»Der neue Mensch« werde es lernen, »Flüsse und Berge zu versetzen und Volkspaläste auf dem Gipfel des Montblanc oder auf dem Meeresgrund des Atlantischen Ozeans zu bauen«, mutmaßte Trockij 1923, fünf Jahre nach der russischen Oktoberrevolution. Mit dieser Umwälzung schien »die ganze Phantasiewelt des 19. Jahrhunderts: Technikphantasien, Gerechtigkeitsphantasien, urbane und anti-urbane Visionen, Maschinenfetischismus und Maschinenstürmerei, rationalistische Träume und bürokratische Regulierungsphantasien« geradezu explodiert, so Karl Schlögel. Nach dem europäischen Gewaltexzess des Ersten Weltkriegs waren die kommunistischen Utopien, die bis in die Antike zurückreichten, in greifbare Nähe gerückt. In der Oktoberrevolution in Russland sahen viele radikale Sozialisten den Auftakt zur unmittelbar bevorstehenden Weltrevolution, die Möglichkeit zur konsequenten Selbstbefreiung der Arbeiter von Ausbeutung und Knechtschaft. Alles schien erreichbar, wenn nicht heute, so morgen. Die Sowjetunion der ersten Jahrzehnte, aber auch die weltweite kommunistische Bewegung verknüpften eine schier grenzenlose Wissenschafts- und Technikgläubigkeit mit totalitärem Gestaltungswillen. Gemäß Lenins Diktum »Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung« sollte das rückständige, agrarisch geprägte Russland in kürzester Frist und notfalls mit Gewalt in die industrielle Moderne katapultiert werden.
Entsprechend vielfältig gestalteten sich die Verfahren, um die »neuen Menschen«, die Erbauer des Kommunismus, Eroberer des Weltraums oder gar Vollender der Schöpfung zu schaffen, mit denen dieses Ziel verwirklicht werden sollte: Konditionierung, Psychophysik, Eugenik, Anthropotechnik und andere scheinbar moderne Maßnahmen eines »sozialen Ingenieurstums« paarten sich dabei rasch mit atavistischen Vernichtungsvorstellungen. Im »wahnhaften, utopischen Ziel einer Säuberung und Homogenisierung der Gesellschaft nach politischen, sozialen oder rassistischen Kriterien« bestand, so Gerd Koenen, die »Singularität« gleichermaßen des Stalinismus wie des Nationalsozialismus, die sich in ihrer Parallelität – nicht Identität! – von allen anderen bis dahin bekannten Regimen und Gesellschaftsformationen der menschlichen Geschichte abgehoben hätten.
Die Ausgabe 2012 des Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung konzentriert sich auf die sich wandelnden Konzepte eines »neuen Menschen«, die die kommunistischen Parteien, ihre Führer und Vordenker im Laufe der Zeit formuliert haben. Die Beiträge machen dabei deutlich, dass Gewalt und Terror die wesentlichen Instrumente waren, um Mensch und Gesellschaft im Sinne der kommunistischen Herrscher und Ideologen zu formen.
Florian Grams rekapituliert in seinem Beitrag die Debatten über den »neuen Menschen« von Marx bis Gramsci, während Anne Hartmann, Wladislaw Hedeler, Robert Kindler, Olaf Mertelsmann, Aigi Rahi-Tamm und Wim van Meurs in Fallstudien aufzeigen, mit welcher Härte und Unerbittlichkeit die »neuen Menschen« in den sowjetischen Lagern, bei der Sesshaftmachung kasachischer Nomaden, bei der Umgestaltung der estnischen Gesellschaft oder auf der rumänischen Großbaustelle des Donau-Schwarzmeer-Kanals geformt werden sollten. Konzeptionelle Debatten in Italien und China nach 1945 präsentieren Claudia Christiane Gatzka und Hauke Neddermann. Evelyna Schmidt untersucht den Gebrauch von Krankheitsbildern in den Texten von fünf polnischen Autoren, um so literarisch-subtile Kritik am kommunistischen Menschenbild herauszuarbeiten. Drei Beiträge richten ihr Augenmerk auf die DDR. Katrin Löffler zeichnet den Diskurs über den »neuen Menschen« in Heiner Müllers Schauspiel Die Umsiedlerin nach. Ulrike Breitsprecher arbeitet anhand verschiedener Jugendweihebücher und Teilnahmehefte die sich wandelnden Zukunftsvisionen der DDR-Führung heraus. Das in der kommunistischen Bewegung der Weimarer Republik wurzelnde Jugendverständnis der SED-Führungsriege um Erich Honecker, das mit dem jugendlichen Selbstverständnis in der DDR in den Siebziger- und Achtzigerjahren nicht mehr kompatibel war, beschreibt Jan Kiepe.
Wie alle vorherigen Ausgaben präsentiert auch das Jahrbuch 2012 Beiträge, die nicht unmittelbar mit dem Themenschwerpunkt in Zusammenhang stehen. Der Versuch westeuropä-
ischer Kommunisten, in den Siebzigerjahren das Konzept des Eurokommunismus zu entwickeln und dem sowjetischen Vormachtanspruch entgegenzustellen, ist Thema der Beiträge von Nikolas R. Dörr, Francesco Di Palma und Ralf Hoffrogge. Karl-Heinz Schwarz-Pichs Studie zur kommunistischen Widerstandsgruppe um Georg Lechleiter beschreibt deren Aktivitäten um 1941/42 in Mannheim. Ulrike Huhn widmet sich in ihrem Artikel dem weithin unbekannten Phänomen der Massenwallfahrten in der Sowjetunion in der Zeit Stalins und Chruščëvs. In der Rubrik »Forum« stellt sich Claudia Weber der Frage, ob eine europäische Erinnerungskultur möglich ist. Daneben setzt sich der Begründer des Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung, Hermann Weber, in dieser Rubrik – vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise – mit dem neuen Interesse an kommunistischen Abweichler-Meinungen auseinander, das seit einiger Zeit auch auf dem Buchmarkt zu erkennen ist. Außerdem finden sich wie gewohnt zwei Sammelrezensionen sowie der von Bernhard H. Bayerlein betreute International Newsletter of Communist Studies im aktuellen Jahrbuch.
Abschließend sei besonders auf die Studie »Mielke contra Hoffmann« von Siegfried Suckut verwiesen, der auf der Grundlage bisher unbekannter Quellen dokumentiert, wie die Stasi in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ebenso beharrlich wie vergeblich versuchte, den DDR-Verteidigungsminister und SED-Spitzenfunktionär Heinz Hoffmann abzusetzen. Diese Fallstudie beleuchtet auf beispielhafte Weise das Verhältnis zwischen der SED und ihrem Schild und Schwert, dem MfS.
Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren für deren Beiträge und den internationalen Beiräten des Jahrbuchs für deren Expertise. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ermöglicht die redaktionelle Betreuung des Jahrbuchs, die auch 2011/2012 von Birte Meyer kompetent übernommen wurde. Dank der Projektförderung durch die Mannheimer Hermann-Weber-Stiftung, die Berliner Gerda-und-Hermann-Weber-Stiftung sowie mit der Unterstützung des Bundessprachenamts konnten umfängliche Übersetzungsarbeiten erfolgen sowie Bildrechte erworben werden. Allen Förderern und Unterstützern sei hier mit Nachdruck gedankt! Dieser Dank schließt auch Maria Matschuk vom Aufbau Verlag ein, die dem Jahrbuch stets ihr besonderes Augenmerk schenkt.
Die Herausgeber hoffen, dass das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2012 wieder viele aufmerksame Leserinnen und Leser findet. Im Mittelpunkt der Ausgabe 2013 werden die »langen Linien« in der Geschichte des Kommunismus stehen. Sie soll auf das europäische Jahr der Zeitgeschichte 2014 vorbereiten, in dem sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal, der Überfall des Deutschen Reichs auf Polen zum 75. Mal und die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 zum 25. Mal jähren werden. Der Band 2014 wird der Frage gewidmet, wie der Kommunismus ein Vierteljahrhundert nach der Überwindung seiner diktatorischen Regime in Europa erinnert wird. Die Herausgeber und die Redaktion freuen sich auf interessante Beitragsangebote.
Berlin im Februar 2012 Die Herausgeber