Nach 1945 sah sich die sowjetische Führung unter Stalin bis zu dessen Tod mehrmals mit Neutralitätsinitiativen konfrontiert. Die Amerikaner boten 1946 einen Plan zur Entmilitarisierung Deutschlands (Byrnes-Plan) an, der in Moskau auf Ablehnung stieß und intern als Untergrabung sowjetischer Positionen in Europa gesehen wurde: In Konsequenz würde er nicht nur zur Aufgabe Ostdeutschlands führen, sondern generell die sowjetische Truppenpräsenz in Mittelosteuropa infrage stellen.1 1947 ergriffen die Schweden die Initiative und propagierten mittels Schaffung einer Nordischen Verteidigungsunion die Ausdehnung der Neutralität auch auf Norwegen und Dänemark. Auch dazu verhielt man sich im Kreml ablehnend. Die Praxis zeige, so die Analysten des sowjetischen Außenministeriums, dass von »Neutralität keine Rede sein kann«. Die Debatten wurden vielmehr als schwedischer Versuch gewertet, den sowjetischen Einfluss in Finnland zu neutralisieren.2 1952 wurde hinsichtlich dreier Schauplätze über die Neutralität und Neutralisierung debattiert: Die Westmächte schlugen Moskau zur Beendigung der Vier-Mächte-Besatzung Österreichs eine Neutralisierung des Landes vor (mit künftiger freier Bündnisoption),3 und der finnische Ministerpräsident startete eine Offensive und propagierte die Verbreitung der Idee der Neutralität auf die nordischen Staaten. Dies alles geschah im Schatten des in die Geschichtsbücher als »Stalin-Note« eingegangenen sowjetischen »Angebots« vom 10. März 1952, Deutschland wiederzuvereinen, wenn es fortan einen neutralen Kurs zwischen West und Ost verfolgen würde.
Sowjetische Akten haben in den letzten Jahren deutlich gezeigt, dass Stalin 1952 keineswegs dazu bereit war, die DDR zu opfern, sondern mit seinem »Neutralitätsangebot« für Deutschland genau das Gegenteil verfolgte, nämlich die Erlangung einer Art Legitimierung für eine festere Anbindung der DDR an den Ostblock.4 Jegliche Schuld für die Manifestierung der deutschen Teilung wurde den Westmächten in die Schuhe geschoben und die Unterzeichnung des Generalvertrages mit der BRD im Mai 1952 als Anlass genommen, die innerdeutsche Demarkationslinie abzuriegeln. Mit dem »Kampf gegen die Remilitarisierung« traf die sowjetische Propaganda zudem auch in weiten westdeutschen Bevölkerungskreisen auf Verständnis, mithilfe derer man sich in Moskau (und Ost-Berlin) ein Aufbegehren gegen Bundeskanzler Konrad Adenauer erhoffte. Doch hinter der Stalin-Note stand noch viel mehr.5
Auf alle Aspekte kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. In der Folge soll vielmehr ein weiterer zentraler, bislang in der deutschen Historiografie völlig vernachlässigter Aspekt im Historikerstreit rund um die Stalin-Note behandelt werden: die sowjetische Haltung zu Urho Kekkonens Aufruf am 23. Januar 1952 (also ca. sieben Wochen vor der Stalin-Note) zur Schaffung eines neutralen Skandinaviens, der als »Nachthemdenrede«6 in die finnische Geschichte einging. In der New York Times wurde die Rede gerade einmal in einem kurzen Einspalter erwähnt.7 Eine Interpretation der Hintergründe blieb auch in der Folge aus. In Washington war man zu dieser Zeit nicht daran interessiert, eine Neutralitätsdiskussion aufkommen zu lassen. Eine solche wäre der US-Politik, die mangels sowjetischer Gesprächsbereitschaft zu Deutschland in den Jahren davor endgültig auf Westintegration der Bundesrepublik und Wiederbewaffnung ausgerichtet war, zuwider gelaufen. Von diesem Kurs ließ man sich nicht mehr abbringen. Kekkonens Rede stufte man als »sowjetisch inspiriert« ein. Die Times charakerisierte Kekkonens Vorschlag als unrealistisch und interpretierte ihn als an die Sowjetunion gerichtet.8 Sowjetische Propaganda über vermeintliche Neutralitätsangebote konnten daher nur schädlich sein.
Ob – wie auch der Spiegel vermutete – die »russische Außenpolitik den finnischen Ministerpräsidenten Kekkonen« inspirierte, »neue Vorschläge zur skandinavischen Blockpolitik der Öffentlichkeit vorzulegen«9 bzw. ob auch andere Beweggründe dahinterstanden, wird auf der Basis sowjetischer Quellen und der bislang in der deutschen Historiografie kaum beachteten russischen und finnischen Forschungsliteratur nachgegangen.
Zum besseren Verständnis der Folgen der Kekkonen-Rede 1952 ist es nötig, einen kurzen Blick auf die »Sonderstellung« Finnlands zwischen Ost und West im beginnenden Kalten Krieg zu werfen und die »Jahre der Gefahr« nach Ende des Zweiten Weltkrieges, als sich in Finnland eine politische Entwicklung wie in den osteuropäischen Staaten ergab, zu beleuchten.
Zum sowjetisch-finnischen Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg
Finnland stand nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Seite der militärischen Verlierer. Für die Finnen war die Beteiligung am Krieg gegen die Sowjetunion 1941 eine Fortsetzung des Winterkrieges von 1939/40, mit dem Ziel, die aus ihrer Sicht ungerechten Bedingungen des Friedensvertrages vom März 1940 zu revidieren. Nach den ersten Niederlagen der Deutschen Wehrmacht formierte sich in den finnischen Parlamentsfraktionen 1942 aber eine Opposition, die einen Separatfrieden mit der UdSSR forderte. Mit der Zeit erfuhr diese stark fraktionsübergreifende Tendenzen und konnte später als Alternative zum Kriegskabinett auftreten. In einem entscheidenden Punkt verkalkulierte sie sich allerdings: Sie sah nicht, dass Finnland bei einem Friedensschluss allein auf die UdSSR angewiesen sein würde und hoffte zu sehr darauf, dass die Westmächte als Fürsprecher und Garant für die Bewahrung der Unabhängigkeit Finnlands auftreten würden. Die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad und die Forderung der Alliierten nach bedingungsloser Kapitulation der Achsenmächte (Casablanca 1943) führten zu einem Umdenken innerhalb der finnischen Regierung, die durch die Neubesetzung des Außenministerpostens mit dem anglophilen Henrik Ramsay ein neues Gesicht erhielt. Fortan hielt man den Abschluss eines Separatfriedens mit der UdSSR für erstrebenswert. Oberstes Kriegsziel blieb der Erhalt der finnisch-sowjetischen Vorkriegsgrenze. Finnland befand sich aber nichtsdestotrotz weiter in einer schwierigen Situation, hatte das Land doch nach wie vor mit einer deutschen Großmacht in unmittelbarer Nachbarschaft zu leben. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Deutschen Reich lag mittlerweile bei neunzig Prozent. Ein separater Friedensschluss mit der Sowjetunion war für Helsinki solange unmöglich, wie Skandinavien nicht von deutschen Truppen befreit war und Finnland nicht vom Westen versorgt worden konnte.10 Alle finnischen Bemühungen, von den USA oder Großbritannien im Falle eines Kriegsaustritts Zusicherungen für die Bewahrung der Unabhängigkeit Finnlands zu erhalten, verliefen im Sand, ebenso wenig fruchteten Vorschläge an Schweden, ein gemeinsames Verteidigungsbündnis zu schließen, da dieses Vorhaben aus schwedischer Sicht zu offensichtlich gegen die Sowjetunion gerichtet war. Bemühungen, 1943 einen separaten Friedensvertrag abzuschließen, verliefen erfolglos.
Für die Beteiligung am Krieg gegen die Sowjetunion musste Finnland teuer bezahlen. So befand sich das Land im Herbst 1944 in einer komplexen Lage: Helsinki hatte mit harten Waffenstillstandsforderungen zu kämpfen, musste ein gravierendes Umsiedlungsproblem infolge der Gebietsabtretungen an die UdSSR (zwölf Prozent des finnischen Staatsgebiets) auf sich nehmen, 300 Millionen Dollar Reparationen (statt der ursprünglich geforderten 600; in Form von Gütern dennoch eine kaum verkraftbare wirtschaftliche Belastung) bezahlen und eine »alliierte«, de facto aber eine sowjetische Kontrollkommission mit Stalin-Intimus Andrej Ždanov als Vorsitzendem, dulden.11 Um den Schein zu wahren, erhielt diese aus Moskau immer wieder Anweisungen, sich zurückzuhalten. Der finnischen Regierung sollte kein Anlass gegeben werden, »die Maßnahmen der Alliierten Kontrollkommission als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes erscheinen zu lassen«.12 Außerdem hatte Helsinki dafür Sorge zu tragen, das in Finnland befindliche deutsche Eigentum entsprechend dem Potsdamer Abkommen an die Sowjetunion zu übergeben.13 Finnland war damit in allen Lebensbereichen von der Sowjetunion abhängig, sein Handlungsspielraum war äußerst begrenzt, die finnische Souveränität bis zum Pariser Friedensvertrag 1947 erheblich eingeschränkt. Sowjetische Truppen waren zwar kurzfristig in Nordfinnland einmarschiert, jedoch war ihr Aufenthalt dort nicht von langer Dauer, obwohl die Einbeziehung Finnlands in die sowjetische Einflusssphäre (nicht wie 1939 als Sowjetrepublik in die UdSSR selbst) auch nach dem sowjetisch-finnischen Winterkrieg ein Ziel blieb. Dennoch fanden in der Folge keine konkreten Unternehmungen, die auf eine Besetzung hindeuteten, statt.14 Bereits Ende 1941 hatte Stalin gegenüber dem britischen Außenminister Anthony Eden keinen dezidierten Anspruch mehr auf ganz Finnland erhoben, sehr wohl aber auf die bereits 1940 der Sowjetunion angegliederten Gebiete Finnlands (einschließlich des nickelreichen Gebietes um den Eismeerhafen Petsamo). Die Forderung nach einer territorialen Ausdehnung der UdSSR entsprechend den alten Grenzen des Zarenreiches war fallengelassen worden. Stalin war in dieser Frage bereit, Konzessionen zu machen, forderte aber den Abschluss von Beistandsverträgen mit Finnland (und auch Rumänien) mit dem Recht der Errichtung militärischer Stützpunkte.15
Nach dem Vorrücken der Roten Armee 1944 ging es den Finnen daher um das nationale Überleben.16 Den finnischen Politikern war in dieser Phase klar, dass alle Versuche, Sicherheitsprobleme Finnlands ohne Berücksichtigung der sicherheitspolitischen Interessen der Sowjetunion lösen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sein mussten. Helsinki musste die politischen Realitäten anerkennen und die Beziehungen zu Moskau möglichst reibungslos gestalten. Juho Kusti Paasikivi (bis 1946 Ministerpräsident, danach Staatspräsident) war davon überzeugt, dass das Interesse der UdSSR an Finnland »ausschließlich militärstrategischer und damit defensiver Art war«.17 Die in der Folge überaus geschickte Politik ermöglichte es Finnland, seine gesellschaftlichen Strukturen aufrechtzuerhalten und seine staatliche Unabhängigkeit zu bewahren,18 obwohl die Alliierte Kontrollkommission ähnlich wie ihre Pendants in Osteuropa agierte. Sie und die sowjetische Gesandtschaft standen in engem Kontakt mit der Kommunistischen Partei Finnlands (Suomen Kommunistinen Puolue, SKP). Sie überwachten die finnischen Kommunisten und gaben ihnen Richtlinien, Anweisungen und Ratschläge,19 ebenso mit ihrem Partner in der Linksregierung, den »Volksdemokraten« der Demokratischen Union des Finnischen Volkes (Suomen Kansan Demokraattinen Liitto, SKDL).
Mit der Unterzeichnung des sowjetisch-finnischen Freundschafts- und Beistandspaktes im März 1948 blieb Finnland zwar weiterhin von der Sowjetunion in hohem Maße abhängig, doch gingen damit »die Jahre der Gefahr«, in denen die alleinige Machtübernahme der Kommunisten befürchtet und vielfach erwartet worden war, zu Ende. Der im Frühsommer 1948 unternommene Putschversuch seitens finnischer Kommunisten war mehr »apologetisch als revolutionär«. Stalin sah davon ab, zugunsten der finnischen Genossen stärker auf den Plan zu treten. Aus Moskauer Sicht war es, so der finnische Historiker Kimmo Rentola, solange »für eine Machtergreifung der finnischen Kommunisten zu früh, bis es letztlich zu spät war«.20 Die sowjetische Devise lautete ab 1948, ihre Positionen zu sichern und nichts zu riskieren, auch zu dem Preis einer bürgerlichen Regierung. Nach der Niederlage der kommunistisch angeführten, seit 1945 amtierenden Regierung unter Mauno Pekkala im Sommer 1948, und der Vereidigung der aus der Sicht Moskaus rein pro-westlichen sozialdemokratischen Regierung unter Karl August Fagerholm reduzierte der Kreml die bilateralen Beziehungen zu Finnland auf ein Minimum. Letztlich war man im Kreml erleichtert und froh, dass nach kurzer Zeit die traditionelle finnische bürgerliche Elite wieder an die Macht kam, denn letzten Endes schätzte die sowjetische Führung den realpolitischen Kurs Paasikivis und Kekkonens, der den Grundinteressen der UdSSR in und an Finnland Rechnung trug.21
Kekkonens »Nachthemdenrede«
Mit der Gründung der NATO hatte sich die geopolitische Lage in Nordeuropa grundlegend verändert. Die einstigen kriegsverbündeten und durch die Rote Armee von der NS-Herrschaft mitbefreiten Länder Norwegen und Dänemark traten der NATO bei, ebenso Island. Stockholm blieb bei seiner Neutralitätspolitik, die man in Moskau äußerst skeptisch einschätzte. Schweden betrachtete man als geheimes NATO-Mitglied.22 Lediglich durch die Unterzeichnung des Freundschafts- und Beistandsvertrages mit Finnland 1948 hatte sich die Sowjetunion ihren Minimaleinfluss in Nordeuropa gesichert. Man traute keiner Option eines wirklich bündnisfreien und neutralen Skandinaviens, wie es seit 1947/48 weithin diskutiert wurde.23
Dennoch, Anfang 1951 hatte der sowjetische Botschafter in Schweden, K. K. Rodionov, die Anweisung aus Moskau erhalten,24 inoffiziell auf den Plan zu treten und die Schweden (auch gemeinsam mit den Finnen) zu animieren, Norwegen und Dänemark zum Verlassen der NATO zu bewegen. Die Sowjetunion nahm damit die »1949 zu Grabe getragene Idee einer nördlichen neutralen Verteidigungsunion«25 auf, um diese für ihre Zwecke einzusetzen. Kekkonen erfuhr über die Schweden von dem sowjetischen Vorstoß und teilte Präsident Paasikivi daraufhin mit, dass Schweden angeblich Informationen darüber hätte, dass die Sowjetunion nichts gegen die Einbeziehung Finnlands in eine neutrale Union einzuwenden hätte. Kekkonen erklärte sich dies mit dem möglichen Wunsch der UdSSR, im Kriegsfall nicht einer Front im Norden gegenüberzustehen. Paasikivi gewann der Idee Positives ab, meldete allerdings seine Zweifel an, ob es realistisch sei, Norwegen und Dänemark auf diese Weise aus der NATO »rauszureißen«.26 Ein Artikel in der Izvestija, demzufolge die Formation eines neutralen Blocks in Skandinavien sowjetischen Interessen entgegenkäme, inspirierte Kekkonen weiter. Der schwedische Ministerpräsident, Tage Fritiof Erlander, schlug Kekkonen vor, er möge doch das Thema einer nordischen Neutralität aufgreifen. Am 4. Januar 1952 suchte Kekkonen den sowjetischen Gesandten in Helsinki, V. Z. Lebedev, auf – mit einem Redeentwurf. Lebedev wiederum berichtete im Anschluss an das Gespräch nach Moskau, dass Kekkonen hoffte, mit dieser Rede die anderen nordischen Staaten »zum Konzept der Neutralität, wie sie in Finnland verstanden wurde, zurückzubringen«.27 Die sowjetische Führung wurde sofort hellhörig. Am 9. Januar 1952 informierte der stellvertretende Außenminister Andrej Gromyko den im Kreml nach wie vor wichtigen Organisator in Sachen Außenpolitik, Vjačeslav Molotov, über Kekkonens Besuch bei Lebedev.28 Er legte Molotov einen Entwurf einer Direktive an Lebedev bei, die Molotov umformulierte und ergänzte.29
Am nächsten Tag, dem 10. Januar 1952, bestätigte das Politbüro die von Molotov überarbeitete Beschlussvorlage und wies den sowjetischen Botschafter in Finnland an, einen Vorwand für eine Unterredung mit Kekkonen zu suchen und »in der Form einer zweitrangigen Frage« das »Thema der Neutralität« anzuschneiden. Der sowjetische Gesandte sollte Kekkonen klar zu verstehen geben, dass er sich positiv zum »Zusammenschluss der nördlichen Staaten rund um die Idee der Neutralität« verhalte. So heißt es in der Direktive: »Sagen Sie, dass Sie die von ihnen [gemeint vermutlich den Finnen] berührte Frage über die Neutralität im von Kekkonen dargelegten Plan überdacht haben und dass Sie zu den von ihnen dargelegten Gedanken über den Zusammenschluss der nördlichen Staaten rund um die Idee der Neutralität zum Zwecke der Festigung des Friedens und der nationalen Unabhängigkeit dieser Länder positiv eingestellt sind. Eine Initiative solcher Art könnte der Verbreitung des Ruheherdes im Norden, über die Kekkonen gesprochen hat, dienlich sein und würde einer Politik der Unterstützung und Festigung des Friedens entsprechen, die im Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der UdSSR und Finnland [von 1948] zum Ausdruck kommt.«30
Zeitgleich mit der internen Vorbereitung des vermeintlichen Neutralitätsangebots für Deutschland im Kreml gab Moskau damit in Bezug auf Skandinavien Helsinki zu verstehen, dass Kekkonen seinen eigenen Vorschlag, eine Neutralisierung skandinavischer Länder zu propagieren, in die Tat umsetzen solle.31
Am 23. Januar 1952 sollte Kekkonen seine Rede vor seiner Partei halten, erkrankte aber und entschied sich dann, diese in der Maakansa32 zu veröffentlichen. In seiner damit nie öffentlich gehaltenen Rede – daher der Name »Nachthemdenrede« – bedauerte Kekkonen, dass in den Jahren zuvor die Diskussionen über eine neutrale Allianz der skandinavischen Staaten verebbten. Kekkonen vermied, die von Finnland im Vertrag von 1948 eingegangenen Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion infrage zu stellen. Eine Erweiterung der Neutralität auf Norwegen, Dänemark und Island hätte einen NATO-Austritt dieser Länder bedingt und folglich auch eine Rücknahme des sowjetischen Einflusses in Finnland bewirken müssen. Indem er darauf nicht einging bzw. sogar bekräftigte, dass der finnisch-sowjetische Vertrag Finnlands speziellen Status »in einer solchen Kooperation« zwischen den »neutralen nordischen Ländern« bestimme, gelang Kekkonen der diplomatische Spagat, einerseits die Schaffung einer neutralen Zone in Nordeuropa zu befürworten, ohne andererseits die Einbeziehung seines Landes in einen nordischen Block zu fordern. Die Wortwahl der Rede war so offen gehalten, dass es unklar blieb, ob auch Finnland Platz in einem skandinavischen neutralen Block gefunden hätte. Indem er dies unterließ, stellte er auch nicht den Vertrag von 1948 mit der Sowjetunion infrage. Kekkonen verwies aber weise darauf, dass Finnland quasi schon neutral sei. Er sprach von der »bestimmten Neutralität«. Dies war eine klare Anspielung auf die von der UdSSR im Beistandspakt von 1948 zum Ausdruck gebrachte Zusicherung des finnischen Wunsches »außerhalb der Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten verbleiben zu können«.33 Er widersprach auch der, wie er sich ausdrückte, »vorherrschenden Auffassung in westlichen Ländern, die UdSSR werde einen offensiven Krieg beginnen und auf diese Weise den Kommunismus gewaltsam in die ganze Welt tragen«. Stalin selbst habe wiederholt dargelegt, dass Kommunismus und Kapitalismus nebeneinander existieren können. Finnland sei hierfür quasi ein gutes Beispiel.
Kekkonen wurde damals vorgeworfen, im Namen »seines Herrn« (Stalins) zu sprechen, doch zeigen, wie oben dargelegt, die sowjetischen Quellen, dass die Initiative von Kekkonen ausging. Gleichzeitig aber hatten sich weder Kekkonen noch Paasikivi Illusionen hingegeben. Ihnen war klar, dass für Stalin der Vertrag von 1948 nicht verhandelbar war.
Selbst eine Teilnahme am Nordischen Rat war für Finnland aus Moskauer Sicht unmöglich. Das hatte Lebedev bereits vor der »Nachthemdenrede« klar gemacht. Finnland hätte sich ja, so der sowjetische Gesandte, im Beistandspakt verpflichtet, keinen gegen die Sowjetunion gerichteten Bündnissen beizutreten.34 In Moskau sah man jede Vereinigung als gegen sich gerichtet an. Diese klare Vorgabe für Finnland durch Lebedev unterstreicht, dass die Kekkonen-Rede für die Sowjetunion nur propagandistischen Wert haben konnte.
In Washington wiederum waren die Finnen bemüht, hervorzuheben, dass man nicht von den Sowjets inspiriert worden sei. Wichtig sei den Finnen vor allem die Kontinuität der schwedischen Neutralität gegenüber Finnland gewesen. Man verstand zumindest in Washington die finnischen Motive, alles unternehmen zu wollen, um von einem künftigen Krieg verschont zu bleiben. Neutralität schien der skeptischen US-Administration jedoch kein geeignetes Mittel zu sein.35
Die Haltung der Kommunistischen Partei Finnlands zu Kekkonens Rede
Die finnischen Kommunisten sind wahrscheinlich nicht darüber unterrichtet worden, dass sich Kekkonen im Vorfeld seiner Rede an die sowjetische Gesandtschaft gerichtet hatte. Dies implizieren die zugänglichen sowjetischen Quellen. Daher dürfte sie die Rede überrascht haben. In einem Bericht an Stalin brachten die finnischen Kommunisten dennoch ihre Anerkennung für Kekkonen zum Ausdruck und erkundigten sich, wie sie sich in Zukunft in Bezug auf die Neutralität verhalten sollten: »Im Januar veröffentlichte Kekkonen eine bedeutsame außenpolitische Erklärung, in der er betonte, dass ein Angriff auf Finnland nur über Skandinavien möglich sei und dass die Mitgliedschaft Norwegens und Dänemarks im Atlantischen Verband die Bedrohung im Hinblick auf Finnland verschärfen würde. Diesem Umstand Rechnung tragend erklärte er, dass aus der Sicht Finnlands eine Neutralität Skandinaviens wünschenswert wäre, was eigentlich ein Austritt Norwegens und Dänemarks aus dem Atlantischen Verband [NATO] bedeuten würde. Kekkonen betonte gleichzeitig die Notwendigkeit einer klaren Einhaltung des zwischen Finnland und der Sowjetunion geschlossenen Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand. Diese Erklärung beunruhigte die proamerikanische Presse in der ganzen Welt. Sie verschärfte die Lage innerhalb der Regierung Finnlands und brachte die Regierungsfrage auf die Tagesordnung. Die rechten Zeitungen Finnlands und vor allem die Zeitungen der rechten Sozialdemokraten haben offen erklärt, dass sie Einwände gegen Kekkonens Thesen erheben, obwohl die sozialdemokratischen Führer im Vorfeld mit der Erklärung bekannt gemacht wurden und diese vom Präsidenten gut geheißen wurde. Der Parlamentsvorsitzende Fagerholm sagte in seiner Rede zur Eröffnung des Parlaments demonstrativ, dass Finnland ein zu kleines Land sei, um anderen Ratschläge geben zu können.« 36
Auch wenn sich, so die finnischen Kommunistenführer, auf diese Weise die Widersprüche innerhalb der Regierung in Helsinki verschärfen würden, würde sich keine Regierungskrise ergeben, die für die Kommunisten von Vorteil wäre; im Gegenteil, die Gefahr sei groß, dass daraus »eine noch reaktionärere Außen- und Innenpolitik resultieren würde«.37
Nicht nur der finnischen Sozialdemokratie und ihren Propagandamühlen versetzte Kekkonen mit seiner Rede einen herben Schlag, sondern auch den Kommunisten, denen in den Jahren zuvor von Moskau die generelle Linie vorgegeben worden war, Kekkonen zu unterstützen.38 Ganz klar war aber auch ihnen nicht, wie sie sich nach Kekkonens Rede nunmehr verhalten sollten. Sie warnten Stalin jedoch, dass allein schon das Beispiel Schwedens zeige, dass eine neutrale Verteidigungsunion in Nordeuropa nicht realistisch sei: »An erster Stelle steht die Arbeit zur Festigung der Freundschaft zwischen den Völkern Finnlands und der Sowjetunion. […] Die zweite außenpolitische Frage ist jene über die Beziehungen Finnlands zu seinen westlichen Nachbarn, zu Skandinavien. In dieser Frage unterscheiden sich unsere Ansichten von jener Kekkonens. […] Wir schließen uns jenem Teil der Erklärung Kekkonens über eine Neutralisierung Skandinaviens an, in der Kekkonen unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Gewährleistung der Sicherheit Finnlands Norwegen und Dänemark aufruft, eine Neutralitätsposition einzunehmen. Gleichzeitig aber betonen wir, dass die Politik Schwedens weder während des Zweiten Weltkrieges noch gegenwärtig wirklich neutral war und nicht ist und sie deshalb nicht als Beispiel dienen darf, wie von Kekkonen vorgemacht. Wir nehmen eine ablehnende Haltung zur Schaffung einer Verteidigungsunion des Nordens ein, über welche die reaktionäre Presse in ihren Kommentaren zur Erklärung Kekkonens geschrieben hat.«39
Dennoch, die Rede Kekkonens schien den finnischen Kommunisten und »Volksdemokraten« unter der offensichtlichen Führung der SKP dafür prädestiniert, die Widersprüche innerhalb der Regierung zu vertiefen: Sie liefere die »Basis zur Zusammenarbeit der Volksdemokraten [der SKDL] mit Mitgliedern der Agrarunion, die gegen die bedingungslos die amerikanische Kriegspolitik unterstützenden rechten Kreise gerichtet ist«.40
Wenige Tage, nachdem die Anfrage der finnischen KP-Führung Moskau erreicht hatte, legte Vagan Grigor’jan, der Leiter der Außenpolitischen Kommission des Politbüros, Stalin bereits einen Antwortentwurf vor.41 In der zentralen Frage, der Propagierung der »Idee einer nordischen Neutralität«, sollten die finnischen Kommunisten inaktiv bleiben: »Wir denken, dass der von Kekkonen vorgebrachte Gedanke über den Zusammenschluss der nördlichen Länder rund um die Idee einer Neutralität Anerkennung verdient, da ein solcher Zusammenschluss der Festigung des Friedens und der nationalen Unabhängigkeit dieser Länder zuträglich ist. Die Rede Kekkonens dient der Stärkung der Stimmung in Norwegen und Dänemark für einen Austritt dieser Länder aus dem aggressiven Nordatlantikblock, in Finnland und Schweden untergräbt sie die Positionen der Befürworter einer Einbeziehung dieser Länder in die aggressiven Pläne der Amerikaner. Es wäre wünschenswert, eine weitere Erörterung der Rede Kekkonens in den Kreisen der finnischen Gesellschaft auf Kosten von Auftritten von Vertretern bourgeoiser Kreise und Parteien zu entfachen. Was konkrete Formen einer Vereinigung der nördlichen Länder auf der Grundlage einer echten Neutralität betrifft, so steht es der Kommunistischen Partei Finnlands unserer Meinung nach gegenwärtig nicht zu, mit eigenen Vorschlägen in dieser Frage aufzutreten.«42
Ähnliche Anweisungen wurden auch für die Kommunistische Partei Schwedens vorbereitet. Nach Kekkonens Rede hatte sich auch die Führung der KP Schwedens unsicher über die weitere Vorgehensweise an Stalin gewandt.43 Hilding Hagberg und Sven Linderot fragten, ob sie die »Idee eines skandinavischen oder möglicherweise eines nördlichen neutralen Blocks« unterstützen sollten, wenn das »dem Kampf der dänischen und norwegischen kommunistischen Partei für einen Austritt aus dem Atlantischen Pakt hilft?«. Sie erkundigten sich, ob die dänischen und norwegischen Kommunisten »die Propaganda der Neutralitätsbefürworter zur Verteidigung der Neutralität« anstelle einer NATO-Mitgliedschaft unterstützen sollten.44 Neben den allgemeinen Hinweisen, dass die Kekkonen-Rede jene Kräfte stütze, die den NATO-Austritt Norwegens und Dänemarks forderten, sollte die schwedische KP-Führung in ihrer Agitation gebremst werden: »Es ist unserer Meinung nach gegenwärtig zu früh, darüber zu reden, wie eine solche [nordische] Zusammenarbeit aussehen kann, wenn sie überhaupt praktisch möglich wird.«45 Die nordischen KPen sollten nicht »mit gemeinsamen Unterstützungserklärungen für Kekkonens Rede auftreten«. Begründet wurde dies damit, dass »dies den Feinden des Friedens« Anlass geben würde, »zu betonen, dass die Rede Kekkonens nur den linken demokratischen Kreise nützlich ist«.46 Ob die nordischen KPen diese Anweisungen allerdings offiziell erhielten, bleibt unklar. In den deklassifizierten Unterlagen des Politbüros finden sich keine in diesem Zeitraum gefällten Beschlüsse. Dem Lauf der Ereignisse nach zu urteilen, wurde die diskutierte Taktik aber umgesetzt. Die dänische KP begrüßte zwar die Rede Kekkonens.47 In der Folge war die von ihm propagierte Neutralität aber kein großes Thema mehr in Skandinavien.48 In Norwegen und Schweden bewirkte die Rede anscheinend nicht viel.49
Die sowjetische Führung verhielt sich nach Kekkonens Rede ebenfalls passiv. Letztlich wurden keine konkreten Maßnahmen ergriffen, um der Kekkonen-Rede konkrete Schritte hin zu einem neutralen Nordeuropa folgen zu lassen. Die Propagandaschlacht zwischen Ost und West über Deutschland nahm nach der Stalin-Note ihren Lauf. Der sowjetischen Führung ging es wohl auch in hohem Maße darum, sich als Friedensstifterin in der Welt zu präsentieren, vor allem innerhalb des eigenen Imperiums. Dieses Image hatte infolge des Ausbruchs des Korea-Krieges einen hohen Schaden erlitten.
Finnland als Nutznießer?
Kekkonens Initiative wurde vom Kreml geschickt genutzt. Seine Rede bildete die ideale Grundlage für den im sowjetischen Außenministerium gerade vorbereiteten neuen Schachzug in der Deutschlandpolitik, die wenige Wochen später mit dem Neutralitätsangebot für Deutschland ihren propagandistischen Höhepunkt fand. Für die Finnen war es wiederum – aus Eigeninteressen – allemal wert, in der Weltöffentlichkeit als sowjetischer Propagandist dazustehen. Hoffnung auf eine neue Sicherheitsordnung in Nordeuropa auf der Basis einer Neutralität aller skandinavischen Länder und letztlich damit auf ein Ausklinken aus der Blockkonfrontation im frühen Kalten Krieg hegten weder Kekkonen noch Paasikivi. Beide schätzten die sowjetische Skandinavienpolitik realistisch ein. Dem Historiker Jussi Hanhimäki zufolge war Kekkonens »Nachthemdenrede« aber auch, trotz der Gefahr, in den Augen Washingtons noch mehr als sowjetischer Handlanger dazustehen, »ein Versuch, öffentlich Finnland an seine westlichen Nachbarn anzubinden, ohne eine kritische Stellung gegenüber der UdSSR einzunehmen«.50 Helsinki konnte also nur gewinnen.
Aus Moskauer Sicht stellte die Rede aber auch eine Unterstützung für die finnische Kommunistische Partei dar. Dem Hauptfeind, der verhassten Sozialdemokratie, meinte man damit den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Letztlich führte Kekkonens Rede auch zu einer (erwünschten) Annäherung der Kommunisten an die bürgerliche Regierung in der zentralen außenpolitischen Frage über Finnlands Verhältnis zur Sowjetunion. Ende 1952 wurde der finnischen Kommunistischen Partei im ZK in Moskau diesbezüglich ein positives Zeugnis ausgestellt: »Die Führung der Kommunistischen Partei Finnlands verfolgt den richtigen politischen Kurs. Sie kämpft konsequent für eine Freundschaft zwischen den Völkern Finnlands und der UdSSR, für Frieden und Demokratie, gegen die reaktionäre Innenpolitik und die proamerikanische Orientierung der finnischen Bourgeoisie. […] Die Kommunistische Partei nutzte die Tribüne des Parlaments zur Entlarvung der rechten soz[ial]dem[okratischen] Führer als Feinde des finnischen Volkes.«51 Im Kreml war man 1952 – trotz vieler Schwächen und Fehler – mit den finnischen Kommunisten zufrieden.
Die Außenpolitik Finnlands schätzte man in Moskau kurz vor Stalins Tod sehr realistisch ein: »Der außenpolitische Kurs der Regierung Finnlands [der Paasikivi-Kekkonen-Kurs] spiegelt die Interessen jenes Teils der finnischen Bourgeoisie wider, der auf den kapitalistischen Westen ausgerichtet und unfreundlich gegenüber der UdSSR eingestellt ist, berücksichtigt aber die reale Lage, die sich für Finnland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ergeben hat, und ist an einem Handel mit der Sowjetunion interessiert. Dieser Teil der herrschenden Kreise Finnlands wartet ab, manövriert und ist gezwungen, normale Beziehungen mit der UdSSR aufrechtzuerhalten.«52 Zwar hätten sich die finnischen Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion ausgeweitet, ebenso mit den Ländern der »Volksdemokratie«, doch auch der US-Einfluss in Finnland sei drastisch angestiegen. Die finnische Regierung würde immer mehr amerikanische Kredite annehmen und die kulturellen Beziehungen vertiefen. »Die USA«, so die außenpolitische Kommission, »finanzieren die Tätigkeit der finnischen Rechtsparteien und Organisationen«. Vor Wahlen ließen sie ihnen Geschenke zukommen, deren Verkauf den Parteien Millionen Finnmark einbringen würde. Zudem »üben die USA direkten Druck auf die herrschenden Kreise Finnlands aus, wovon insbesondere die ›Reorganisation‹ der finnischen Regierung im November 1952 und die Einschleusung eines Schützlings der Amerikaner, des Generalsekretärs der Sozialdemokratischen Partei, [Väinö Olavi] Leskinen, zeugt«.53 Dem wachsenden »Vertrauen der finnischen Werktätigen in die Politik der Sowjetunion« und der »Stärkung des demokratischen Lagers im Land« sei es aber zu verdanken, dass die antisowjetischen Pläne der »finnischen Reaktion« auf Widerstand stießen, so die Einschätzungen Moskaus.54
* * *
1951/52 hatte man im Kreml die Bedeutung der Neutralität als Propagandamittel nicht nur erkannt, sondern sie auch gezielt eingesetzt, um – wie im Falle Skandinaviens – Stimmung gegen die NATO zu machen. Unter Nikita Chruščev sollte dies zum täglichen Geschäft gehören.55 Kurzum, die Neutralität wurde zu einem Propaganda-Lockmittel für einen Austritt aus der NATO, im Wissen, dass dies nicht nur unrealistisch war, sondern bekräftigt von der Einschätzung der schwedischen Neutralität, die in den Augen der sowjetischen Führung nur auf dem Papier existierte. »In der Stalin-Zeit«, so der russische Historiker Maxim Korobochkin, »hatte eine flexible Haltung kaum eine Chance tonangebend zu werden.« Die Haltung zur Neutralität wurde in Moskau nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise positiver, was aber nicht hieß, dass sich die traditionelle Einstellung der sowjetischen Führung zu Neutralen, die als »nichts besseres als Feinde«, angesehen wurden, grundsätzlich geändert hätte.56 Nicht einmal im Falle Schwedens hatte die Sowjetunion die Möglichkeit, ausreichend Druck auszuüben, um einen in ihren Augen wirklich neutralen Kurs zu erzwingen. Umso weniger wäre sie in der Lage gewesen, Garantien eines wiedervereinten neutralen Deutschland einfordern zu können. Eine derartige Blauäugigkeit kann Stalin, dem es um die Sicherung der sowjetischen Machtpositionen in Mitteleuropa ging, nicht unterstellt werden.
Die Rede Kekkonens fügte sich in die außenpolitischen Leitlinien der Sowjetunion, im Hinblick sowohl auf Finnland und Nordeuropa als auch auf den Hauptschauplatz Deutschland. Daher ging der Kreml auch auf seinen Vorschlag ein. Eine Diskussion in Nordeuropa über ein neutrales Skandinavien schien eine ideale propagandistische Begleiterscheinung für die Stalin-Note, die in diesen entscheidenden Wochen Anfang 1952 im Kreml intensiv vorbereitet wurde.
1* Der Beitrag entstand im Rahmen der Forschungsarbeiten des Autors am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz-Wien, einem Institut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft.
1 Siehe Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Bd. 2: 9. Mai 1945 bis 3. Oktober 1946, Berlin 2004, S. LX; Vladislav Zubok: A Failed Empire. The Soviet Union from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007, S. 66.
2 Auf der Basis ausführlicher Studien im Archiv des russischen Außenministeriums siehe Maxim Korobochkin: Soviet views on Sweden’s neutrality and foreign policy, 1945–50, in: Helene Carlbäck/Alexey Komarov/Karl Molin (Hg.): Peaceful Coexistence? Soviet Union and Sweden in the Khrushchev Era
(= Baltic and East European Studies, Bd. 10), Moskau 2010, S. 81–112, hier S. 102; A. A. Komarov: SSSR i Skandinavskij oboronitel’nyj sojuz (1948–1949) [Die UdSSR und die Skandinavische Verteidigungsunion (1948–1949), in: O. V. Černyševa (Hg.): Severnaja Evropa. Problemy istorii [Nordeuropa. Probleme der Geschichte], Bd. 4, Moskau 2003, S. 90–101, hier S. 97. [Diese und folgende Übersetzungen von Zitaten erfolgten durch den Autor dieses Beitrags.]
3 Siehe Peter Ruggenthaler: A New Perspective from Moscow Archives: Austria and the Stalin Notes of 1952, in: Günter Bischof/Fritz Plasser (Hg.): The Changing Austrian Voter (= Contemporary Austrian Studies, Bd. XVI), New Brunswick 2008, S. 199–227; Günter Bischof: »Recapturing the Initiative« and »Negotiating from Strength«. The hidden agenda of the »Short Treaty« episode – The militarization of American foreign policy and the un/making of the Austrian Treaty, in: Arnold Suppan/Gerald Stourzh/Wolfgang Mueller (Hg.): Der österreichische Staatsvertrag 1955. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität. The Austrian Treaty 1955. International Strategy, Legal Relevance, National Identity (= Archiv für österreichische Geschichte, Bd. 140), Wien 2005, S. 217–247.
4 Chronologisch zurückgehend seien an dieser Stelle stellvertretend nur die folgenden Werke genannt: Peter Ruggenthaler: The 1952 Stalin Note on German Unification. The Ongoing Debate, in: Journal of Cold War Studies 13 (2011), H. 4, S. 172–212; Jürgen Zarusky: Die historische Debatte über die Stalin-Note im Lichte sowjetischer Quellen, in: Nikolaus Lobkowicz u. a. (Hg.): Die deutsche Frage im Ost-West-Geflecht – zum 20. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer (= Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, Bd. 1), Köln/Weimar/Wien 2010; Peter Ruggenthaler: Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 95), München 2007; Gerhard Wettig: Stalin and the Cold War in Europe. The Emergence and Developement of East-West Conflict (= Harvard Cold War Studies Book Series), Boulder 2008; Jürgen Zarusky (Hg.): Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen. Mit Beiträgen von Wilfried Loth, Hermann Graml und Gerhard Wettig, München 2002.
5 Zuletzt Ruggenthaler: The 1952 Stalin Note (Anm. 4).
6 Siehe Text der Rede in englischer Übersetzung in: Tuomas Vilkuna (Hg.): Neutrality: The Finnish Position. Speeches by Dr. Urho Kekkonen. President of Finland, London 1970, S. 53–56.
7 Siehe New York Times vom 24. Januar 1952.
8 Siehe Jussi M. Hanhimäki: Containing Coexistence, America, Russia, and the »Finnish Solution«. 1945–1956. Kent 1997, S. 123.
9 Der Spiegel Nr. 12 vom 19. März 1952, S. 14–16.
10 Dazu grundlegend Ruth Büttner: Sowjetisierung oder Selbständigkeit? Die sowjetische Finnlandpolitik 1943–1948, Hamburg 2001, S. 57–60.
11 Siehe Stefan Troebst: Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?, in: Osteuropa, 48 (1998), H. 2, S. 187; Dörte Putensen: Im Konfliktfeld zwischen Ost und West. Finnland, der Kalte Krieg und die deutsche Frage (1947–1973) (= Schriftenreihe der Deutsch-Finnischen Gesellschaft e.V., Bd. 3), Berlin 2000, S. 26–28; Büttner: Sowjetisierung oder Selbständigkeit? (Anm. 10), S. 94.
12 Maxim Korobochkin: Soviet policy toward Finland and Norway, 1947–1949, in: Scandinavian Journal of History 20 (1995), H. 3, S. 185–207, hier S. 188.
13 Siehe Niklas Jensen-Eriksen: Die Ursprünge der »Kreml-AG«: Die Beschlagnahmung des Deutschen Eigentums in Finnland durch die Sowjetunion 1945–1948, in: Walter M. Iber/Peter Ruggenthaler (Hg.): Stalins Wirtschaftspolitik an der sowjetischen Peripherie. Ein Überblick auf der Basis sowjetischer und osteuropäischer Quellen (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Bd. 19), Innsbruck 2012, S. 175–186.
14 Siehe Büttner: Sowjetisierung oder Selbständigkeit? (Anm. 10), S. 227, 348.
15 Ebd., S. 53.
16 Siehe Putensen: Im Konfliktfeld (Anm. 11), S. 28.
17 Ebd., S. 29.
18 Siehe Jukka Nevakivi (Hg.): Finnish-Soviet Relations 1944–1948. Papers of the Seminar Organized in Helsinki, March 21–25, by the Department of Political History, University of Helsinki, in Cooperation with the Institute of Universal History, Russian Academy of Sciences, Moskau/Helsinki 1994; Dörte Putensen: »Rezensionen«, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte. Osteuropaforschung in der nordeuropäischen Historiographie (2000), H. 1, S. 291–295.
19 Maxim Korobochkin: Soviet policy toward Finland and Norway, 1947–1949, in: Scandinavian Journal of History 20 (1995), H. 3, S. 185–207, hier S. 188.
20 Kimmo Rentola: 1948: Which Way Finland?, in: Hermann Weber (Hg.) u. a.: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (1998), Berlin 1998, S. 99–124, hier S. 118 f.
21 Siehe im Detail Peter Ruggenthaler: The Concept of Neutrality in Stalin’s Foreign Policy 1945–53 (in Vorbereitung).
22 Siehe Korobochkin: Soviet views (Anm. 2), S. 108.
23 Siehe Komarov: SSSR i Skandinavskij oboronitel’nyj sojuz (Anm. 2), S. 97; Korobochkin:
Soviet views (Anm. 2), S. 102. Die Überlegungen zu einer Nordischen Verteidigungsunion waren zumindest für Finnland von Vorteil und bedeuteten einen gewissen Rückenwind für seinen »Balanceakt gegenüber der Sowjetunion«. Siehe Gero von Gersdorff: Die Gründung der Nordatlantischen Allianz (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses, Bd. 7), München 2009, S. 333.
24 Siehe Korobochkin: Soviet views (Anm. 2), S. 111.
25 O. Ken/A. Rupasov/L. Samuel’son (Hg.): Švecija v politike Moskvy 1930–1950-e gody [Schweden in Moskaus Politik von den Dreißiger- bis in die Fünfzigerjahre], Moskau 2005, S. 395. Im Vorfeld des militärischen Zusammenschlusses unter dem Dach der NATO war der künftige Weg der skandinavischen Länder nicht automatisch vorgegeben. Schwedens Angst, Dänemark und Norwegen könnten Teil des Nordatlantikpaktes werden, brachte es auf den Plan, eine nordische Verteidigungsunion zu initiieren, da, so die schwedische Befürchtung, ein NATO-Beitritt die sicherheitspolitische Lage Schwedens ernsthaft schädigen würde. Siehe Ulf Bjereld/Ann-Marie Ekengren: Cold War Historiography in Sweden, in: Robert Bohn/Thomas Wegener Friis/Michael F. Schulz (Hg.): Østersøområdet fra Anden Verdenskrig til den Kolde Krig [Der Ostseeraum vom Zweiten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg], Middelfart, o. J., S. 143–175, hier S. 153.
26 Korobochkin: Soviet views (Anm. 2), S. 111.
27 Jukka Nevakivi: Kekkonen, the Soviet Union and Scandinavia – Aspects of policy in the years 1948–1965, in: Scandinavian Journal of History 22 (1997), H. 2, S. 65–81, hier S. 67 f.
28 Siehe A. Gromyko an V. Molotov, 9.1.1952, in: Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii/Russisches Staatliches Archiv für sozial-politische Geschichte (im Folgenden: RGASPI), f. 82, op. 2, d. 1340, Bl. 183. Kopien ergingen an G. Malenkov, A. Mikojan, N. Bulganin und N. Khruščev.
29 Siehe Entwurf eines Politbürobeschlusses über Anweisungen an Gen. Lebedev, 9.1.1952, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1340, Bl. 184–185.
30 Politbürobeschluss Prot. 86 (240-op), »Frage des MID [über Finnland]«, 10.1.1952, in: RGASPI, f. 17, op. 162, d. 48, Bl. 12, 60. Der Beschluss ist auszugsweise zitiert in Ken/Rupasov/Samuel’son (Hg.): Švecija (Anm. 25), S. 395 f.
31 Siehe ebd.
32 Die zunächst vier Mal in der Woche erscheinende Zeitung wurde 1908 zur Unterstützung der Agrarunion gegründet. 1965 wurde sie in Suomenmaa umbenannt.
33 Nevakivi: Kekkonen (Anm. 27), S. 68 f.
34 Siehe ebd., S. 69.
35 Zur US-Finnlandpolitik und zu den unterschiedlichen Perzeptionsmustern der finnischen Neutralität siehe Jussi M. Hanhimäki: Containing Coexistence (Anm. 8); Agilolf Keßelring: Die Nordatlantische Allianz und Finnland 1949 bis 1961. Perzeptionsmuster und Politik im Kalten Krieg. Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses, München 2009.
36 V. Pessi u. I. Lehtinen an Stalin, 18.2.1952, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1345, Bl. 78–95.
37 Ebd., Bl. 80.
38 Siehe Ruggenthaler: The Concept (Anm. 21).
39 V. Pessi u. I. Lehtinen an Stalin, 18.2.1952, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1345, Bl. 78–95, hier Bl. 80.
40 Ebd., hier Bl. 82.
41 Siehe V. Grigor’jan an Stalin, 23.2.1952, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1345, Bl. 100–110; V. Grigor’jan an Stalin, 25.2.1952, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1345, Bl. 111–121.
42 Ebd., Bl. 113.
43 Siehe V. Grigor’jan an Stalin, 16.2.1952 mit beiliegender Berichterstattung H. Hagbergs u. S. Linderots, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1366, Bl. 124–146.
44 Ebd., Bl. 127–128.
45 V. Grigor’jan an Stalin, mit beiliegenden Antwort- und Politbürobeschlussentwürfen, 29.2.1952, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1366, Bl. 151–153. Ein erster, geringfügig geänderter Antwortentwurf findet sich in ebd., Bl. 147–150.
46 Ebd., Bl. 153.
47 Siehe Bent Jensen: Bjørnen og Haren. Sovjetunionen og Danmark 1945–1965 [Der Bär und der Hase. Die Sowjetunion und Dänemark 1949–1965], Odense 1999, S. 400 f.
48 Siehe Poul Villaume/Torsten Boring Olesen: I blokopdelingens tegn. 1945–1972 [Im Zeichen der Blockspaltung], Kopenhagen 2005; dies.: Danmark under den Kolde Krig [Dänemark im Kalten Krieg], Bd. 1, Kopenhagen 2005; Poul Villaume: Allieret med forbehold. Danmark, NATO og den Kolde krig. En studie i dansk sikkerhedspolitik 1949–1961 [Alliierter mit Vorbehalt. Dänemark, NATO und der Kalte Krieg. Eine Studie über die dänische Sicherheitspolitik 1949–1961], Kopenhagen 1995. Thomas Wegener Friis, Odense, danke ich für diese und folgende Hinweise.
49 Sie findet nicht einmal Erwähnung in der als Standardwerk geltenden Studie des norwegischen Historikers Sven Holtsmark. Dieser hatte Anfang der Neunzigerjahre umfangreichen Zugang zu sowjetischen Quellen, vor allem im Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation. Siehe Sven G. Holtsmark: A Soviet Grab for the High North? USSR, Svalbard, and Northern Norway 1920–1953, Oslo 1993. Ebenso unerwähnt in Knut Einar Eriksen/Helge Øysten Pharo: Kald Krig og internationalisering 1949–1965 [Der Kalte Krieg und Internationalisierung 1949–1965], Oslo 1997. Auch für die schwedische Politik hatte die Rede Kekkonens keine Folgen. Sie findet ebenso keine Erwähnung bei Juhana Aunesluoma: Britain, Sweden and the Cold War, 1945–54. Understanding Neutrality, Basingstoke/Oxford 2003.
50 Jussi M. Hanhimäki: The Lure of Neutrality: Finland and the Cold War, in: Klaus Larres/Kenneth Osgood (Hg.): The Cold War after Stalin’s Death. A Missed Opportunity for Peace? (= Harvard Cold War Book Series), Lanham u. a. 2006, S. 257–276, hier S. 261.
51 V. Grigor’jan an V. Molotov, 19.12.1952, in: RGASPI, F. 82, op. 2, d. 1345, Bl. 125–133, hier Bl. 131. Teilweise wörtlich übernommene Formulierungen auch in: »Über die Lage in der Kommunistischen Partei Finnlands«, V. Grigor’jan an Stalin, 23.1.1953, in: RGASPI, F. 82, op. 2, d. 1166, Bl. 116–119.
52 »Über die Innen- und Außenpolitik der Regierung Finnlands«, V. Grigor’jan an Stalin, 23.1.1953, in: RGASPI, F. 82, op. 2, d. 116, Bl. 111–115, hier Bl. 113.
53 Ebd., Bl. 114.
54 Ebd., Bl. 115.
55 Zu den sowjetischen Versuchen, die Ostsee zum »Meer des Friedens« zu machen siehe u. a. Vojtech Mastny: Die NATO im sowjetischen Denken und Handeln 1949 bis 1956, in: Vojtech Mastny/Gustav Schmidt: Konfrontationsmuster des Kalten Krieges 1946 bis 1956 (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956, Bd. 3), München 2003, S. 383–471, hier S. 455. Zur Propagierung der schwedischen und österreichischen Neutralität für (vor allem kleinere) NATO-Staaten durch Chruščev siehe Peter Ruggenthaler/Harald Knoll: Nikita Chruščev und Österreich. Die österreichische Neutralität als Instrument der sowjetischen Außenpolitik, in: Stefan Karner u. a. (Hg.): Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy – Chruschtschow, Innsbruck/Wien/Bozen 2011, S. 759–807.
56 Korobochkin: Soviet views (Anm. 2), S. 110 f.