Die Gleichzeitigkeit von Utopie und Zwang in der (frühen) Sowjetzeit ist vielfach beschrieben worden: als Gestaltungswille mit totalitären Zügen, als Verheißung, der ungeheure Opfer zu bringen waren, als Projekt einer homogenen, harmonischen Gesellschaft, welches das erbarmungslose Ausmerzen des Störenden und Abweichenden erforderte. Nirgends sonst wird die Koexistenz, ja das Ineinander von Terror und Vision indes so manifest wie in der sowjetischen Strafpraxis – nur dass die Forschung angesichts der dunklen Seite von Repression und Gewalt bislang kaum einen Blick hatte für deren pädagogischen Traum. Das sowjetische Lagerwesen wurde zumeist mit Zwangsarbeit, Hunger, Willkür gleichgesetzt, d. h. als System extremer Grausamkeit wahrgenommen, für das durch Aleksandr Solženicyns monumentale Studie der Begriff Gulag zum Signum wurde.
Entsprechend wurden Texte von Schriftstellern, die sich anerkennend über Orte und Maßnahmen des Strafvollzugs äußerten, als bloße Propaganda oder – schlimmer noch – als zynisch und menschenverachtend abgetan. Intellektuelle hätten sich damals »buchstäblich prostituiert«, kommentierte Stéphane Courtois Gor’kijs »›Exkursion‹ auf die Solowki-Inseln« 1929 und seine Reiseskizze über das dortige Straflager.1 Maksim Gor’kij, so auch Andreas Guski, habe das »sacrificium intellectus der literarischen Intelligencija in der Epoche des Stalinismus« vorexerziert.2 Berühmt-berüchtigt wurde dann vor allem das literarische Kollektivwerk über den von Zwangsarbeitern gebauten Weißmeer-Ostseekanal (Belomorkanal), das 1934 ebenfalls von Gor’kij in Zusammenarbeit mit Leopol’d Averbach und Lagerleiter Semen Firin herausgegeben wurde. Das Unternehmen war allein schon aufgrund seiner Dimensionen einzigartig: Eine Brigade aus 120 Schriftstellern wurde im August 1933 an den Kanal entsandt; an der wenige Monate später veröffentlichten Erfolgschronik Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal. Die Geschichte seiner Erbauung (Belomorsko-Baltijskij Kanal imeni Stalina. Istorija stroitel’stva) wirkten 36 Autoren mit. Aber auch Inhalt und Impetus des literarischen Werks waren singulär, ging es doch weniger um die Entstehung des Kanals als um die Entstehung eines neuen Bewusstseins bei seinen Erbauern, die Umwandlung von »Feinden der Gesellschaft« in »Helden der Arbeit«.3 Dass ausgerechnet Tschekisten, Mitarbeiter des Geheimdienstes OGPU, als Urheber dieser Transformation gewürdigt wurden, machte das Buch zum Skandal. Solženicyn gab die Wertung vor: Für ihn war es ein schändliches Werk, in dem »zum ersten Mal in der russischen Literatur der Sklavenarbeit Ruhm gesungen« wurde.4 Diese Einschätzung wurde vielfach reproduziert.5
Im Folgenden geht es keineswegs darum, das Buch über den Belomorkanal und ähnliche Werke zu »retten« oder ihre Autoren zu verteidigen. Vielmehr soll nach den Gründen gefragt werden, die Gor’kij und die Mitverfasser des Kollektivwerks zu ihrer Apologie der Zwangsarbeit bewogen haben. Dafür ist neben der Spur der Gewalt die verschüttete Spur einer pädagogischen Vision freizulegen, die – wie auch immer deformiert – die Lagerwelt und ihre Literarisierung damals ebenfalls prägten: Ihr Fixpunkt war die »Besserung« oder »Umerziehung« der Delinquenten, ein Konzept, das im Begriff der perekovka, des Umschmiedens, seinen sinnfälligsten Ausdruck fand. Um nachvollziehbar zu machen, welche Faszination von dieser Idee – gerade für Intellektuelle – ausging, bedarf es einer Rekonstruktion der verschiedenen Kontexte, in denen sie entstand und sich entfaltete. Die persönlichen Motive der Autoren sind in diesem Zusammenhang weniger von Belang als jene zeittypischen Denkmuster und Einstellungen – zur Kriminalität, zu Disziplin und Arbeit, zur Autorschaft –, die dazu führten, dass das Belbaltlag am Ostsee-Weißmeer-Kanal und seine Akteure zum Vorzeigeprojekt für das In- und Ausland avancierten, während das Buch über den Kanal seinerseits als »Enzyklopädie der Sowjetwelt während des Zeitabschnitts der ›großen Wende‹ in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre« gelten kann.6
Terror und Strafpädagogik – zwei Linien
Nach der Oktoberrevolution etablierte sich neben dem Terror als Herrschaftsinstrument auch eine Strafpädagogik mit bemerkenswert progressiven Konzepten. Sie ist indes kaum in Erinnerung geblieben, da Repression und Gewalt, das unerbittliche Vorgehen der Bolschewiki gegen ideologisch andersdenkende Gruppen und reale wie potenzielle Feinde wesentlich nachhaltiger das politische Leben, auch das kulturelle Gedächtnis, prägten. Mit der VČK (im Folgenden: Tscheka), der Allrussischen Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage, schuf Lenin bereits im Dezember 1917 eine schlagkräftige Organisation, um seine Gegner aufzuspüren und auszuschalten.7 Der »Beschluss des Rates der Volkskommissare über den Roten Terror« (September 1918) legitimierte Hinrichtungen, Massenterror und Internierung. Im Verbund mit dem Volkskommissariat des Innern (NKVD) – Feliks Dzeržinskij leitete in Personalunion die Tscheka und (bis 1923) das NKVD – operierte die Tscheka auch in Bezug auf die Maßgabe, »Klassenfeinde« in »Konzentrationslagern« außerhalb der Städte zu isolieren, überaus erfolgreich. Das Lagersystem expandierte rasch: Existierten Ende November 1919 in der Russischen Sowjetrepublik 21 Lager verschiedenen Typs, so waren es zwei Jahre später bereits 122.8 Die Insassen mussten oftmals Zwangsarbeit (prinuditel’nyj trud) verrichten, die Lenin schon 1917 als Sanktionsmöglichkeit gegen »sozial-gefährliche Elemente« vorgeschlagen hatte. Sie schien geeignet, »um den Widerstand der ›Ausbeuterklassen‹ zu brechen, sie zur Zusammenarbeit mit dem Sowjetsystem zu zwingen, zu erniedrigen und zu bestrafen«.9
Während man den »Klassenfeinden« mit aller Härte begegnete, setzten die Behörden bei gewöhnlichen Kriminellen, insbesondere proletarischer Herkunft, auf Besserung und Umerziehung. Angestrebt war sogar eine vollständige Umerziehung der Häftlinge, um zukünftig ganz auf Gefängnisse verzichten zu können. Anders als im Westen sollte es bei den Strafen weder um Rache und Vergeltung noch um Leiden und Erniedrigung gehen, sondern ausschließlich um Resozialisierung. Begriffe wie »Schuld« und »Sühne« verschwanden aus dem offiziellen Wortschatz, anstelle von Bestrafung sprach man vom »Schutz« oder der »sozialen Verteidigung des proletarischen Staates«.10 Dies war mehr als nur ein Austausch der Bezeichnungen. Gerade bei denjenigen, die für ihre Überzeugung unter dem alten Regime gelitten hatten, brannte vielfach noch »der Hass gegen die alten Gerichte und Gesetze, gegen Gefängnisse und Katorgas«.11 Diese Einrichtungen sollten für immer beseitigt werden. Folglich wurden die Attribute der zarischen Strafpraxis – Einzelzellen, Handschellen, Ketten und Nahrungsentzug – geächtet. Doch mehr noch: Durch die Etablierung einer neuen Gesellschaftsordnung sollte individueller Delinquenz der Boden entzogen werden. Denn wenn Grundursache sozialer Devianz die kapitalistische Ausbeutung war, musste durch deren Beseitigung auch die Kriminalität verringert werden oder ganz verschwinden. In Abgrenzung zu Cesare Lombrosos Theorie vom geborenen Verbrecher entwickelte das bolschewistische Rechtswesen die Vision, »sozial nahe« Menschen, die milieubedingt auf die schiefe Bahn geraten waren, zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft umzuformen. Wichtigstes Instrument dafür war die sogenannte Besserungsarbeit (ispravitel’nyj trud). Denn Arbeit, so der Kongress der Kommunistischen Partei 1919, »ist das Allheilmittel, um zu bessern und zu erziehen«.12
Entsprechende Reformansätze wurden vor allem vom Volkskommissariat für Justiz (NKJu) – neben Tscheka und NKVD die dritte Säule des Strafvollzugssystems – vertreten, in dem noch viele »bürgerliche Spezialisten« tätig waren.13 In den Zwanzigerjahren wechselten die Zuständigkeiten der Strafinstanzen mehrfach, es kam zu diversen Abwehr- und Übernahmekämpfen,14 wobei sich im Ringen von NKJu und NKVD um die Verwaltung der Haftstellen das NKVD durchsetzte. Allerdings behaupteten sich bis zum Ende der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) relativ progressive Ansichten, auch beim NKVD, das – neben dem Grundsatz einer Selbstfinanzierung durch Häftlingsarbeit – ebenfalls den Besserungsgedanken vertrat.15 Bei der Übernahme des NKJu wurde auch dessen »Zentrale Besserungsabteilung« eingegliedert. Die in den Gefängnissen, Arbeitskolonien und sonstigen Hafteinrichtungen praktizierte Strafpolitik, so Evsej Širvindt, Leiter der Hauptverwaltung der Haftverbüßungsorte des NKVD, sollte auf den Prinzipien Nachsicht, Differenzierung und Individualisierung beruhen.16 Das Register der Strafen war abgestuft und sah neben Haftstrafen auch Geldbußen oder den Einsatz am alten Arbeitsplatz bei vermindertem Lohn vor.17 1923 wurde nur einer von vier verurteilten Straftätern ins Gefängnis geschickt, wo besonderer Arbeitseifer zur vorzeitigen Entlassung führen konnte. Des Weiteren wurden Erziehungs- und Bildungsprogramme aufgelegt, etwa Lesekurse für Analphabeten, aber auch berufsbildende Maßnahmen. Immer wieder erfolgten vorzeitige Entlassungen und Amnestien, jedoch weniger aus humanitären Gründen, denn aufgrund der chronischen Überfüllung und Unterfinanzierung der Gefängnisse.18
Das System der Konzentrationslager bestand jedoch fort. Zwar wurden die Tscheka und ihre Lager 1922 aufgelöst, aber ihre Funktionen gingen auf die »Staatliche Politische Verwaltung« (GPU, seit 1923 OGPU) im Volkskommissariat des Inneren über. Als die GPU 1923 aus dem NKVD herausgelöst und direkt dem Rat der Volkskommissare unterstellt wurde, wurden damit auch die der GPU unterstellten Politisolatoren und Lager als eigenes Strafsystem ausgegliedert. Die GPU verfügte über erhebliche Sonderbefugnisse, wenn es darum ging, zu verhaften, zu verhören und zu bestrafen;19 auch waren ihre Einrichtungen nicht an die Regularien der staatlichen Gesetzgebung, etwa den »Besserungsarbeitskodex« von 1924, gebunden. Berüchtigt wurde vor allem das »Lager zur besonderen Verwendung« auf den Solovki, einer Inselgruppe im Weißen Meer, in das man viele »politische« und »konterrevolutionäre« Häftlinge aus dem nördlichen Russland verbrachte – es wurde zur Keimzelle des späteren Gulag.20
Allerdings war die Grenze zwischen den verschiedenen Typen von Haftanstalten und Lagern im Positiven wie Negativen weniger trennscharf, als es scheinen mag. In den Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern befanden sich nicht nur politische Gefangene, sondern auch »Arbeitsscheue«, »Bummelanten« und »parasitäre Elemente«.21 Zudem wurde die Entscheidung darüber, wer als politischer und wer als krimineller Gefangener anzusehen sei, vielfach willkürlich gefällt,22 sodass die Zusammensetzung der Häftlingsgruppen in den einzelnen Strafeinrichtungen oft ähnlich war. Während sich in den »regulären« Gefängnissen und Arbeitskolonien Besserungsarbeit, obligatorische soziale Arbeit und Zwangsarbeit vielfältig überlappten, konnte man sogar in den OGPU-Lagern auf den Solovecker Inseln das Glück haben, der Zwangsarbeit zu entgehen, etwa durch Beschäftigung in der botanischen Versuchsstation, im Museum, das neben kostbaren Ikonen Sammlungen zur lokalen Flora, Fauna und Geschichte beherbergte, oder im Kriminologischen Kabinett zur Erforschung der Entstehung und Bekämpfung von Verbrechen. Weiter boten Bibliothek und Theater sowie die landesweit (!) vertriebene Zeitschrift Soloveckie ostrova [Die Solovecker Inseln, 1924–1930] und die Schriftenreihe der Gesellschaft für Solovecker Heimatkunde Möglichkeiten zur intellektuellen Betätigung. Es fanden Vorträge, Filmvorführungen, Gedenkabende und Konzerte statt, sodass Dmitrij Lichačev im Rückblick auf seine dortigen Haftjahre das von den späteren »Vernichtungsarbeitslagern« geprägte Bild korrigierte: »Leid, Erniedrigung, Angst waren beileibe nicht alles. Unter den grauenhaften Bedingungen der Lager und der Gefängnisse hat sich gewissermaßen ein geistiges Leben aufrechterhalten.«23
Paradigmenwechsel: Produktionsorientierung und Disziplinierung
Der entscheidende Politikwechsel und Umbruch im gesamten Lager- und Gefängniswesen erfolgte ab 1928/29. Zwar war schon seit Beginn des Jahrzehnts immer wieder gefordert worden, dass sich die Gefängnisse selbst finanzieren sollten, doch wurde die Arbeitskraft von Häftlingen bis zum Ende der NEP-Periode keineswegs systematisch ausgebeutet.24 Seit Einführung des ersten Fünfjahrplans (1928–1932) wuchs indes der Druck zur Produktivität, während sich die Lebensbedingungen entsprechend verschlechterten. Die Situation verschärfte sich weiter, als sich der Vorschlag durchsetzte, die Essensrationen nach der Arbeitsleistung zu bemessen.25 Ein Beschluss des Rates der Volkskommissare vom 11. Juli 1929 »Über die Nutzung der Arbeitskraft krimineller Strafgefangener« ordnete die Strafpolitik explizit dem Ziel der forcierten wirtschaftlichen Transformation unter. Zum »Zweck der Besiedlung entlegener Regionen« und der »Ausbeutung ihrer natürlichen Ressourcen« wurde die Schaffung eines Netzes von Besserungsarbeitslagern befohlen.26 Die OGPU wurde beauftragt, Lager zum Holzeinschlag, später auch für große Bauvorhaben, wie den Bau des Weißmeer-Ostsee- und des Moskva-Volga-Kanals, und die Gewinnung von Bodenschätzen einzurichten; diese sollten mit Gefangenen aus den NKVD-Gefängnissen, die längere Haftstrafen zu verbüßen hatten, aufgefüllt werden.
Das Dekret hatte erhebliche Konsequenzen: Für die OGPU bedeutete es den Startschuss zu einer enormen Expansion und Machtausweitung. Das Geflecht ihrer Lager weitete sich rasch aus – über große Teile Nordrusslands –, und die Zahl ihrer Insassen vervielfachte sich.27 Dazu trug entscheidend bei, dass im Zuge der Zwangskollektivierung neue Vergehen definiert wurden; zugleich wurden die Strafen für »alte« Delikte erheblich verschärft bzw. wurde das alte Gesetz in neuer Weise angewandt:28 So konnte die Anklage wegen Konterrevolution jetzt beispielsweise auch Bauern treffen, die sich der Kollektivierung widersetzten. In den meisten Fällen erfolgte die Verurteilung ohne Gerichtsverhandlung, aber auch die Zahl der gerichtlich verhängten Strafen war 1932 dreimal so hoch wie noch 1929. Zudem wurde die Dauer der Strafen drastisch erhöht.
Die OGPU-Lager erhielten Produktionsaufgaben, die durch die Nutzung von Häftlingsarbeit zu erfüllen waren. Während auf den Solovki Sadismus und willkürliche Erschießungen die größten existenziellen Bedrohungen darstellten, fanden bei den umfangreichen Bau- und Erschließungsvorhaben Zehntausende durch Kälte sowie durch primitivste Arbeits- und Lebensbedingungen den Tod. Auch wenn die OGPU-Einrichtungen jetzt offiziell »Besserungsarbeitslager« (ITL) hießen – ein Euphemismus, durch den man nicht zuletzt westliche Boykottdrohungen parieren wollte –,29 trat das Konzept der Heilung und Besserung durch Arbeit in den Direktiven, Beschlüssen und sonstigen offiziellen Stellungnahmen der Jahre 1929 und 1930 in den Hintergrund,30 bis es Anfang der Dreißigerjahre eine erneute Konjunktur erfuhr, aber nun in völlig veränderter Interpretation. An die Stelle therapeutischer Gesichtspunkte trat der Aspekt der Disziplinierung im Sinne der Produktionsorientierung. Während in den Zwanzigerjahren eine differenzierte öffentliche Diskussion über die Ursachen und Prävention von Verbrechen ausgetragen worden war, verengte sich der Diskurs über Kriminalität in den Dreißigerjahren auf die Umerziehung Vom Verbrechen zur Arbeit, wie ein Buchtitel lautete, bis er 1937 völlig aus der Öffentlichkeit verschwand. Širvindt – er verlor 1932 seinen Posten31 – und seine Mitstreiter für eine progressive Strafpolitik traf jetzt der Vorwurf einer »sentimental-liberalen Einstellung zur Kriminalität«.32 Die neue Rhetorik stand ganz im Zeichen der Verschärfung des Klassenkampfes, der nun auch zur Erklärung der immer noch vorhandenen, ja wachsenden Kriminalität diente. Erforderlich sei die »schonungslose Unterdrückung jeglicher Auflehnung der Feinde der Arbeiterklasse«.33 Druck und Zwang sollten dabei dialektisch mit dem Prinzip von Überzeugung und Umerziehung kombiniert werden,34 wobei nicht nur »sozial nahe«, sondern – zumindest teilweise – auch »sozial ferne« Elemente für formbar gehalten wurden; indessen blieb das Verhältnis zwischen klassenmäßigem Determinismus und Resozialisierbarkeit unklar: »Die sowjetische Strafjustiz […] stellt sich das Ziel, dass nicht nur Delinquenten aus dem Arbeitermilieu, sondern auch klassenmäßig fremde Elemente die Lager als sozial erneuerte Wesen verlassen und dann dazu fähig sind, bewusst für die sozialistische Gesellschaft zu schaffen.«35 Man gab die Idee der Umerziehung also keineswegs auf, vielmehr wurde sie sogar propagandistisch intensiviert, aber nun mit der klaren sozio-ökonomischen Vorgabe, das »schlechte Menschenmaterial in vollwertige, aktive und bewusste Erbauer des Sozialismus« zu verwandeln.36
Damit entsprach die Zielsetzung in geradezu verblüffender Weise den Vorstellungen, die im Zuge der Stalinschen Modernisierungsoffensive für die gesamte Sowjetgesellschaft entwickelt wurden. Die in der Revolutionsära entworfenen kühnen Utopien eines vollkommen »neuen Menschen«37 verengten sich jetzt auf die Schablone des einwandfrei funktionierenden Vorzeigearbeiters. Während zu Beginn der Zwanzigerjahre noch vielfältige pädagogische Experimente erprobt und diverse psychologisch oder psychoanalytisch fundierte Positionen vertreten wurden,38 die eine Umgestaltung des Menschen von innen heraus forderten, wurden all diese Ansätze nun von dem geradezu omnipräsenten Diskurs der Disziplinierung verdrängt. Hatte Trockij immerhin noch vom Selbstumbau, der Selbstharmonisierung des Menschen geschwärmt, begegnet die Vorsilbe »Selbst-« in den Dreißigerjahren nur noch in Verbindung mit Regulierungsbegriffen wie Kontrolle, Kritik und Disziplin. »Exzesse im Reich von Wünschen, Gedanken und Verhalten« sollten unterbunden,39 alles Störende und Verstörende durch gezielte Konditionierung ausgeschaltet werden. Zur Vision der Disziplinierung trat jene der Machbarkeit – die Idee umfassender Steuerbarkeit seitens der Partei und ihrer Kader, sodass an die Stelle von Einfühlung und Entfaltung des Individuums die Zurichtung von außen und oben trat.40 Daher ist es folgerichtig, dass ausgerechnet Tschekisten in den Arbeitskolonien für minderjährige Straftäter und den Lagern der OGPU als Erzieher tätig waren und in dieser Rolle auch gefeiert wurden, verkörperten sie doch Führungswillen, »metallische Logik und Disziplin«.41 »Die GPU-Leute verstehen es, Menschen umzubauen. Ja, sie können das!«, äußerte Gor’kij.42 Sie wollen jene Menschen, erläutert das Buch zum Belomorkanal, »die sich nicht selbst umerziehen können«, dazu zwingen, »ein sowjetisches Leben zu leben« (S. 116).
Der Diskurs der perekovka. Gor’kij als Vordenker
Für die »Besserung der Besserbaren«43 waren durchaus verschiedene Begriffe gebräuchlich: Umerziehung (perevospitanie), Umbau oder Umgestaltung des Bewusstseins (perestrojka, peredelka soznanija), schließlich Umschmiedung (perekovka) – ein griffiges Etikett, das vor allem von Semen Firin, seit 1932 verantwortlich für die Arbeiten am Belomorkanal und ab 1933 Leiter des Dmitlag am Moskva-Volga-Kanal, in Umlauf gebracht wurde.44 In jedem Fall waren die Häftlinge »menschliches Rohmaterial« (S. 609), das es zu bearbeiten galt. Diese Aufgabe oblag vor allem den Tschekisten in ihrer mehrfachen Rolle als Aufseher, Lehrmeister und Mentoren. Die Arbeit fungierte dabei ebenso als Mittel wie Ziel der Erziehung. Sie wurde als »mächtiger Hebel« definiert und wirkte wohl tatsächlich so, aber weniger, weil sich bei den Gefangenen ein neues Bewusstsein ausgebildet hätte, sondern weil gute Leistungen mit Haftverkürzung und vorzeitiger Entlassung honoriert wurden. Auch die »Abteilung für Kultur und Erziehung« war für die pädagogische Einwirkung zuständig. Sicherlich hatte sie eine Alibi- und Schaufensterfunktion,45 doch bot sie die Möglichkeit zu kleinen Fluchten aus dem Lageralltag und besseren Überlebenschancen. Mit Bibliothek, Orchester und Theater sowie den breit gestreuten kulturellen Aktivitäten vom wissenschaftlichen Vortrag bis zur Operette simulierten Belbaltlag und Dmitlag geradezu ein »normales« Kulturleben.46 Die in beiden Lagern – neben anderen Blättern – produzierte Zeitung Perekovka durfte zwar außerhalb der Lagergrenzen nicht vertrieben werden, imitierte aber in Aufmachung, Gestus und Rubriken Betriebszeitungen der sowjetischen Außenwelt. Hier fanden sich Befehle und Leitartikel, Berichte von Arbeiterkorrespondenten, Erfolgsbilanzen und Selbstkritik sowie eine Schachecke.
Aber auch Arbeit und Belohnung waren nach den »draußen« gängigen Strukturen organisiert: Zwischen Arbeitsbrigaden wurde der sozialistische Wettbewerb ausgerufen, Stoßarbeiter bzw. Stachanovarbeiter wurden für ihre Leistungen nicht nur an Wandtafeln geehrt, sondern sie aßen auch an getrennten Tischen unter der Losung »Für die besten Arbeiter das beste Essen«, während »Nichtstuer, Drückeberger und Faulpelze« an den Pranger gestellt wurden.47
Das Lager präsentierte sich also in seltsamer Weise als Double der äußeren Sowjetwelt oder anders formuliert: Es war die »exakteste Verkörperung des Staates, der ihn geschaffen hat«.48 Daher ist es gar nicht so überraschend, dass Gor’kij als entschiedener Befürworter und eine Art »Chefideologe« des Stalinschen Staates nach seiner Rückkehr aus der Emigration auch zum wichtigsten Propagandisten von dessen Arbeitskolonien und Lagern wurde. Dabei verstand er diese nicht als auf Dauer angelegte, sondern als vorübergehend notwendige Einrichtungen. In solcher Wahrnehmung waren Zwangsarbeit und Arbeitszwang lediglich zwei Seiten einer Medaille und perekovka das Projekt einer mentalen Umgestaltung, das letztlich alle Sowjetbürger betraf. Die große Transformation, die Schaffung eines neuen Bewusstseins und einer neuen Wirklichkeit durch gemeinsame Arbeit, war für Gor’kij keine ideologische Parole, sondern zentrales Anliegen. In zahlreichen Reden und Aufsätzen feierte er – die Zukunft gleichsam heraufbeschwörend – die Größe der Epoche, das sowjetische Volk als »kollektiven und allmächtigen Herrn seines Landes«49 und den Sieg von Verstand und Disziplin über die ungezähmte, feindliche Natur, auch die Menschennatur. Mit großer Anteilnahme begleitete Gor’kij die auch im Westen berühmt gewordenen Versuche des Pädagogen Anton Makarenko, minderjährige Rechtsbrecher zu resozialisieren50 – eine Kolonie trug sogar seinen Namen; und auch Matvej Pogrebinskij, dem Leiter der Arbeitskommune der OGPU für verwahrloste Jugendliche in Bolševo, war er freundschaftlich verbunden.51 Gerade den jungen Leuten galten seine Sympathien, schienen sie doch durch den erzieherischen Einfluss »freier Arbeit« noch formbar zu sein, während Gor’kij jene, die er für »unheilbar krank«, von einem »kleinbürgerlich-wölfischen Leben vollkommen verunstaltet« hielt, der Vernichtung preisgeben wollte.52 Auch auf Solovki interessierte Gor’kij vor allem die Kolonie für Minderjährige, die er als »vorbereitende Schule« ansah, von der aus die Zöglinge in »Hochschulen« wie die Arbeitskommune von Bolševo wechseln durften.53
Doch nicht nur Gor’kijs Vision einer Erziehung für und durch die Arbeit sowie seine persönlichen Verbindungen zu Arbeitslagern und Kommunen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Zu Geheimdienstchef Jagoda, seinem Nachbarn in der Datschensiedlung, und Semen Firin stand er in regelmäßigem Kontakt; auch als Kulturpolitiker und Schriftsteller kam Gor’kij bei der Propagierung der perekovka-Idee eine Schlüsselrolle zu. Mit den von ihm initiierten Zeitschriften und Editionsprojekten, etwa Naši dostiženija [Unsere Errungenschaften] und Istorija fabrik i zavodov [Geschichte der Fabriken und Betriebe – in dieser Reihe erschien auch das Buch über den Belomorkanal], wollte Gor’kij das Erreichte in ein Monument verwandeln und zugleich Maßstäbe setzen. Nicht die Empirie war die Richtschnur dieser Leistungsschauen, sondern das Zukunftsziel, in dessen Interesse die Wirklichkeit überhöht und ausgeschmückt werden sollte.54 In jene Jahre fiel auch – unter der Patronage Gor’kijs – die Einführung des sozialistischen Realismus und damit die Funktionsbestimmung des Schriftstellers als »Ingenieur der menschlichen Seele«. Wenn die Schriftsteller auf dem Ersten Sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 zu »Organisatoren der Umformung des Bewusstseins der Menschen im Geiste des Sozialismus« ernannt wurden,55 bekamen sie geradezu tschekistische Aufgaben zugewiesen. Zugleich wurden die GPU-Leute von Gor’kij als »Ingenieure der Umschmiedung der Seelen«,56 d. h. gleichsam als wahre Schriftsteller bezeichnet.57 Es ist kein Zufall, dass Gor’kij die perekovka – die juristische Terminologie wurde bezeichnenderweise zugunsten einer bildlichen Sprache aufgegeben58 – in ästhetischen Kategorien konzipierte, als Epos der heldenmütigen Arbeit.
So wurde eine ungeheure diskursive Maschinerie der perekovka in Gang gesetzt: An vorderster Front kämpften die »Kanalarmisten« gegen die feindselige Natur Kareliens, die Tschekisten gegen die feindliche Menschennatur. Dies war ein doppelt heldenhafter Kampf: Die Elementargewalten mussten bezwungen, Chaos gebändigt und Spontaneität in Bewusstheit überführt werden;59 er wurde mit entsprechendem Pathos in Szene gesetzt: »Das ist einer der glänzendsten Siege der kollektiv organisierten Energie der Menschen über die Gewalten der rauen Natur des Nordens. Zugleich ist dies das glänzend gelungene Experiment einer massenhaften Umkehrung früherer Feinde der Diktatur des Proletariats und der sowjetischen Gesellschaft in qualifizierte Mitarbeiter der Arbeiterklasse und sogar in Enthusiasten staatlich erforderlicher Arbeit.« (S. 12) Wer dieses Experiment erfolgreich überstand, konnte Auszeichnungen erhalten und vom Verbrecher zum Genossen, ja – wie die Biografie Naftalij Frenkels zeigt – selbst zum Tschekisten aufsteigen;60 der Häftling Sergej Alymov durfte (oder musste) sich, frisch entlassen, als Autor an der Chronik des Kanals beteiligen.
Perekovka der Schriftsteller
Auch die Schriftsteller waren in den Prozess der perekovka eingebunden. Nicht wenige mögen sie als Angebot auch für die eigene Biografie aufgefasst haben, als »Möglichkeit, die Vergangenheit zu begraben und einen neuen Weg einzuschlagen«.61 So verstand es jedenfalls der junge Konstantin Simonov, der damals danach strebte, seine Herkunft als Adeliger hinter sich zu lassen und eine neue Identität als proletarischer Schriftsteller aufzubauen.62 Andere, so Nikolaj Ustrjalov, 1935 aus der Emigration in die UdSSR zurückgekehrt, begriffen perekovka als persönliches Umerziehungssoll, um das eigene Bewusstsein mit der Generallinie der Partei in Einklang zu bringen.63 Bei der Schriftstellerbrigade, die 1933 zum Belomorkanal entsandt wurde, kam ein weiteres Moment hinzu: Die Reise war Bestandteil der Transformation des literarischen Felds nach der Auflösung der literarischen Gruppen 1932.64 Die 120 Autoren sollten – über die früheren Fehden hinweg – zu einem Kollektiv zusammengeschweißt werden;65 das gemeinsame Opus dokumentierte die neue Einheit.
Im Einzelnen wird man die Motive für den Kanaltourismus kaum mehr rekonstruieren können. Nach allem, was man weiß, reichten sie von echtem Enthusiasmus über Neugier, Abenteuerlust, Karrierehunger und Nötigung bis hin zu ehrenhaften persönlichen Anliegen: Viktor Šklovskij wollte seinen am Kanal inhaftierten Bruder Vladimir retten.66 Auch vor Ort und bei der anschließenden literarischen Aufarbeitung verschränkten sich Täuschung und Selbsttäuschung, Überzeugung und Lüge, Unwissen und Wegschauen, Druck und Willfährigkeit.67 Während der nur sechstägigen Exkursion trafen die Schriftsteller auf ein sorgfältig präpariertes Musterlager mit handverlesenen kriminellen Gefangenen; die Arbeiten waren weitgehend abgeschlossen und die meisten Häftlinge bereits verlegt worden. Das Buch zum Kanal, an dem so namhafte Autoren wie Aleksej Tolstoj, Michail Zoščenko, Vsevolod Ivanov, Valentin Kataev und Vera Inber mitwirkten, wurde – wie das Bauwerk selbst – in kürzester Zeit mittels »Stoßarbeit« verfasst, da es zum XVII. Parteitag, dem »Parteitag der Sieger«, im Januar 1934 vorliegen sollte.68 Zwei Kapitel stammten von Gor’kij, der selbst nicht an der Fahrt teilnahm, aber spiritus rector der literarischen Unternehmung war, ein weiteres von Zoščenko; alle übrigen wurden gemeinschaftlich von vier bis zehn Autoren verfasst.
Entstanden ist ein seltsamer ästhetischer Zwitter.69 Seiner Machart nach geht das Werk noch auf die Baupläne einer linken faktographischen Kunst zurück. Interviews, Kommentare, Erlasse, Statistiken sowie Berichte aus der Lagerzeitung Perekovka sind ebenso in das Textensemble eingegangen wie Fotos des Avantgardekünstlers Aleksandr Rodčenko, der mehrere Monate am Kanal verbrachte. Der Text widersetzt sich der Rundung zum Epos, wo kontrastierende Sequenzen zusammengefügt werden und die Erzählhaltung des skaz eingenommen, also »dem Volk aufs Maul geschaut« wird. Auf diese Weise vermitteln einige Passagen andere als die erwünschten Wahrheiten, indem sie etwa die Nichtigkeit etlicher »Verbrechen«, für die am Belomorkanal zu büßen war, bloßlegen: So kommt in Gor’kijs Einleitungskapitel »Die Wahrheit des Sozialismus« ein »schwer erziehbarer« Kulak zu Wort, dessen Hof während des Bürgerkriegs von Partisanen, Weißen, Roten und den Deutschen geplündert worden war. Als die Kollektivierung begann, wollte er sich nicht – dies sein »Verbrechen« – von seiner mühsam wieder aufgebauten Wirtschaft trennen. Zwar hat er nun, zweifach prämiert, die Aussicht auf Haftverkürzung, aber nicht auf eigenes Land; in der Kolchose sieht er für sich keine Zukunft: »Besser ist es, mit dem Finger in der Nase zu bohren.« (S. 18) Zudem werden durchaus anstößige Ansichten wiedergegeben, wenn z. B. von »unschuldig erschossenen« Ingenieuren die Rede ist oder die Bolschewiki als »Idioten« apostrophiert werden, »die das Land in den Abgrund führen« (S. 90 u. 91), ohne dass sich der Erzähler erkennbar von diesen Meinungen distanzieren würde.70
Die Dominante des Werks ist jedoch eine andere. Ideologisch entspricht es bereits weitgehend den kanonischen Vorgaben des sozialistischen Realismus. Mit Stichworten wie »Stolz«, »Glück«, »Ruhm«, »Ehre« und »Heldentum« (S. 12) steckt Gor’kij dafür eingangs den Rahmen ab. Stilistisch disparat, sind die Beiträge inhaltlich auf die Botschaft des Sieges und die eine Wahrheit zentriert, die sich in den manichäischen Topoi Gut vs. Böse, Gesundheit/Heilung vs. Krankheit, proletarischer Humanismus vs. kapitalistische Barbarei, kollektive Arbeit vs. »zoologischer Individualismus«, Ordnung vs. Chaos, Zukunft vs. Vergangenheit, technischer Fortschritt und Umschmiedung vs. Natur etc. entfalten.71 Der Text lässt sich als Produktions- wie als Bildungsroman lesen, wobei – auch das ist für den sozialistischen Realismus kennzeichnend – die Entwicklung weitgehend ohne Psychologie auskommt. Die Verwandlung »von Gesetzesbrechern in ideale Menschen« (S. 494) erfolgt vielmehr als plötzlicher Umschlag, wie durch ein Wunder. Perekovka wird hier zu einem Akt der Bekehrung, durch den der Delinquent zum »Glauben« an das Projekt findet,72 und geläutert, ja »neu geboren«, wieder ins Leben entlassen wird: »Die Biografien dieser Menschen sind korrigiert, gereinigt, vervollständigt.« (S. 582) In entsprechender religiöser Überhöhung tritt die OGPU als Instanz auf, die »nicht nur straft, sondern auch rettet« (S. 587), und sind die Tschekisten befähigt, in die Seelen der Menschen zu blicken: »Die Tschekisten entwirrten die Knoten, sprachen das Unausgesprochene aus, erfuhren das Verborgenste.« (S. 96)
Das Buch zum Belomorkanal erschien 1934 in hoher Auflage,73 wurde jedoch drei Jahre später jäh zurückgezogen. 1937 war der Band ästhetisch nicht mehr zeitgemäß, aber vor allem politisch nicht mehr tragbar. Geheimdienstchef Genrich Jagoda, der als »Vater« des Bau- und Besserungswerks in dem Band allenthalben präsent ist, wurde 1936 von seinem Posten abgelöst und 1937 verhaftet. Leopol’d Averbach und Semen Firin (mit ihm 218 Personen aus seinem Umfeld) wurden 1937 erschossen. Viele der porträtierten Tschekisten ereilte dasselbe Schicksal. Auch ideologisch hatte die perekovka ausgedient – der Begriff verschwand samt seinen Urhebern: Mit dem 1937 einsetzenden Großen Terror ging es nicht mehr um die Reintegration, sondern die Entfernung der »Schädlinge« aus der Gesellschaft.74 Hatte man Solovki und das Besserungsarbeitslager am Weißmeer-Ostsee-Kanal noch medial inszeniert und dafür im In- und Ausland regelrecht um Aufmerksamkeit geworben, so wurde der Gulag der späteren Stalinzeit sorgfältig von der Außenwelt abgeschirmt.
Vor dem Hintergrund des schroffen Paradigmenwechsels zeichnet sich jedoch umso deutlicher ab, was sowjetische Intellektuelle vorher dazu bewogen haben mag, die Idee der Umerziehung mitzutragen: 1933/34 waren zumindest noch Relikte der früheren progressiven Strafpolitik erhalten, auch Reste des »grenzenlose[n] sozialpolitische[n] Optimismus«75 der Zwanzigerjahre, dass Menschen durch Arbeit zu »bessern« seien und sich das Problem der Kriminalität bald von selbst erledigen würde. Noch war das Lagerleben widersprüchlich, konnte das interne Regime trotz härtester Zwangsarbeit »sehr liberal« sein.76 Die Grenze zwischen Lager- und Nichtlager war in vielfältiger Hinsicht durchlässig, auch waren beide Bereiche durch denselben Diskurs von Disziplinierung, Arbeitsethos und Heroisierung verbunden. In der Idee des »neuen Menschen« und seiner Zurichtung durch das soul engineering77 der perekovka fanden zudem Literatur und Lager, Schriftsteller und Tschekisten ein gemeinsames Narrativ und Projekt. Gemeinsam war ihnen allerdings auch – gerade in den obligaten Erfolgsgeschichten – die fortschreitende »Entwirklichung der Wirklichkeit«,78 die Ablösung einer virtuellen Realität des schönen Scheins von jenem Alltag, den die gewöhnlichen Sterblichen zu bestehen hatten.
1 Stéphane Courtois: Die Verbrechen des Kommunismus, in: ders. u. a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München/Zürich 1998, S. 32.
2 Andreas Guski: Der Präzeptor unterwegs: Gor’kijs Reiseskizzen »Durch die Union der Sowjets«, in: Wolfgang Stephan Kissel (Hg.): Flüchtige Blicke. Relektüren russischer Reisetexte des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2009, S. 221. Siehe das Kapitel »Gorky’s Gulag« in: Michael David-Fox: Showcasing the Great Experiment: Cultural Diplomacy and Western Visitors to Soviet Russia, 1921–1941, New York 2011.
3 Maksim Gor’kij: Ot »vragov obščestva« – k gerojam truda [Von »Feinden der Gesellschaft« zu Helden der Arbeit], in: ders.: Sobranie sočinenij v tridcati tomach [Gesammelte Werke in dreißig Bänden], Moskau 1949–1953, Bd. 27, S. 510.
4 Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG, Bern/München 1974, Bd. I, S. 12. Siehe ebd. Bd. II, S. 76–98. Solženicyns Monumentalwerk lässt sich sogar als direkte Antwort auf das Belomorkanal-Buch lesen. Siehe Félix Chartreux: Le canal mer Blanche-Baltique Staline (1934), pratiques d’écriture collective et transformation du champ littéraire soviétique [Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal (1934). Praktiken des kollektiven Schreibens und die Transformation des sowjetischen literarischen Felds], in: Temporalités (2006), H. 3, S. 170.
5 Siehe z. B. Gerald Stanton Smith: D. S. Mirsky. A Russian – English Life, 1890–1939, Oxford 2000, S. 245: Solženicyns Kritik mache eine weitere Diskussion dieses »monströsen Buchs« überflüssig.
6 Michel Heller: Stacheldraht der Revolution. Die Welt der Konzentrationslager in der sowjetischen Literatur, Stuttgart 1975, S. 141.
7 Grundlegend: George Leggett: The Cheka. Lenin’s Political Police, Oxford 1981.
8 Zahlenangaben nach Galina M. Ivanova: Der GULag im totalitären System der Sowjetunion, Berlin 2001, S. 26.
9 Ralf Stettner: »Archipel GULag«: Stalins Zwangslager. Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Ent-
stehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928–1956, Paderborn u. a. 1996, S. 45. Siehe Ivanova: Der GULag (Anm. 8), S. 25.
10 Siehe Evsej G. Širvindt/B. S. Utevskij: Sovetskoe penitenciarnoe pravo [Das sowjetische Strafrecht], Moskau 1927, S. 63–69; dies.: Sovetskoe ispravitel’no-trudovoe pravo [Das sowjetische Besserungs-
arbeitsrecht], 2. Aufl. Moskau 1931, S. 16.
11 David J. Dallin/Boris I. Nicolaevsky: Zwangsarbeit in Sowjetrußland, Wien [1948], S. 136.
12 Zit. nach ebd., S. 137.
13 Ivanova: Der GULag (Anm. 8), S. 28. Siehe ferner Dallin/Nicolaevsky: Zwangsarbeit (Anm. 11), S. 134–143; Peter H. Solomon: Soviet Penal Policy, 1917–1934. A Reinterpretation, in: Slavic Review 39 (1980), H. 2, S. 195–201.
14 Dazu im Detail Stettner: »Archipel GULag« (Anm. 9), S. 43–87; Michael Jakobson/Michail Smirnow: Das System der Haftanstalten der RSFSR und UdSSR 1917–1930, in: Memorial International (Hg.): Das System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR. 1923–1960, Berlin 2006, S. 3–17; Irina Scherbakowa: Gefängnisse und Lager im sowjetischen Herrschaftssystem, in: www.gulag.memorial.de/pdf/scherbakova_gefaengnisse.pdf, ges. am 22. Juli 2011, S. 591–596.
15 Inwieweit dabei Realität und Absichtserklärungen divergierten, muss hier dahingestellt bleiben. Siehe dazu Stettner: »Archipel GULag« (Anm. 9), S. 48.
16 Siehe Evsej Širvindt: Naše ispravitel’no-trudovoe zakonodatel’stvo [Unsere Gesetzgebung zur Besserungsarbeit], Moskau 1925.
17 Zu den Maßnahmen im Einzelnen Solomon: Soviet Penal Policy (Anm. 13), S. 197 f.
18 Siehe Jakobson/Smirnow: Das System (Anm. 14); Anne Applebaum: Der Gulag, Berlin 2003, S. 68; Ivanova: Der GULag (Anm. 8), S. 29 f.
19 Siehe Stettner: »Archipel GULag« (Anm. 9), S. 67.
20 Zur Geschichte siehe Jurij Brodskij: Solovki. Dvadcat’ let osobogo naznačenija [Solovki. 20 Jahre besonderer Bestimmung], Moskau 2002. Zum Ausbau des Lagers: Nick Baron: Conflict and Complicity: The Expansion of the Karelian Gulag, 1923–1933, in: Cahiers du Monde russe 42 (2001), H. 2-4, S. 615–648. Zu Solovki als »erste[m] Lager des Gulags« siehe auch Applebaum: Der Gulag (Anm. 18), S. 57–78, ferner die Website www.solovki.ca, ges. am 22. Juli 2011.
21 Stettner: »Archipel GULag« (Anm. 9), S. 58, 61 u. 65.
22 Siehe Jakobson/Smirnow: Das System (Anm. 14), S. 7.
23 Dmitri S. Lichatschow: Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika, Ostfildern 1997, S. 71.
24 Siehe Stettner: »Archipel GULag« (Anm. 9), S. 47.
25 Siehe Applebaum: Der Gulag (Anm. 18), S. 74 f.
26 Zit. nach Jakobson/Smirnow: Das System (Anm. 14), S. 15. Zu den Intentionen und Folgen dieses Beschlusses siehe Baron: Conflict (Anm. 20), S. 628–633.
27 Siehe Stettner: »Archipel GULag« (Anm. 9), S. 124.
28 Siehe ebd., S. 99–103; Solomon: Soviet Penal Policy (Anm. 13), S. 214.
29 Zu den wirtschaftspolitischen Hintergründen siehe Applebaum: Der Gulag (Anm. 18), S. 97–99.
30 Siehe Jakobson/Smirnow: Das System (Anm. 14), S. 20.
31 1938 wurde Širvindt verhaftet; auf die Lagerhaft (bis 1948) folgte Verbannung bis 1954.
32 Andrej Vyšinskij: Predislovie [Vorwort], in: Ida L. Averbach: Ot prestuplenija k trudu [Vom Verbrechen zur Arbeit], Moskau 1936, S. VI. (Die Verfasserin, eine Schwester Leopol’d Averbachs, war mit Genrich Jagoda verheiratet).
33 Ebd., S. VII.
34 Siehe ebd., S. VI; A. Vyšinskij: Predislovie, in: ders. (Hg.): Ot tjurem k vospitatel’nym učreždenijam
[Von Gefängnissen zu Erziehungseinrichtungen], Moskau 1934, S. 8.
35 Averbach: Ot prestuplenija (Anm. 32), S. 15.
36 Ebd., S. 4; siehe Vyšinskij: Predislovie (Anm. 34), S. 8. Zur Rolle, die der Gulag, speziell die Umerziehung durch Arbeit, bei der Konstruktion einer sozialistischen Gesellschaft und der neuen sowjetischen Persönlichkeit spielte, ausführlich Steven A. Barnes: Death and Redemption. The Gulag and the Shaping of Soviet Society, Princeton/Oxford 2011.
37 Siehe Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005.
38 Dazu besonders Alexander Etkind: Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland, Leipzig 1996.
39 Torsten Rüting: Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002, S. 153. Rüting weist nach, wie Pavlovs Erkenntnisse und Begriffe über bedingte Reflexe bei Hunden aus dem Labor in die Gesellschaft drangen und das »Territorium der psychologischen Diskurse« kolonisierten (S. 109).
40 Dazu besonders Sergej Ušakin: Pole boja na lone prirody: ot kakogo nasledstva my otkazyvalis’ [Das Schlachtfeld im Schoße der Natur: Von welcher Erbschaft wir uns losgesagt haben], in: Novoe literaturnoe obozrenie (2005), H. 71, S. 263–298.
41 Maksim Gor’kij/Leopol’d Averbach/Semen Firin (Hg.): Belomorsko-Baltijskij Kanal imeni Stalina. Istorija stroitel’stva [Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal. Die Geschichte seiner Erbauung], Moskau 1934 (Neudruck 1998), S. 330. Seitennachweise im Text beziehen sich auf die Neuausgabe.
42 Maksim Gor’kij: Reč’ na slete udarnikov belomorstroja [Rede beim Treffen der Stoßarbeiter vom Weißmeerkanal], in: ders.: Sobranie sočinenij (Anm. 3), Bd. 27, S. 74.
43 A. Ėstrin/V. Trachterev: Razvitie sovetskoj ispravitel’no-trudovoj politiki kak časti sovetskoj ugolovnoj politiki [Die Entwicklung der sowjetischen Besserungsarbeitspolitik als Teil der sowjetischen Kriminal-
politik], in: Vyšinskij (Hg.): Ot tjurem (Anm. 34), S. 22.
44 Siehe Nikolaj Fedorov: Dvigatel’ »perekovki« (načal’nik Dmitlaga S. G. Firin) [Triebkraft der »Umschmiedung«. (Der Leiter des Dmitlag S. G. Firin)], in: http:/www.martyr.ru/content/view/21/17, ges. am
22. Juli 2011.
45 Die Ausgaben für Kultur und Erziehung machten nur 2,7 Prozent des Gesamtbudgets aus. Nick Baron: Production and Terror: The Operation of the Karelian Gulag, 1933–1939, in: Cahiers du Monde russe 43 (2002), H. 1, S. 152.
46 Siehe die Erinnerungen von Nikolaj P. Anciferov an das Belbaltlag: Iz dum o bylom. Vospominanija [Einige Gedanken über das Vergangene. Erinnerungen], Moskau 1992, S. 374–398; Zum Dmitlag siehe Nikolaj Fedorov: Dmitlag (Iz istorii stroitel’stva kanala Moskva-Volga) [Dmitlag (Zur Baugeschichte des Moskva-Volga-Kanals)], in: www.martyr.ru/content/view/14/17/, ges. am 22. Juli 2011; ders.:
Byla li tačka u ministra? Očerki o stroiteljach kanala Moskva-Volga [Hatte der Minister eine Schubkarre? Skizzen über die Erbauer des Moskva-Volga-Kanals], Dmitrov 1997.
47 Ivan Čuchin: Kanaloarmejcy. Istorija stroitel’stva Belomorkanala v dokumentach, cifrach, faktach, fotografijach, svidedel’stvach učastnikov i očevidcev [Kanalarmisten. Die Geschichte der Erbauung des Belomorkanals in Dokumenten, Zahlen, Fakten, Fotos, Zeugnissen von Teilnehmern und Augenzeugen], Petrozavodsk 1990, S. 12. Auch freie Arbeiter waren an dem Kanalprojekt beteiligt, während umgekehrt manche Insassen (so Anciferov mit seinem Sohn) auch außerhalb der Lagergrenzen wohnen durften.
48 Ž. Rossi: Real’nyj socializm [Realer Sozialismus], in: Volja. Žurnal uznikov totalitarnych sistem (1994), H. 2/3, S. 178. Siehe Ivan L. Solonevič: Rossija v konclagere [Russland im Konzentrationslager], Moskau [1938] 1999, S. 8: »Alles, was im Lager vor sich geht, geht auch in Freiheit vor sich und umgekehrt.«
49 Maksim Gor’kij: »Istorija fabrik i zavodov« [»Geschichte der Fabriken und Betriebe«], in: ders.: Sobranie sočinenij (Anm. 3), Bd. 26, S. 142.
50 Makarenko behauptete von sich, »an die dreitausend Menschen umgeschmiedet« zu haben, vor allem durch Herbeiführung einer »Explosion«, also eines plötzlichen kathartischen Umschlags. Anton
Makarenko: Ein Buch für Eltern (= Werke, Bd. 4), Berlin 1958, S. 466.
51 So verfasste Gor’kij ein Vorwort zu Matvej S. Pogrebinskijs Buch Trudovaja kommuna OGPU [Die Arbeitskommune der OGPU], Moskau 1928. Die Kommune von Bolševo galt als Vorzeigeobjekt gerade gegenüber ausländischen Besuchern und wurde von vielen namhaften Intellektuellen (Henri Barbusse, Martin Andersen Nexø, George Bernard Shaw, Gustav Regler, Oskar Maria Graf, André Malraux, André Gide u. a.) lobend erwähnt.
52 Gor’kij: Ot »vragov obščestva« (Anm. 3), S. 510.
53 Maksim Gor’kij: Po Sojuzu Sovetov V: Solovki [Durch die Union der Sowjets V: Solovki], in: ders., Sobranie sočinenij (Anm. 3), Bd. 17, S. 231. Zu den Biografien der »Bolševcy« siehe Svetlana Gladyš: Deti bol’šoj bedy [Die Kinder des großen Elends], Moskau 2004, S. 62–85.
54 Zum Prinzip des »erhebenden Betrugs«, der Heroisierung und revolutionären Romantik bei Gor’kij siehe Hans Günther: Der sozialistische Übermensch. Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart/Weimar 1993, S. 39 f., 104–108; Heller: Stacheldraht (Anm. 6), S. 124–127.
55 Andrej Ždanov: Die Sowjetliteratur, die ideenreichste und fortschrittlichste Literatur der Welt, in: Hans-Jürgen Schmitt/Godehard Schramm (Hg.): Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller, Frankfurt/M. 1974, S. 50.
56 Gor’kij: Reč’ na slete (Anm. 42), S. 74.
57 Evgenij Dobrenko: Politėkonomija socrealizma [Politökonomie des sozialistischen Realismus], Moskau 2007, S. 158.
58 Ebd., S. 166. Auch Makarenko verstand sich als Schriftsteller, und selbst Firin gefiel sich als Künstler.
59 Siehe Hans Günther: Der Bau des Weißmeerkanals als Laboratorium des neuen Menschen, in: Petra Josting/Jan Wirrer (Hg.): Bücher haben ihre Geschichte. Norbert Hopster zum 60. Geburtstag, Hildesheim u. a. 1996, S. 63.
60 Naftalij Frenkel (1883–1960), war schon zu Lebzeiten eine fast mythische Figur. Auf den Solovecker Inseln stieg er rasch vom Häftling zu »einem der einflussreichsten Lagerkommandanten« auf – dank seiner Vorschläge, das Lager zu einem profitablen Wirtschaftsunternehmen zu machen und entsprechend das System der Arbeitsnormen und Essenszuteilung zu gestalten. – Siehe Applebaum: Der Gulag (Anm. 18), S. 69–76.
61 Zit. nach Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland, 2. Aufl. Berlin 2008, S. 302.
62 Nach der Veröffentlichung eines Poems über die Umerziehung der Häftlinge genehmigte ihm der Verlag 1934 eine vierwöchige Reise an den Belomorkanal, wo er für die Zeitschrift Perekovka als Journalist arbeitete. – Siehe ebd., S. 299–303. Auch Michail Bulgakov bat mehrfach darum, in eine der OGPU-Kommunen oder zum Belomorkanal entsandt zu werden. Siehe Michail und Elena Bulgakova: Dnevnik mastera i margarity [Das Tagebuch von Meister und Margarita], Moskau 2004, S. 149.
63 Siehe Rainer Goldt: Einladung zur Enthauptung. Nikolaj Ustrjalovs Briefe und Tagebücher als psychologisches Stenogramm einer gescheiterten Heimkehr in die UdSSR, in: Frank Göbler (Hg.): Russische Emigration im 20. Jahrhundert. Literatur – Sprache – Kultur, München 2005, S. 58.
64 Siehe Chartreux: Le canal (Anm. 4), S. 175–180.
65 Siehe Aleksandr Avdeenko: Otlučenie [Exkommunikation], in: Znamja (1989), H. 3, S. 13. Dazu Joachim Klein: Belomorkanal. Literatur und Propaganda in der Stalinzeit, in: Zeitschrift für Slavische Philologie 55 (1995/96), H. 1, S. 73–76. Zwar gehörte es zum Programm des Fünfjahrplans, dass Schriftsteller in die Betriebe und zu den Großbaustellen des Landes delegiert wurden, nur wurde hier eine nie da gewesene Größenordnung erreicht. Zum Arbeitslager als »Reiseziel« siehe Susi Frank: Russische »Reisetexte« um 1935, in: Kissel (Hg.): Flüchtige Blicke (Anm. 2), S. 256–258.
66 Zu Delegation und Autorenteam siehe Cynthia A. Ruder: Making History for Stalin. The Story of the Belomorkanal, Gainesville u. a. 1998, S. 52–84. Siehe auch Figes: Die Flüsterer (Anm. 61), S. 295–299. Šklovskij war bereits im Oktober 1932 an den Kanal gereist, wirkte aber an dem Buchprojekt mit. Zum Ablauf der Reise und den Gesprächen vor Ort siehe besonders Avdeenko: Otlučenie (Anm. 65), S. 9–22.
67 Siehe Klein: Belomorkanal (Anm. 65), S. 62 u. 92.
68 Daneben entstanden zahlreiche andere Texte und Theaterstücke zum Kanal, wovon Nikolaj Pogodins 1934 uraufgeführte – später auch verfilmte – Komödie Aristokraty am bekanntesten wurde. Dazu Klein: Belomorkanal (Anm. 65), S. 78–89.
69 Siehe Ruder: Making History (Anm. 66), S. 100–140 sowie Günther: Der Bau (Anm. 59), S. 62–67; Dobrenko: Politėkonomija (Anm. 57), S. 160–162; Klein: Belomorkanal (Anm. 65), S. 69 f.
70 Siehe Anne Hartmann: »Ein Fenster in die Vergangenheit«. Das Lager neu lesen, in: Osteuropa 57 (2007), H. 6, S. 72.
71 Dazu besonders Greg Carleton: Genre in Socialist Realism, in: Slavic Review 53 (1994), H. 4, S. 997 f.
72 Siehe Günther: Der Bau (Anm. 59), S. 64 f.
73 1935 erschien auch eine englische Ausgabe unter dem Titel The White Sea Canal.
74 Dennoch wurde die Idee der Umerziehung nicht völlig aufgegeben, gab es weiter eine Differenzierung der Häftlinge, und kam es immer wieder zu Entlassungen. – Siehe Barnes: Death (Anm. 36), S. 256.
75 Rolf Binner/Marc Junge: Vom »sozial nahen« zum »sozial feindlichen Element«. Kriminelle in der sowjetischen Gesellschaft 1918–1938, in: dies./Bernd Bonwetsch (Hg.): Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls No. 00447, Berlin 2010, S. 214.
76 Anciferov: Iz dum (Anm. 46), S. 385.
77 Zu dem Begriff siehe Klaus Gestwa: Social und soul engineering unter Stalin und Chruschtschow, 1928–1964, in: Thomas Etzemüller (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 241–277.
78 Guski: Der Präzeptor (Anm. 2), S. 221.