JHK 2012

Die knorrigen Naturen eignen sich am besten für den Befreiungskampf. Kommunistische Debatten um den »neuen Menschen«

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 1-10 | Aufbau Verlag

Autor/in: Florian Grams

Der Begriff des »neuen Menschen« ist schillernd. Er strahlt, weil er viele Assoziationen hervorruft. In diesem Terminus schwingt sowohl die biblische Vorstellung von der Vereinigung des Menschen mit Gott mit,1 als auch die vermeintliche Erfüllung des menschlichen Glücks durch den technologischen Eingriff des Menschen in den Menschen.2 So unterschiedlich diese beiden Vorstellungen vom »neuen Menschen« auch sein mögen, so stimmen sie in ihrer Zielsetzung doch überein. Beiden liegt eine Heilslehre zugrunde, die der Vollendung harrt. Einen gänzlich anderen Gehalt erhält die Vorstellung vom »neuen Menschen« jedoch, wird sie als Kategorie zur Erklärung der historischen Bedingtheit menschlicher Möglichkeiten begriffen. In diesem Sinne argumentierte etwa Ernst Bloch, dass mit der Renaissance der Homo faber – der tätige Mensch, der sich seiner Arbeit nicht schämt – die Bühne der Welt betritt.3 Mit diesem Blick wird von jeder Teleologie Abstand genommen. Das Auftreten des »neuen Menschen« ist dort nicht Ziel, sondern der Hinweis auf eine Epochenschwelle.

In der Arbeiterbewegung waren immer alle drei genannten Vorstellungen vom »neuen Menschen« gegenwärtig. Zu Recht wies etwa Gottfried Küenzlen darauf hin, dass Ferdinand Lassalle mitunter als gottgleich verehrt wurde.4 In den ersten kommunistischen Organisationen fanden sich Verpflichtungen der Mitglieder, die sich an der Form des christlichen Katechismus orientierten,5 und auch im staatlich organisierten Sozialismus gab es eine Verehrung der Mächtigen, die an die Verehrung von Heiligen erinnerte.6 Gute Gründe, den Marxismus als »Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie«7 zu begreifen. Im Lichte der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erschien es Marxisten mitunter auch möglich, den kommunistischen Menschen mittels eugenischer Eingriffe zu schaffen.8 Zur Beantwortung der Frage, ob es ein kommunistisches Konzept des »neuen Menschen« gab, ist es jedoch notwendig, die verschiedenen Äußerungen von Kommunisten zum »neuen Menschen« darzustellen und im Zusammenhang mit ihren Entstehungsbedingungen zu diskutieren. Auf diese Weise soll ihre Relevanz für den marxistischen Diskurs überprüft werden.

In einem ersten Schritt rücken daher die Aussagen von Marx und Engels und Überlegungen aus der sozialistischen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg in den Blick, die den gemeinsamen Bezugspunkt aller späteren kommunistischen Überlegungen bilden. Einen Schwerpunkt dieser Arbeit bildet indes die Auseinandersetzung, die innerhalb der KPD geführt wurde. Diese wiederum ist nur vor dem Hintergrund der Erwägungen in der Sowjetunion zu verstehen. Eine Wiedergabe kommunistischer Debatten bliebe jedoch unzulässig begrenzt, übersähe sie die kritische Reflexion der Erfahrungen in der Sowjetunion durch Exponenten des sogenannten westlichen Marxismus. Antonio Gramsci war ein bedeutsamer Vertreter dieser Richtung. Deshalb werden schließlich seine Äußerungen zur Frage des »neuen Menschen« bewertet.

Der vorliegende Aufsatz folgt damit in erster Linie den in der marxistischen Arbeiterbewegung stattfindenden Debatten um Bildungspolitik und Eugenik. Die Auswahl der diskutierten Positionen ging dabei von der Überzeugung aus, dass die kommunistische Bewegung zu keinem Zeitpunkt ein monolithischer Block war, dessen Entwicklung ohne Alternative auf die Erscheinungsform des staatlich organisierten Sozialismus gerichtet gewesen ist.9 Besonderes Gewicht erhalten daher die Überlegungen der Theoretiker, die in kommunistischen Parteien wirksam waren, ohne sich jedoch durchsetzen zu können. Die Darstellung der Debatten folgt dabei stets der Chronologie der historischen Ereignisse und ist gleichzeitig bemüht, die jeweiligen Bezugnahmen und Widersprüche kenntlich zu machen.

Der »neue Mensch« im Werk von Karl Marx

Das Marx’sche Diktum vom Reich der Freiheit, das anbreche, wenn der Mensch nicht mehr gezwungen sein werde, seine Arbeitskraft zu verkaufen,10 ist so bekannt, wie seine Aussage, dass der Mensch im Kommunismus morgens jagen, mittags fischen und abends kritisieren werde, ohne Jäger, Fischer oder Kritiker zu sein.11 Auf den ersten Blick entsteht das Bild einer harmonischen Gesellschaft. Doch Marx verwahrte sich wiederholt gegen eine solche Lesart seiner Schriften und legte Wert darauf, dass die kommunistische Gesellschaft kein »Glückseligkeitsstall«12 werden würde, sondern geprägt sein werde von heftigen Auseinandersetzungen der assoziierten Produzenten um die Gestaltung des Zusammenlebens. Marx und Engels ließen die meisten Fragen nach der Gestaltung der kommunistischen Gesellschaft offen und konzentrierten sich stattdessen auf die Analyse und Kritik der bestehenden Gesellschaft. Gegenstand der Untersuchung und der politischen Tätigkeit konnte nur mehr sein, nach Wegen aus dem Kapitalismus zu suchen. Marx war überzeugt, dass nur das Proletariat aufgrund seiner ökonomischen Situation zum Totengräber der alten Gesellschaft werden könne.13 Einzig in diesem Zusammenhang benutzte Marx den Begriff des »neuen Menschen«, den er nicht in die Zukunft projizierte, sondern in den Arbeitern seiner Tage erkannte.14 Für Karl Marx war die Kategorie des »neuen Menschen« – wenn sie ihm überhaupt gegenwärtig war – Ausdruck für die Veränderung des Menschen aufgrund sich verändernder gesellschaftlicher Bedingungen und nicht eschatologische Perspektive. Die Interpretation, wie sie zum Beispiel von Karl Löwith vorgetragen wurde, dass Marx die Geschichte des christlichen Messianismus fortgeschrieben habe,15 entbehrt angesichts dieser Befunde jeglicher Grundlage.

Der »neue Mensch« als Bildungsziel

In der Sozialdemokratie nach Marx gab es keine nennenswerten Diskussionen um die Vorstellung eines neuen sozialistischen Menschen. Einigkeit bestand indes darin, dass Bildung eine starke Waffe im Kampf der Arbeiter um Emanzipation sei. Gestritten wurde allerdings um die Inhalte der Arbeiterbildung. Wilhelm Liebknecht etwa definierte Bildung in Anlehnung an das Bildungsideal des antiken Griechenlands und erklärte den damit verbundenen Kanon auch für die Arbeiterbewegung als verbindlich.16 Gleichzeitig warnte er jedoch davor, dass Bildungsbestrebungen allein um der Bildung wegen die Arbeiter vom notwendigen Klassenkampf abzulenken drohten.17 Deshalb verwundert es nicht, dass Liebknecht die Möglichkeit wahrer Bildung – im Sinne des klassischen Ideals der Aneignung des Schönen und Guten sowie der Entwicklung der Tugenden18 – für alle Menschen erst im Sozialismus erkennen konnte.19 Dessen ungeachtet setzte die SPD beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen auf eine behutsame Heranführung an sozialistisches Gedankengut bei gleichzeitiger Abschottung der jungen Menschen von den Kämpfen ihrer Umwelt.20 Gegen diese Praxis forderte Karl Liebknecht in einem Redebeitrag auf dem Leipziger Parteitag der SPD von 1909 die eindeutige Unterstützung der unabhängigen Arbeiterjugendbewegung durch die Partei und erklärte sie gleichsam zu einer Überlebensfrage für die Sozialdemokratie.21 Der Vergleich der Gleichgültigkeit vieler Sozialdemokraten gegenüber der politischen Tätigkeit der Arbeiterjugend22 mit der Forderung Karl Liebknechts verweist auf eklatante Unterschiede in den Vorstellungen vom Übergang in den Sozialismus. Setzten weite Teile des SPD-Vorstands auf den »Kladderadatsch« des Kapitalismus, nach dem die Arbeiterbewegung die Staatsmacht übernehmen und friedlich in die neue Ordnung würde überführen können,23 gingen die linken Sozialdemokraten von der Notwendigkeit eines revolutionären Kampfes aus.24 An dieser Stelle vollzog sich der politische Bruch in der Arbeiterbewegung, der sich auch in graduell verschiedenen Menschenbildern und pädagogischen Konzepten manifestierte.

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine weit verbreitete Auffassung, dass allein die Jugend noch in der Lage sei, die Gesellschaft neu zu gestalten.25 Auch in der 1918 gegründeten KPD fand diese Meinung Zustimmung. So legte Edwin Hoernle, der später als der führende Pädagoge der KPD galt, eine Schrift unter dem Titel Sozialistische Jugenderziehung und sozialistische Jugendbewegung vor, in der er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass der KPD, so lange sie vorwärtstreibend und revolutionär bliebe, die Unterstützung der revolutionären Jugend sicher sei.26 Mit dieser Aussage setzte Hoernle Jugend mit Fortschritt gleich. Die Pädagogik, die Edwin Hoernle in der Folge entwickelte, gipfelte in dem Credo, dass kommunistische Erziehung in erster Linie Jugendbewegung zu sein habe, die mehr und mehr zur Selbsterziehung der Kinder durch die Kinder werden müsse.27 Zu diesem Zweck plädierte er für eine Einbindung der Mitglieder der kommunistischen Kindergruppen in die Klassenkämpfe und forderte die Kinder auf, den militaristischen Unterrichtsinhalten an den Schulen aktiv entgegenzutreten.28 Für ihn waren die kommunistischen Kindergruppen die »Energiezentralen« der Kinder, in denen sie Solidarität und Klassenbewusstsein lernen sollten.29 In deutlicher Abgrenzung zu möglichen Vorstellungen von einer Umgestaltung des Menschen formulierte er sein Erziehungsziel: »Nicht harmonische Idealmenschen mit ›schönem Innenleben‹ müssen wir heute erziehen, sondern knorrige Klassenkämpfer, Proleten, die Solidarität zu üben und sich zu wehren wissen.«30 Laut Hoernle darf es kommunistischer Erziehung – zumal unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen – also nicht darum gehen, einen »neuen Menschen« zu schaffen, sondern die künftigen Klassenkämpfer heranzubilden.

Für die Zeit nach der proletarischen Revolution entwarf Edwin Hoernle freilich ein anderes Bild von Erziehung. Im Anschluss an die Debatten in der KPD um die Zukunft der Familie ging er davon aus, dass sich das Zusammenleben der Menschen im Sozialismus grundsätzlich neu gestalten würde. Im sozialistischen Großheim würden Leben, Arbeit und Lernen unter einem Dach stattfinden, und die Eltern würden die Kinder gemeinsam erziehen.31 Die Schulen im Sozialismus sollten – so Hoernle – nach dem Vorbild der Räteverfassung gestaltet sein. Schüler, Eltern und Lehrkräfte sollten gleichberechtigt an der Entwicklung des Lehrbetriebs beteiligt sein.32 Hoernle wusste mithin auch um die Konflikte, die das Leben in der nachrevolutionären Epoche prägen und daher die Struktur der Räte als Interessenvertretung notwendig machen würden. Auch an dieser Stelle ging es ihm demnach um die Stärkung des Individuums für die Teilhabe am sozialistischen Gemeinwesen. Unterstützt wird diese Interpretation der pädagogischen Schriften Hoernles durch sein Verständnis von der Aufgabe der Bildung in den Gliederungen der Kommunistischen Partei. Sie sollte laut Hoernle darauf zielen, die Parteimitglieder zu eigenständigem Handeln zu befähigen, um sie gegen die politischen Schwankungen der Funktionäre zu immunisieren.33 Insoweit widersprach Hoernles Auffassung von Arbeiterbildung z. B. der Auffassung Clara Zetkins, die ihrer Partei die Aufgabe stellte, eine Kerntruppe klassenbewusster Kommunisten zu erziehen, die die Grundlinien der Politik bestimmen sollten.34

Dem emanzipatorischen Anspruch Hoernles hielt Zetkin ein Bildungsverständnis entgegen, das nicht in erster Linie auf die Selbstbildung der Arbeiter, sondern auf eine Erziehung der Arbeiterklasse zu einem bereits festgelegten Ziel setzte. Obgleich sich der emanzipatorische Anspruch der Selbstbildung der Arbeiter in den kommunistischen Parteien nie verlor, ist doch festzuhalten, dass sich zumindest in der Schulungspraxis der Parteien mehr und mehr das Konzept der Aufklärung »von oben« Bahn brach,35 was die Emanzipation der organisierten Arbeiterklasse in erheblichem Maße lähmte.36

So verheerend die um sich greifende Instrumentalisierung der organisierten Arbeiter für die Handlungsfähigkeit der Arbeiterbewegung war, so wenig wird man den Umstand verschweigen dürfen, dass beide hier dargestellten Bildungskonzeptionen sich in ihrer Orientierung am Bildungsziel der »vollseitig entwickelten Persönlichkeit« glichen.37 In dieser erstmals von Marx formulierten Bildungsperspektive scheint die Vorstellung der Bildung von »Kopf, Herz und Hand« durch, wie sie von Pestalozzi als pädagogische Verbindung von kognitivem und sozialem Lernen mit der Einbindung der Kinder in idealerweise industrielle Arbeitsabläufe entworfen worden war.38 Von daher kann man – mit Wolfgang Klafki – in der marxistischen Vorstellung einer polytechnischen Bildung und Erziehung der Menschen zu vollseitig entwickelten Persönlichkeiten die produktive »Fortbildung von Denkmotiven der klassischen Bildungstheorie« erkennen.39 Will man der marxistischen Arbeiterbewegung somit auf dem Feld der Bildung und Erziehung den Vorwurf des unbilligen Wunsches nach der Schaffung eines »neuen Menschen« machen, dann wird man denselben Vorwurf auch den Bildungstheoretikern der deutschen Aufklärung machen müssen. Es finden sich also keine belastenden Belege für ein dem Marxismus immanentes Konzept des »neuen Menschen«. Dennoch bleibt zu fragen, wie die nicht zu leugnende Degeneration des emanzipatorischen Anspruchs der sozialistischen Arbeiterbildung in den Organisationen der Arbeiterbewegung zu erklären ist.

Sozialistische Eugenik

Deutlicher als in den formulierten Bildungszielen von Organisationen lässt sich die Vision eines »neuen Menschen« auf dem Gebiet der technischen Realisation eines Menschen mit erwünschten Eigenschaften ausmachen. Die Disziplin, die sich dieses Ziel gesetzt hat, ist die Eugenik. Gab es also in kommunistischen Organisationen Überlegungen, den »neuen Menschen« auf diesem technokratischen Weg herzustellen? Es ist unbestritten, dass es in der sozialistischen Bewegung Sympathien für den Versuch gab, die Merkmale von Menschen über die Selektion im Mutterleib zu beeinflussen. Fraglich ist allein, inwieweit die Zustimmung oder Ablehnung eugenischer Maßnahmen auf eine bestimmte politische Überzeugung zurückzuführen ist. In diesem Sinne argumentiert die Historikerin Kristine von Soden in ihrer Dissertation über die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik. Sie konnte die Zustimmung zu eugenischen Positionen neben bürgerlichen Wissenschaftlern nur bei Sozialdemokraten des reformistischen Flügels der Partei erkennen. Revolutionäre Sozialdemokraten und Kommunisten in Deutschland hingegen hätten, so Kristine von Soden, eugenische Maßnahmen stets abgelehnt.40 Entgegen dieser Argumentation führt Michael Schwartz an, dass auch Kommunisten in der Weimarer Republik eugenische Maßnahmen befürwortet hätten.41 Zur Klärung dieses Dissenses kann ein Aufsatz, den der Kommunist Max Levien im Jahre 1928 in der in Moskau publizierten Zeitschrift Unter dem Banner des Marxismus veröffentlicht hat, herangezogen werden. Auf der einen Seite geht Levien darin davon aus, dass eugenische Maßnahmen im Sozialismus eine vermeintliche Verbesserung der Menschen herbeiführen könnten. Auf der anderen Seite verwirft er die Eugenik unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen als »ein Instrument zur Aufrechterhaltung von Klassenprivilegien und zur Verteidigung nationaler Unterdrückung«.42 Die von Kristine von Soden behauptete Dichotomie von Reformisten, die eugenische Sozialtechnologien befürworteten, gegenüber revolutionären Sozialisten, die diese ablehnten, ist angesichts dessen in dieser Form sicher nicht aufrechtzuerhalten. Dabei kann aber der Unterschied nicht übersehen werden, dass die einen eugenischen Maßnahmen a priori zustimmten, die anderen ihre Umsetzung von bestimmten sozioökonomischen Bedingungen abhängig machten. Die Konzentration auf diesen Umstand könnte den Blick für einen möglichen Zusammenhang zwischen der Orientierung auf die Eroberung politischer Macht und die Akzeptanz von Sozialtechnologien schärfen. Sollte sich ein solcher Zusammenhang belegen lassen, wäre der Traum vom »neuen Menschen« nicht dem revolutionären Marxismus zu unterstellen, sondern der Sicherung des Machtanspruchs eines staatlichen Apparats. Als Indiz für diese These können die eugenischen Debatten in der jungen Sowjetunion dienen.

Folgt man der Darstellung des Historikers Loren Graham, dann gibt es für die Jahre zwischen 1921 und 1930 Hinweise auf eine sowjetische Eugenik, die sich in den Jahren von 1921 bis 1925 entlang der internationalen Diskussionslinien entwickelte. Erst nach 1925 habe es Versuche gegeben, eine originär sozialistische Eugenik zu gestalten. Diese Bestrebungen seien jedoch auf wachsenden Widerstand gestoßen, und nach 1930 habe sich in der sowjetischen Genetik der von dem Biologen und Agronomen Lyssenko geprägte Neolamarckismus durchgesetzt.43 Zudem wurden die Forschungen der auf der Grundlage der Eugenik arbeitenden Genetiker in der Sowjetunion zu keinem Zeitpunkt intensiv gefördert.44 Für eine aktive Eugenik in der Sowjetunion lassen sich auf der Grundlage dieser Fakten also keine Belege finden. Im Kontrast zur Marx’schen Überzeugung, das Wesen des Menschen sei »das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«,45 ging man vielmehr davon aus, dass es einen zwingenden Zusammenhang zwischen der Durchsetzung sozialistischer Produktionsverhältnisse und der Entwicklung von sozialistischen Persönlichkeiten gäbe.46 Nicht zuletzt auf diesem Wege wurde in der Stalin’schen Sowjetunion der revolutionäre Elan der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution lahmgelegt, denn wo ein blinder Automatismus waltet, ist keine Aktivität und keine Teilhabe der betroffenen Menschen notwendig. Diesen Umstand erkennend, argumentierte bereits Walter Benjamin, als er in seinem Moskauer Tagebuch von 1926 die Beobachtung festhielt, die sowjetische Politik setze darauf, nach innen die Dynamik der Revolution im Staat abzustellen und nach außen die Politik des Klassenfriedens zu betreiben, um ihre Position durch Handelsverträge zu sichern. Letztlich sei die Sowjetunion, »ob man will oder nicht, in die Restauration eingetreten«.47 In dieser Situation konnten auch in einem von einer kommunistischen Partei regierten Staat Träume von einer leidensfreien Gesellschaft entstehen,48 wie sie unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen wirksam waren.49

Westlicher Marxismus

Der Blick auf die Diskussionen, die dem marxistischen Erbe unabhängig von staatlicher Macht verpflichtet blieben, macht deutlich, dass in ihnen die Wertschätzung jedes Individuums lebendig blieb, dessen Freiheit für Marx die Bedingung für die Freiheit aller darstellte.50 Zu nennen ist hier insbesondere Antonio Gramsci, in dessen Werk der »neue Mensch« durchaus präsent war, wenngleich er ihn ausschließlich negativ – als Ergebnis der fordistischen Produktionsweise – definierte. Diese neue Form der Produktion habe, so Gramsci, dazu geführt, dass sich die Lohnabhängigen sowohl biologisch als auch psychisch an die neue Form der industriellen Produktion anzupassen hätten.51 Das Ziel dieser Umgestaltung des Menschen sei der dressierte Gorilla, der der ökonomischen Verwertung stets und widerspruchsfrei zur Verfügung stünde.52 Seiner eigenen Partei stellte der Kommunist Gramsci hingegen die Aufgabe, Menschen zu erziehen, die sich nicht von Moden oder Befehlen leiten ließen. Letztlich ginge es darum, dafür zu sorgen, dass es keine Führer und Geführten mehr gebe.53 Die so formulierte Vision kann dabei in keiner Weise als Schablone für eine Konditionierung von Menschen dienen, sondern stellt vielmehr hohe Anforderungen an die Fähigkeit eines sozialistischen Gemeinwesens, die Partizipation seiner Mitglieder zu ermöglichen und zu ertragen.

Fazit

Dass Gramscis Ansatz nicht nur als Ergebnis einer marginalen Debatte in der kommunistischen Bewegung zu betrachten ist, sondern bereits im Werk von Marx, Engels und Lenin angelegt war, wird angesichts der Äußerung Lenins, der Marxismus orientiere sich am Wirklichen und nicht am Möglichen,54 ebenso klar, wie an der Feststellung Friedrich Engels, die Menschen in nachkapitalistischen Gesellschaften würden sich um die Vorstellungen ihrer Vorfahren wohl kaum mehr scheren.55 Besonderes Gewicht erhält in diesem Zusammenhang die von Lenin geführte Kritik am bürgerlichen Recht, das auf alle Menschen die gleichen Gesetze anwende: »Indes sind die einzelnen Menschen nicht gleich.«56 Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass der Traum von der Gleichschaltung der Menschen zum Ideenhorizont des Kommunismus gehörte. Er war vielmehr das Ergebnis staatlicher Machtpolitik, die notwendigerweise jeden emanzipatorischen Gehalt ihrer Legitimationsideologie stilllegen musste.57 Gleichzeitig gab es aber immer auch »knorrige Naturen«,58 die sich auf Marx beriefen und die gerade deshalb in ihren Parteien in Misskredit gerieten.


1 Siehe 2 Kor 5, 17.

2 Siehe Ursula Ferdinand: Der »faustische Pakt« in der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869–1931), 
in: Regina Wecker u. a. (Hg.): Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert, Wien 2009, S. 173–185, hier S. 184.

3 Siehe Ernst Bloch: Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte. Aus Leipziger Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 175.

4 Siehe Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994, S. 81.

5 Siehe Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus, in: Marx Engels Werke (im Folgenden: MEW), Bd. 4, 13. Aufl. Berlin/DDR 1979, S. 361–380.

6 Siehe Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch, Frankfurt/M. 1980, S. 123.

7 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichts-
philosophie, Stuttgart 2004, S. 54.

8 Siehe Küenzlen: Der Neue Mensch (Anm. 4), S. 152.

9 Siehe Theodor Bergmann: »Gegen den Strom« – Die Geschichte der KPD(Opposition), 2. Aufl. Hamburg 2001, S. 9.

10 Siehe Karl Marx: Das Kapital, in: MEW Bd. 25, S. 828.

11 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW Bd. 3, S. 9–530, hier S. 33.

12 Brief von Marx an Engels vom 6. Mai 1854, in: MEW Bd. 28, S. 357 f., hier S. 357.

13 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 459–493, hier S. 474.

14 Siehe Karl Marx: Die Revolution von 1848 und das Proletariat, in: David Rjazanow (Hg.): Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär, Frankfurt/M. 1971, S. 44 f., hier S. 45.

15 Siehe Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Anm. 7), S. 61.

16 Siehe Karl Liebknecht: Wissen ist Macht – Macht ist Wissen. Festrede gehalten zum Stiftungsfest des Dresdener Arbeiter-Bildungs-Verein am 5. Februar 1872, Zürich 1888, S. 38.

17 Siehe ebd., S. 43.

18 Siehe ebd., S. 38.

19 Siehe ebd., S. 44.

20 Siehe Gottfried Mergner: Arbeiterbewegung und Intelligenz, Starnberg 1973, S. 34.

21 Siehe Karl Liebknecht: Reden auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1909, 
in: ders.: Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, Berlin/DDR 1952, S. 152–160, hier S. 156.

22 Siehe Brief Hoernles an Seidel vom 29. Mai 1912, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisa-
tionen der DDR im Bundesarchiv, NY 4030/2, Bl. 2f.

23 Siehe Rosa Luxemburg: Die Theorie und die Praxis, in: dies.: Gesammelte Werke Bd. 2, 5. Aufl. Berlin/DDR 1990, S. 378–420, hier S. 410.

24 Siehe Lenin: Zur Revision des Parteiprogramms, in: Lenin Werke (im Folgenden: LW) Bd. 26, 4. Aufl. Berlin/DDR 1974, S. 135–165, hier S. 158.

25 Siehe Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler: Vorwort, in: dies. (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt/M. 1985, S. 9–13, hier S. 11.

26 Siehe Edwin Hoernle: Sozialistische Jugenderziehung und sozialistische Jugendbewegung, Berlin 1919, S. 26.

27 Siehe ebd., S. 5.

28 Siehe Edwin Hoernle: Grundfragen proletarischer Erziehung, Frankfurt/M. 1973, S. 109.

29 Siehe Edwin Hoernle: Die Arbeit in den kommunistischen Kindergruppen (1923), in: ders.: Grundfragen (Anm. 28), S. 153–237, hier S. 179.

30 Edwin Hoernle: Erziehung zum Klassenkampf, in: Das Proletarische Kind Nr. 6, Juni 1922, S. 1–7, 
hier S. 3.

31 Siehe Hoernle: Grundfragen (Anm. 28), S. 47 f.

32 Siehe Edwin Hoernle: Vorwort zu »Die kommunistische Schule – Schulprogramm der Freien Sozialistischen Jugend Deutschlands (Entwurf)«, Berlin 1919, S. 9.

33 Siehe Edwin Hoernle: Bericht zur Arbeit der Bildungskommission, in: Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale. Petrograd-Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922, 2. Bd., Hamburg 1923, S. 758–765, hier S. 761.

34 Siehe Clara Zetkin: Der IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, in: Die Kommunistische Fraueninternationale November/Dezember 1922, S. 717–730, hier S. 723.

35 Siehe Projekt Ideologie-Theorie: Theorien über Ideologie, Berlin (West) 1979, S. 38.

36 Siehe Carsten Krinn: Zwischen Emanzipation und Edukationismus. Anspruch und Wirklichkeit der Schulungsarbeit der Weimarer KPD, Essen 2007, S. 526. Peter Weiß meinte in diesem Umstand gar einen Grund für die Niederlage der Arbeiterbewegung gegen den Faschismus erkennen zu können. Siehe hierzu Jörg Wollenberg: Pergamonaltar und Arbeiterbildung. »Linie Luxemburg-Gramsci – Voraussetzung: Aufklärung der historischen Fehler« (Peter Weiß), Hamburg 2005, S. 21.

37 Siehe Karl Marx: Das Kapital, in: MEW Bd. 23, S. 508.

38 Siehe Heinrich Pestalozzi: Pestalozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, Zürich 1944, S. 1–46, hier S. 37.

39 Wolfgang Klafki: Die Bedeutung der klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung, in: ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 5. Aufl. Weinheim 1996, S. 15–41, hier S. 36.

40 Siehe Kristine von Soden: Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik 1919–1933, Berlin 1988, S. 31 f.

41 Siehe Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890–1933, Bonn 1995, S. 21.

42 Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassen-
hygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 112.

43 Siehe Loren R. Graham: Science and Values. The Eugenics Movement in Germany and Russia in the 1920s, in: The American Historical Review 82 (Dezember 1977), Heft 5, S. 1133–1164, hier S. 1145.

44 Siehe ebd., S. 1149.

45 Siehe Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, S. 1–7, hier S. 6.

46 Siehe Johann-Peter Regelmann: Die Geschichte des Lyssenkoismus, Frankfurt/M. 1980, S. 334.

47 Benjamin: Moskauer Tagebuch (Anm. 6), S. 79.

48 Siehe Küenzlen: Der Neue Mensch (Anm. 4), S. 152.

49 Siehe Raoul H. Francé: Phoebus. Ein Rückblick auf das glückliche Deutschland im Jahre 1980, München 1927, S. 67.

50 Siehe Marx/Engels: Manifest (Anm. 13), S. 482.

51 Siehe Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Hamburg 1999, S. 2073.

52 Siehe ebd., S. 1499 f.

53 Siehe ebd., S. 1714.

54 Siehe Lenin: Brief an Inès Armand vom 25. Dezember 1916, in: LW Bd. 35, S. 240–243, hier S. 243.

55 Siehe Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: MEW 21, S. 25–173, hier S. 83.

56 Lenin: Staat und Revolution, in: LW Bd. 25, S. 393–507, hier S. 480.

57 Siehe Hans Kalt: In Stalins langem Schatten – Zur Geschichte der Sowjetunion und zum Scheitern des sowjetischen Modells, 2. Aufl. Köln 2010, S. 44.

58 Hoernle: Sozialistische Jugenderziehung (Anm. 26), S. 11.

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