Dokumentation
In einem Brief an die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz haben sich im Juli 2011 vierzehn namhafte Historiker, Politikwissenschaftler und Publizisten aus Deutschland und Österreich gegen die für Juli 2012 geplante Veröffentlichung der Trotzki-Biografie von Robert Service im Suhrkamp Verlag gewandt. Im Folgenden wird dieser Brief im Wortlaut wiedergegeben.
30. Juli 2011
Betr.: Veröffentlichung der Trotzki-Biographie von Robert Service
Sehr geehrte Frau Unseld-Berkéwicz,
Ihr Verlag bereitet eine deutsche Ausgabe der Trotzki-Biographie von Robert Service vor. In der Fachwelt hat dieses Vorhaben Verwunderung und Besorgnis ausgelöst. Schon bald nach dem Erscheinen des Buches vor knapp zwei Jahren bei Harvard University Press hat es der Trotzki-Experte David North einer genauen Analyse unterzogen.1 Er kam zu dem Schluss, dass Robert Service grundlegende Standards der Geschichtswissenschaft missachtet hat und sein Verlag die gebotene verlegerische Sorgfalt vermissen lässt. Eine kürzlich erschienene Besprechung des Buches aus der Feder des Trotzki-Biographen Bertrande Patenaude in The American Historical Review hat die Kritik von North in vollem Umfang bestätigt.
North wie Patenaude haben Service eine Fülle von sachlichen Fehlern nachgewiesen (von falschen Angaben zu biographischen Tatsachen und historischen Ereignissen über falsche Orts- und Personennamen bis hin zu eklatanten Fehleinschätzungen – etwa der Position Trotzkis zu Autonomie und »Parteilichkeit« von Kunst und Literatur). Service’ Belege sind unzuverlässig. Gerade schwer zugängliche und für die meisten Leser kaum überprüfbare Quellen haben oft mit dem Behaupteten nichts zu tun oder belegen eher das Gegenteil. Service setzt sich auch nicht, wie es in der Suhrkamp-Verlagsankündigung heißt, »unparteiisch und unverfälscht« mit Trotzki und Stalin auseinander. Das Ziel seiner Arbeit ist vielmehr die Diskreditierung Trotzkis, und er greift dabei bedauerlicherweise vielfach auf Formeln zurück, die aus der stalinistischen Propaganda bekannt sind.
Service’ Biographie ist eine Schmähschrift. Der Evening Standard vom 23. Oktober 2009 berichtete über eine Präsentation des Buches und zitierte Service mit folgender Formulierung: »Noch ist Leben in dem alten Kerl Trotzki – aber wenn der Eispickel nicht gereicht hat, ihn endgültig zu erledigen, habe ich das nun hoffentlich geschafft.«
In den zahllosen Polemiken gegen Trotzki hat stets auch seine Herkunft aus einer jüdischen Bauernfamilie eine prominente Rolle gespielt. Auch Service misst dieser Herkunft – die, seiner Meinung nach, Trotzki selbst allzu sehr heruntergespielt habe – große Bedeutung bei. Die Passagen, in denen er darauf zu sprechen kommt, haben einen befremdlichen Beiklang. Wir zitieren in deutscher Übersetzung nach der englischen Originalausgabe:2
• »Russische Antisemiten sahen in den Juden eine Rasse ohne patriotische Bindung an Russland. Als Trotzki Außenminister einer Regierung wurde, die mehr daran interessiert war, die Weltrevolution zu verbreiten als die Interessen des Landes zu verteidigen, entsprach er dem weit verbreiteten Stereotyp des ›jüdischen Problems‹. […] Nach Lage der Dinge war er schon zum berühmtesten Juden auf Erden geworden. Der Leiter des US-Amerikanischen Roten Kreuzes in Russland, Oberst Raymond Robins, brachte das mit charakteristischer Schärfe zum Ausdruck. Im Gespräch mit Bruce Lockhart, dem britischen Sondergesandten in Moskau, beschrieb er Trotzki wie folgt: Er sei zwar ›in vieler Hinsicht ein Mistkerl, zugleich aber der größte Jude seit Christus‹.« (S. 192)
• Trotzkis »Intelligenz war herausfordernd, und er brachte seine Meinungen unverblümt zum Ausdruck. Keiner konnte ihn einschüchtern. Trotzki verfügte über diese Eigenschaften in höherem Maße als die meisten anderen Juden, die sich von den Traditionen ihrer Religionsgemeinschaft und den Restriktionen, die ihnen das Zarenreich auferlegte, befreit hatten. […] Er war keineswegs der einzige Jude, der die Möglichkeiten seines Aufstiegs in der Öffentlichkeit zu schätzen wusste. Später wurden solche Juden zu einem Vorbild für jüdische Jugendliche in der kommunistischen Weltbewegung, die – wie Kommunisten aller Nationen – sich mit lauter Stimme und scharfer Feder zu Wort meldeten, ohne auf die Gefühle anderer Leute Rücksicht zu nehmen.« (S. 202)
• »Die Parteiführung galt weithin als eine jüdische Clique. […] Tatsächlich glaubte man allgemein, Juden beherrschten die bolschewistische Partei.« (S. 205)
• Robert Service glaubt auch – ohne jeden Beleg –, herausgefunden zu haben, dass Trotzkis Vorname ursprünglich nicht Lew (Leo), sondern »Leiba« gelautet habe, was Trotzki später verleugnet habe. [Unter die Abbildungen seines Buches hat er (Nr. 11) eine antisemitische Trotzki-Karikatur aufgenommen, die – so die originale Bild-Legende – den »Kriegs- und Marine-Kommissar Leiba Trotzky-Braunstein«, »den eigentlichen Diktator Rußlands« zeigt. Service’ Kommentar dazu: »In Wirklichkeit war seine Nase weder lang noch gebogen, und niemals ließ er es zu, dass sein Spitzbart struppig wurde oder sein Haar schlecht gekämmt war.«]
Wir denken, dass das Buch von Service in Ihrem hoch angesehenen Verlag fehlplatziert ist, und bitten Sie, Ihre Option noch einmal zu überdenken.
Wien, 30. Juli 2011
Universitäts-Professor für Soziologie i. R., Dr. Helmut Dahmer (Technische Universität Darmstadt)
Mannheim, 30. Juli 2011
Universitäts-Professor em. für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte, Dr. Dr. h. c. Hermann Weber (Universität Mannheim)
Weitere Unterzeichner:
Bernhard Bayerlein, Dozent an der Universität Köln und Forscher am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam;
Heiko Haumann, Professor em. für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel;
Wladislaw Hedeler, Historiker und Publizist, Berlin;
Andrea Hurton, Historikerin und Publizistin, Wien;
Mario Kessler, Professor am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam;
Hartmut Mehringer, Institut für Zeitgeschichte, Berlin;
Oskar Negt, Professor em. für Soziologie, Universität Hannover;
Hans Schafranek, Historiker und Publizist, Wien;
Prof. Oliver Rathkolb, Professor und Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien;
Prof. Peter Steinbach, Universität Mannheim, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin;
Reiner Tossdorf, Dozent an der Universität Mainz;
Rolf Wörsdörfer, Dozent an Technischen Universität Darmstadt.