entwürfe aus dem vorherigen Jahrhundert zurück.
Einiges ließ Politiker und Ingenieure zunächst vor dem Bau des Donau-Schwarzmeer-Kanals zurückschrecken: Das Gefälle, die Streckenlänge von 60 Kilometern, aber vor allem die logistischen Probleme des Kanalbaus in der Dobrudscha als rückständigstem Teil Rumäniens ohne nennenswerte Infrastruktur7 sowie die bautechnischen Unwägbarkeiten eines Kanalbaus im seichten Boden stellten große Hindernisse dar. Außerdem schien der Handlungsdruck vor dem Ersten Weltkrieg angesichts des geringen Industrialisierungsgrades und des niedrigen Handelsvolumens Rumäniens nicht hoch genug. Ab 1860 reichte eine Eisenbahnverbindung vorerst aus, um den Transportbedarf zu decken.8 In der Zwischenkriegszeit stieg die Nachfrage stark an und die technischen Voraussetzungen zur Fertigstellung hatten sich verbessert. Somit wurde 1928 ein Bauplan erstellt, der jedoch aufgrund von Weltwirtschaftskrise und Krieg nie realisiert werden sollte.9
Nach der Machtübernahme Ende 1947/Anfang 1948 verlor das neue kommunistische Regime in Bukarest unter der Führung des Stalinisten Gheorghe Gheorghiu-Dej keine Zeit, um einerseits politische Gegner zu verhaften und in Arbeitslagern verschwinden zu lassen und anderseits die Industrialisierung des Landes voranzutreiben. 1949 wurde daher der Beschluss gefasst, einen Kanal zu bauen, der Cernavodă als Industriestandort für Baustoffe und Petrochemie sowie das Hinterland des Wirtschaftszentrums Bukarest mit dem Hafen und der Industrie von Constanţa verbinden sollte.10
Viele Beobachter vermuteten bereits damals Stalin als eigentlichen Antreiber hinter dieser Großaktion, und Archivdokumente, die nach der Dezemberrevolution 1989 zugänglich gemacht wurden, belegen in der Tat, dass die Initiative vom Kreml ausgegangen war.11 Die Donau und die Dobrudscha-Region waren im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg von herausragender geostrategischer Bedeutung für die UdSSR. Gleichzeitig eignete sich die Region hervorragend als Schaufenster der technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften und Leistungsfähigkeit des großen sowjetischen Bruderstaates. Dazu gehörte nicht nur die vorauseilende Kollektivierung der Landwirtschaft in jenem Randgebiet Rumäniens, sondern auch der Bau des Kanals. Die Existenz der Kanalarbeitslager in unmittelbarer Nähe wird den Gehorsam der Bauern bei der Kollektivierung ihrer Betriebe sicherlich gesteigert haben. Kanalbau und Kollektivierung waren typisch utopische Projekte: Die Umwandlung ihres Umfeldes sollte die Bauern in Kommunisten verwandeln, und dazu suchte man sich gezielt die sozialwirtschaftlich rückständigste Region Rumäniens aus.12 Der Kanal, am 25. Januar 1949 vom Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) auf dessen Gründungskonferenz in Moskau beschlossen, galt als wasserbautechnisches Husarenstück und zog die größte Einzelinvestition des damaligen Ostblocks nach sich. In Rumänien selbst wurde der Beschluss zum Kanalbau am 25. Mai 1949 vom Politbüro und am selben Tag auch vom Ministerrat verabschiedet.13
Wichtig zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass beide, Kollektivierung und Kanalbau, dem gleichen utopischen Ansporn unterlagen. So gesehen war es eher unwichtig, ob das Bukarester Regime befürchtete, Stalin könne die Kontrolle über das Donaudelta an sich reißen und den Rumänen nur die Verkehrsverbindung über den Kanal lassen.14 Gheorghiu-Dej und seine Kampfgefährten waren hoch motivierte Kommunisten, die das Kanalprojekt nach dem Tod Stalins und angesichts unlösbarer wasserbaulicher Probleme (und mit dem Wegfallen technischer und finanzieller Unterstützung aus der UdSSR) 1953 stilllegen mussten, aber Stalins Weg der erzwungenen Modernisierung und Industrialisierung Rumäniens voll und ganz verinnerlicht hatten. Dieser Glaube und diese Zielstrebigkeit gingen schließlich so weit, dass Gheorghiu-Dej und seine Genossen deswegen einige Jahre später einen Bruch mit Moskau riskieren sollten.15
Mangels wasserbaulicher Expertise und technischer Ausrüstung wurde der Kanal in der ersten Bauphase von 1949 bis 1953 lediglich über eine Länge von sieben Kilometern (von über 60 Kilometern insgesamt) fertiggestellt. Fünf Jahre lang hatte das Regime geschätzte 60 000 Arbeiter (zu gleichen Teilen politische Gefangene, Soldaten und Freiwillige) schuften und sterben lassen, um ohne ausreichende Gerätschaften Millionen Kubikmeter Erde zu bewegen und 4,2 Millionen Kubikmeter Beton zu verbauen. Der Bau durch die Sumpfgebiete erwies sich als Sisyphusarbeit und wurde 1955 schließlich ganz aufgegeben. Dieses Scheitern wurde Saboteuren angelastet, und es kam zu den üblichen Schauprozessen.16 Die erste Bauphase kostete durch Unterernährung der Gefangenen in den zwölf Arbeitslagern entlang der Baustrecke, durch Unfälle und vor allem durch Krankheiten Abertausenden Arbeitern das Leben. Seither hieß das Kanalprojekt im Volksmund nur noch canalul morţii [Kanal des Todes].
Die zweite Bauphase glich nach zwanzig Jahren Stillstand somit einem Neubeginn. Nach systematischer Planung, mit dem technischen Fortschritt von zwei Jahrzehnten und mit 50 000 Arbeitskräften wurde das Projekt, an dem sich das Gheorghui-Dej-Regime noch verhoben hatte, unter seinem Nachfolger Nicolae Ceauşescu in einer relativ kurzen zweiten Bauphase von nur acht Jahren (1976–1984) fertiggestellt, inklusive großer Schleusenanlagen bei Cernavodă zu Beginn des Kanals und bei Agigea am anderen Ende.17 Nach der feierlichen Eröffnung am 26. Mai 1984 als Magistrala albastră [blauer Autobahn] wurde sogar noch der sogenannte Nordkanal von 26 Kilometern Länge als Abzweigung gebaut, die bei Poarta Albă den Hafen Midia Năvodari und den See Taşaul mit dem Hauptkanal verbindet.18
Heute wird der Kanal mit seiner Breite von 90 Metern und bei einer Tiefe von sieben Metern auch aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Bedingungen sehr stark befahren. Durch die Eröffnung des Rhein-Main-Donau-Kanals 1992 wurde zusätzlich eine Binnenschifffahrtsverbindung zwischen der Nordsee und dem Schwarzen Meer geschaffen. Seit 1989 hat sich das jährliche Transportvolumen von 7,7 Millionen Tonnen auf 29,6 Millionen Tonnen gesteigert.19 Die Fertigstellung einer direkten Kanalverbindung zwischen dem Ballungszentrum Bukarest und der Donau würde eine weitere Zunahme verursachen, die auch von den unfertigen ukrainischen und bulgarischen Plänen für eigene Kanalverbindungen durch das Delta bzw. zum Hafen von Varna mittelfristig kaum aufgefangen werden könnte.20
Rückblickend steht zwar nicht das volkswirtschaftliche Kosten-Nutzenverhältnis im Vordergrund. Trotzdem gehen Skeptiker heute davon aus, dass die Finanzmittelaufwendungen für die zweite Bauphase erst in 600 Jahre wieder ausgeglichen sein werden.21 Einig ist man sich aber auch darüber, dass der Kanal aus heutiger Sicht für die rumänische Wirtschaft unverzichtbar ist. Ähnliches lässt sich mit Abstrichen bereits für die Siebzigerjahre behaupten, aber wohl kaum für die Fünfzigerjahre. Dies wirft die Frage nach dem Kalkül und den Motiven des Kanalbauers Gheorghe Gheorghiu-Dej auf.
Die Motive der Kanalbauer: Verklärung und Vergessen
Die typische Darstellung über die Motive der Kanalbauer lässt keinen Zweifel: Repression politischer Gegner und unwillkommener Gesellschaftsgruppen war die einzige Triebfeder dieses irrationalen Bauprojektes. Während das Ceauşescu-Regime bei der Einweihung 1984 und auch danach die Errungenschaften der sozialistischen Modernisierung für die rumänische Nation pries, hoben die Gegner des kommunistischen Regimes vor allem die Ermordung zahlreicher politischer Gegner und »Klassengegner« in den Arbeitslagern des Todes als primäres Ziel der Machthaber hervor.
Ihre Wurzeln findet diese mehr als nachvollziehbare, aber unvollständige Sicht in den Augenzeugenberichten und Außendarstellungen von Exilrumänen aus den Fünfzigerjahren. Am bekanntesten sind die Werke von Ion Cârja, dem Sohn einer rumänischen Auswandererfamilie, die in den Zwanzigerjahren nach Siebenbürgen zurückkehrte. Wegen antikommunistischer Aktivitäten und Schriften wurde er verurteilt und verbrachte bis zur Generalamnestie 1964 fünfzehn Jahre in verschiedenen Arbeitslagern, u. a. in der Dobrudscha. Seine Erfahrungen wurden unter dem Titel Întoarcerea din infern [Rückkehr aus der Hölle] 1964 in Madrid veröffentlicht. 1974 erschien in New York ein weiterer Band, Canalul morţii [Kanal des Todes], über die Kanalbaulager.22
Verschiedene Nichtregierungsorganisationen und Forschungsinstitute trugen seit 1989 zahlreiche Dokumente und Erfahrungsberichte der Opfer kommunistischer Lager und ihrer Praktiken zusammen.23 Umso verständlicher ist diese anfängliche Zielrichtung der Aufarbeitung, wenn berücksichtigt wird, dass die Dezemberrevolution zwar die blutigste der sanften Revolutionen war, aber im Endeffekt eher einer Palastrevolution glich.24 Während Ceauşescu bereits in den Sechzigerjahren die Moskau-treue Linie, die die Partei seit ihrer Gründung 1921 verfolgte, latent als der nationalen Eigenheit Rumäniens zuwiderlaufend verurteilte, konnte das Land nach Dezember 1989 vorerst ohne größere Erklärungsnöte oder gar Vergangenheitsbewältigung an den Nationalismus der Ceauşescu-Ära anknüpfen. Die Opfer der kommunistischen Diktatur kamen zwar in Form von Augenzeugenberichten und mehr oder weniger sensationslüsternen Berichten in den Medien zu Wort, aber staatliche Anerkennung, Entschädigungen bzw. Lustration fanden im Vergleich zu anderen ehemaligen Ostblockstaaten in Rumänien lange Zeit eher nur widerwillig statt.25 Somit hält sich in Bezug auf das Kanalprojekt auch heute noch die Sichtweise, die das 1984 vollendete Projekt als Großleistung der rumänischen Nation und zugleich als wichtige Voraussetzung der immer weiter fortschreitenden eigenständigen Modernisierung derselben betrachtet.
Nach Auffassung der Kanalbauer verhielt es sich jedoch ganz anders: Als Gheorghe Gheorghiu-Dej im Herbst 1949 die Ehre zuteilwurde, einen Beitrag für die Sowjetzeitschrift Bol’ševik zu verfassen (verbunden mit der Aufgabe, Tito zu kritisieren), erwähnte er den Kanalbau unter dem Titel: »Die Volksrepublik Rumänien in vollem Aufschwung«. Er schrieb: »Es werden neue Hochöfen gebaut, Koksöfen für die Eisenindustrie, eine mächtige Elektrizitätszentrale, eine große Erdölraffinerie in Moldawien, zwei Spinnereien. Auch wurde ein Anfang für den Bau des Donau-Schwarzmeer-Kanals gemacht, ein Unterfangen gigantischen Ausmaßes und von herausragender Bedeutung für die nationale Volkswirtschaft, da es alle umliegenden Regionen beflügeln wird. Entlang des Kanals schießen Dörfer, Fabriken, Schulen und Kulturinstitute aus dem Boden.«26 In seiner Rede vor dem Politbüro am 25. Mai 1949 hatte Gheorghiu-Dej betont, dass dies eine Leistung sei, die nur die Partei erbringen konnte: »Das Problem, diesen Kanal zu bauen, hat bestimmte, mit dem alten Regime verbundene Kreise beschäftigt, wurde aber nie mehr als ein Wunschtraum, weil das kapitalistische System keine großen Werke erlaubt, die nicht den Profit im Blick haben, sondern die Verbesserung der Lage der arbeitenden Massen.« In der gleichen Sitzung formulierte sein alter Kampfgenosse Chivu Stoica den utopischen Charakter dieser Großbaustelle noch expliziter, aber zugleich auch praktisch: Sie sollte »nicht nur das Antlitz der Wirtschaft der Region verändern, sondern auch die Mentalität der Menschen, weil diese Baustelle ein Laboratorium sein wird, wo die Kader geschaffen werden, wo technische Bildungsstätten entstehen werden«.27 Die Arbeit auf der Großbaustelle wurde explizit als »Kampf« dargestellt: »Das Kanalbett wurde über die gesamte vorgesehene Länge ausgehoben und der Kampf ist jetzt in vollem Gange im schwierigsten Teilstück, dem Hügel, wo 84 Meter tief gegraben wird, meist in Gestein.«28 Auch ein erstes kommunistisches Schulbuch für das Unterrichtsfach Geschichte aus dem Jahr 1952 betonte »den Beginn der Arbeit auf der Baustelle des Kanals« 1949 und dass »im Rahmen des Fünfjahrplans der Großbau des Donau-Schwarzmeer-Kanals fertiggestellt werden wird, der einen mächtigen Einfluss auf unser Wirtschaftsleben haben wird und Leben bringt in eine Region unseres Landes, die vom bürgerlich-gutsherrlichen Regime verachtet wurde« – anscheinend war man der festen Überzeugung, dass der Bau erfolgreich sein würde, obwohl 1952 erst drei Kilometer provisorisch errichtet worden waren.29
Stärker noch als Reden und Propaganda verdeutlicht die unmenschliche Rücksichtslosigkeit bei der Umsetzung dieses Großprojekts, entgegen jeglicher Rationalität und jeglichem Realitätssinn, den utopischen Willen – vergleichbar mit dem Bau von Stalins Belomorkanal. So wurde eines der bereits existierenden Dörfer, die in Lager umgewandelt wurden, 1953 von Valea Neagră [Schwarztal] in Lumina [Das Licht] umbenannt. Wäre das Ziel des Großprojekts nur wirtschaftlicher Natur gewesen oder hätte es einzig der Ausrottung der politischen Opposition gedient, hätte es keinen Grund gegeben, der rumänischen Bevölkerung gegenüber in höchsten Tönen über den Bau zu berichten. Vor allem hätte es aber keinen Grund gegeben, mittels Propaganda und Symbolik auch die Lagerinsassen von ihrer Verantwortung für den Aufbau des Sozialismus zu überzeugen. Eigens dazu – auch dies entspricht dem Belomor-Vorbild – wurden in den Lagern Zeitungen gedruckt. Die Zeitung Canalul Dunăre-Marea Neagră [Donau-Schwarzmeer-Kanal] sollte mittels kommunistischer Rhetorik die (Zwangs)arbeiter zu Höchstleistungen anspornen. Anfangs erschien sie einmal wöchentlich, später jeden zweiten Tag. Die Gefangenenlager waren offiziell colonii de muncă [Arbeitskolonien], und das Mittel zur angestrebten Umerziehung der Staatsfeinde war – Arbeit. »Für die Umerziehung von der Rumänischen Volksrepublik feindlich gesonnenen Elementen und für die Vorbereitung und Integration dieser Elemente in das soziale Leben einer Volksrepublik, in der der Sozialismus aufgebaut wird, sollten Arbeitslager eingerichtet werden.«30
Die wenigen Augenzeugenberichte dieser dunklen Zeit zeigen, dass nichts in den Arbeitslagern den Propagandabildern wohlgemuter und wohlgenährter Werktätiger glich. Der ehemalige Häftling Cârja erinnerte sich: »An einer der Wände waren einige Slogans aufgehängt, ganz nach dem Geschmack Stalins in jener Zeit. [...] darunter auch manche Belehrungen für ›das neue Leben‹. [...] zwei Pritschen aus Holz, an beiden Seiten Fenster mit Gittern, verdreckte Laken, ausgebreitet auf dem wenigen Stroh auf den Brettern der Pritschen, auf denen die Erzieher und Opfer schliefen.«31 Nach dem Aktenstudium skizzierte der Historiker und Schriftsteller Cristian Troncotă die Grausamkeiten: »Viele Gefangene wurden grundlos mit Eisenstäben, Schaufeln, Spaten und Peitschen geschlagen. Viele starben an den Schlägen, während andere für den Rest ihres Lebens Krüppel blieben. Manche Gefangene wurden erschossen, andere erhielten keine medizinische Versorgung, wenn sie krank waren, und wurden gezwungen, trotz Krankheit zu arbeiten, und einige starben deswegen. Gefangene wurden nackt oder dünn bekleidet im Winter in Isolierzellen gesteckt. In der kalten Jahreszeit wurden Gefangene bestraft, indem sie bis zur Mittagszeit in eiskaltes Wasser gestellt wurden. Im Sommer wurden Gefangene an den Händen gefesselt und nackt den Moskitobissen ausgesetzt.«32
Das Misslingen des Infrastrukturbauprojektes als solchem und die Tatsache, dass die Umerziehung oder Resozialisierung ehemaliger politischer Gegner im unmenschlichen Alltag in den Sümpfen der Baustelle als Erstes auf der Strecke blieben und der blanken Repression wichen, widerlegt nicht die utopische Dimension des ursprünglichen Unterfangens. Kenneth Jowitt stellt zu Recht fest, dass das Projekt nicht nur verkehrstechnisch und politisch, d. h. bezüglich der Resozialisierung der Häftlinge, sondern auch als symbolische Politik, d. h. hinsichtlich der Überzeugung der Bevölkerung von den Vorzügen des Kommunismus, misslungen ist. Bezeichnend für die Denkweise von Gheorghui-Dej und seinen Mitstreitern in jener Zeit war laut Jowitt die »Nachahmung« des Sowjetvorbildes als utopischem Modernisierungsprojekt Stalins, inklusive irrationaler Gewaltanwendung und halsbrecherischer Großprojekte.33
Den rumänischen Bürgern wurde unter Ceauşescu zwanzig Jahre später wenig Gelegenheit gegeben, den erfolgreichen Bau des Kanals einfach zu ignorieren: Im Fernsehen, in den Printmedien und mittels Großveranstaltungen wurde die Aufmerksamkeit auf das Bauprojekt gelenkt, insbesondere bei der Einweihung am 26. Mai 1984. Hervorgehoben wurden dabei die Dimension der technischen Leistung, die moderne Ästhetik des Baus und vor allem das Genie des Parteiführers. Der Fortschrittsoptimismus, der diese Berichterstattung kennzeichnete, unterscheidet sich jedoch nicht wesentlich von der (Selbst)darstellung westlicher Demokratien bei ähnlichen Großprojekten in jener Zeit, wie zum Beispiel die Deltawerke als Schutzsystem gegen Hochwasser und Sturmfluten in den Niederlanden. Deshalb und wegen der bewiesenen Realisierbarkeit können weder die Deltawerke noch die Magistrala albastră als politische Utopie gelten.
Sogar der Propagandafilm zur Eröffnung des Donau-Schwarzmeer-Kanals mit Parteiführer Nicolae Ceauşescu im Mittelpunkt wirkt aus dieser Perspektive emotionslos und sachlich: Aufdringlich im Bild sind immer wieder die rumänische Flagge und Nicolae Ceauşescu an Bord eines Flussschiffes sowie insbesondere die zahlreichen Menschen am Ufer zu sehen, die eher den conducător als die Fertigstellung des Kanals zu bejubeln scheinen.34 Da die Kamera stets auf Ceauşescu gerichtet ist, wirken Kanal und Schleusenanlagen kaum überdimensional, keinesfalls wie ein Megaprojekt. Was fehlt, sind Bilder von entschlossen gegen eine schier übermächtige Natur kämpfenden Arbeitern als den Erbauern des sozialistischen Heilstaates. Von einer »Neugestaltung« des Menschen keine Spur; die Symbolik und Choreografie der Eröffnungsfeier legen nahe, dass nicht die Arbeit, sondern nur das Ergebnis zählte. Die Menschen wurden zu Statisten degradiert, die sich als Nichtbeteiligte über ihren großen Führer freuen, der mit vorausschauendem Blick dieses Projekt initiiert und geleitet hat. Auch die Gedenkmünzen und -briefmarken zeigen Ceauşescu in seiner Führungsrolle, den Kanal mit den Schleusen von Cernavodă und am Rande schweres Baugerät, aber keine Arbeiter.
Eine mögliche Erklärung für diese Art der Darstellung ist der lange Schatten der Zwangsarbeiter, die unter Gheorghiu-Dej die ersten Spatenstiche im bleischweren Lehm der Dobrudscha vollbracht hatten. Das filmische Motiv der vierschrötigen Arbeiter als überzeugte Kommunisten findet sich aber auch nicht in der Propaganda zu nicht vorbelasteten Großbauprojekten aus der gleichen Zeit, wie den Wasserkraftwerken des »Eisernen Tores« in der Donau oder der Schiffswerft in Turnu Severin. Neben den Ceauşescus werden ausschließlich Rumänen mit ihrem scheinbar spontanen Jubel gut inszeniert in Reih und Glied vorgeführt. Gearbeitet wird nicht, geschuftet schon gar nicht, und die Natur scheint sich ebenfalls zu fügen.35
Dieser »Wertewandel« in der Propaganda rund um den Kanal und der Verlust der kommunistisch-utopischen Dimension unter Nicolae Ceauşescu werden von der Geschichtsschreibung über die Volksrepublik bestätigt: Ceauşescu distanzierte sich in manchen Bereichen von seinem direkten Vorgänger, und viele Kommunisten der alten Garde wurden in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre entmachtet. Die Rehabilitierung der Nationalgeschichte der Zwischenkriegszeit und deren Protagonisten ließ die stalinistische Politik Gheorghiu-Dejs plötzlich in einem anderen Licht erscheinen.36
Auf dem Höhepunkt dieser nationalkommunistischen Welle erschien 1980 die Studie Die Donau in der Geschichte des rumänischen Volkes.37 In der ausführlichen Darstellung zum neunzehnten Jahrhundert standen die Europäische Donaukommission und Rumäniens diplomatische Bemühungen, den freien Schiffsverkehr und seine Hoheitsrechte sicherzustellen, und nicht die fantastischen, nicht realisierten Pläne für einen Kanal im Mittelpunkt. Die Autoren betonen im gleichermaßen ausführlichen Text zur Zwischenkriegszeit, dass die Donaupolitik Rumäniens zwar den Interessen der herrschenden Klasse diente, aber auch den objektiven Belangen der rumänischen Nation entsprach. Im kurzen Nachwort zur Nachkriegszeit wird in Wort und Bild das Staudammprojekt »Eisernes Tor« zwischen Rumänien und dem damaligen Jugoslawien hervorgehoben. Auch die Gesamtdarstellung lässt trotz großspuriger Rhetorik utopische Überhöhung vermissen: »Die großen wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten des sozialistischen Rumäniens, seine historischen Erfolge auf allen Gebieten des materiellen und geistigen Lebens, seine konstruktive friedliche und realistische Außenpolitik haben die Voraussetzungen geschaffen, die die bedeutende Großwasserstraße der Donau zur Entwicklung der traditionellen Verbindungen mit den befreundeten anliegenden Nachbarvölkern und anderen Ländern der Welt bietet.« Im Fazit wird die Donau als Inspirationsquelle von Folklore und Dichtern identifiziert, nicht als Großbaustelle der sozialistischen Moderne – umso erstaunlicher, da die Magistrala albastră zu diesem Zeitpunkt bereits halb fertig war.38
Auch andere Zwischenfälle zeigten, dass das Bukarester Regime unschlüssig war, ob die Gräueltaten in der ersten Phase des Kanalbaus es erlaubten, die »Epoche Ceauşescu« über das Regime seines Vorgängers zu erheben, ob sie als Makel die kommunistische Legitimität als solche bedrohten oder ob die zweite Bauphase als eigenständige und vor allem nationale Leistung propagiert werden könne. Die Veröffentlichungen der Romane von Eugen Barbu, Princepele [Der Prinz, 1969], und Cel mai iubit dintre pămînteni [Der Beliebteste der Erdbewohner] von Marin Preda 1980 sind Beispiele für den Einsatz des Kanalmythos gegen Gheorghiu-Dej.39 Das Tabu zeigte sich dagegen, als das Werk »Canal Grande« des Künstlers Dan Mihaltianu in Bukarest Ende der Achtzigerjahre nicht ausgestellt werden durfte: ein großes schwarzes mit Wasser bzw. Wodka gefülltes Gummibecken. Der Verweis auf die Zwangsarbeit am Donau-Schwarzmeer-Kanal und Wodka als einzigem Trost im Leben unter der Diktatur ließ die Zensur einschreiten.40
Fazit
Aus der Sicht der Opfer unterscheidet sich die Ceauşescu-Diktatur nicht wesentlich von der Gheorghiu-Dejs. Allenfalls war sie etablierter und konnte deswegen auf massiver Kontrolle und Einschüchterung aufbauen, statt auf wildem Terror. Modernisierungsprojekte, die damit einhergehende Propaganda und vor allem hemmungsloser Nationalismus dienten unter Ceauşescu als Legitimationspfeiler des Regimes. Vladimir Tismaneanu unterscheidet diesbezüglich zwei Faktionen in der Kommunistischen Partei Rumäniens: die »Westler« als Modernisierer und die »Protochronisten« als Befürworter der spezifischen nationalen Traditionen und Werte.41 Dabei bleibt unbeachtet, dass beide Ansichten einen wesentlichen Bruch mit der anti-traditionellen, anti-nationalen und radikal-modernisierenden Utopie der Fünfzigerjahre darstellten. Der Bruch zeigt sich in der realen Gestaltung des Großbauprojektes des Donau-Schwarzmeer-Kanals ebenso wie in der gleichzeitigen Propaganda rund um das Vorhaben und sogar in der Retrospektive der Parteihistoriografie. Kenneth Jowitt hat diesen Verlust des »leninistischen« Charakters als generelles Phänomen des osteuropäischen Kommunismus diagnostiziert und diese Zäsur in Rumänien für Anfang der Siebzigerjahre festgestellt, als die kurze liberale Phase endete und Repression wieder Einzug hielt, dieses Mal jedoch ohne die utopischen Ideale der Fünfzigerjahre.42
Realpolitisch wandelte sich das utopische Vorhaben zur Neugestaltung der Menschen in den Fünfzigerjahren – direkt, durch Schwerstarbeit in den Sümpfen, und indirekt, durch die Umgestaltung seines Umfeldes – zu einem nüchtern geplanten und realisierten Bauprojekt in den Siebzigerjahren. Die Propaganda unter Gheorghiu-Dej, die ähnlich wie bei Stalins Bauprojekten Staatsfeinde in den Arbeitslagern als »Erbauer des Sozialismus« darstellte, verwandelte sich ebenfalls in eine Verherrlichung des »Genies der Karpaten« und der Rechenleistung rumänischer Ingenieure.43 In der Geschichtsschreibung spiegelte sich dieser Wandel wider: Die wenigen stalinistischen Historiker-Propagandisten, die sich in den Fünfzigerjahren an die Gegenwart heranwagten, legten ihren Glauben an das social engineering offen, während die Nationalhistoriker der Siebziger- und Achtzigerjahre den Kanal als Verbrechen gegen die rumänische Nation und eine von Moskau erzwungene Fehlentwicklung in der rumänischen Parteigeschichte am liebsten verschwiegen.
Nach der Dezemberrevolution hatten die Befürworter einer Aufarbeitung der Verbrechen der kommunistischen Diktatur publizistisch einen schweren Stand. Während viele akademische Historiker sich mit einem Fortschreiben der altbekannten Nationalgeschichte begnügten, die weitgehend mit dem Höhepunkt der Marea Unire [Große Nationalstaatswerdung] 1918 endete und die kommunistische Epoche außen vor ließ, mussten die Opfer des kommunistischen Terrors juristisch und politisch um Gerechtigkeit und Anerkennung kämpfen. Dies erklärt, warum die Aufarbeitung sich lange aufgrund eines totalitaristischen Paradigmas auf die frühe Terrorgeschichte und berüchtigte Lager wie Sighet oder Piteşti konzentrierte.44 Der 600-seitige Abschlussbericht der von Präsident Ion Iliescu beauftragten Historikerkommission zur Erforschung der kommunistischen Diktatur in Rumänien markierte 2006 eine Kehrtwende in der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Opfer und schlussfolgerte in Bezug auf den Kanal salomonisch: »Eine der ersten Maßnahmen, die beschlossen wurde, war, den Bau des Donau-Schwarzmeer-Kanals an die erste Stelle zu setzen, ein gigantisches Unterfangen, auferlegt von Stalin, das mit Gheorghiu-Dejs Repressionspolitik korrespondierte.«45 Die Kommission orientierte sich vom Auftrag und von der Schieflage der Debatte her selbstverständlich am totalitaristischen Paradigma, auf den Punkt gebracht in der Überschrift des Fazits: »Die Notwendigkeit, das kommunistische Regime zu erforschen, zu verwerfen und zu verurteilen.«46
Nur wenige etablierte Historiker versuchten bis dahin, das kommunistische Regime mit neuen Quellen und neuen Ansätzen als Gesellschaftssystem und Legitimationsstruktur zu durchdringen.47 Parallel stand dabei die Kontinuität von der nationalen Verblendung der Ceauşescu-Ära bis zur heutigen Zeit im Raum, was Kommunismusforschung eher zu einem politischen als zu einem akademischen Thema machte. Jüngere Historiker befassten sich deswegen lieber – mit neuesten Faschismustheorien und Ansätzen der Analyse ideologisch-utopischer Bewegungen gerüstet – eingehend mit den Archiven zur rumänischen Eisernen Garde als ideologischer Massenbewegung der Dreißigerjahre als (paradoxerweise) »unpolitischem« Forschungsfeld. Nach einer ersten Phase der Politisierung und einer zweiten der Dokumentierung des kommunistischen Terrors, die ihren Ursprung in der Regierung der Demokratischen Konvention (1996–2000) hatte, tendieren einschlägige seriöse Forschungseinrichtungen wie das Rumänische Institut für Zeitgeschichte (IRIR) und die Behörde des Nationalen Rates zur Erforschung der Securitate-Akten (CNSAS) in den letzten Jahren zugunsten von Opfern und Öffentlichkeit in Richtung distanziert-akademischer Betrachtung und Aufarbeitung.48
Folglich wurde der Kanal des Todes bislang vorwiegend einerseits von Apologeten der Ceauşescu-Zeit als Topos benutzt, um das Gheorghui-Dej-Regime aus der nationalen Geschichtsschreibung zu verdrängen. Andererseits wurde der Kanal im antikommunistischen Lager als Anklage gegen das kommunistische System verwendet, indem immer mehr Namen und Gräueltaten enthüllt und dokumentiert wurden. Es wird aber noch viel Donauwasser ins Schwarze Meer fließen, bevor Dennis Deletants Forderung nach einer ausgewogenen und umfassenden Analyse der Frühgeschichte der kommunistischen Herrschaft jenseits nationaler Kontinuität und moralischem Schuldbefund49 ein adäquates Echo in der Forschung und in der Öffentlichkeit findet, in dem sowohl der Terror und die Verbrechen des Kanalbaus als auch die wirtschaftlichen und geostrategischen Überlegungen und sogar die utopischen Vorstellungen zur dystophischen Realität berücksichtigt werden.
1 Mit Dank an die Studenten des Forschungsseminars 2009/2010 »Staatsutopien« am Historischen Institut der Radboud Universität Nimwegen für eine Fülle an Vergleichsfällen. Außerdem geht ein Dank an Adrian und Mario Homutescu für die Bereitstellung der Abbildungen von Münzen und Briefmarken
von ihrer Webseite romaniancoins.org.
2 Siehe Ralf Stettner: »Archipel GULag«. Stalins Zwangslager – Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928–1956, Paderborn 1996.
3 Timpul vom 27. Januar 2011; Der Donau-Schwarzmeer-Kanal. Ein programmierter Friedhof, in:
www.memorialsighet.ro/index.php
dunare-marea-neagr-un-cimitir-programat&catid=38:evenimente&Itemid=90&lang=de, ges. am
22. August 2011.
4 Siehe Dennis Deletant: Ceauşescu and the Securitate. Coercion and dissent in Romania, 1965–1989, Armonk/NY 1995, S. 37 f.
5 Siehe z. B. aus der westlichen Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte: Daniel Chirot: Modern tyrants. The power and prevalence of evil in our age, New York 1994; Madelon de Keizer/Luuk van Middelaar (Hg.): Utopie: utopisch denken, doen en bouwen in de twintigste eeuw [Utopie: utopisches Denken, Handeln und Bauen im 20. Jahrhundert], Zutphen 2002: Liesbeth van de Grift: Securing the Communist State: The Reconstruction of Coercive Institutions in the Soviet Zone of Germany and Romania, 1944–1948, Lanham/Md. 2011; Steven A. Barnes: Death and redemption. The Gulag and the shaping
of Soviet society, Princeton/NJ, 2011.
6 Siehe Werner Gumpel: Verkehrswesen und Infrastruktur, in: Klaus-Detlev Grothusen (Hg.): Rumänien
(= Südosteuropa-Handbuch, Bd. 2), Göttingen 1977, S. 405.
7 Siehe Marian Cojoc: Istoria Dobrogei în secolul XX [Die Geschichte der Dobrudscha im 20. Jahr-
hundert], Bukarest 2001.
8 Siehe Thomas Wagner/Wolf-Dietrich Geitz: Eisenbahnen in der Dobrudscha, in: Fern-Express (2004),
H. 2, S. 32–36.
9 Siehe Aurel Bărglăzan/Octavian Smighelschi: Studiul unui canal navigabil Cernavodă-Constanţa [Untersuchung für einen befahrbaren Kanal zwischen Cernavodă und Constanţa], Buletinul Ştiinţific
al Şcoalei Politehnice (1928), H. 1/2, S. 43–172.
10 Siehe Nicolas Spulber: The Danube-Black Sea Canal and the Russian control over the Danube, in: Economic Geography 30 (1954), H. 3, S. 236–245; Richard K. Carlton: Forced labor in the »people’s democracies«, New York 1955, S. 141–178.
11 Siehe Lavinia Betea/Paul Sfetcu: Stalin decide: construiti Canalul! [Stalin entscheidet: Baut den Kanal!], in: Magazin Istoric 31 (1997), H. 12, S. 13 f.
12 Zum typischen Bestreben, bei utopischen Vorhaben nicht mit den Erfolg versprechenden, sondern mit den schier unmöglichen Fällen zu beginnen, siehe Ernest Gellner: The Soviet and the savage, in: Current Anthropology 16 (1975), H. 4, S. 595–601; Yuri Slezkine: Arctic mirrors. Russia and the small peoples
of the North, Ithaca/NY 1994.
13 Zu den offiziellen Dokumenten siehe Armand Gosu: 25 mai 1949: ziua de naştere a Canalului Dunăre-Marea Neagră [Der 25. Mai 1949, der Geburtstag des Donau-Schwarzmeer-Kanals], in: Revista 22 vom 7. Mai 2008. Die rumänische Kommunistische Partei stellte den Plan als Eigeninitiative dar: Universul vom 27. Mai 1949, zitiert in: Spulber: The Danube-Black Sea Canal (Anm. 10), S. 239; Curt Gasteyger: Europa von der Spaltung zur Einigung. Darstellung und Dokumentation, 1945–1997, Bonn 1997, S. 108 f. In Gheorghui-Dejs Rede vor der Nationalversammlung am 27. Dezember 1948 fand der Kanalplan noch keine Erwähnung, siehe Gheorghe Gheorghiu-Dej: Articles et discours, Bukarest 1951, S. 233 f. Constantin Iordachi: Constanţa: The first collectivized region, in: Constantin Iordachi/Dorin Dobrincu (Hg.): Transforming peasants, property and power. The collectivization of agriculture in Romania, 1949–1962, Budapest 2009, S. 110 f.; Ghiţă Ionescu: Communism in Rumania 1944–1962, London 1964, S. 194.
14 Iordachi: Constanţa (Anm. 13), S. 111 f.; Spulber: The Danube-Black Sea Canal (Anm. 10), S. 236–245. Umgekehrt wurde hinter der Wiederaufnahme des Projekts unter Ceauşescu das Motiv der Umgehung der Deltaverbindung unter unmittelbarem sowjetischen Zugriff vermutet: Gumpel: Verkehrswesen (Anm. 6), S. 405; Ian M. Matley: The geographical basis of Romania, in: Grothusen (Hg.): Rumänien (Anm. 6), S. 254.
15 Siehe Kenneth Jowitt: Revolutionary breakthroughs and national development: the case of Romania, 1944–1965, Berkeley/Calif. 1971, S. 114–130. Die Zusammenhänge rund um den Baustopp sind noch nicht abschließend geklärt und überaus komplex. Siehe z. B. Spulber: The Danube-Black Sea Canal,
S. 236–245 (Anm. 10); Comisia Prezidenţială pentru Analiza Dictaturii Comuniste din România:
Raport final [Präsidentenkommission für die Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien: Abschlussbericht], Bukarest 2006, S. 73, 195, 254–262.
16 Siehe George H. Bossy: Transportation and communications, in: Stephen Fischer-Galati (Hg.): Romania, New York 1957, S. 340 f; Dennis Deletant: Communist terror in Romania. Gheorghiu-Dej and the police state, 1948–1965, New York 1999, S. 213 f. Weitere »Aufarbeitung« der Exzesse der ersten Bauphase erfolgte 1955 im Rahmen von Chruščëvs Entstalinisierung.
17 Siehe Anneli Ute Gabanyi: The Ceauşescu Cult. Power Politics and Propaganda in Communist Romania, Bukarest 2000, S. 401–406. Die zweite Bauphase wurde sogar von der Weltbank in erheblichem Maße finanziell gefördert. Siehe in web.worldbank.org/external/projects/main, ges. am 22. August 2011.
18 Siehe Wim P. van Meurs: Donau-Schwarzmeer-Kanal, in: Enzyklopädie des europäischen Ostens, in: eeo.uni-klu.ac.at/index.php/Donau-Schwarzmeer-Kanal, ges. 22. August 2011.
19 Diese Zahlen wurden 2008, d. h. vor der Weltwirtschaftskrise verzeichnet. Siehe Administraţia Canalelor Navigabile: Statistici. Evoluţia traficului 1991–2010 [Statistik. Entwicklung des Verkehraufkommens 1991–2010], in: www.acn.ro/index.php, ges. am 22. August 2011.
20 Siehe Curierul Naţional vom 26. Mai 2010; Act Media vom 7. September 2010; Kyiv Post vom
16. Mai 2007.
21 Siehe Radio Constanţa am 26. Mai 2005, in: www.hotnews.ro/articol_23177-Canalul-Dunare-Marea-Neagra-isi-va-scoate-banii-in-633-de-ani.htm, ges. am 22. August 2011.
22 Ion Cârja: Întoarcerea din infern [Rückkehr aus der Hölle], Madrid 1969; Ion Cârja: Canalul morţii 1949–1954 [Der Kanal des Todes 1949–1954], New York 1974.
23 Siehe z. B. die Dokumente und Berichte auf der Website des Comitetul de Reprezentare a Victimelor Comunismului [Komitee der Vertretung der Opfer des Kommunismus]: www.procesulcomunismului.com/default.asp.htm, ges. am 22. August 2011 bzw. die des Institutul de Investigare a Crimelor Comunismului [Institut zur Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus]: crimelecomunismului.ro, ges. am 22. August 2011 oder die Fernsehserie (auch als Buch): Lucia Hossu-Longin: Memorialul durerii. O istorie care nu se învaţă la şcoală [Die Erinnerung des Leidens. Eine Geschichte, die in der Schule nicht gelehrt wird], Bukarest seit 1991.
24 Siehe Anneli Ute Gabanyi: Die unvollendete Revolution. Rumänien zwischen Diktatur und Demokratie, München 1990.
25 Siehe Lucian Boia: Romanian historiography after 1989, in: Österreichische Osthefte 44 (2002), H. 1/2, S. 499–505.
26 Gheorghiu-Dej: Articles et discours (Anm. 13), S. 371, auch für das folgende Zitat.
27 ANIC, fond CC al PCR – Cancelarie [Zentrales Historisches Nationalarchiv. Zentralkomitee der Rumänischen Kommunistischen Partei – Kanzlei], dosar nr. 53/1949, f. 5 und f. 6, zitiert nach:
Comisia Prezidenţială: Raport final (Anm. 15), S. 254.
28 Agerpres 3 (1952), H. 21, zitiert nach: Spulber: The Danube-Black Sea Canal (Anm. 10), S. 243.
29 Mihail Roller: Istoria R.P.R. Manual pentru învăţământul mediu [Geschichte der Volksrepublik
Rumänien. Lehrbuch für die Mittelstufe], o.O. 1952, S. 727, 743.
30 Dekret vom 13. Januar 1950, in: Organizarea şi functionarea Organelor Ministerului de Interne de la Înfiinţare pîna în prezent [Organisation und Funktion der Organe des Innenministeriums von der Entstehung bis heute], Bukarest 1978, S. 112, zitiert nach: Deletant: Communist terror (Anm. 16),
S. 211.
31 Cârja: Întoarcerea din infern (Anm. 22), S. 78.
32 Cristian Troncotă: Colonia de muncă [Arbeitskolonie], in: Arhivele Totalitarismului 1 (1993), H. 1,
S. 174, zitiert nach: Deletant: Communist terror (Anm. 16), S. 216.
33 Jowitt: Revolutionary breakthroughs (Anm. 15), S. 99 f.
34 Inaugurare – Magistrala albastră. Canalul Dunăre Marea Neagră – Epoca de Aur [Einweihung – die blaue Autobahn. Der Donau-Schwarzmeer-Kanal Das goldene Zeitalter], in: http://www.220.ro/documentare/Inaugurare-Magistrala-Albastra-Canalul-Dunare-Marea-Neagra-Epoca-De-Aur/e3w6oC4E6o/, ges. am 22. August 2011; Mihaela Grancea: The role of the historical film during Ceauşescu’s regime within
»The building of the socialist nation«, in: Sorin Mitu (Hg.): Re-searching the nation: The Romanian file, Cluj-Napoca 2008, S. 268–294.
35 Ceauşescu – Realizări grandioase [Ceauşescu – Grandiose Leistungen], in: www.youtube.com/watch, ges. am 22. August 2011.
36 Siehe Florin Constantiniu: De la Răutu şi Roller la Muşat şi Ardeleanu [Von Răutu und Roller zu Muşat und Ardeleanu], Bukarest 2007.
37 Iulian Cărţână/Ilie Seftiuc: Die Donau in der Geschichte des rumänischen Volkes, Bukarest 1980.
38 Ebd., S. 272 f., 289 (Zitat), 293.
39 Siehe Deletant: Ceauşescu and the Securitate (Anm. 4), S. 182, 192.
40 Siehe Victor Frunză: Istoria stalinismului în România [Die Geschichte des Stalinismus in Rumänien], Bukarest 1990, S. 394–399.
41 Vladimir Tismaneanu/Dan Pavel: Romania’s mystical revolutionaries: the generation of angst and adventure revisited, in: East European Politics and Societies 8 (1994), H. 3, S. 402–438.
42 Kenneth Jowitt: Inclusion and mobilization in European Leninist regimes, in: World Politics 28 (1975), H. 1, S. 69–96.
43 Siehe Daniel Ursprung: Herrschaftslegitimation zwischen Tradition und Innovation. Repräsentation und Inszenierung von Herrschaft in der rumänischen Geschichte in der Vormoderne und bei Ceauşescu, Heidelberg 2007, S. 203–226.
44 Siehe z. B. die TV-Serie: Asociaţia foştilor deţinuţi politici din România, Din documentele rezistenţei
[Aus den Dokumenten des Widerstands], Bukarest seit 1991; Gheorghe Boldur-Lăţescu: Genocidul comunist în România [Der kommunistische Genozid in Rumänien], Bukarest 1992.
45 Comisia Prezidenţială: Raport final (Anm. 15), S. 68.
46 Ebd., S. 628.
47 Siehe Lucian Boia: Miturile comunismului românesc [Die Mythen des rumänischen Kommunismus],
2 Bde., Bukarest 1997; Iordachi/Dobrincu (Hg.): Transforming peasants (Anm. 13).
48 Siehe dazu die Websites beider Institutionen: www.irir.ro und www.cnsas.ro, ges. am
22. August 2011.
49 Siehe Deletant: Communist terror (Anm. 16), S. vii.