JHK 2013

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Wissenschaft und Erinnerungskultur

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 107-136 | Aufbau Verlag

Autor/in: Ilko-Sascha Kowalczuk

Aus Anlass des 50. Jahrestages des Volksaufstandes vom 17. Juni im Jahre 2003 erlebte die Öffentlichkeit monatelang einen Erinnerungs- und Gedenkboom, der überraschte, aber sogleich skeptisch nach der anhaltenden Wirkung fragen ließ. Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ließ 2003 im Vorfeld der Feierlichkeiten demoskopisch untersuchen, wie der Kenntnisstand in den jüngeren Generationen über den 17. Juni beschaffen sei. Das Ergebnis war ernüchternd. Ein paar Tage nach dem 17. Juni 2003 folgte eine zweite Erhebung, die nun – ebenso erwartungsgemäß – einen deutlich besseren Wissensstand zutage beförderte. Angesichts einer medialen Dauerbeschallung, zahlreichen Dokumentar- und Spielfilmen, dutzenden neuen Büchern, kaum zählbaren Ausstellungen, Veranstaltungen, Schülerwettbewerben, politischen Gedenkveranstaltungen bis hin zu Straßenumbenennungen schien das kaum überraschend.

Seither ist um den 17. Juni Jahr für Jahr an den gescheiterten Aufstand erinnert worden. Aus wissenschaftlicher Sicht ist seit 2004 kaum Neues erschienen.12 Dass der Tag seit 1963 ein gesetzlicher Gedenktag ist, wissen auch aktive Politikerinnen und Politiker oftmals nicht, weil der Gedenktag nicht selten mit dem arbeitsfreien Feiertag verwechselt wird, der noch 1953 als solcher bestimmt worden war und 1990 zugunsten des 3. Oktober abgeschafft worden ist. Zuletzt war der 17. Juni 1953 wieder etwas stärker im Gespräch, als es 2009 auch um die Frage ging, ob 1989 vollendet worden sei, was 1953 scheiterte und ob es Parallelen oder gar Kontinuitätslinien von 1953 zu 1989 gebe.

Bevor ich auf solche und andere Fragen eingehe, möchte ich von einer Impression berichten, die ich genau fünf Jahre nach dem Feierjahr 2003 erlebte und somit zeitlich zwischen dem 50. und 60. Jahrestag lag. Am 16. Juni 2008 folgte ich einer Einladung zu einem Vortrag und Gespräch über den 17. Juni ins anhaltinische Gommern. Auf der Fahrt dorthin ärgerte ich mich – wie schon tagelang vorher –, dass ich bei der Zusage ein halbes oder ganzes Jahr zuvor völlig vergessen hatte, in den Fußball-EM-Spielplan zu schauen. An diesem 16. Juni 2008 fanden die letzten Spiele in der Gruppenphase statt – Deutschland hatte zuvor gegen Kroatien verloren, musste also gegen Mitgastgeber Österreich das letzte Vorrundenspiel gewinnen, um sicher aus eigener Kraft weiterzukommen. Mit anderen Worten: Es ging um alles – und ich fuhr nach Gommern. Dort angekommen, wurde mein Ärger noch größer. Der schöne Vortragsraum war leer, war ja klar. Ich hatte noch ein paar Minuten Zeit und ging zum unweit gelegenen Zwiebelturm.

Die mittlerweile herausgeputzte Kleinstadt gehörte am 17. Juni 1953 zu einem kleinen Zentrum des Aufstands in Sachsen-Anhalt. Pendler brachten bereits mittags aus der Bezirkshauptstadt Magdeburg die Nachrichten mit, dass die Stadt von einem mächtigen Aufstand erfasst sei, Zehntausende bevölkerten dort die Straßen und Plätze, Häftlinge wurde befreit, mehrere Zentralen der SED-Herrschaft erstürmt, praktisch alle Großbetriebe beteiligten sich am Massenstreik. Die Bewegung griff auch auf Gommern über – einem von insgesamt über 700 Orten in der DDR. Dort lebten etwa 7000 Menschen. In hitzigen Betriebsversammlungen forderten mehrere Arbeiter den Sturz der Regierung. Der stellvertretende Werkleiter bat zwar die Beschäftigten, wieder zu arbeiten. Dies geschah aber offensichtlich halbherzig, da er zugleich den MfS-Untersuchungsakten, den Gerichtsakten und eigenen Aussagen zufolge, einen der Hauptredner, den ehemaligen Oberkommissar der Volkspolizei (VP) und nunmehrigen Arbeiter Werner Mangelsdorf aufforderte, zum »Zwiebelturm« zu marschieren.

Mangelsdorf initiierte einen Demonstrationszug zum »Zwiebelturm«, dem Gefängnis in Gommern. Es beteiligten sich zwischen 400 und 800 Menschen an der Demonstration, in manchen MfS-Dokumenten ist von 3000 die Rede. Zunächst ging es zur Polizei, wo man die Polizisten zwang, die Waffen abzulegen – diese wurden weggeschlossen – und mit zu marschieren. Anschließend stürmten die Demonstranten das Gefängnis, brachen mit Brechstangen die Zellen auf und befreiten sämtliche Häftlinge. Den Bürgermeister erklärte man für abgesetzt. Die Demonstranten bedrängten Mangelsdorf, diesen Posten zu übernehmen. Am Nachmittag rückten sowjetische Einheiten an, die aber nicht verhindern konnten, dass die Arbeiter auch am nächsten Tag ihren Streik fortführten. Inzwischen begann die Polizei nach den »Rädelsführern« zu fahnden und diese zu verhaften. Mangelsdorf flüchtete am 18. Juni mit einem Kollegen. Bis zum 30. Juni hielt er sich zunächst in Ost-Berlin und Potsdam auf, ehe er die Sektorengrenze nach West-Berlin übertrat.

In einem Schauprozess ist Werner Mangelsdorf mit drei weiteren Männern angeklagt und im Juni 1954 vom Obersten Gericht der DDR zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er hatte zwischen Juni 1952 und April 1953 als Geheimer Informator »Werkzeug« für das MfS gearbeitet. Auch nach seiner Flucht nach West-Berlin knüpfte er wieder Kontakte zum MfS, die im Dezember 1953 sogar zu einer neuerlichen schriftlichen Verpflichtung (»Erwin Stern«) führten – wovon wiederum seine Partner in West-Berlin wussten. Es nützte ihm nichts. Durch ein Intrigenspiel des MfS und aufgrund seiner eigenen Unerfahrenheit – Mangelsdorf war zwar in West-Berlin in Gruppierungen, die gegen die SED-Diktatur arbeiteten, aktiv, fühlte sich aber offenbar fern der Heimat und der Familie unwohl –, gelang es dem MfS, Werner Mangelsdorf am 16. Januar 1954 auf Ost-Berliner Gebiet, auf dem Bahnhof Friedrichstraße, zu verhaften. Dazu hatte die Freundin seines Bruders, die dem MfS als »Geheime Mitarbeiterin« diente, entscheidend beigetragen, indem sie ihn im Auftrag des MfS auf den Bahnhof brachte. Mangelsdorf wusste zwar, dass ihn dort MfS-Offiziere erwarten würden, aber er nahm an, es handle sich um ein verabredetes Gespräch mit seinen Führungsoffizieren, außerdem dachte er, seinen Bruder vor einer Verurteilung bewahren zu können. Die Schwägerin wurde im Anschluss bis Mitte April 1954 aus Sicherheitsgründen vom MfS festgehalten, ehe man sie entließ. Auch sein Bruder, den das MfS bereits am 3. Dezember 1953 verhaftet hatte, wurde in einem getrennten Prozess angeklagt und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Dem stellvertretenden Werkleiter erging es genauso. Mangelsdorf selbst erhielt 15 Jahre Zuchthaus in dem erwähnten Schauprozess, der selbstredend nicht beweisen konnte, was er vorgab zu beweisen: das es sich um einen vom Westen aus gesteuerten faschistischen Putschversuch gehandelt habe. Wie Mangelsdorf waren auch die anderen Mitangeklagten aus dem Westen entführt oder mit List und Tücke in den Osten gezwungen worden.3

Das alles und vieles mehr hatte ich vor, in Gommern zu erzählen. Nun stand ich also vor dem historischen Zwiebelturm, schaute mir die Örtlichkeit genau an und schlenderte zurück, nicht ohne unentwegt wegen des Fußballspiels, das ich verpassen würde, zu jammern. Ich kam in den Vortragssaal zurück und traute meinen Augen nicht. Völlig überfüllt, saßen dort Junge und Alte, Männer, Frauen und Jugendliche und starrten mich an. Diese erste Überraschung konnte ich mir noch frustriert wegreden: Mein Gott, so viele Fußballmuffel und Spaßbremsen auf einem Haufen, das kann ja heiter werden. Ich berichtete nun, warum sich was und wie in der DDR, in Magdeburg, in Sachsen-Anhalt und in Gommern in diesen ereignisreichen Tagen vor 55 Jahren zugetragen hatte.4 Nach meinem Vortrag vergaß ich die Fußball-EM. Ich brauchte kaum noch etwas zu sagen. Junge und Alte, Männer, Frauen und Jugendliche, einstige Funktionäre, Selbstständige, Bauern, Arbeiter, Nachbarn von Betroffenen und Häftlinge erzählten und erzählten, diskutierten und erinnerten sich. Geflüchtete waren eigens gekommen, einige Zuhörer zeigten starke Emotionen. Erstmals seit 55 Jahren wurde in Gommern über das öffentlich gesprochen, was sich dort am 17. Juni 1953 ereignet hatte. Stundenlang ging das – zwar erkundigte ich mich auf meiner Rückfahrt als Erstes nach dem Fußballergebnis, aber die restlichen zwei Stunden wertete ich aufgewühlt und voll überraschender Glückshormone diese Veranstaltung aus. Fußball war tatsächlich zur Nebensache geraten.

Das Beispiel Gommern soll zeigen, dass es noch sehr viel zu tun gibt, sehr viele Möglichkeiten vor uns liegen, über historisch prägende Ereignisse zu reden, sie in die politische Bildung zu tragen, sie im Schulunterricht fest zu verankern – sie auch abseits medialen Rummels und politischer Schauveranstaltungen zu debattieren. Im Folgenden werde ich kurz die historischen Ereignisse skizzieren, um dann zu fragen, welchen Stellenwert der 17. Juni in Wissenschaft und Erinnerungskultur einnimmt. Darauf aufbauend werde ich abschließend nach der Zukunft des 17. Juni fragen.

17. Juni 1953: Ursachen und Ausmaße

Als Bundeskanzler Konrad Adenauer hörte, dass in Ost-Berlin, Magdeburg, Halle, Leipzig, Jena, Görlitz, Dresden und vielen weiteren Orten am 17. Juni 1953 mächtige Demonstrationen stattfanden, glaubte er zunächst wie viele andere westliche Politiker an eine Inszenierung der kommunistischen Machthaber, die diesen aber aus der steuernden Hand entglitten sei.5 Es lag außerhalb des Vorstellungsvermögens, dass in der DDR das Volk massenhaft gegen die Diktatur aufbegehrt. Aber nicht nur in der Bundesrepublik, in Großbritannien oder den USA, auch im kommunistischen Machtbereich waren die Herrschenden von der Volksbewegung vollkommen überrascht.

Für die politische Klasse im Westen war ein Aufstand gegen die Diktatur nicht vorstellbar, weil der Staat übermächtig erschien, die Gesellschaft stillgelegt und ihre eigenen Erfahrungen, nicht zuletzt gespeist aus den Jahren 1933 bis 1945, eine eruptive Volkserhebung als vollkommen unrealistisch erscheinen ließen. Der Aufstand beherrschte einige Tage die Weltpresse und verdrängte sogar für kurze Zeit den Koreakrieg aus den weltweiten Schlagzeilen. Bundesdeutsche Botschafter in der ganzen Welt kabelten nach Bonn, die Welt erblicke im Aufstand den Schrei der Deutschen nach Wiedervereinigung, Freiheit und Demokratie. Die Weltpresse war sich einig, dass der Aufstand – so unterschiedlich manche Kommentatoren die Ursachen auch einschätzten und mit Verschwörungstheorien nicht geizten – vor allem und zuerst eine Niederlage für die sowjetische Politik, die kommunistische Diktatur sei.6

Auch in den dominierenden politikwissenschaftlichen Theorien war ein Aufstand nicht vorgesehen. Im Osten dagegen waren die Herrschenden ihrer eigenen Ideologie erlegen: Aufstände müssten zwangsläufig von Außen initiiert und gesteuert sein.7 Die Regierung und die kommunistische Parteiführung würden dem Volkswillen Geltung verschaffen, ein Aufstand des Volkes gegen die Regierung käme deshalb einem Aufstand gegen sich selbst gleich. Die propagierte Kongruenz zwischen Herrschafts- und Volkswille wurde zur Falle der kommunistischen Herrscher. Dabei waren diese nicht davon überzeugt, dass das gesamte Volk hinter ihnen stünde, aber der Macht- und Sicherheitsapparat bot ihrer Meinung nach genügend Gewähr, um diese Kongruenz zu erzwingen.8

Die unmittelbaren Wurzeln des Aufstands vom Juni 1953 lagen im Sommer 1952, als die SED-Spitze in Absprache mit der Moskauer Führung auf der 2. SED-Parteikonferenz den »Aufbau der Grundlagen des Sozialismus« proklamierte. Infolge dieses Beschlusses kam es zu einem regelrechten Vernichtungskampf gegen Selbstständige, private Unternehmen, die freie Bauernschaft, die Kirchen und bürgerliche Mittelschichten. Zehntausende verschwanden unter fadenscheinigen Gründen in Zuchthäusern. Die SED forcierte den Kampf gegen die evangelischen »Jungen Gemeinden« und erklärte sie zu »illegalen Organisationen«. Etwa zwei Millionen Menschen wurden aus politisch-sozialen Gründen die Lebensmittelkarten entzogen. Sie mussten fortan in den völlig überteuerten HO-Läden einkaufen, wo beispielsweise ein Kilogramm Butter 20 Mark kostete. Zur gleichen Zeit betrug das Durchschnittseinkommen 308 Mark.9 Vor dem Hintergrund einer beschleunigten Militarisierung der Gesellschaft und dem Aufbau eigener Streitkräfte kam es zur Vernachlässigung der Leichtindustrie zugunsten des intensivierten Aufbaus der Schwermaschinen- und Stahlindustrie. Eng damit zusammen hing eine eklatante Vernachlässigung des zivilen Wohnungsauf- und -neubaus. Das ohnehin niedrige Lebensniveau senkte sich weiter ab, die allgemeine Unzufriedenheit im Land war nicht zu übersehen. Die Fluchtbewegung nahm rapide zu und erreichte in der ersten Hälfte des Jahres 1953 ein bislang nicht gekanntes Ausmaß.

Seit April 1953 war die krisenhafte Entwicklung in der DDR mehrmals Gegenstand von Sitzungen des sowjetischen Ministerrates und des Politbüros. Die DDR drohte zu kollabieren. Schließlich griff die sowjetische Führung ein, bestellte Anfang Juni 1953 eine dreiköpfige SED-Delegation nach Moskau und verordnete den »Neuen Kurs«. Konsterniert kehrten Walter Ulbricht, Otto Grotewohl sowie Fred Oelßner aus Moskau zurück und verkündeten schließlich am 9. Juni 1953 namens des SED-Politbüros den »Neuen Kurs«. Am 11. Juni folgte eine ähnliche Erklärung der Regierung.

Die Gesellschaft ist von dieser politischen Wendung überrascht worden. Innerhalb der SED artikulierten sich immer lauter Stimmen, die Ulbrichts Machtfülle kritisierten und den mächtigsten Mann der Partei zum Rücktritt bzw. wenigstens zur Machtteilung aufforderten. Außerhalb der SED gingen die Forderungen weiter. Schon am 11. Juni mehrten sich die Stimmen, die den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen verlangten. Demonstrationen und Streiks entflammten im gesamten Land. In mehreren Städten versammelten sich Menschen vor den örtlichen Gefängnissen und verlangten die Freilassung der politischen Gefangenen, so in Brandenburg, Stralsund, Weimar, Güstrow, Halle, Leipzig oder Neuruppin. In Dutzenden Betrieben stellten Arbeiter politische und soziale Forderungskataloge auf. Bauern feierten bereits die Abdankung der Kommunisten. In vielen Dörfern gab es regelrechte Freudenfeste. Die Bevölkerung begriff den »Neuen Kurs« mehrheitlich als »Bankrotterklärung« des Systems. Diese Einschätzung dominierte in allen sozialen Gruppen.

Die Führungen in Moskau und Ost-Berlin mussten eingestehen, dass die Wirtschaftspolitik, die Sozialisierungspolitik, die strafprozessuale Praxis und die »ideologische Offensive« seit Sommer 1952 gescheitert waren und das Land in eine tiefe Krise geführt hatten. Sie gingen davon aus, mit einer veränderten, mit weniger Zwang und Druck ausgeübten Politik das Land daraus herausführen zu können. Die Bevölkerung vertrat dagegen mehrheitlich die Auffassung, das System sei abgewirtschaftet und die Regierung müsse abtreten.

Zum Aufstand kam es in dem Augenblick, in dem die Macht entblößt und geschwächt schien. Die Aufständischen konnten hoffen, in dieser Situation Erfolg zu haben. Zudem vermittelte ihnen die selbstkritische Analyse der kommunistischen Führung das Gefühl, mit ihren individuellen Erfahrungen und Erlebnissen in den vergangenen Monaten und Jahren gesellschaftlich nicht isoliert gewesen zu sein. Vielmehr war die Erfahrung von Zwang, Repression, Verfolgung und sozialer Armut ganz offenbar die dominierende im Vorfeld des Juni 1953. Insofern wirkte das Kommuniqué vom 9. Juni 1953 mobilisierend für den Ausbruch des Aufstands. Das Eingeständnis der Machthaber, Fehler begangen zu haben, weckte zudem Hoffnung, wirklich etwas verändern zu können.

Der von der Moskauer Führung verordnete und von der ostdeutschen Bevölkerung erzwungene »Neue Kurs« erwies sich zunehmend als Bumerang. Kaum hatte das Regime die Zügel etwas lockerer gelassen, nutzte die Bevölkerung die Situation, um politische Veränderung zu erzwingen. Sie hoffte auf Rechtssicherheit, demokratische Verhältnisse, auf die Überprüfung von Gesinnungs- und Terrorurteilen, auf Freizügigkeit, auf bessere Arbeits- und Lebensverhältnisse, insbesondere auf eine gesicherte Versorgung, und nicht zuletzt auf die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Volkserhebung begann im Juni 1953, weil sich das Land seit Monaten in einer tiefen gesellschaftlichen Krise befand und weil die SED-Diktatur zum ersten Mal so ge­schwächt und entblößt war, dass die Machthaber und ihr Apparat wie paralysiert erschienen – und es einige Tage lang auch waren.

Der Aufstand erstreckte sich flächendeckend in der gesamten DDR. Zwischen dem 16. und 21. Juni kam es zu Demonstrationen, Streiks, Kundgebungen, Erstürmungen öffentlicher Gebäude und anderen öffentlichen Akten in über 700 Städten und Gemeinden der DDR.10 Beteiligt waren sämtliche Großstädte der DDR, aber auch Hunderte Dörfer und Gemeinden. Die Bewegung war spontan, weitgehend unorganisiert und führerlos. Es dominierten politische Forderungen (»Rücktritt der Regierung«, »Weg mit der SED«, »freie Wahlen«, »Abzug der Besatzungstruppen«, »Einheit Deutschlands«), aber auch soziale Bedürfnisse wurden allerorten vertreten (»Senkung der HO-Preise«, »Senkung der Normen«). Einem Flächenbrand gleich weitete sich der Aufstand von den Zentren an die Peripherie aus. Berlin,11 Magdeburg, Halle, Dresden, Jena, Leipzig, Görlitz, Gera, Bitterfeld, Buna-Leuna-Merseburg und Brandenburg erwiesen sich als Zentren, von denen der Funke der Bewegung aufs Land übersprang.

Die ostdeutsche Bewegung bedurfte keiner westlichen Mentoren. Die westlichen Radiosender berichteten damals über die Verhältnisse so, wie sie Millionen tagtäglich erlebten. Ihre besondere Bedeutung lag darin, dass sie über die Vorgänge überhaupt informierten, so dass in der gesamten DDR zumindest die Ereignisse in Ost-Berlin und einigen anderen Großstädten bekannt wurden. Diese Informationen wirkten katalysatorisch, aber nicht ursächlich. Die westlichen Geheimdienste wurden von den Vorgängen genauso überrascht wie ihre östlichen Pendants. Ein CIA-Mitarbeiter der Berliner Basis notierte trocken: »Wir wurden kalt erwischt.«12 Oft, auch im Westen wiederholte Behauptungen, der CIA habe überlegt, die Aufständischen mit Waffen zu versorgen,13 gehören ebenso ins Reich der historischen Legenden wie Unterstellungen, westdeutsche Dienste hätten den Aufstand initiiert oder unterstützt.14 In einer Analyse vom 20. Juni 1953 stellte der bundesdeutsche Geheimdienst fest: »Der bisherige Gesamteindruck über die Vorgänge in Ost-Berlin und in der Zone verstärkt die Auffassung, dass es sich um von östlicher Seite inszenierte Aktionen mit dem Ziel handelt, die Wiedervereinigung im großdeutschen Rahmen zu Gunsten anderer wichtiger außen- und innerpolitischer Absichten ins Rollen zu bringen. Als erste Phase wurde vermutlich die Ausschaltung des diesen Absichten entgegenwirkenden Moments in Gestalt der bisherigen ostzonalen Politiker ins Auge gefasst. Die Aktion ging jedoch über den gewünschten Rahmen durch das Eingreifen unvermuteter Widerstandskräfte hinaus.«15 Der »Gehlen-Dienst« hatte versagt und versuchte nachträglich, sein Versagen zu legitimieren. Im selben Papier mussten seine Mitarbeiter eingestehen, so wie auch CIA-Mitarbeiter, dass sie am 17. Juni 1953 ihre Kontakte zu ihren ostdeutschen Agenten völlig verloren hatten. Auch der Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, ging offenbar davon aus, dass die Demonstrationen von den Russen organisiert worden seien.16

Die Bewegung in der DDR zwischen dem 16. und 21. Juni 1953 lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen. In den Großstädten gingen die Streiks und Demonstrationen fast immer von Bauarbeitern und/oder Industriearbeitern aus. Insofern begann die Bewegung als ein Arbeiteraufstand, der innerhalb kürzester Zeit in einen Volksaufstand überging. In den Aufstandszentren waren sämtliche soziale Gruppen an Streiks, Demonstrationen und Erstürmungen öffentlicher Gebäude beteiligt. In agrarisch geprägten Regionen wurde die Bewegung oft von Pendlern ausgelöst. Mindestens ebenso häufig aber brachen Unruhen aus, die von Beginn an Bauern, die unter dem Zwang der Kollektivierung und einer repressiven Steuer- und Ablieferungspolitik zu leiden hatten, trugen. In mehreren Fällen strömten Bauern und ihre Angehörigen zu Tausenden in umliegende Kreisstädte und initiierten dort Demonstrationen und Kundgebungen.

Unter den geschätzten eine Million Demonstranten und Streikenden befanden sich viele Auszubildende, Hausfrauen, Rentner, Selbstständige, Handwerker, Schüler oder Intelligenzler. Während Jugendliche oft zu den Aktivposten bei Erstürmungen öffentlicher Gebäude zählten und betroffene Familienangehörige im mittleren Alter die Befreiung von politischen Häftlingen in die Hand nahmen, erwiesen sich Personen mit einer höheren Ausbildung (Facharbeiter, Studium) oftmals als befähigt für eine Tätigkeit in Streikkomitees oder als Streik- und Kundgebungssprecher.

Der Verlauf des Volksaufstands folgte keinem einheitlichen Muster. Am Beginn standen zumeist Forderungskataloge, die am frühen Morgen des 17. Juni auf Belegschaftsversammlungen diskutiert wurden. Diese erwiesen sich jedoch meist als falsches Medium, weil die politischen Forderungen von den Betriebsleitungen und den örtlichen Parteifunktionären nicht erfüllt werden konnten. Demonstrationen auf den Straßen waren die logische Folge.

Auf den Straßen bildeten sich schnell mächtige Marschformationen. Die Menschen waren fröhlich und freundlich, zeigten sich siegesgewiss. Der Sturm auf öffentliche Gebäude erwies sich im Allgemeinen als leicht. Ernsthafte Gegenwehr war bis in die frühen Nachmittagsstunden eher die Ausnahme. Die Machthaber waren geschockt und auf den Flächenbrand nicht vorbereitet. Sie hatten lediglich in Ost-Berlin einige Sicherungsmaßnahmen vorgenommen, aber auch hier bekamen die sowjetische Armee und die ostdeutsche Polizei die Lage erst ab den Mittagsstunden allmählich und langsam unter Kontrolle.

Der Schwung der Bewegung nahm in vielen Städten und Gemeinden nach den ersten Erfolgen recht schnell wieder ab. Nachdem die Aufständischen politische Häftlinge befreit, Forderungskataloge formuliert, Verhandlungen mit den örtlichen Funktionären geführt und die wichtigsten Gebäude der Stadt besetzt – und oft auch verwüstet – hatten, breitete sich Ratlosigkeit aus, was nun zu tun sei. In Bitterfeld, Halle, Görlitz, Leuna-Buna und anderen Regionen konstituierten sich zwar überbetriebliche Komitees, aber der schnelle Sieg über die örtlichen Machthaber ließ ebenso schnell ein Handlungsvakuum entstehen. Die Aufständischen waren sich ihres Sieges gewiss, wussten oftmals aber nicht, wie sie ihre augenblicklichen Chancen politisch umzusetzen hätten und waren auf das massive Eingreifen der sowjetischen Armee nicht vorbereitet. Eine solche Vorbereitung hätte ihnen auch nichts genützt, verfügten sie doch weder über Waffen noch andere wirksame Gegenmaßnahmen. Als die sowjetischen Einheiten in die Städte und Dörfer einmarschierten, kam hinzu, dass deren Auftreten allgemein nicht sofort den Schluss zuließ, dass diese mit allen ihnen zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln den Aufstand niederschlagen würden. Die Soldaten waren verunsichert, die Offiziere nicht auf Polizeieinsätze vorbereitet und die Einsatzleiter bemühten sich zunächst, die Menge mit Aufrufen zu zerstreuen. Erst als das nichts half, griff die Armee zu militärischen Mitteln. Zumeist erfolgten diese Einsätze behutsam und waren nicht von übermäßiger Härte gekennzeichnet. Die meisten tödlichen Schussverletzungen waren die Folge von Querschlägern. Gezielte Schüsse in die Menge blieben – abgesehen zum Beispiel von Ost-Berlin – ebenso Ausnahmen wie die Panzer, die zumeist im Schritttempo fuhren – Ausnahmen bildeten hier zum Beispiel Ost-Berlin, Jena und Magdeburg. Die martialische Wucht der Armeeeinheiten und der ohrenbetäubende Lärm von Panzerketten nur acht Jahre nach Kriegsende reichten oft aus, um die geschockten Menschen auseinanderzutreiben.

Viele Städte glichen tagelang Belagerungsstätten. Dennoch zog sich die Bewegung – regional verschieden – noch über Tage hin. Der Volksaufstand ist zwar am 17. und 18. Juni niedergeschlagen worden, die Protestbewegung blieb jedoch noch Tage darüber hinaus vital. In vielen Städten und Dörfern kam es erst am 18. oder 19. Juni zu Streiks, neue Betriebe gesellten sich hinzu, auch Demonstrationen und Kundgebungen entflammten immer wieder. Insgesamt zog sich der Aufstand bis zum 21. Juni hin, wobei er zwischen dem 16. und 19. Juni seinen Höhepunkt erlebte.

Neben den sowjetischen Panzern trug zur Niederschlagung des Aufstands ganz wesentlich bei, dass das Ministerium für Staatssicherheit sehr schnell, noch im Laufe des 17. Juni, im Verbund mit sowjetischen Dienststellen, der Polizei und den Justizorganen dazu überging, die größte Verhaftungsaktion in der DDR-Geschichte einzuleiten. Die Massenverhaftungen blieben zwar tagelang willkürlich, aber durch zugleich gezielt vorgenommene Verhaftungen von Streikleitungen und Streikführern konnte in vielen Betrieben den Streikaktionen die Spitze abgebrochen werden.

Zur Bilanz des Volksaufstands gehörten Aktionen in über 700 Städten und Gemeinden. Die sowjetische Militäradministration verhängte am 17. bzw. 18. Juni über 167 der 217 Land- und Stadtkreise den Ausnahmezustand, der am längsten in Ost-Berlin, Halle und Leipzig aufrechterhalten worden ist (bis einschließlich zum 11. Juli 1953). Zu Streiks kam es in weit über eintausend Betrieben und Genossenschaften. Die Aufständischen erstürmten über 250 öffentliche Gebäude. Darunter befanden sich fünf MfS-Kreisdienstellen (Niesky, Görlitz, Bitterfeld, Jena, Merseburg), zwei SED-Bezirksleitungen (Halle, Magdeburg), eine VP-Bezirksdirektion sowie Dutzende SED- und FDGB-Gebäude, VP-Reviere, Kreisratsämter, Gemeinderäte und andere öffentliche Gebäude. Vor über 70 Gefängnissen und anderen Haftorten versammelten sich Demonstranten mit dem Ziel, die politischen Häftlinge zu befreien. Aus zwölf Haftanstalten sind mehr als 1500 Häftlinge befreit worden, von denen fast alle wieder eingesperrt wurden, viele stellten sich, einige verhinderten Übergriffe auf das Wachpersonal, wofür eine Reihe später vorzeitig entlassen worden ist. Etwas mehr als 60 Häftlinge konnten in den Westen flüchten. Die sowjetische Besatzungsmacht zeichnete für standrechtliche Erschießungen verantwortlich, deren genaue Zahl bislang unklar ist. Bei fünf Männern lässt sich eine solche Hinrichtung zweifelsfrei belegen, bei anderen, auch namentlich bekannten Personen, ist ein solcher Quellenbeweis bislang nicht möglich.17

Die Gesamtzahl der Festgenommenen belief sich auf 13 000 bis 15 000. In den städtischen Zentren der Volkserhebung kam es prozentual zu den meisten Festnahmen, wobei allein auf Berlin ein Viertel bis ein Drittel entfiel. Neben standrechtlichen Erschießungen verhängten sowjetische Militärtribunale auch Haftstrafen, die in ostdeutschen Gefängnissen oder in sowjetischen Zwangsarbeitslagern verbüßt werden mussten. Wie viele Urteile die Sowjetischen Militärtribunale (SMT) aussprachen, ist bislang unbekannt. Die Anzahl dürfte zwischen 500 und 750 betragen haben. Die SMT verhängten höhere Strafmaße als die ostdeutschen Gerichte. Strafen zwischen drei und fünf Jahren waren die Ausnahme, acht bis zwölf Jahre die Regel und fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahre nicht selten.

Wenn man bedenkt, dass das System am 17. Juni am Abgrund und die Macht des Politbüros zur Disposition stand, dann ist es erstaunlich, dass die Mehrheit der Festgenommenen bis Ende Juni 1953 bereits wieder freigelassen worden ist. In den folgenden Wochen und Monaten bis Mitte 1955 kam es vor DDR-Gerichten zu etwa 1800 Urteilssprüchen. Dabei war auffällig, dass neben zwei Todesurteilen und drei lebenslänglichen Haftstrafen die Mehrheit der Urteilssprüche relativ gering ausfiel. Die beiden Todesurteile waren reine Terrorurteile, die ohne Beweislast zustande kamen. Etwa 88 Prozent aller Verurteilten waren Arbeiter.

Die Verurteilungen erfolgten nach keinem erkennbaren System. Das Hauptanliegen bestand darin, »westliche Organisatoren« und »Rädelsführer« dingfest zu machen und abzustrafen. Beides gelang nicht, weil weder die »westlichen Organisatoren« noch »Rädelsführer« im engeren Sinne existiert hatten. Das SED-Politbüro beklagte drei Monate nach dem Volksaufstand, am 23. September 1953, dass es dem MfS bislang nicht gelungen sei, die »Organisatoren der Provokationen« zu entlarven. Nochmals zwei Monate darauf, am 11. November 1953, räumte der neue Chef des Staatssicherheitsdienstes, Ernst Wollweber, auf einer zentralen Dienstkonferenz ein: »[Wir müssen] feststellen, dass es uns bis jetzt noch nicht gelungen ist, nach dem Auftrag des Politbüros die Hintermänner und die Organisatoren des Putsches vom 17. Juni festzustellen.«18

Wie viele Opfer auf den Straßen zu beklagen waren, kann bis heute nicht präzise gesagt werden. Nach Auswertung der bisher bekannten Dokumente, Zeitzeugenerinnerungen und der vorhandenen Forschungsliteratur kamen zwischen dem 16. und 21. Juni 1953 etwa 40 bis 50 Aufständische ums Leben. Mehrere Tausend wurden verletzt. In einigen Ortschaften kam es zu Racheakten an SED-Mitgliedern und MfS- bzw. VP-Angehörigen. Auch die Zahl dieser Toten konnte bislang nicht exakt ermittelt werden. Sie liegt etwa bei zehn.

Die deutlich höher liegenden Opferzahlen, die noch bis vor wenigen Jahren allgemein verwendet wurden und erst vor zehn Jahren revidiert worden sind, basierten auf Angaben, die Ost-Agenten dem Gehlen-Dienst übermittelt sowie Flüchtlinge im Rahmen des Bundesnotaufnahmeverfahrens gemacht hatten. Die Liste mit den höchsten Opferzahlen, die das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen intern zusammenstellte, aber ganz offenbar einigen wenigen Gewährsleuten zur öffentlichen Auswertung zur Verfügung stellte, kam am 16. Oktober 1953 auf jeweils namentlich genannte und regional zugeordnete 283 getötete Demonstranten, 137 von Protestierenden erschlagene oder gelynchte Funktionsträger, 125 standrechtlich Erschossene, 54 nach Gerichtsurteilen Hingerichtete sowie 32 während der nächtlichen Sperrstunde Erschossene, insgesamt also auf 631 Tote.19 Außerdem finden sich mehrere Notizen aus diesen Tagen von den Verfassern im Bundesministerium und beim Gehlen-Dienst darüber, dass eine unbekannte Anzahl Demonstranten nach Moskau gebracht und dort wahrscheinlich erschossen worden sei. Es könnte ein interessantes Forschungsprojekt darstellen, diese Namensliste mit Unterlagen des MfS, der VP, des Justizapparates, der SED u. a. und, sofern möglich, mit russischen Überlieferungen abzugleichen. Es ist kaum zu erwarten, dass sich die jetzt als verfestigt angegebenen Opferzahlen deutlich verändern würden. Aber ein solches Projekt könnte wissenschaftliche Aufschlüsse über die »Ostarbeit« des Gehlen-Dienstes und des erwähnten Bundesministeriums erbringen.

Wenn man sich die Verlaufsgeschichte des Volksaufstandes vor Augen führt, dann kommt man nicht umhin, für jene Orte, in denen es zur Besetzung der Machtzentralen und zur Ausbildung neuer bzw. Umfunktionierung der alten Herrschaftsstrukturen in Ansätzen kam (u. a. in Görlitz, Merseburg, Bitterfeld, Halle), der Bewegung einen revolutionären Charakter zuzusprechen. Zudem herrschte in der gesamten DDR das Verlangen, einen politischen und wirtschaftlichen Paradigmenwechsel herbeizuführen, die Frage der deutschen Einheit stand ohnehin nicht auf dem Katalog der zu diskutierenden Fragen: Die Wiederherstellung der staatlichen deutschen Einheit unter den Vorzeichen der westdeutschen Demokratie wurde von einer überwältigenden Mehrheit aller Ostdeutschen am 17. Juni 1953 als banale Selbstverständlichkeit angesehen.

Vom Ziel her war der Volksaufstand revolutionär. Eine neue gesellschaftliche Ordnung verbunden mit neuen Rechtsnormen, der Sprengung der Sozialstruktur, der Überwindung des kommunistischen Wirtschaftssystems und die Beseitigung der entsprechenden Eliten waren im Aufstand angelegt. Die bestehende staatliche und gesellschaftliche Ordnung stand zur Disposition. Als partiell revolutionär erwies sich ebenso die historische Situation: Die gesamte gesellschaftliche Krise war akut, kaum noch steuerbar, die Führungsgruppen in ihrer Autorität tiefgehend erschüttert, der Legitimitätszerfall rasant, zugleich eröffneten sich scheinbare revolutionäre Handlungsoptionen.

Die Revolution brach jedoch in sich zusammen, bevor sie flächendeckend den alten Staat, seine Machtinstrumente zerstört und erobert hatte. Dazu trugen maßgeblich zwei Gründe bei: Erstens fehlte es der Volksbewegung an Führungspersönlichkeiten, die willens und in der Lage gewesen wären, eine Revolution zu gestalten und politisch nach der Zerstörung der alten rasch neue Herrschaftsformen zu stabilisieren. Der Aufstand dauerte zu kurz, um solche Persönlichkeiten hervorzubringen. Zweitens aber, noch wichtiger, wäre es ein historischer Trugschluss, anzunehmen, der scheinbar paralysierte alte Machtapparat wäre tatsächlich außer Gefecht gesetzt gewesen. Zwar kamen die ostdeutschen Polizeieinheiten nicht in dem politisch erwünschten Maße den ihnen zugedachten Aufgaben nach, ließen sich oft entwaffnen, verfügten über eine schlechte Ausbildung und wiesen nicht die notwendige Bewaffnung auf, aber der eigentliche Garant der SED-Diktatur war vor 1953 und nach 1953 die sowjetische Besatzungsmacht – und die kam ihrem Auftrag, die Diktatur zu stabilisieren, schnell und effektiv nach. Insofern war zwar der Volksaufstand revolutionär ausgerichtet, aber die objektive historische Situation erwies sich als nicht geeignet für eine erfolgreiche Revolution. Der Volksaufstand musste scheitern, die Revolution bereits im Keim erdrückt werden. Die objektiven Bedingungen im Sommer 1953 ließen der Bewegung nicht den Hauch einer Chance. Das Scheitern war vorprogrammiert: die internationalen Rahmenbedingungen und der Machtwille der Sowjets trugen dazu ebenso bei wie das letztlich unorganisierte, spontane, unkoordinierte, führerlose und konzeptfreie Agieren der Volksbewegung. Das Ziel der Bewegung war eindeutig, der Weg dahin aber nur skizziert und die internationalen Rahmenbedingungen nicht einmal ansatzweise berücksichtigt.

Probleme und Kontroversen

Die Geschichte des »17. Juni« stellt eine fast sechzigjährige Interpretations- und Umdeutungsgeschichte dar. Während in der DDR die offizielle Sicht auf den »17. Juni« nahezu ungebrochen blieb und lediglich in den Achtzigerjahren häufiger vom »konterrevolutionären Putschversuch« statt vom »faschistischen Putsch« gesprochen wurde, unterlag der »17. Juni« in der Bundesrepublik mehrfachen politischen Umdeutungen.20

In der Bundesrepublik ist der 17. Juni noch 1953 zum gesetzlichen Feiertag erhoben worden. Am 11. Juni 1963 proklamierte Bundespräsident Heinrich Lübke den 17. Juni zum »Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes«. Seit Mitte der Sechzigerjahre ist immer wieder darüber debattiert worden, den Feiertag abzuschaffen. Trotz erheblicher Widerstände konnten sich parteienübergreifend aber immer jene durchsetzen, die am 17. Juni als »Tag der deutschen Einheit« festhielten und der Opfer feierlich und öffentlich gedenken wollten. 1983 weigerte sich zwar die im selben Jahr erstmals in den Bundestag eingezogene Fraktion »Die Grünen«, an der Feierstunde im höchsten deutschen Parlament teilzunehmen, aber auch diese Weigerung blieb nur eine Episode in der Parlamentsgeschichte. Gleichwohl war unübersehbar, dass die Akzeptanz dieses Feier- und Gedenktages in der bundesdeutschen Öffentlichkeit verstärkt abnahm. Die öffentlichen Veranstaltungen, anlässlich derer in den Fünfzigerjahren noch Millionen zusammenkamen, sind ab den späten Sechzigerjahren nur noch von einigen Zehntausenden Bundesbürgern besucht worden, in den Achtzigerjahren waren Veranstaltungen mit einigen Dutzend Personen längst keine Seltenheit mehr. Der staatliche Feiertag am 17. Juni war nur noch eine sozialpolitische Errungenschaft.21

Bereits Anfang der Sechzigerjahre hatte ein Publizist kommentiert: »Der 17. Juni 1953 stieß in Westdeutschland auf Hilflosigkeit und Verwirrung. Der Aufstand brach völlig überraschend aus, er war im westdeutschen Denken nicht vorgesehen und wurde deswegen von ihm auch nicht bewältigt. Noch heute steht die Bundesrepublik diesem Tage mit ungewöhnlicher Verlegenheit gegenüber. Eine Gesellschaft, die aus verständlichen Gründen zutiefst antirevolutionär ist, hat den Tag einer Revolution zum ›Nationalen Feiertag‹ erklärt und damit mythisiert.«22 Und das galt in den Siebzigerjahren sowohl für diejenigen, die den Tag politisch überschwänglich feierten, als auch für jene, die ihn ebenso als politisches Theater ablehnten und erst recht für die Dritten, die ihn bewusst beschwiegen.

Von diesen politischen, durch internationale und deutsch-deutsche Rahmenbedingungen beeinflussten Entwicklungen blieb auch die wissenschaftliche Deutung des »17. Juni« nicht unberührt. Waren sich in den Fünfzigerjahren Zeitzeugen und Kommentatoren einig, am 17. Juni einen Volksaufstand oder eine misslungene Revolution erlebt zu haben,23 so wurde nach dem Mauerbau – im Zeichen einer veränderten Deutschlandpolitik – der »17. Juni« zunehmend auf einen »Arbeiteraufstand« reduziert.24 Als maßgeblich für diese Interpretation erwies sich die Deutung von Arnulf Baring, der seine Schlussfolgerungen in den verschiedenen Auflagen seines Buches jeweils dem herrschenden deutschlandpolitischen Mainstream anpasste.25 Hinzu kam der Umstand, dass insgesamt die Beschäftigung mit der DDR-Geschichte in der Bundesrepublik kein bevorzugtes Geschäft von Historikerinnen und Historikern darstellte.

Im Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen und den wissenschaftstheoretischen Debatten gerieten die DDR-Bilder von Teilen der bundesdeutschen Forschung und der Öffentlichkeit in eine Schieflage. Dem postnationalen Selbstverständnis vieler Gruppen der bundesdeutschen Eliten entsprechend erschien die DDR als ein ebenso legitimes Völkerrechtsobjekt wie die Bundesrepublik selbst. Diese Entwicklung hing damit zusammen, dass sich die DDR-Forschung in der alten Bundesrepublik durch eine signifikante Politiknähe auszeichnete, war sie doch als politikberatendes Instrumentarium institutionalisiert worden. Das hatte zur Konsequenz, dass in den Siebziger- und Achtzigerjahren bestimmte Fragestellungen kaum noch aufgeworfen worden sind, zum Beispiel solche nach Opposition, Widerstand und Repression, wozu auch der »17. Juni« zählte.26 Wer heute nach Forschungsergebnissen über DDR-Opposition, Widerstand und Repression bis 1989 fragt, wird auf die Werke von Journalisten und Publizisten stoßen, ganz selten aber auf Studien von Akademikern aus traditionellen Forschungsstrukturen.27

Mit dem Fall der Mauer und der Öffnung der DDR-Archive veränderte sich die Situation grundlegend – der »17. Juni« wurde nicht nur zu einem der ersten Forschungsschwerpunkte der sich neu formierenden historischen DDR-Forschung, er blieb es auch über zehn Jahre lang bis zum Jubiläumsjahr 2003. Dabei kristallisierten sich rasch Forschungskontroversen heraus, die im Prinzip bis heute bestehen blieben, ohne allerdings ihre anfängliche öffentliche Relevanz beizubehalten. Aus den zunächst mit der in den Neunzigerjahren üblichen öffentlichen Schärfe und Hitzigkeit ausgetragenen Auseinandersetzungen, bei denen es letztlich nach dem Sturz der SED-Diktatur auch um öffentliche und wissenschaftliche Deutungshoheiten und geschichtspolitische Ziele ging, sind seit Ende der Neunzigerjahre ganz normale wissenschaftliche Dispute geworden, die im Kern nur noch die damit befassten Forscherinnen und Forscher beschäftigen.28

Die unmittelbaren Ursachen des »17. Juni« gelten mittlerweile als gut erforscht. Im Allgemeinen wird als Ausgangspunkt die 2. SED-Parteikonferenz angesehen. Sie produzierte ein Ursachenbündel, das sich u. a. mit Schlagworten wie Militarisierung, Kollektivierung der Landwirtschaft, Vernichtungskampf gegen bürgerliche Mittelschichten, politische Strafjustiz, Kirchenkampf, Industriereform und Absenkung des Lebensniveaus umschreiben lässt. Dieses Ursachenbündel war eine Voraussetzung für die Erhebung ebenso wie für die Einführung des »Neuen Kurses« mit den ungewollten Mobilisierungseffekten.

In der Forschung spielte es bislang in den Debatten kaum eine Rolle, dass an wenigen Tagen Menschen aufbegehrten, die zumeist weder vor dem Ereignis noch danach einen »außergewöhnlichen« Biografieverlauf aufwiesen. Wo kamen die Akteure her, wie verlief ihr weiterer Entwicklungsweg? Inwiefern beeinflusste ein einziger Tag den gesamten Biografieverlauf? Biografien über Akteure des »17. Juni« gibt es bislang nur wenige. Wie kam es, dass an diesem einen Tag bzw. an diesen wenigen Tagen, die Akteure innerhalb ihrer Betriebe genau und schnell wussten, wie Streiks und Proteste zu organisieren sind? Dieser Befund zielt auf die Frage, ob in Zukunft nicht viel stärker zu untersuchen sein wird, inwiefern alte sozialdemokratische Traditionen revitalisiert worden sind, welche Rolle wie auch immer gelagerte Erfahrungen aus der organisierten Arbeiterbewegung spielten und inwiefern die nur wenige Jahre zuvor durch die SED zerstörten Betriebsräte und die daraus resultierenden Erfahrungen der Arbeiter im Ereignis »17. Juni« reaktiviert werden konnten.

Wenn man auch historisch konzediert, dass am »17. Juni« sämtliche soziale Gruppen der Gesellschaft aktiv beteiligt gewesen sind, so kommt man dennoch nicht umhin, festzuhalten, dass insbesondere in den Städten den Aufstand fast immer Arbeiter auslösten. Dabei fällt wiederum auf, dass erstens diese Arbeiter fast durchweg als lohnprivilegierte gegenüber anderen Arbeitern angesprochen werden können. Zweitens ist ebenfalls charakteristisch, dass Bauarbeiter vielerorts die Protagonisten des Aufstands und der Streikbewegung waren. Aber es gab auch Orte, wo die Bewegung zunächst von Industriearbeitern, zumeist hochqualifizierten Facharbeitern ausging. Es wäre zu fragen, welche spezifischen Ursachen dafür zugrunde lagen, von wem die Initialzündung ausging. Ebenfalls diskutiert werden müsste, warum anfangs die Protestbewegung am »17. Juni« von Lohnempfängern mit überdurchschnittlichem Einkommen und vergleichsweise sicheren sozialen Positionen ausging.29 Drittens wäre zu fragen, ob die Beobachtung empirisch belegbar ist, dass nicht nur Pendler eine besondere Rolle bei der regionalen Ausdehnung des Aufstands spielten, sondern in einem wesentlichen Maße auch Arbeiter, die »auf Montage« waren. D. h. in vielen Überlieferungen ist auffällig, dass solche Arbeiter Streiks und Demonstrationen auslösten, die oft mehrere Hundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt von Montag bis Freitag/Samstag arbeiteten. Baute sich eine Eigendynamik auf, die im direkten Zusammenhang zur getrennten Sozialsituation (Wohnort vs. Arbeitsort) mit den daraus entstehenden Implikationen (die Verantwortung etwa für die Familienbindungen und den daraus oftmals entstehenden Zurückhaltungen in Arbeitskämpfen oder bei politischen Auseinandersetzungen) stand? Viertens ist schließlich zu fragen, warum es trotz des Flächenbrandes, der über 700 Städte und Gemeinden erfasste, immerhin in fast 5000 Städten und Gemeinden vergleichsweise ruhig blieb. Es ist eine historische und wissenschaftliche Banalität, dass historische Ereignisse, und seien sie auch noch so kraftvoll, letztlich immer nur aktiv von Minderheiten getragen werden. Bei dieser Frage geht es nicht um Argumente, um eine historische Tonnenideologie stark zu machen. Interessant ist aber allemal, warum unter ähnlichen Voraussetzungen und bei Wirkung desselben Ursachenbündels dennoch Großbetriebe normal weiterarbeiteten, und warum die Kollegen sich der Streikbewegung nicht anschlossen. Es ist zu vermuten, dass entweder ähnliche Traditionen ein anderes Handlungsmuster präjudizierten oder aber, dass eventuell branchen- oder regionalspezifisch ohnehin andere Traditionen existierten, was insbesondere in den agrarisch geprägten Regionen, die dem Aufstand fernblieben, zu Buche schlagen dürfte. Schließlich ist fünftens das Bewusstsein der Arbeiter in den Blick zu nehmen. Auch dieser Komplex steht eng im Zusammenhang mit tradierten Erfahrungen und Auffassungen. Wenn Arbeiter beim Streik riefen, »wir streiken diszipliniert wie deutsche Arbeiter«, dann ist dies ein deutlicher Beleg für subjektives Traditionsbewusstsein.30 Aber genauso ist das Streikverhalten konkret zu untersuchen. Aus vielen Orten besitzen wir Berichte, die belegen, dass etwa Hochöfner sehr genau darauf achteten, dass ihre Hochöfen nicht ausgingen. Viele solcher Überlieferungen zeigen, dass eine Arbeitsmoral existierte, die nicht auf dem Fundament der Planökonomie basierte, sondern Wurzeln besaß, die weit in die Zeit vor 1933 zurückweisen.

Verlässt man bei der Betrachtung des »17. Juni« die Arbeitermilieus und wendet sich anderen gesellschaftlichen Sektoren zu, wird man ähnliche Entwicklungen beobachten. Warum etwa die Intelligenz abseitsstand und erst 1956 ihre Stunde gekommen sah, scheint mittlerweile allgemein als hinreichend diskutiert angesehen zu werden.31 Gleichwohl fehlt eine Diskussion und Forschung über das Verhalten des noch existierenden Bildungsbürgertums, das von den Anmaßungen der kommunistischen Diktatur in einem besonderen Maße betroffen war. Es war programmatisch zum Aussterben verurteilt, litt besonders unter dem Kirchenkampf sowie dem Verdrängungskampf gegen bürgerliche Mittelschichten aus den Höheren Lehranstalten und konnte sich dennoch nicht dazu durchringen, am »17. Juni« aus der selbstauferlegten Passivität herauszutreten. Mag man dies zwar auch als eine tradierte Rollenzuschreibung, die diese Gruppen selbst vornahmen, interpretieren können, so erklärt das noch nicht die Frage, warum der Existenzdruck offenbar keine aktive Handlungsoption offerierte. Wie gezeigt werden konnte, könnte dafür die außergewöhnliche soziale Privilegierung der Grund sein. Da diese Privilegierung aber an politisches Verhalten gekoppelt war und zugleich ohnehin nur eine Minderheit innerhalb der Intelligenz in den Genuss solcher Privilegien kam,32 scheint die Frage nach dem Verhalten der Intelligenz im Juni 1953 noch nicht ausreichend debattiert zu sein. Ebenso ist die Frage nicht erörtert worden, inwiefern die Erfahrungen linker Remigranten mit dem Nationalsozialismus, die nun in der DDR lebten, entscheidend zu ihrer Parteinahme und ihrer »unabhängigen« Deutung des Aufstands, die oftmals der SED-Interpretation sehr nahe kam, beitrugen. Diese Gruppe ist insofern bedeutungsvoll, als ihre Wirkungsmacht weit über die engen Grenzen des kommunistischen Machtbereichs hinausging.

Obwohl das Verhalten einzelner sozialer Gruppen in den vergangenen Jahren mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen war, im Rahmen derer auch die Gruppe der Bauern eingehend analysiert worden ist, existiert in der Literatur noch immer eine Kontroverse über die Frage, was die Bauern eigentlich für eine Produktionsform anstrebten. Zwar ist allgemein anerkannt, dass kaum jemand prinzipiell die Bodenreform infrage stellte. Dafür gab es weder ernsthafte Handlungsoptionen (alliiertes Recht) noch war übersehbar, dass das Prinzip der Bodenreform auf allgemeine und hohe Zustimmung stieß – insbesondere in jenen Gebieten mit einst flächenmäßig großen Agrargütern (Mecklenburg, Brandenburg, teilweise Sachsen). Allerdings bleibt umstritten, welche Eigentumsformen die Bauern anstrebten – obwohl keine echte Alternative zur Bodenreform existierte und die LPG allgemein auf Ablehnung stießen. Die von Kurt Vieweg 1956/57 kurzzeitig ins Feld geführte Form einer dualen Landwirtschaft, bestehend aus LPG und Privatwirtschaft,33 stand 1953 noch nicht zur Debatte.

Das führt auch zu der immer wieder aufgeworfenen These, die Menschen auf den Straßen hätten sich zwar gegen die SED-Herrschaft ausgesprochen, aber daraus zu schlussfolgern, die Menschen hätten politische Verhältnisse wie in der Bundesrepublik Deutschland gewünscht, sei überzogen.34 Immerhin wird kaum noch angezweifelt, dass die Forderung nach »deutscher Einheit« eine der zentralen Forderungen war. Sowohl das explizite Verlangen danach als auch Forderungen wie »freie und geheime Wahlen«, »Zulassung der SPD« oder »Rücktritt der Regierung« orientierten im Kern auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Nur acht Jahre nach Kriegsende wäre alles andere auch ungewöhnlich gewesen. Die europäische Nachkriegsordnung und die deutsche Teilung waren in den Köpfen nicht zementiert, sie galten nicht als unabänderlich und auf Jahrzehnte unveränderbar. Nicht einmal die SED-Führung war einem solchen Glauben verfallen. Insofern war der Aufstand ein Aufstand für Freiheit und Einheit. Aber, folgt man einigen Autorinnen und Autoren, so stellt sich die Frage, welche Freiheit die Aufständischen eigentlich meinten? Diese Frage blieb von jenen, die nicht automatisch die bundesdeutschen Verhältnisse als Zielvorstellung deuten, bislang unbeantwortet. Die meisten Aufständischen schöpften aus ihren Erfahrungen und da existierten neben nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur noch das Kaiserreich sowie das Weimarer und das Bonner Modell. Adenauer galt in weiten Teilen der ostdeutschen Gesellschaft im Juni 1953 als Hoffnungsträger und Freiheitsgarant. Gerade in ländlichen Regionen, aber nicht nur dort, erwarteten immer wieder Bevölkerungsgruppen zudem den – gerüchteweise bevorstehenden – befreienden Einmarsch US-amerikanischer Truppen.

Aus unzähligen Berichten wissen wir, dass an nicht wenigen Orten eine Revidierung der »Oder-Neiße-Friedensgrenze« zum festen Forderungskatalog der Aufständischen zählte. Bislang sind im Zusammenhang mit dem »17. Juni« die spezifischen Probleme der Vertriebenen und Flüchtlinge kaum thematisiert worden. Deren besondere Notsituation ist mittlerweile intensiv erforscht worden, auch die Fragen, inwiefern deren Integration in die ostdeutsche Gesellschaft gelang und welche Spezifika dabei auftraten, zählen zu den intensiv debattierten.35 Ihr spezieller Beitrag zum Aufstandsgeschehen ist bisher nicht herausgearbeitet und analysiert worden. Zwar mag man dies noch an der geteilten Stadt Görlitz historisch nachvollziehen können, zumal Görlitz und der »17. Juni« als gut erforscht gelten kann,36 aber prinzipiell ist diese heterogene, durch ein ähnliches Schicksal geschmiedete Gruppe der Vertriebenen und Flüchtlinge, die in der DDR offiziell nicht mehr existierten und über kein Sprachrohr verfügten, bezogen auf den »17. Juni« nicht untersucht worden. Dies erschiene vielversprechend, da die Größe dieser Gruppe, ihre regionale Verteilung über die gesamte DDR mit Schwerpunktregionen sowie die unterschiedlichen Integrationsmuster einen vergleichenden Blick auf den Aufstand zuließen, der diesen aus einer völlig anderen Perspektive konturieren könnte.

Zwar verfügen wir mittlerweile über viele regionale Verlaufsgeschichten, aber kaum über komparatistisch angelegte Analysen. Das trifft noch mehr für vergleichend angelegte Untersuchungen über die Einführung und die Folgen des »Neuen Kurses« im gesamten Ostblock zu.37 Warum, zum Beispiel, war die Verkündung des »Neuen Kurses« in der DDR der Anlass für den Ausbruch des Aufstands, während in Polen (und auch Ungarn und Bulgarien), wo die sozialen Missstände und die politischen Verhältnisse die Menschen fast noch mehr bedrängten, ein solcher Aufstand zunächst ausblieb? Und dies vor dem Hintergrund, dass die Polen historisch gesehen weitaus schneller und energischer aufbegehrten als etwa die Deutschen. Später (1956, 1970, 1980/81) bestätigten sie ihren Ruf, aber im Krisenjahr 1953 schienen sie zunächst wie befriedet.

Solche vergleichenden Fragestellungen führen überhaupt zum Problem der internationalen Politik im Jahr 1953. Das bleibt an dieser Stelle aber unberücksichtigt.38 Die sowjetische Deutschlandpolitik wird auch kommende Forschergenerationen weiter bewegen. Bislang scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass für die Verkündung des »Neuen Kurses« in Moskau keine deutschlandpolitischen Differenzen innerhalb der Machtflügel und -kämpfe nach Stalins Tod ausschlaggebend gewesen waren. Diese Differenzen wurden erst wieder als Vorwand bedeutungsvoll, als nach der Niederschlagung des Aufstands eine innerparteiliche Säuberungs- und Disziplinierungswelle in der SED in Gang gesetzt worden war und Ulbricht zur Stabilisierung seiner Macht MfS-Minister Zaisser und ND-Chefredakteur Herrnstadt als angebliche Anhänger Berijas und innerparteiliche Machtkonkurrenten ausschaltete. Dies war zugleich der Ausgangspunkt, um die gesamte Partei disziplinieren zu können. Insbesondere bei den Fragen, die sich mit den Vorgängen in Moskau ergeben, stellt sich noch immer ein signifikantes Quellenproblem. Viele Akten in russischen Archiven sind nach wie vor für Forscher nicht oder auch nicht mehr zugänglich.

Ungeachtet der Frage, wie der »17. Juni« bezeichnet wird – als Arbeitererhebung, Volksaufstand oder gescheiterte Revolution –, erwies es sich bereits 1953 als theoretisch in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll, dass in den westlichen Theorien und der westlichen Politikpraxis »Revolutionen« gegen die kommunistische Herrschaft nicht vorgesehen waren. Sebastian Haffner erkannte dies bereits unmittelbar nach den Ereignissen. Im Observer schrieb er am 21. Juni 1953: »Ein totalitäres Regime, fast vier Jahre lang im vollen Besitz aller Mittel, die eine moderne Diktatur braucht, war binnen nicht einmal zwölf Stunden zu vollkommener Machtlosigkeit verdammt und gezwungen, hinter Panzern einer fremden Armee Schutz zu suchen. Und so weit ist es nicht etwa durch eine innere Spaltung oder eine bewaffnete Verschwörung in seiner Mitte gekommen, sondern durch einen spontanen Volksaufstand im klassisch revolutionären Stil von 1789 oder 1848. Es geschah genau das, von dem wir behauptet hatten, es sei unter den Bedingungen der modernen totalitären Gewaltherrschaft nicht möglich.«39 Die Analyse der kommunistischen Herrschaft war von dem Erlebnis geprägt, wie die nationalsozialistische Diktatur von außen zerstört worden ist. Das beförderte eine prinzipielle Skepsis gegenüber der »Revolutionsmöglichkeit« im sowjetischen Machtbereich, wenn auch die Ungarische Revolution 1956 allgemein als solche bezeichnet worden ist. Aber das hing weniger mit einer wissenschaftlichen Analyseleistung zusammen, sondern war stärker dem Umstand geschuldet, dass die Selbstbezeichnung der Ungarn respektvoll übernommen worden ist. In der DDR existierte diese Selbstkennzeichnung auch, wurde aber nicht wirkungsmächtig.

Nimmt man das historische Ereignis ernst und macht es zum Gegenstand der Historiografie, wird man sich nur schwerlich vergleichenden Perspektiven entziehen können. Insbesondere die historische Ausgangssituation sowie die Verlaufsgeschichten bis zum Einsatz der Panzer, also bis zur Niederschlagung des Aufstands, offenbaren die meisten Charakteristika idealtypischer Revolutionen, wie sie mit Blick auf 1789, 1848 oder 1917/19 konstruiert worden sind.40 Bei der Verwendung des Revolutionsbegriffs ist zu beachten, dass diese nie einhellig erfolgte. Die Suche nach dem Konsens ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft. Zugleich ist festzuhalten, dass sich uns heute wie selbstverständlich erscheinende Kennzeichnungen fast immer in einem langwierigen Deutungs- und Interpretationsprozess erst durchsetzen mussten.41 Das setzte sowohl historische Detailarbeit voraus wie auch einen wissenschaftsinternen und gesellschaftlichen Resonanzboden, der einerseits das Ereignis zum Gegenstand und der andererseits den Gegenstand zum Erinnerungsort werden ließ. Beides ist in Bezug auf den »17. Juni« noch nicht hinreichend und vor allem dauerhaft verankert erfolgt. Ist dies aber geschehen, so ist zu vermuten, wird die Revolution vom Juni 1953 weniger von ihrem Scheitern her als vielmehr von ihren Absichten, Ausgangsbedingungen und Formen her beurteilt werden. Das schließt ein, die Revolution näher zu bezeichnen als »gescheiterte«, »chancenlose« oder wie auch immer. Der Gegenstand bleibt eine Revolution.42

Erinnerungskultur und 17. Juni 1953

In den osteuropäischen kommunistischen Staaten gehörte die Wiederaneignung der eigenen Geschichte zu den Ausgangspunkten der systemstürzenden Reformen und Revolutionen von 1989.43 In der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland war es genau umgekehrt. Erst in dem Maße, in dem das System verschwand und sich deutlich herauskristallisierte, dass der Systemumbruch in Deutschland durch die Wiedervereinigung einen von den ost- und ostmitteleuropäischen Entwicklungen gänzlich verschiedenen Weg einschlagen würde, erwies sich die Berufung auf die Vergangenheit als politikbeeinflussend.

Der »17. Juni« nahm dabei eine Sonderrolle ein. Wer seine politische und historische Rehabilitierung erwartet hatte, sah sich getäuscht. Er hatte nicht nur überhaupt keine Bedeutung, er verlor auch noch die, die er bis dahin formal in der Bundesrepublik besessen hatte. »Der Tag der deutschen Einheit« ist 1990 vom 17. Juni – er ist in diesem Jahr letztmalig als gesetzlicher Feiertag begangen worden – auf den 3. Oktober, den Tag des Vollzugs der deutschen Wiedervereinigung, verlegt worden.44 Aus der DDR bzw. den neuen Bundesländern gab es dagegen keine Proteste. Statt jenes Tages zu gedenken, an dem eine Volksbewegung für die Überwindung der Diktatur, für die Herstellung demokratischer Verhältnisse in der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands auf demokratischer Grundlage eintrat, feiern wir seit 1990 den »Tag der Einheit« an jenem mehr oder minder zufällig ausgewählten Tag, an dem Politiker die staatliche Einheit vollzogen. Nicht am Tag der ersten großen Massendemonstration in Leipzig 
(9. Oktober), nicht am Tag des Mauerfalls (9. November), nicht am Tag der ersten freien Wahlen in der DDR (18. März) und nicht am Tag einer der größten deutschen Demokratiebewegungen, am 17. Juni, gedenkt Deutschland seiner in Freiheit wiedererlangten Einheit, sondern an jenem Tag, an dem in guter alter Tradition »große Männer Geschichte machten«.

Das wirft einen Schatten auf ein verbreitetes, auf den Staat orientiertes Geschichtsverständnis. Der 3. Oktober steht für staatliches Handeln, jeder andere genannte Tag für gesellschaftliches, das den »3. Oktober« überhaupt erst möglich machte. Die Geschichte der Macht wird häufig genug mit Geschichte überhaupt verwechselt. In den letzten Jahren ist eine Reihe aus politikhistorischer Sicht vollkommen zu Recht vielgelobter Bücher erschienen, in denen angesehene Vertreter ihres Faches den Deutschen ihren historischen Standort zuzuweisen suchen. »Vom langen Weg nach Westen« ist da ebenso programmatisch zu lesen wie die »Geschichte des geteilten Deutschland« unter der Serienüberschrift »Die Deutschen und ihre Nation« rubriziert wird. Und was geschieht in diesen »nationalen Meistererzählungen« ausgerechnet mit der demokratischen Volksbewegung für Freiheit und Einheit im Jahr 1953? Sie wird nicht nur marginalisiert und außerordentlich verknappt, sondern auch noch weitgehend auf die Machtfrage im herrschenden Apparat reduziert.45 In der »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« wird zwar irgendwie versucht, den Vorgang gesellschaftshistorisch einzufangen, aber der Autor ist so offenkundig lustlos allem gegenüber, was mit der SED-Diktatur zusammenhängt, dass seine knappen Ausführungen weder in sich stringent sind noch wenigstens faktisch immer stimmen. Aber wie gewohnt kommt eine lange Fußnote, die aufführt, was Eingang in den Zettelkasten fand.46 Besonders erstaunlich ist, dass die Frage, ob der Aufstand und seine Niederschlagung 1953 nicht entscheidend zum Legitimitätsgewinn der jungen Bundesrepublik beitrugen und so der »17. Juni« ganz nebenbei dazu führte, die Demokratie in der bundesdeutschen Gesellschaft fest zu verankern, meist nicht einmal thematisiert wird.47

Dieser Befund verweist darauf, dass der »17. Juni« in der historischen Forschung, Lehre und Publizistik auch über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung und zehn Jahre nach dem Erinnerungsboom von 2003 nicht einmal annähernd jenen historischen und gesellschaftlichen Platz errungen hat, der ihm zustünde. Der Volksaufstand zählt zu den wenigen revolutionären Massenbewegungen in der deutschen Geschichte, die – die Mainzer Republik einmal außen vor gelassen – von 1848 über 1918/19 bis 1989 reichen. Das waren Ereignisse mit ganz unterschiedlichen Zielen, Formen und Erfolgen. Das Jahr 1953 reiht sich in diese Aufzählung ein. Es unterscheidet sich von seinen Vorgängerereignissen dadurch, dass es mit dem Jahr 1989 eine unverhoffte Vollendung fand. Es geht dabei nicht einmal so sehr vordergründig um einen historischen Vergleich zwischen den einzelnen Revolutionen, auch zwischen 1953 und 1989 überwiegen die Unterschiede als dass Gemeinsamkeiten bestimmend gewesen wären.48 Aber beide Ereignisse spielten sich im selben System unter sehr ähnlichen Rahmenbedingungen ab; auch die prinzipiellen Ziele ähnelten einander. Der nationale Aufbruchversuch 1953 aber scheiterte, weil die sowjetische Armee ihrer selbstauferlegten Verpflichtung, der DDR ihren Bestand zu garantieren, kompromisslos nachkam. 1989 dagegen spielten nationale Überlegungen bis zum Fall der Mauer am 9. November öffentlich aus guten Gründen fast keine Rolle. Da aber die Sowjetunion ihr bröckelndes Imperium in Europa nicht mehr zusammenhalten konnte, transformierte sich die Demokratiebewegung wie von selbst in einen nationalen Aufbruch. Erst in diesem Moment, so könnte man idealtypisch formulieren, trafen sich auf den Straßen die Akteure von 1989 und 1953. Dabei ist ebenso idealtypisch festzuhalten, dass »die 1989er« ihre Vorgänger, »die 1953er«, nicht erkannten, weil sie über deren Existenz überwiegend nichts wussten. Umgekehrt sahen viele 1953er in den 1989ern keine wirklichen Gesinnungsgenossen. Die gegenseitige Annäherung dauerte nach der Revolution von 1989 über ein Jahrzehnt – aber auch nach 2003 dominierten in der öffentlichen Wahrnehmung die erfolgreichen Revolutionäre von 1989, was nicht selten Verdruss bei den insgesamt weitaus mehr Risiken und Opfer erbracht habenden, gescheiterten Revolutionären von 1953 aufkommen ließ. Verständlich ist das allemal.

Als problematisch erweist sich die angedeutete Einordnung des »17. Juni« in die deutsche Geschichte aber auch deshalb, weil sie als bloßer Teil der DDR-Geschichte wahrgenommen wird und die DDR immer noch, trotz programmatisch anderslautender Bekundungen, weitgehend als Separatum behandelt wird. Es ist keine Ausnahme, wenn westdeutsch-sozialisierte Historikerinnen und Historiker die DDR-Geschichte als einen Gegenstand betrachten, der den Ostdeutschen gehört. Die sollen sich gefälligst daran abarbeiten. Jüngst haben neuerlich zwei einflussreiche Zeithistoriker, Norbert Frei und Ulrich Herbert, erklärt, die DDR-Geschichte sei abgearbeitet, die Archivalien aus der DDR seien »langweilig« und überhaupt – ganz im Sinne von Wehlers Gesellschaftsgeschichte –, »die Langeweile ist Teil des Forschungsproblems« über die SED-Diktatur.49 Muss erwähnt werden, dass die beiden zeithistorischen Spitzenforscher von DDR, SED und deren Akten keine Ahnung haben? Ist es überhaupt erwähnenswert, dass die Redaktion der Süddeutschen Zeitung und die Autorin Franziska Augstein es nicht einmal für Wert befanden, auf Angebote zu reagieren, diesen ganzen neuartigen »Spaltertendenzen« in ihren Zeitungsspalten mit Gegenargumenten zu begegnen? Ja, denn das gehört alles exemplarisch dazu, wenn es um die Frage geht, warum es so schwer ist, nachhaltige Schritte auf dem Weg hin zu einer integrativen, gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte in der Teilung zu beschreiten.

Wenn aber nicht einmal Profis bereit sind, die gesamte deutsche Nachkriegsgeschichte integrativ als Geschichte zweier Staaten und verschiedener Gesellschaften zu begreifen und sie so zu beschreiben und zu analysieren, dann wundert es nicht, dass westseits der Elbe im allgemeinen historischen Bewusstsein die Geschichte der DDR vielleicht den Stellenwert der neueren Geschichte Portugals, Nicaraguas oder Chiles hat. Aber selbst das ist noch zu bezweifeln, da man wenigstens in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren gegen Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern die Stimme erhoben hat und deshalb sehr genaue persönliche Erinnerungen und Erfahrungen pflegen kann. Die Diktatur vor der eigenen Haustür, fast im eigenen Stall dagegen ist nicht einmal mehr als solche wahrgenommen worden. Es scheint durchaus angemessen, eine Kontinuität in der Wahrnehmung zu vermuten, wobei diese aktuellen Abwehrreflexen geschuldet ist, die mehr über die eigene Sozialisation und Reflexion aussagen, als über die wirklichen Gründe, die zum Ausblenden der DDR-Vergangenheit führen. Es scheint nach diesem Befund unangemessen und dennoch bleibt es eine dringliche Aufgabe, die DDR-Geschichte so in die gesamte deutsche Geschichte zu integrieren, dass sie unabhängig von Geburtsort und Geburtsjahr Eingang ins historische Gedächtnis und in die historische Erinnerung findet.

Mag dies noch einleuchten, erweist sich der Platz des »17. Juni« in der europäischen Geschichte als noch problematischer. Dafür gibt es wiederum einen plausiblen Grund: Wenn man einmal davon absieht, dass der »17. Juni« ein beliebtes wissenschaftlich-historisches Thema für Fragen der internationalen Beziehungen darstellt, so ist zu konstatieren, dass über eine Einordnung des Volksaufstandes in die europäische Geschichte bislang überhaupt noch keine Debatte geführt worden ist. Die ständige Aktualität der Französischen Revolution in den politischen und intellektuellen Debatten Frankreichs verblüfft manchen Beobachter. Ebenso erstaunt schaut man immer wieder auf die Geschichtsvergessenheit in vielen europäischen Gesellschaften. Und doch werden die meisten immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Deutschland wird in dieser europäischen Perspektive als Sonderfall behandelt. Die nationalsozialistische Herrschaft dominiert die Behandlung deutscher Geschichte, die bundesdeutsche Geschichte erscheint als Glücksfall und Erfolgsmoment. Die DDR spielt allenfalls als »16. Sowjetrepublik« eine Rolle. Der Volksaufstand von 1953 aber scheint weder ein deutsches noch ein europäisches, nicht einmal ein osteuropäisches Ereignis gewesen zu sein.

Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass selbst in den kommunistischen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas, in den dortigen Widerstands- und Oppositionsbewegungen, die Vorgänge in der DDR kaum beachtet und noch weniger rezipiert worden sind. Die DDR galt zu sehr als Sonderfall. Aber so wie der »17. Juni« in die Reihe der deutschen Revolutionen und Demokratiebewegungen gehört, so zählt er auch zu den osteuropäischen Freiheitsbewegungen nach 1945, die eben 1953 in der ČSSR, der DDR und dann im sowjetischen Workuta begannen, sich über Schlaglichter wie 1956, 1968, 1970, 1980/81 fortsetzten und schließlich 1989/91 ihre Erfüllung fanden.

Nach dem Fall der meisten kommunistischen Staaten in Europa sowie dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika »wurden die Zeichen«, wie der französische Historiker Pierre Nora beobachtete, »einer wirklichen Globalisierung des Gedächtnisses gesetzt«.50 Es bildeten sich unterschiedliche, aber durchaus vergleichbare Formen der Vergangenheitsbewältigung heraus.51 Charakteristisch ist nicht nur, dass sich »der Gebrauch« von Vergangenheit intensiviert hat. Zugleich ist zu konstatieren, »dass dem Historiker das Monopol genommen wird, das er traditionsgemäß auf die Interpretation der Vergangenheit besaß«.52 Er produziert längst nicht mehr allein Vergangenheit. So wie man zunächst von der »Beschleunigung der Geschichte« sprach, setzte in den letzten beiden Jahrzehnten zudem eine »Demokratisierung« der Geschichte ein. Geschichte existiert sowohl als Wissenschaft als auch als Gedächtnis.53 Beides lässt sich idealtypisch voneinander trennen. In der kulturellen und politischen Praxis aber scheint diese Trennlinie weniger konturiert zu sein, insbesondere dann nicht, wenn Historiker außerhalb ihrer engen Fachgrenzen agieren. Wann agiert ein Historiker als Wissenschaftler und wann als Bürger? Die Frage scheint banal und die Antwort darauf noch vielmehr. Nur, wie jeder Denkende weiß, ist diese Frage alles andere als banal, und die möglichen Antworten sind es noch viel weniger. Dort, wo am lautesten die klare und eindeutige Antwort ultimativ und lautstark befördert wird, ist die Trennung fast immer am wenigsten gegeben. Es ist wie mit der vermeintlichen Objektivität der Wissenschaft: Die wortgewaltigsten Vertreter dieses berauschenden Konzeptes gehören zumeist zu den skrupellosesten Verrätern der Objektivität sobald es um Stellen, Posten, institutionellen Einfluss und Pfründe geht.

Die »Vergangenheitsbewältigung« war im 20. Jahrhundert stets von wissenschaftlichen und politischen Erwägungen beeinflusst. Die »ideologische Dekolonisierung« (P. Nora) des Minderheitsgedächtnisses erfolgte rapide und explosionsartig. Es bildeten sich jeweils – nach 1918, nach 1945, nach 1989 – »kollektive Gedächtnisse« heraus, die alle auf ihre Art vom wissenschaftlichen Diskurs beeinflusst und von den politischen Debatten konturiert worden sind. Historiker haben es deshalb besonders schwer mit dem Gedächtnis, weil sie trotz des Deutungsmonopolverlustes über die Vergangenheit weiterhin als Experten gefragt und notwendig sind – und so das Gedächtnis zwangsläufig beeinflussen – und zugleich im gesellschaftlichen Kontext als Bürger selbst der Gedächtniskultur mit all ihren Beschränkungen und Vorzügen unterliegen. Die geradezu dämliche und intellektuell anspruchslose Debatte um die Produkte von Guido Knopp seit über 20 Jahren sagt zwar fast nichts über dessen Aussagen und Methoden, dafür sehr viel über die sich echauffierenden Historiker, ihre gesellschaftliche Wirkungslosigkeit und wohl auch über ihren Neid gegenüber einem Kollegen, den sie nicht einmal als solchen benennen würden.

Blendet man die museale Deutung aus, die eine immer größere Bedeutung erfahren wird, rückt das Spektrum der Medien und der Neuen Medien ins Blickfeld: Es kommt noch viel stärker auf das Mittel und die Form und demgegenüber weniger auf den Inhalt an. Man mag sich als Experte bei diesem Gedanken schütteln, grämen, verweigern und räuspern, aber will man etwas »durchbringen«, etwas in die medial-vernetzte Gesellschaft tragen, kommt man kaum umhin, an der Trivialisierung von Geschichte mitzuwirken.54 Voraussetzung ist, dass man die historische Wissenschaft nicht nur als Ort der fachspezifischen Erkenntnis, sondern im nächsten Schritt eben auch als gesellschaftliches Angebot für Sinnstiftung und Gegenwartspositionierung begreift oder einfach anerkennt. Das hätte keine Konsequenzen für die wissenschaftliche Arbeit, sehr wohl aber für die »Übertragung« solcher Erkenntnisse in die Gesellschaft.

Hier rückt der »17. Juni« als Beispiel wieder ins Blickfeld. Wenn man zunächst seine Bedeutung für Deutschland betrachtet, so könnte man schnell mutmaßen, die Erinnerung ist im Wesentlichen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der Bundesrepublik auf breitem Niveau institutionalisiert worden, flachte dann zusehends im veränderten politischen Zeitalter ab und blieb schließlich in der Bundesrepublik ein weitgehend auf die Politik beschränktes Ritual, das gesellschaftlich die Form einer sozialpolitischen Errungenschaft besaß. In der DDR dagegen kam es zu keiner gesellschaftlichen Erinnerungsform, die über Propagandaformeln hinausreichte. Nach 1989 war »man« sich zunächst ohne Diskussion einig, der »17. Juni« bleibe bedeutungslos. Zaghafte Versuche, den »17. Juni« als Gedächtnis- und Erinnerungsort zu beleben, blieben halbherzig. Die wissenschaftlichen Forschungen über den »17. Juni« schritten schnell und erfolgreich voran. Das aber hatte kaum Rückwirkungen auf Politik und Gesellschaft. Nicht einmal die Integration in übergreifende Zusammenhänge erfolgte innerhalb der Wissenschaft. Das beste Beispiel dafür: In die dreibändige voluminöse Ausgabe über die Deutschen Erinnerungsorte (2001) fand der »17. Juni« aus nicht nachvollziehbaren Gründen keine Aufnahme. Es wäre müßig, darüber zu spekulieren, ob die Bände auch nach 2003 ohne den »17. Juni« hätten so erscheinen können – es war auch 2001 ein in vielerlei Hinsicht wissenschaftlich anmutender Skandal.

Fazit: Die Zukunft des 17. Juni

Zu jeder Art von Erinnerung gehört die Legende. Sie ist geradezu eine unverzichtbare Basis von gesellschaftlicher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis. Historiker zerstören nicht nur Legenden, auch um neue zu konstruieren, sie beschäftigen sich auch vorzugsweise mit Legendenbildung. Der »17. Juni« bietet dafür ein reichhaltiges, aber bislang kaum entdecktes Reservoir. Immer wieder erscheinen Bücher, in denen sich Zeitzeugen mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen im Juni 1953 zu Wort melden. Und nicht selten fällt dabei ins Auge, dass eine ganze Reihe von Beiträgen Erlebnisse als selbsterlebt und -erfahren wiedergibt, obwohl Fachleute längst belegt haben, dass diese Vorgänge nicht oder nicht so stattgefunden haben und dass sie der nachträglichen Konstruktion der SED-Machthaber entsprungen sind. Nun wäre es viel zu simpel, einfach zu behaupten, diese Zeitzeugen reproduzierten bewusst die SED-Deutung. Es ist komplizierter: Sie eigneten sich aller Wahrscheinlichkeit nach diese Propaganda so an, dass sie verinnerlicht zur eigenen Erfahrung umgedeutet worden ist. Zum Problem wird dieser Befund, wenn man ihn in die Gesellschaft überträgt. Denn es wäre naiv anzunehmen, die einstige Propaganda wirke außerhalb dieser früheren systemtreuen Kreise nicht nach. Wir kennen das aus der Post-Faschismus-Zeit ebenso wie aus der Zeit seit 1989. Heinrich August Winkler plädierte energisch dafür, die zwei deutschen Geschichtskulturen, die sich nach 1945 bis 1989 herausbildeten, ernst zu nehmen, sich mit ihnen aber nicht abzufinden. »Mit Blick auf das, was wir vom einstigen Geschichtsdeutungsmonopol der SED noch heute nachwirken sehen, sollte die Maxime gelten: Wir müssen diese Wirkungen ernstnehmen und uns mit ihnen auseinandersetzen.«55 Dem ist nicht zu widersprechen, allerdings ist etwas hinzuzufügen, was Winkler beinahe prononciert ausschließt: nämlich das die SED-Geschichtsdeutung auch im westlichen Teil der Bundesrepublik nachhaltige und ernsthafte Spuren hinterlassen hat. Wiederum ist der »17. Juni« ein Beispiel. War es wirklich nur Teil der originären politischen Kultur der Bundesrepublik, dass der »17. Juni« in den Siebziger- und Achtzigerjahren immer mehr zum Datum angeblicher »Kalter Krieger« verkam? Lag es wirklich nur an der politischen Inszenierung im Westen, dass der »17. Juni« als Gedenkort bestimmten politischen Richtungen überlassen worden ist? Oder wirkten nicht in einem weitaus höheren Maße als es die bundesdeutsche Gesellschaft wahrnehmen will Einflussfaktoren, die bewusst und – noch viel dramatischer – unbewusst, partiell, leise und nur schwer bestimmbar von den SED-Geschichtsdeutungen beeinflusst waren? Es spricht vieles dafür, insbesondere bei der Diskreditierung von »Freiheit und Einheit« als Schlagworten, die den Aufstand prägten und die zugleich den Geruch von Entspannungsfeindlichkeit trugen.

Wenn man nun konstatiert, dass der »17. Juni« zu den zentralen Ereignissen in den letzten 200 Jahren deutscher Geschichte und als massenhafte Freiheitsbewegung für »Freiheit und Einheit« zu den demokratischen Glanzpunkten der deutschen Geschichte zählt, stellt sich nicht mehr nur die Frage, wie der Historiker seiner Verantwortung gerecht wird, diesen Stellenwert auch gesellschaftlich zu vermitteln und mit im deutschen Erinnerungskanon zu verankern. Es erhebt sich auch das Problem, ihn als Teil in die europäische Erinnerungskultur einzuführen. Dahin hat es der Aufstand noch immer nicht geschafft. Auch deshalb nicht, weil kaum bestimmt ist, was die »europäische Erinnerungskultur« ist. Setzt sie sich aus nationalen Bausteinen zusammen oder prägt sie Muster aus, die wiederum die nationale Erinnerungskultur strukturieren sollen, oder konstituiert sich ein gemeinsames Bild, das Europa zum historischen Fixpunkt macht? Angenommen, die letzte Überlegung scheidet von vornherein aus, bleibt für den deutschen Beitrag dennoch die Frage, was soll wie Bestandteil werden, wie kann sich vor allem etwas neben der NS-Zeit, die für die meisten nichtdeutschen Europäer zunächst bezogen auf Deutschland primär ist, behaupten?

Der »17. Juni« hätte gute Chancen verankert zu werden. Und dies aus mehreren Gründen. Erstens, weil er eine revolutionäre Volksbewegung für einen demokratischen Verfassungsstaat darstellte. Zweitens, weil er vor dem Hintergrund einer Diktatur Grenzen zu überwinden beabsichtigte. Drittens, weil er in vielen Staaten vergleichbare Pendants kannte bzw. ihm viele folgten. Viertens, weil er belegt, dass es sich trotz übermächtig wirkender Erscheinungen immer und überall lohnt, die Würde des Einzelnen zu verteidigen und zu behaupten. Und fünftens, darin liegt retrospektiv seine besondere Suggestionskraft, weil er im Verbund mit anderen nationalen Erhebungen und Entwicklungen schließlich eine unverhoffte und späte Vollendung 1989/90 im gesamten kommunistischen Machtbereich Europas fand.

Insofern steht »der 17. Juni« auch für das neue Europa. Und wenn dieses Erzählungen und Mythen benötigt – die es dringend benötigt –, dann gehört die gescheiterte Revolution von 1953 für Freiheit, Demokratie und Einheit dazu. Nicht zuletzt vor dem aktuellen Zustand Europas dürfte es hilfreich sein, darauf hinzuweisen, dass Krisen keine typische Erscheinung unserer Gegenwart sind. Charakteristisch war immer, sich dagegen zu wehren, sich einzusetzen, ohne zu fragen, was am Ende dabei herauskommt. In solchen Perspektiven, die die Geschichte »randvoll« machen, wird die Gegenwart vielleicht nicht besser, aber unter Umständen zukunftsträchtiger.56


1 Dem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den der Autor gleichnamig, aber erheblich gekürzt auf Einladung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 12. Juni 2012 in Berlin halten konnte.

2 Zum Forschungsstand 2004 mit allen wichtigen Neuerscheinungen, aber auch der Nennung der wichtigsten Literatur von 1953 bis 2003 siehe: Ilko-Sascha Kowalczuk: Die gescheiterte Revolution – 
»17. Juni 1953«: Forschungsstand, Forschungskontroversen und Forschungsperspektiven, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 606–664. Später erschienen u. a. noch Bände, die in Detailstudien den aktuellen Forschungsstand markieren: Roger Engelmann/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953, Göttingen 2005; Torsten Diedrich/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR, Berlin 2005.

3 Ausführlich zu diesen Vorgängen: Bernd Eisenfeld/Ilko-Sascha Kowalczuk/Ehrhart Neubert: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni in der deutschen Geschichte, Bremen 2004, S. 501–588.

4 Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003; ders./Armin Mitter/Stefan Wolle (Hg.): Der Tag X – 17. Juni 1953. Die »Innere Staatsgründung« der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1995.

5 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni 1953, S. 1.

6 Einige aufschlussreiche Botschaftermeldungen und internationale Presseauswertungen sind etwa überliefert in: Bundesarchiv, B 137/1400.

7 Siehe etwa Klaus-Dieter Müller/Joachim Scherrieble/Mike Schmeitzner (Hg.): Der 17. Juni 1953 im Spiegel sowjetischer Geheimdienstdokumente, Leipzig 2008 (diese Edition basiert auf einer russischen Fachzeitschriftenedition, die 2003/04 herauskam und entsprechend zu behandeln ist, da sie nur wenige Dokumente enthält, die der KGB freigab); Christian F. Ostermann (Hg.): Uprising in East Germany 1953. The Cold War, the German Question, and the First Major Upheaval Behind the Iron Curtain, Budapest/New York 2001; Wilfriede Otto (Hg.): Die SED im Juni 1953. Interne Dokumente, Berlin 2003; Manfred Wilke/Andreas Graudin: Die Streikbrecherzentrale. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) und der 17. Juni 1953, Münster 2004.

8 Dass dieser noch nicht entsprechend ausgeformt war, »übersah« die SED-Führung dabei, siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Stasi, München 2013.

9 Für den historischen Rahmen hervorragend: Jennifer Schevardo: Vom Wert des Notwendigen. Preispolitik und Lebensstandard in der DDR der fünfziger Jahre, Stuttgart 2006.

10 Eine Auflistung sämtlicher Orte findet sich bei: Kowalczuk: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR (Anm. 4). Seither (2003) konnten einige wenige weitere Orte eruiert werden.

11 Berlin ist historisch korrekt, da 1953 Ost- und West-Berliner trotz seit 1948/49/52 teilungsbedingter Erschwernisse mental in einer Stadt lebten. Jeder kannte Menschen im anderen Teil und Zehntausende pendelten zur Arbeit wechselseitig in die andere politische Stadthälfte. Gerade in Ost-Berlin war es ein Aufstand, der politisch Gesamtberlin und damit alle Berliner anging. Insofern ist auch die Suche nach Ost- und West-Berlinern bei den Aufständischen ein historisch zweifelhaftes Unternehmen, mit dem letztlich – meist unbewusst – immer noch der SED-Propaganda seit 1953 gehuldigt wird. Im Übrigen war es nicht nur »selbstverständlich«, dass die SED Streikbewegungen in West-Berlin, wie etwa im Mai 1953, lautstark unterstützte (und deren eigentliche Ziele »selbstverständlich verkannte«), ebenso gehörte es zum Arbeitsalltag, dass sich daran natürlich auch die Kollegen beteiligten, die in Ost-Berlin lebten, aber in West-Berlin arbeiteten.

12 Zit. in: George Bailey/Sergej A.Kondraschow/David E. Murphy: Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin, Berlin 1997, S. 218. Siehe auch Donald P. Steury (Hg.): On the Front Lines of the Cold War: Documents on the Intelligence War in Berlin, 1946 to 1961, Washington 1999, S. 233–249; sowie verschiedene Dokumente in: Ostermann (Hg.): Uprising in East Germany 1953 (Anm. 7).

13 Siehe etwa Thomas Powers: CIA. Die Geschichte, die Methoden, die Komplotte. Ein Insider-Bericht, Hamburg 1980, S. 87; Christian Ostermann: The United States, the East German Uprising of 1953, and the Limits of Rollback (= CWIHP Working Papers, Bd. 11), Washington 1994; in einem späteren Beitrag hat Ostermann diese These selbst entkräftet: ders.: Keep the Pott Simmering. The United States and the East German Uprising of 1953, in: German Studies Review 1996, H. 1, S. 61–89.

14 Die im Bundesarchiv Koblenz einsehbaren wenigen Unterlagen sprechen eine deutliche Sprache. Siehe dazu, wenn auch den Unterlagen zu sehr folgend und die Fragen, die die eingesehenen und von mir ebenfalls ausgewerteten Akten aufwerfen, nicht problematisierend: Armin Wagner/Matthias Uhl: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR, Berlin 2007, S. 87–93.

15 Zit. in: Kowalczuk: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR (Anm. 4), S. 117; das gesamte Dokument ist abgedruckt bei: Karl Wilhelm Fricke/Roger Engelmann: Der »Tag X« und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003, S. 269–270.

16 Dokument Nr. 23 vom 18. Juni 1953, in: Gerhard Beier: Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953 – Bauleute gingen voran, Köln 1993, S. 119–121 (es handelt sich um ein britisches Geheimdienstpapier); zu Otto John siehe: Bernd Stöver: Der Fall Otto John. Neue Dokumente zu den Aussagen des deutschen Geheimdienstchefs gegenüber MfS und KGB, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (1999), H. 47, S. 103–136; ders.: Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler, München 2009, S. 164–184.

17 Siehe Edda Ahrberg/Hans-Hermann Hertle/Tobias Hollitzer/Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Hg.): Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, Münster 2004.

18 Zit. in: Karl Wilhelm Fricke/Roger Engelmann: »Konzentrierte Schläge«. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998, S. 274.

19 Siehe Bundesarchiv B 137/1399, Dokument vom 16.10.1953 (18 Seiten), o. Pagn.

20 Ausführlich mit der gesamten Forschungs- und politischen Literatur: Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Die verdrängte Revolution (Anm. 3).

21 Siehe Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999; Martin Krämer: Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und sein politisches Echo in der Bundesrepublik Deutschland, Bochum 1996; Matthias Fritton: Die Rhetorik der Deutschlandpolitik. Eine Untersuchung deutschlandpolitischer Rhetorik der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Reden anlässlich des Gedenkens an den 17. Juni 1953, Stuttgart 1998.

22 Ernest J. Salter: Deutschland und der Sowjetkommunismus. Die Bewährung der Freiheit, München 1961, S. 148 f.

23 Das wichtigste Buch war und ist aus dieser Zeit: Stefan Brant (d.i. Klaus Harpprecht) unter Mitarbeit von Klaus Bölling: Der Aufstand. Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953, Stuttgart 1954.

24 Einige Ausnahmen seien erwähnt: Gunter Holzweißig: Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, in: Peter Gosztony (Hg.): Aufstände unter dem roten Stern, Bonn 1979, S. 53–111 sowie: Ilse Spittmann/Karl Wilhelm Fricke (Hg.): 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, 2., erw. Aufl., Köln 1988 (ursprünglich 1982), viele weitere Arbeiten von Fricke, der besonders beharrlich an den 17. Juni erinnerte, lassen sich erschließen über die Auswahlbibliografie der Schriften, in: Karl Wilhelm Fricke: Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus fünf Jahrzehnten zur Geschichte der DDR. Zusammengestellt von Ilko-Sascha Kowalczuk im Auftrag der Stiftung Aufarbeitung und vom Deutschlandfunk, Berlin 2000, S. 609–626.

25 Siehe Arnulf Baring: Der 17. Juni 1953, Bonn/Berlin 1957; sowie: Stuttgart 1965 und 1983. Eine ausführliche Auseinandersetzung damit bei: Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Die verdrängte Revolution (Anm. 3), S. 458–464, 485.

26 Prinzipiell zum Problem: Peter Steinbach: Zur Wahrnehmung von Diktaturen im 20. Jahrhundert, in: 
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51-52/2002, S. 36–43.

27 Vor allem auf das vielschichtige Werk von Karl Wilhelm Fricke (siehe Anm. 23) ist aufmerksam zu machen, aber auch auf Veröffentlichungen etwa von Gunter Holzweißig (etwa gemeinsam mit Jürgen Rühle: 13. August 1961. Die Mauer von Berlin, 3., erw. Aufl., Köln 1988) oder Thomas Ammer (z. B. Universität zwischen Demokratie und Diktatur. Ein Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der Universität Rostock, Köln 1969). Ebenso wäre auf Arbeiten von Wolfgang Schuller zu verweisen, der als Ordinarius für Alte Geschichte in Konstanz wirkte, aber »nebenbei« zahlreiche Arbeiten zur DDR, insbesondere zum politischen Strafrecht, aber nicht nur, publizierte. Neben seiner Monografie über das politische Strafrecht in der DDR bis 1968 (1980) ist zu verweisen auf die Sammlung: Wolfgang Schuller: Das Sichere war nicht sicher. Die erwartete Wiedervereinigung, Leipzig 2006.

28 Ich selbst hätte es in den Neunzigerjahren für undenkbar gehalten, mit einem Kollegen, der vor 1990 zur SED-Geschichtswissenschaft zählte, gemeinsame Projekte zu betreiben (siehe etwa: Rainer Eckert/Ilko-Sascha Kowalczuk/Isolde Stark (Hg.): Hure oder Muse? Klio in der DDR. Dokumente und Materialien des Unabhängigen Historiker-Verbandes, Berlin 1994; Rainer Eckert/Ilko-Sascha Kowalczuk/Ulrike Poppe (Hg.): Wer schreibt die DDR-Geschichte? Ein Historikerstreit um Stellen, Strukturen, Finanzen und Deutungskompetenz, Berlin 1995). Aber auch ich beruhigte mich allmählich …, siehe etwa: Diedrich/Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? (Anm. 1).

29 Siehe prinzipiell die Ausführungen zu diesem historischen Phänomen bei Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg, 2., durchges. u. erg. Aufl., Göttingen 1978.

30 Grundlegend: Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart, München 2005.

31 Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 2003, S. 525–566.

32 Ebd., S. 348–380.

33 Siehe Michael F. Scholz: Bauernopfer der deutschen Frage. Der Kommunist Kurt Vieweg im Dschungel der Geheimdienste, Berlin 1997.

34 Torsten Diedrich: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR, München 2003, S. 143. 
Dieses Buch gehört zu den wichtigsten über den Volksaufstand, bemerkenswert ist auch, dass der Autor eine Reihe zahlreicher eigener Interpretationen hier revidierte (siehe noch ders.: Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk, Berlin 1991).

35 Siehe nur: Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR, München 1999; dies./Marita Krauss (Hg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000; Heike van Hoorn: Neue Heimat im Sozialismus. Die Umsiedlung und Integration sudetendeutscher Antifa-Umsiedler in die SBZ/DDR, Essen 2004; Michael Schwartz: Vertriebene und »Umsiedlerpolitik«. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004; Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956, Göttingen 1998.

36 Siehe insbes. Heidi Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen. Mit einem Vorwort von Karl Wilhelm Fricke, Köln/Weimar/Wien 1999.

37 Siehe dazu einen ersten Versuch, wobei die Studien mehr nebeneinander stehen als komparatistisch angelegt sind: András B. Hegedüs/Manfred Wilke (Hg.): Satelliten nach Stalins Tod. Der »Neue Kurs« – 17. Juni 1953 in der DDR, Ungarische Revolution 1956, Berlin 2000.

38 Siehe aber aus der Fülle der dazu vorliegenden Literatur etwa: Christoph Kleßmann/Bernd Stöver (Hg.): 1953 – Krisenjahr des Kalten Krieges in Europa, Köln/Weimar/Wien 1999; Heiner Timmermann (Hg.): Juni 1953 in Deutschland. Der Aufstand im Fadenkreuz von Kaltem Krieg, Katastrophe und Katharsis, Münster 2003.

39 Sebastian Haffner: Die deutsche Frage. 1950–1961. Von der Wiederbewaffnung bis zum Mauerbau, Berlin 2002, S. 66.

40 Aus der klassischen Literatur siehe nur exemplarisch: Crane Brinton: Die Revolution und ihre Gesetze, Frankfurt a. M. 1959, S. 118 f.

41 Exemplarisch dafür nur aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen die enorme Vielfalt andeutend: Klaus von Beyme (Hg.): Empirische Revolutionsforschung, Opladen 1973; Peter Blickle: Die Revolution von 1525. 4., durchges. u. erw. Aufl., München 2004; Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: 
Die verdrängte Revolution (Anm. 3); François Furet: 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980; Dietrich Geyer (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte, Göttingen 1991 (= GG, Sonderheft 14); Rüdiger Hachtmann: Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution 1848/49, Tübingen 2002; Martin Jänicke (Hg.): Politische Systemkrisen, Köln 1973; Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, 2., durchges. Aufl., München 2009; Erich Pelzer (Hg.): Revolution und Klio. Die Hauptwerke zur Französischen Revolution, Göttingen 2004; Stefan Rinke: Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760–1830, München 2010; Eric Selbin: Gerücht und Revolution. Von der Macht des Weitererzählens, Darmstadt 2010; Hugh Seton-Watson: Die osteuropäische Revolution, München 1956; Paweł Śpiewak (Hg.): Anti-Totalitarismus. Eine polnische Debatte, Frankfurt a. M. 2003; Charles Tilly: Die europäischen Revolutionen, München 1993; Hans-Ulrich Wehler (Hg.): 
200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung, Göttingen 1976 (= GG, Sonderheft 2).

42 Die zahlreichen Publikationen, die zu Revolutionstheorien vorliegen, helfen da nur bedingt weiter. Aufschlussreich ist aber etwa: Tilly: Die europäischen Revolutionen (Anm. 40), der über 700 (!) revolutionäre Situationen zwischen 1492 und 1991 in Europa auszumachen in der Lage war (S. 346), aber den 17. Juni übersah, obwohl er sehr genau seinen aufgeführten Bedingungen für Revolutionen entsprach (S. 31–46). Die Gründe dafür aufzuzählen, käme einer Spekulation gleich, aber ins Feld zu führen ist wohl, dass erstens die neueren Forschungen zum 17. Juni etwa zeitgleich oder später mit Tillys Buch herauskamen und dass zweitens auf Englisch damals vor allem Arnulf Barings Buch vorlag: Uprising in East Germany: June 17, 1953, Ithaca, N.Y. 1972 (mit einer Einleitung des renommierten US-amerikanischen Historikers David Schoenbaum).

43 Siehe Aleksander Smolar: Vergangenheitspolitik nach 1989. Eine vergleichende Zwischenbilanz, in: Transit. Europäische Revue, (1999/2000), H. 18, S. 81–101.

44 Er ist mit Wirkung vom 23. September 1990 als Feiertag aufgehoben worden.

45 Siehe Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Zweiter Bd.: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 156 f.; Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland (= Siedler Deutsche Geschichte, Die Deutschen und ihre Nation), Berlin 2000, S. 587–591.

46 Siehe Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 29–31.

47 Siehe als ein Beispiel: Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999. Mehr Bezug auf den »17. Juni« nimmt Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 187–203.

48 Neben anderen Versuchen siehe z. B. Walter Süß: Von der Ohnmacht des Volkes zur Resignation der Mächtigen. Ein Vergleich des Aufstandes 1953 mit der Revolution von 1989, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), H. 3, S. 441–477. Außerdem enthält folgender Band verschiedene Ansätze, die Ereignisse zu vergleichen: Henrik Bispinck u. a. (Hg.): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin 2004 (der Untertitel ist unfreiwillig komisch …).

49 Franziska Augstein: Der stumme Gast. Wie schreibt man deutsche Zeitgeschichte? Die Historiker Norbert Frei und Ulrich Herbert diskutieren in München, in: Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 2012, S. 13.

50 Pierre Nora: Gedächtniskonjunktur, in: Transit. Europäische Revue, (2001/2002), H. 22, S. 18. Siehe auch: Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011.

51 Siehe etwa Priscilla B. Hayner: Unspeakable Truths. Facing the Challenge of Truth Commissions, 
New York/London 2001.

52 Nora: Gedächtniskonjunktur (Anm. 49), S. 30.

53 Siehe etwa Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997; Pierre Nora: Nachwort, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. III, München 2001, S. 681–686.

54 Man schaue sich in diesem Zusammenhang an, wie neue »Hochschullehrbücher« für Geschichte aussehen und aufgemacht sind. Auch diese sind der veränderten Aufnahmebereitschaft und -möglichkeit geschuldet.

55 In: Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1999, Band VIII/1, S. 92.

56 Siehe dazu nur zwei herausragende Werke: Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004; Geert Mak: In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert, München 2005.

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