Die kritische Analyse kommunistischer Ideologie und Herrschaftspraxis, aber auch des Alltagslebens im sowjetischen Machtbereich gehört heute zum Kanon der politischen und der Wissenschaftskultur der Bundesrepublik. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges befassten sich mehrere Generationen mit diesem großen Themenkomplex. Die Vertreter der ersten Generation der Kommunismusforscher (von Forscherinnen lässt sich nur in einem Ausnahmefall reden) entstammten oft selbst der Arbeiterbewegung, meist deren kommunistischem Zweig, in manchen Fällen auch der SPD. Dazu zählen Franz Borkenau (1900–1957), Arkadij Gurland (1904–1979), Wolfgang Abendroth (1906–1985), Richard Löwenthal (1908–1991) und Ossip K. Flechtheim (1909–1998). Auch Fritz Sternberg (1895–1963), obgleich amerikanischer und österreichischer Staatsbürger, ist hier zu nennen. Einen Platz ganz eigener Art kann Ruth Fischer (1895–1961) beanspruchen: Zwar lebte sie seit 1941 in den USA, doch war ihr Wirkungsfeld durch Publikationen und Vorträge spätestens seit ihrer Übersiedlung nach Paris 1956 vorrangig die Bundesrepublik. Bindeglied zwischen ihnen und der nachfolgenden Generation ist Theodor Bergmann (geb. 1916), einst Mitglied der KPD-Opposition. Ursprünglich Agrarökonom, wandte er sich nach 1980 intensiv der Kommunismusforschung zu und publiziert auch als fast Hundertjähriger unermüdlich.
Mit Ausnahme Abendroths, der als Hitlergegner unter größter Gefahr in Deutschland überlebte, wurden alle ins Exil gezwungen, aus dem sie nach 1945 zurückkehrten, so dass diese erste Generation der Kommunismusforscher durchaus als Remigranten-Generation zu bezeichnen ist.
Einer zweiten Generation sind Wolfgang Leonhard (geb. 1921), Werner Hofmann (1922–1969), Iring Fetscher (geb. 1922), Siegfried Bahne (1928–2004), Hermann Weber (geb. 1928) und auch Karl Hermann Tjaden (geb. 1935) zuzuordnen. Von ihnen gehören der Exilant Leonhard und der politisch wie »rassisch« verfolgte Hofmann zu den Opfern des Nazismus. Mindestens Fetscher und Weber waren Söhne von Antinazis. Sie alle erlebten den Zweiten Weltkrieg (Leonhard in der Sowjetunion) und wurden durch dessen Folgen tief geprägt, so dass diese zweite Generation als die Kriegsgeneration bezeichnet werden kann. Unter ihnen ist besonders Hermann Weber hervorzuheben, weil er wie kein anderer dafür verantwortlich war, die Kommunismusforschung als akademische Teildisziplin an den Hochschulen zu verankern. Durch sein Wirken entwickelte sich die Universität Mannheim nach 1973 zu einem Zentrum dieser Forschungsdisziplin, nicht zuletzt mit Blick auf Entwicklungen in der DDR.1
Der Abendroth-Schüler Tjaden schlägt den Bogen zu einer dritten Generation, die im Kontext von »1968« sozialisiert wurde, und die mit Fug und Recht als Achtundsechziger-Generation der Kommunismusforscher bezeichnet werden darf, deren Vertreter aber politisch sehr unterschiedliche Wege gingen. Es genügt, Georg Fülberth (geb. 1939), der sich der DKP anschloss, Manfred Wilke (geb. 1941), jetzt CDU, die linksorientierten Klaus Meschkat (geb. 1935) und Alexander von Plato (geb. 1942), aber auch Bernd Rabehl (geb. 1938) zu erwähnen, der sich inzwischen im völkisch-nationalen Spektrum tummelt. Diese Generation wendet sich verstärkt methodisch unterschiedlichen Disziplinen von der politischen Parteienforschung (Fülberth) bis zur Oral History (von Plato) zu.
Eine vierte Generation der »Nach-Achtundsechziger« wurde zwar nur zum Teil politisch im damals modischen Milieu der »K-Gruppen« sozialisiert, blieb aber meist nahe am Puls der Neuen Sozialen Bewegungen, im Umfeld der Grünen oder zum Teil auch der SPD, und die Prägung durch die Auseinandersetzungen um das Für und Wider des Kalten Krieges zwischen Hochrüstung und Entspannung gilt auch für die (wenigen) liberal-konservativ Orientierten unter ihnen. Zu dieser Forschergeneration gehören Gerd Koenen (geb. 1944), Klaus-Michael Mallmann (geb. 1948), Karl Schlögel (geb. 1948), Bernhard H. Bayerlein (geb. 1949), Reiner Tosstorff (geb. 1949), Sigrid Koch-Baumgarten (geb. 1955) und sogar schon Andreas Wirsching (geb. 1959), dessen Forschung aber weit über das Thema Kommunismus hinausreicht, sowie Jörg Baberowski (geb. 1961).
Ebenso sind zu dieser Kohorte inzwischen auch jene ostdeutschen Forscherinnen und Forscher zu rechnen, die trotz der »Abwicklung« ihrer Institutionen die wissenschaftliche Tätigkeit fortsetzen, wie Annette Leo (geb. 1948), Wladislaw Hedeler (geb. 1953), der Verfasser dieser Zeilen (geb. 1955), Elke Scherstjanoi (geb. 1956), aber ebenso der in der »zweiten Wissenschaftskultur« ostdeutscher Vereine tätige Stefan Bollinger (geb. 1954).2
Die fünfte Generation, für die eine spezifische Bezeichnung noch auf sich warten lassen sollte, trat um das Jahr 2000 mit ersten Publikationen auf den Plan, schreibt zum Teil noch an Dissertationen. Aus der großen Schar junger Talente seien – stellvertretend für viele – die zumeist zwischen 1970 und 1980 geborenen Gleb J. Albert, Jens Becker, Marcel Bois, Ralf Hoffrogge, Harald Jentsch, Christoph Jünke, Uwe Sonnenberg, Florian Wilde und Sebastian Zehetmair genannt. Till Kössler, der ebenso zu dieser Generation gehört, hat bereits eine Professur in Bochum inne. Manche von ihnen taten sich innerhalb der Partei Die Linke oder ihrem Umfeld als Sprecher eines dezidiert antistalinistischen und radikaldemokratischen Sozialismus-Verständnisses hervor und leisteten (und leisten noch immer) damit einen über die reine Forschungsarbeit hinaus reichenden Beitrag zur Demokratisierung der politischen Kultur im Spektrum jenseits von SPD und Grüner Partei. Sie bestimmen auch zunehmend das Profil des von Hermann Weber 1993 begründeten Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung, dessen jetzt maßgeblicher Herausgeber Ulrich Mählert (geb. 1968) gewissermaßen ein Bindeglied zwischen der vierten und der fünften Generation der Kommunismusforscher darstellt.
Jede Generation oder Alterskohorte ist von spezifischen Erfahrungen geprägt, die Vor- oder Nachgeborene nicht teilen, die deutschen Kommunismusforscher bilden keine Ausnahme. Die folgenden Zeilen sollen zu einer Diskussion über den Zusammenhang von generationeller Erfahrung und den Prioritäten in der wissenschaftlichen Arbeit auf dem Feld der Kommunismusforschung anregen. Die Ausführungen konzentrieren sich, um nicht jedes Maß zu überschreiten, auf die Gründer-Generation (west-)deutscher Kommunismusforscher. Pars pro toto seien drei wichtige Protagonisten aus ihr ausgewählt, die ab 1933 aus Deutschland flüchten mussten und nach 1945 zurückkehrten, die zudem eine gemeinsame (wenn auch parteipolitisch unterschiedliche) Sozialisation in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik aufwiesen: Franz Borkenau, Richard Löwenthal und Ossip K. Flechtheim. Eine weitere Gemeinsamkeit war ihre (ganz oder teilweise) jüdische Herkunft und die daraus erwachsende doppelte Erfahrung an Verfolgung: als politisch aktive Hitlergegner wie als rassistisch Ausgegrenzte.3 In der Forschung zur Arbeiterbewegung (wie auch zum Antisemitismus) wird zunehmend nach dieser doppelten Gewalterfahrung gefragt.
Franz Borkenau (1900–1957)
Der aus Wien stammende Franz Borkenau trat bereits in der Weimarer Republik als Reichsleiter des KPD-Studentenbundes politisch hervor. 1929 wurde er als »Rechtsabweichler« aus der KPD ausgeschlossen und arbeitete danach an Max Horkheimers Frankfurter Institut für Sozialforschung. Seine Habilitation über den Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild wurde durch die Errichtung der Nazidiktatur vereitelt. Bereits 1933 musste Borkenau Deutschland verlassen und verbrachte die nächsten zwölf Jahre zumeist als Lehrer an einer Abendschule in London, aber auch als Universitätsdozent in Panama sowie als Reporter im Spanischen Bürgerkrieg und in Australien. 1946 erhielt er eine außerordentliche Professur für neuere Geschichte in Marburg, ließ sich jedoch 1949 beurlauben und arbeitete fortan als Herausgeber der Zeitschrift Ost-Probleme sowie für den Kongress für kulturelle Freiheit, der vom amerikanischen Geheimdienst mitfinanziert wurde.
In seinen Schriften behandelte Borkenau den Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Moral. Nur derjenige könne ein wahrer Wissenschaftler sein, der sich für die Verteidigung der Freiheit einsetze. Aus dieser Perspektive gelang ihm eine Anzahl bedeutsamer Bücher. In englischer Sprache debütierte er 1936 mit einer Biografie des Soziologen Vilfredo Pareto. International bekannt wurde Borkenau mit seinem Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg, der 1938 unter dem Titel The Spanish Cockpit, aber erst 1986 in deutscher Übersetzung (Kampfplatz Spanien) erschienen ist. Ebenfalls 1938 publizierte Borkenau The Communist International, eine bemerkenswerte Geschichte der Kommunistischen Internationale. 4 Daran schlossen sich Bücher über die Entstehung und Zerstörung der österreichischen Republik (Austria and After, 1938) sowie über die Außenpolitik Nazideutschlands (The New German Empire, 1939) an.
Mit seinen Arbeiten über The Totalitarian Enemy (1940) und Socialism, National or International (1942) rückte Borkenau, der sich bis dahin als linker Kritiker des Stalinismus verstanden hatte, deutlich nach rechts. Seine Rückkehr nach Deutschland erfolgte auf ausdrücklichen Wunsch der amerikanischen Militärverwaltung. Borkenaus wissenschaftliche und publizistische Arbeiten waren seitdem nur schwer von seiner Propagandatätigkeit im Kalten Krieg zu trennen. Sein Buch Der europäische Kommunismus, das 1952 erschien, hatte nicht mehr die analytische Überzeugungskraft früherer Werke, bediente stattdessen alle antikommunistischen Klischees.
In seinem Nachwort des Buches Ein Gott, der keiner war, der Textsammlung ehemaliger Kommunisten von Arthur Koestler bis Ignazio Silone, kritisierte Borkenau, dass manche Ex-Kommunisten »still verschwunden sind«, ohne ihren Bruch mit der Partei öffentlich zu machen. Ihm und anderen literarisch aktiven Ex-Kommunisten gehe es jedoch darum, zu zeigen, dass der Kommunismus »sich von den Zielen und Überzeugungen des westeuropäischen Sozialismus so weit entfernt [habe], dass ihn so gut wie nichts vom Faschismus und Nazismus mehr trennt; wir erleben in Russland gerade jetzt einen Übergang zur Blut-und-Boden-Ideologie, zum Kampf gegen die ›entartete Kunst‹, zum ausgeprägten Nationalismus und zum Antisemitismus.« Der Kommunismus sei Ausdruck der »äußersten Barbarei, die vom Abendland nichts als seine Technik übernommen hat«. Gerade die innere Kenntnis der kommunistischen Partei hebe den Ex-Kommunisten von Mitgliedern anderer Strömungen ab. »Man muss [...] dem totalitären Ungeheuer von ganz nahe in den Rachen geblickt haben, um die tödliche Gefahr seiner Fangzähne richtig einzuschätzen. Vielleicht ist nur der imstande, den Umfang der kommunistischen Bedrohung und ihre Eigenart ganz klar zu erkennen, der selbst einmal im Banne des Basilisken stand und sich aus ihm befreit hat.«5
Eine ausführliche Analyse der Schriften Borkenaus kann hier nicht geleistet werden, doch sei festgehalten, dass er in seinen publizistischen Texten nur in Ausnahmefällen (wie in seinem Nachwort zu Ein Gott, der keiner war) diesen Emotionen nachgab, sich jedoch bisweilen ungehemmt in politischen Spekulationen erging. Er selbst verstand dies freilich als eine Methode der Gehaltsanalyse (content-analysis), die von einer Kenntnis der strukturellen Eigenheiten der Sowjetunion ausgehe. Borkenau interpretierte den Verlauf und die Besonderheiten der sowjetischen Geschichte »von oben«, als Produkt parteiinterner Machtkämpfe. Der Historiker, schrieb er, »muss die Geschichte der zahllosen Parteistreitigkeiten der Vergangenheit so gut kennen wie ein studierter Theologe die endlosen Disputationen, die das christliche Dogma bestimmten«.6 Er betonte, dass genau jene Methode ihn befähigte, zu Beginn des Jahres 1953 festzuhalten, dass Stalin entweder bereits verstorben oder doch todkrank sei. Er begründete diese Annahme wie folgt: »Am 4. Januar 1953 verabschiedete das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands einen Beschluss, der die ›Lehren‹ aus dem ›Fall Slánský‹ zog und der breite Aufmerksamkeit hervorrief, zum einen, weil er in einer extrem antisemitischen Tonart gehalten war, die an die Goebbels-Propaganda erinnerte, zum anderen, weil er auf eine unmittelbar bevorstehende Entscheidung im innerparteilichen Kampf zwischen Ulbricht und Dahlem hinwies.
Zwei andere bedeutsame Gesichtspunkte dieses berüchtigten Beschlusses wurden indes kaum bemerkt. Malenkow wurde in übermäßiger Länge zitiert und dadurch mit der antisemitischen Kampagne in Verbindung gebracht, die ihren ersten Höhepunkt soeben in den Prager Prozessen erreicht hatte. Indem Ulbricht ihn so ausführlich zitierte und selbst in den antisemitischen Chor einstimmte, gab er, der die treibende Kraft dieses Beschlusses war, sich als ein Schützling Malenkows zu erkennen. Was aber noch wichtiger ist: Während Malenkow ausführlich zitiert wurde, kam Stalin nur mit einem Halbsatz aus dem Jahre 1910 zu Wort. Eine solch vorsätzliche Beleidigung konnte sich nur leisten, wer sich des Sturzes des Tyrannen sicher war oder aber außer Reichweite seiner Vergeltung stand. Sonst wäre es glatter Selbstmord gewesen. Es war in erster Linie aufgrund dieses Beweises, der sich in jenem Beschluss fand, dass ich damals Stalins bevorstehenden Tod voraussagte, der auch wirklich sieben Wochen darauf eintrat.«7
Borkenaus »Gehaltsanalyse« sei noch immer von Interesse, schrieb John Tashean 1962.8 Für Walter Laqueur war Borkenau fünf Jahre später hingegen das Paradebeispiel eines Kreml-Astrologen, dessen Informationen nicht immer auf solider Quellengrundlage beruhten, allerdings manchmal ins Schwarze trafen, so die 1952 getroffene und 1954 wiederholte Voraussage eines künftigen Konfliktes zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China. Doch selbst Borkenaus überzogene und falsche Prophezeiungen boten, wie Laqueur zugestand, »gewöhnlich Stoff zum Nachdenken, denn sie beruhten auf Logik wie auch auf Einfallsreichtum; Borkenaus Fehler waren häufig fruchtbarer und anregender als die weniger irrigen Analysen anderer Autoren.«9 Borkenau selbst bezeichnete die Art seiner Prognostik als eine »neugeborene Wissenschaft«, deren Inhalt die »Erforschung der innerpolitischen und innerparteilichen Kämpfe im Kommunismus« sei.10 Die heutige westliche Kommunismus-Forschung sieht diese Vorgehensweise als antiquiert an. »Die historische Analyse wurde damals einfach darauf reduziert, die Veränderungen in der Partei und der Komintern der persönlichen oder kollektiven Laune der sowjetischen Führung zuzuschreiben«, wie Eric Weitz mit Hinweis auf Borkenau und Ruth Fischer betont.11
Zwischen Paris, Zürich, Rom, Düsseldorf und München unstet hin- und herreisend, verbrachte Borkenau seine letzten Jahre. Politisch entdeckte er (als einziger der hier Behandelten) seine Sympathien für den Zionismus. Doch gedachte er nicht, nach Israel überzusiedeln. Vielmehr, so schrieb er 1955 in einer Rezension zu Arnold Toynbee, sei auch die Judenheit in der Diaspora für das Überleben des jüdischen Volkes notwendig. Borkenau, einst katholisch getauft, dann zur evangelisch-reformierten Kirche übergetreten, schließlich Marxist und Atheist, sah sich nunmehr als säkularen Juden, obgleich seine Mutter keine Jüdin gewesen war (der Vater war jüdischer Herkunft). Sehr scharf wies er Toynbees Ansicht zurück, wonach »die ungeheuerlichen Verbrechen, die von den Deutschen an den europäischen Juden begangen wurden, mit dem gleich[zusetzen seien], was die Israelis den Arabern Palästinas antaten […]«.12 Wenn, so fuhr er fort, »der Zionismus in Israel weiterhin militant ist, so weitgehend deshalb, weil die Bedrohung, die er 1948 mit der Waffe abzuwehren suchte, noch weiterbesteht«. Doch sogar unter diesen Umständen habe der Zionismus »doch gewisse sozialistische Ideale« wie nirgendwo sonst in der Welt verwirklicht.13
Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber nicht frei von ihren gesellschaftlichen Umständen – an dieser Erkenntnis des Marxismus hielt Borkenau auch fest, als er sich von Marx gelöst hatte und strebte die Darstellung weitgespannter Entwicklungslinien an, die die Fülle der Einzelheiten in große Zusammenhänge stellt. Zuletzt bemühte er sich bei fortdauernder Gegnerschaft zum Marxismus wieder um ein stärkeres Verständnis von Marx.14
Richard Löwenthal (1908–1991)
Richard Löwenthal stammte aus Berlin. Bereits als Student betätigte er sich in seiner Heimatstadt und in Heidelberg, wo er u. a. Geschichte und Nationalökonomie studierte, politisch: 1926 wurde er Mitglied, 1928 Reichsleiter des KPD-Studentenbundes. Das politische Engagement blieb für ihn wichtig, auch wenn er seine politische Heimat mehrfach wechselte. Nach seinem Ausschluss aus der KPD, gegen deren Sozialfaschismus-These und deren Unterordnung unter Stalin er opponiert hatte, schloss sich Löwenthal bis 1931 der KPD-Opposition um Heinrich Brandler und August Thalheimer an. Bereits 1931/32 nahm Löwenthal Kontakte zur Gruppe Neu Beginnen auf. Diese Gruppierung bemühte sich ab 1933 um eine Neuformierung der durch die epochale Niederlage gelähmten deutschen Linken. 1933/34 schrieb Löwenthal unter Pseudonym wichtige Beiträge für die Karlsbader Zeitschrift für Sozialismus, in denen er den Hitlerfaschismus analysierte. Obgleich als Jude und Marxist doppelt gefährdet, war er in Deutschland im Widerstand aktiv. Im August 1935 musste Löwenthal Deutschland verlassen. Er ging zuerst nach Prag, dann zwischenzeitlich nach Paris, bevor er sich im Sommer 1939 in London niederließ. An all diesen Orten war er in leitender Funktion im Auslandsbüro von Neu Beginnen tätig.
Ab 1941 setzte sich Löwenthal für eine Mitwirkung der Sowjetunion an der Neuordnung Europas ein. Er entwickelte das Konzept einer deutschen Demokratie, in der eine Restauration des deutschen Kapitalismus verhindert würde. 1945 wurde er britischer Staatsbürger und trat im gleichen Jahr der Exil-SPD bei. Die folgenden anderthalb Jahrzehnte arbeitete er als Journalist für die Nachrichtenagentur Reuter und für den Observer. In den politischen Kontroversen bezog er nunmehr Positionen, die denen des SPD-Parteivorstandes nahe kamen, in denen sich aber auch Erfahrungen des englischen Labour-Milieus niederschlugen. In seinem bekanntesten Buch Jenseits des Kapitalismus übte er (unter dem Pseudonym Paul Sering) 1946 scharfe Kritik am Parteimodell Lenins. Er befürwortete für Deutschland die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch eine zentrale, an den Interessen der arbeitenden Bevölkerung orientierte Investitionslenkung. Er sah ein sozialistisches und demokratisches Europa als eine mögliche dritte Kraft zwischen dem kapitalistischen Nordamerika und der kommunistischen Sowjetunion und hoffte auf eine Vorreiter-Rolle von Englands neuer Labour-Regierung, die damals unter Clement Attlee das Kriegskabinett Winston Churchills abgelöst hatte.15 In England wurde Löwenthal zum Sozialdemokraten, wie er später betonte. Dies zeigt sich auch in der Biografie Ernst Reuters, die er 1957 gemeinsam mit Willy Brandt publizierte.
In der Beurteilung Reuters und insbesondere seines Schrittes, der KPD nach deren sektiererischer Politik im Januar 1922 den Rücken zu kehren, hielten sich beide mit vorschnellen Etikettierungen zurück. »Der Bruch mit dem Kommunismus ist für jeden, der jahrelang seine besten Kräfte der revolutionären Bewegung gegeben hat, eine schmerzliche Operation – für manchen die Amputation eines Teils seiner Persönlichkeit«, schrieben Brandt und Löwenthal. »Der Exkommunist verlässt nicht einen Verein – er bricht mit einer Glaubens- und Lebensgemeinschaft. Er fällt aus einer vertrauten Welt heraus und muss sich in der fremden Welt des bürgerlichen Alltags neu orientieren. Er fühlt statt der emotionalen Treibhauswärme der ›Bewegung‹ die kühle Luft der Vereinzelung und des Existenzkampfes, doch es ist die frische Luft der Wirklichkeit. Der Entschluss ist schwer, aber einmal wirklich erkämpft, schenkt er ein Gefühl der Erleichterung und Befreiung.«16 Als das Buch kurz nach den dramatischen Ungarn-Ereignissen herauskam, schien der Sowjetkommunismus von den kurz zuvor angekündigten inneren Reformen gänzlich abzurücken und wieder zu erstarren.
1961 kehrte Löwenthal auf Initiative von Ossip K. Flechtheim nach Deutschland zurück, um eine Professur für Außenpolitik an der Freien Universität Berlin zu übernehmen.
In seiner wichtigsten Schrift zur Kommunismusforschung, Chruschtschow und der Weltkommunismus, legte Löwenthal 1963, ungleich der gröberen Variante der Totalitarismus-Theorie, Wert auf eine immanente, ideologiekritische Interpretation der Sowjetgesellschaft. »So hat die Ideologie selbst sich bei aller Kontinuität der Zielsetzung wieder und wieder gewandelt, und dieser Prozess ist oft schmerzlich und krisenhaft verlaufen. Die Transformation des rückständigen Agrarlands Russland zur heutigen Sowjetgesellschaft und ihren noch immer rückständigen Kollektivgütern ist gewaltig, aber grundverschieden von der Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage freier Assoziation der Produzenten und aktiver Massenkontrolle der Verwaltung, die den Gründern vorschwebte; und die Diskrepanz zwischen Lenins Idee der Weltrevolution und der wirklichen Entwicklung der sowjetischen Weltpolitik ist nicht geringer.«17
Auf längere Sicht könne sich der Weltkommunismus soweit ausdifferenzieren, dass ein Teil, nämlich die nur von der Sowjetunion geschaffenen Staaten und Parteien, im Falle einschneidender sozialer Erschütterungen sogar wieder verschwänden, ein anderer Teil sich hingegen der Sozialdemokratie annähern könne, ein dritter Teil in Ländern, die eine eigenständige »totalitäre Revolution« hervorgebracht hatten oder noch hervorbringen würden, auch langfristig die Macht behalten würde. Die Gründungsmitglieder der Komintern, »jene kommunistischen Parteien des industriellen Europa, die einst durch die Transformation kleiner demokratisch-revolutionärer Gruppen unter bolschewistischem Einfluss entstanden, mögen wohl den Kreis ihres Lebens vollenden, in dem sie, sei es zur Bedeutungslosigkeit von Sekten, sei es zu demokratischer Unabhängigkeit, zurückkehren«.18 Gegenwärtig müsse jedoch auch im Hinblick auf die osteuropäischen Länder mit einem noch lange spürbaren Willen der Sowjetunion gerechnet werden, ihre Machtposition in Mitteleuropa zu behaupten.
In dieser Konsequenz entsagte Löwenthal dem Totalitarismus-Paradigma vollends. Sogar die ČSSR-Krise 1968 brachte ihn nicht mehr von der Auffassung ab, auch in Zukunft würde »eine Tendenz zum Pendeln« zwischen einer Einmannherrschaft und einer institutionell-autoritären Herrschaft weit mehr in der Natur kommunistischer Regime liegen, als eine totalitäre Herrschaft alten Schlages.19 Die tschechoslowakischen Reformkommunisten hätten keineswegs die Vorherrschaft der KP beseitigen wollen – »sie wollten es nicht und konnten im Gegenteil auf die dramatische Zunahme ihrer Popularität aufgrund der begonnenen Reformen verweisen [...]«.20 Doch erwäge die Sowjetunion unter Brežnev bei aller Brutalität weder in Prag noch im ständig gärenden Polen die Rückkehr zum Stalinschen Massenterror. Dies zeige deutlich die »Grenzen der Vormachtkontrolle« an.21
Ossip K. Flechtheim (1909–1998)
Ossip Kurt Flechtheim wurde in Nikolajew in der Ukraine geboren, wuchs jedoch in Münster und Düsseldorf auf. Von 1927 bis 1933 war er Mitglied der KPD und schloss sich danach der Gruppe Neu Beginnen an. 1935 emigrierte Flechtheim nach Genf und von dort 1939 in die USA. 1951 kehrte er – auch vom Antikommunismus der McCarthy-Ära direkt betroffen – nach Berlin zurück und lehrte zunächst an der Deutschen Hochschule für Politik, dann an der Freien Universität. Er verband zeitgeschichtliche Forschung mit der Begründung der Futurologie, der Zukunftswissenschaft, als Fachdisziplin, die auch versuchte, Entwicklungstrends der kommunistischen Welt zu analysieren.
1934 hatte Flechtheim in Köln noch über Hegels Strafrechtstheorie promovieren können, die Buchausgabe der Arbeit konnte jedoch nur noch in der Tschechoslowakei erscheinen. Sein Referendariat bei einer Düsseldorfer kommunistischen Anwaltskanzlei musste er abbrechen. Einer kurzen, gefahrvollen Phase der illegalen Arbeit für Neu Beginnen folgte die Emigration in die Schweiz.
Flechtheim gelang es, ein Stipendium am Institut de hautes études internationales in Genf zu erhalten; dem Graduiertenkolleg des Völkerbundes, das vom Schweizer Wirtschaftswissenschaftler William Rappard geleitet wurde. Hier ging Flechtheim den Ursachen der Stalinisierung der kommunistischen Bewegung nach. 1937 schrieb er, dass »in Ländern mit noch nicht abgeschlossener bürgerlicher Revolution wie Russland [...] der Weg zum ›Sozialismus‹ der der Machteroberung durch eine ›jakobinisch-blanquistische‹ Minderheit, die sich auf relativ primitiv-fortschrittliche Tendenzen im Proletariat und der Bauernschaft stützt, zu sein [scheint]. Dieser Weg führt zur Errichtung einer zentralistisch-terroristischen Parteidiktatur, wobei die Partei wieder zentralistisch-terroristisch von einer kleinen Clique beherrscht wird. Diese Clique scheint imstande zu sein, eine der bürgerlichen überlegene kollektivistische Wirtschaft zu schaffen, die viel mehr einer Technokratie als einer klassenlosen Gesellschaft zu entsprechen scheint.«22 Für dieses düstere Bild sollte Flechtheim später den Terminus Neo-Cäsarismus prägen. Seine Kritik am Stalinismus ließ Anklänge an den frühen wie den späten Trockij erkennen, an dessen Warnungen vor einer Parteidiktatur 1904 wie an seine Analyse der Verratenen Revolution 1936.
Nach dem Zusammenbruch des Völkerbundes zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Arbeit am Genfer Institut ungleich komplizierter als bisher. Flechtheim ging in die USA. Dort lernte er seine Frau Lili Faktor kennen, die wie er aus Europa hatte fliehen müssen.
In New York kam Flechtheim zunächst am Institute of Social Research unter. Als Assistent unterstützte er die Forschungsarbeit von Franz Leopold Neumann, aus der die berühmte Gesamtdarstellung des »Dritten Reiches«, der Behemoth, erwuchs. Zwischen 1941 und 1951 unterrichtete Flechtheim an verschiedenen US-Hochschulen Politische Wissenschaft: an der damaligen Atlanta University in Georgia, am Bates College in Lewiston, Maine, und am Colby College in Waterville, Maine. Die amerikanischen Jahre waren wissenschaftlich für Flechtheim in dreierlei Hinsicht prägend: in seiner intensiven Beschäftigung mit der Politikwissenschaft, der Zukunftsforschung sowie der Geschichte und Politik des deutschen Kommunismus.
Zum einen formulierte Flechtheim sein spezifisches Verständnis von Politischer Wissenschaft, zusammengefasst in dem von ihm herausgegebenem Band Fundamentals of Political Science (1952, deutsche Ausgabe 1958). Politikwissenschaft war für Flechtheim nicht nur Wissenschaft von der politischen Macht. Er schrieb: »Der Politologe mag sehr wohl von einer Untersuchung der politischen Macht ausgehen, aber er muss sich ebenso bemühen, die Ziele von Politikern, politischen Institutionen und politischen Bewegungen zu verstehen, die über den Erwerb und Gebrauch der Macht hinausgehen.«23 Die Politische Wissenschaft solle nicht nur beschreiben und analysieren, sondern auch Wegweiser sein für eine humane Demokratie. Dem stehe, so Flechtheim, das Interesse der jeweiligen Machthaber gegenüber. Diese würden ihre Interessen mit denen der Gesamtgesellschaft gleichsetzen; die daran geknüpften Verschleierungsmechanismen bezeichnete er als das Wesen von Ideologie: die Notwendigkeit, irrationales, fehlerhaftes staatliches Handeln als rational zu legitimieren.24
Dem setzte Flechtheim seine eigene Vorstellung von der Utopie entgegen. Utopisches Denken war für ihn das Vordenken in Richtung auf eine rationale, gewalt- und machtarme Gesellschaft. Flechtheims zweite Forschungsrichtung mündete somit in die Forderung nach einer kritischen und systematischen Beschäftigung mit der Zukunft. Mit 1945 erschienenen Aufsätzen25 wurde Flechtheim, gemeinsam mit einem anderen deutschen Exilanten, Robert Jungk,26 in den Vierzigerjahren zum Begründer der »Futurologie«. Warum klafften die kommunistische Utopie und die Realität kommunistischer Politik so stark auseinander? Die Beschäftigung mit dieser Frage führte Flechtheim zum dritten großen Arbeitsgebiet seines Lebens: der historischen Kommunismusforschung, speziell der Geschichte und Politik von KPD, KPdSU und Komintern.
1947 legte er den wichtigsten Ertrag seiner diesbezüglichen Anstrengungen vor: seine Arbeit über Die KPD in der Weimarer Republik, mit der er an der Universität Heidelberg zum Dr. phil. promoviert wurde und die im folgenden Jahr in Buchform erschien. Diese groß angelegte Gesamtdarstellung, in der Flechtheim historische und organisations-soziologische Fragestellungen gekonnt miteinander verband, sollte zu einem Standardwerk der Forschung werden. Es erlebte zahlreiche Neuauflagen und ist, trotz des seitdem so stark angewachsenen Fundus an neuerer Literatur, auch heute noch nicht veraltet. Die fortdauernde Wirkung des Buches beruht vor allem auf dem methodischen Herangehen Flechtheims und der kritisch-historischen Darstellungsweise. Ungleich der Literatur des Kalten Krieges, die die Geschichte des Kommunismus verschwörungstheoretisch ausdeutete, untersuchte Flechtheim die qualitativen Wandlungsprozesse, die die KPD zwischen 1919 und 1933 durchlaufen hatte – von der Partei Rosa Luxemburgs und Paul Levis bis hin zur stalinisierten Kaderpartei.
An der Freien Universität Berlin entfaltete Flechtheim eine produktive Publikationstätigkeit. Hier entstanden Arbeiten wie sein Buch Weltkommunismus im Wandel (1965) oder Bolschewismus 1917–1967. Von der Weltrevolution zum Sowjetimperium (1967). In beiden Büchern plädierte Flechtheim bei der Analyse des Welt- und besonders des Sowjetkommunismus für die »immanente historische Kritik« oder »ideologiekritische« Methode. Sie operiere, betonte er, nicht mit einem Schwarz-Weiß-Schema, sondern beschränke »sich darauf, das Bewusstsein einer Zeit, einer sozialen Formation, einer Nation, einer Klasse, so wie es von seinen Trägern verkündet, ausgesprochen, urbi et orbi demonstriert wird, mit dem Bewusstsein und Sein der entsprechenden Zeit, Formation, Nation oder Klasse so, wie es im Geschichtsprozess wirksam wird, zu vergleichen«.27 Zwar neige die gesellschaftliche Oberschicht der Sowjetunion in der Tendenz dazu, sich als Klasse zu konsolidieren. Doch sei dieser Prozess keineswegs abgeschlossen, und gegenläufige Tendenzen, die sich in einem steigenden Maß an Freiheit – verglichen mit dem Stalinismus – z. B. im kulturellen Bereich zeigten, könnten auch zu einer Aushölung des autoritären politischen Systems und einer Entwicklung hin zu mehr Pluralismus führen.28
1970 publizierte Flechtheim als Quintessenz seiner Arbeiten zur Zukunftsforschung sein Buch Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, in dem das Projekt eines radikalen Reformweges in Richtung eines demokratischen Sozialismus aufschien. Für Flechtheim gewann ein »›Dritter Weg‹ zwischen revolutionärer Gewalttätigkeit und quitistischem Legalismus« als »Politik der ›Permanenten Reform‹ mittels direkter gewaltfreier Massenaktionen an Bedeutung«. Aber: »Angesichts der Perfektionierung der Manipulation der Massen, wird man sich auch weniger denn je auf legale Aktionen beschränken können.«29 In seiner letzten, 1987 erschienenen Monografie kam Flechtheim auf das Thema wiederum zurück. Falls die Menschheit den möglichen Dritten Weg zwischen etatistischem Kommunismus und Privatkapitalismus in Richtung hin zu einem libertären Sozialismus nicht beschreiten werde, könne sie ihre sieben dringendsten Gegenwartsaufgaben (challenges) nicht bewältigen: Rüstungswettlauf und Krieg, Hunger und Bevölkerungsexplosion, Bedrohung und Zerstörung der Umwelt, Wirtschaftskrise und Überplanung, Demokratie- und Kulturkrise, Verlust des Individuums und Krise der Familie – dies waren für Flechtheim die Hauptgefahren der Gegenwart. Diesen Gefahren könne nur ein demokratischer Sozialismus begegnen, der zugleich global, human und ökologisch sei. Flechtheim hoffte dabei – mit allen Vorbehalten – auch auf eine fortschreitende Demokratisierung in der sowjetischen Welt.30
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus stellte sich Flechtheim den Fragen nach ausgeschlagenen Alternativen. »Hätte man die Prager Reformer nicht vernichtet, wäre die Sowjetunion nicht einmarschiert, sondern diese Impulse wären aufgenommen worden, dann hätte es einen humanen Sozialismus geben können«, sagte er dem Neuen Deutschland im November 1991 in einem Interview. Doch diese Art Sozialismus sei nicht als gesellschaftliche Möglichkeit verschwunden, sondern bleibe bestehen »als Fernziel, als Utopie, als eine Möglichkeit, der man sich annähern kann, die ständig revidiert werden muss«.31
Flechtheims Auffassung vom Sozialismus brachte ihn bereits Ende der Fünfzigerjahre in Gegensatz zur SPD, der er 1952 beigetreten war. Doch das Godesberger Programm eines, wie er später sagte, »Kapitalismus mit sozialen Modifikationen«,32 rief seinen Widerspruch hervor. Als Flechtheims Freund Wolfgang Abendroth – ihm ist das Buch Futurologie. Der Kampf um die Zukunft gewidmet – aus der SPD ausgeschlossen wurde, da er den Sozialistischen Deutschen Studentenbund unterstützte, trat Flechtheim 1962 aus der Partei aus. Seit 1981 gehörte er der Alternativen Liste an, für die er auch politisch tätig war.
Ein kurzes Fazit
Die öffentliche Wirksamkeit der ersten Generation der Kommunismusforscher war durch die Erfahrung einer dreifachen Katastrophe geprägt: durch die kampflose Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung vor Hitler, den Aufstieg des Stalinismus und den Holocaust. Ihre Vertreter, von denen hier Franz Borkenau, Richard Löwenthal und Ossip K. Flechtheim vorgestellt wurden, suchten (unterschiedlich lange) zuerst den Anschluss an die organisierte Arbeiterbewegung, deren Probleme sie später wissenschaftlich reflektierten. Zwar fanden sie in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft Anerkennung, doch darf die Frage gestellt werden, inwieweit diese Integration mit ihrer – auch so empfundenen – Identifikation mit der deutschen Arbeiterbewegung vor 1933 vergleichbar ist. Dies gilt ebenfalls mit Blick auf Wolfgang Abendroth, Theodor Bergmann, Fritz Sternberg oder auch Ruth Fischer.33 Besonders Richard Löwenthal stellte sich dem auch öffentlich und betonte am Ende seines Lebens: »Meine Heimat ist die deutsche Arbeiterbewegung.«34 Diese Erfahrungen, ohne die die wissenschaftlichen Leistungen nicht verstanden werden können, machen das Besondere der Kommunismusforscher Borkenau, Löwenthal und Flechtheim und der anderen Vertreter ihrer Generation aus und unterscheiden sie damit vom Gros »typischer« westdeutscher Wissenschaftler ihrer Altersjahrgänge. Borkenau, Löwenthal und Flechtheim suchten im Spannungsverhältnis zwischen prinzipieller Abgrenzung vom Kommunismus sowjetischen Typs und kritischem Engagement für eine Demokratie westlichen Musters, deren historische Belastungsfaktoren in Deutschland ihnen aber bewusst blieben, ihre eigene Position zu bestimmen. Sie bemaßen die Entwicklung der kommunistischen Welt zunehmend am politischen Standard der liberalen Demokratien, doch weiterhin – und dies gilt besonders für Löwenthal und Flechtheim – auch am sozialen Auftrag der Arbeiterbewegung.
Sie hatten einen wichtigen, wenngleich sich voneinander unterscheidenden Anteil an der Ausprägung der modernen Kommunismusforschung als Wissenschaftsdisziplin. War Borkenaus Arbeitsweise teilweise von spekulativen Elementen durchzogen, gab er doch mit dem bereits 1938 publizierten Buch zur Politik der Komintern wichtige Denkanstöße in Richtung einer ideologiekritischen Geschichtsschreibung des Kommunismus. Löwenthal und Flechtheim legten ein stärkeres Gewicht auf die inneren Wandlungsprozesse der Sowjetgesellschaft bzw. der KPD und ihres Milieus als Borkenau. In je spezifischer Weise dürfen die drei hier untersuchten Wissenschaftler als Wegbereiter einer sozialgeschichtlichen Kommunismusforschung gelten.
Die Fachdisziplin, die sie in der Bundesrepublik entscheidend mit konstituieren halfen, hat das scheinbare Ende ihres Untersuchungsgegenstandes überlebt. Zwar gibt es die Sowjet-
union nicht mehr, doch ist ihr höchst zwiespältiges Erbe im öffentlichen Leben ihrer Nachfolgestaaten wie in ihrem gesamten ehemaligen Machtbereich – auch in Ostdeutschland – noch heute spürbar. Mit ihren präzisen Fragen nach dem Modernisierungspotenzial kommunistischer Gesellschaften, aber auch nach deren Grenzen, warfen Löwenthal, Flechtheim und in seiner Frühzeit auch Borkenau wichtige Probleme auf, die z. B. auch die Diskussion hinsichtlich der heutigen Transformationsforschung beleben mögen.
Sie legten, hier einer traditionellen marxistischen Lesart folgend, weniger Wert auf Fragen, die ethnisch-kulturelle Problemlagen und Konflikte betreffen und die heute in den Gebieten des früheren sowjetischen Machtbereiches einen so entscheidenden Stellenwert einnehmen. Auch ihre Beurteilung von Nationalismus, Faschismus und Antisemitismus speiste sich aus ihrer frühen marxistischen Prägung, in der die Schlüsselkategorie des historischen Fortschritts eine stärkere Rolle spielte als die Brüche im Geschichtsprozess. Borkenau zeitweise, weit mehr aber Löwenthal und Flechtheim spürten den Wandlungen im Kommunismus nach, um darin noch so vage Anzeichen eines historischen Fortschritts zu erblicken, den sie dem Nazistaat nirgendwo attestierten.
Sie waren Kinder ihrer Zeit und von deren Geist geprägt, doch prägten sie auch selbst das geistige und kulturelle Klima ihrer Zeit mit. Sie stellten Fragen nach dem Stellenwert von Kommunismus und Kapitalismus, Faschismus und Antifaschismus im 20. Jahrhundert, sie suchten ihren Platz in den großen sozialen und geistigen Bewegungen ihrer Zeit, und zugleich versuchten sie den Platz dieser Bewegungen in der Geschichte zu bestimmen. Diese Suche ist noch immer nicht abgeschlossen, sondern ein fortwährender Denkprozess, bei dem uns Leben und Werk von Franz Borkenau, Richard Löwenthal und Ossip K. Flechtheim Anregung – und manchmal auch Mahnung – sein können.
1 Hierüber hat Hermann Weber selbst berichtet. Siehe den gemeinsam mit seiner Frau und wichtigsten Unterstützerin Gerda Weber verfassten Band: Leben nach dem »Prinzip links«. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 2006.
2 Auch ältere, 1990 aus Lehr- und Forschungseinrichtungen unfreiwillig ausgeschiedene Forscher aus der DDR bewiesen Anschlussfähigkeit an den internationalen Standard – von Günter Benser (geb. 1931) und Wilfriede Otto (geb. 1933) bis zum jüngeren Klaus Kinner (geb. 1946). Sie verabschiedeten sich von der Legitimationswissenschaft, wie sie in der DDR betrieben worden war.
3 Siehe zu den Biografien und zur Literatur Mario Keßler: Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909–1998), Köln 2007; ders.: Kommunismuskritik im westlichen Nachkriegsdeutschland. Franz Borkenau – Richard Löwenthal – Ossip Flechtheim, Berlin 2011; ders./Axel Fair-Schulz (Hg.): German Scholars in Exile. New Studies in Intellectual History, Lanham/MA 2011, mit Kapitelbeiträgen von Mario Keßler zu Borkenau und Flechtheim. Außer ihnen und Löwenthal gehört auch der in seiner Bedeutung als Kommunismusforscher nicht vergleichbare, aber eine ähnliche Lebensbahn aufweisende Arkadij Gurland in diese Gruppe. Siehe zu ihm Mario Keßler: Arkadij Gurland – Sozialdemokrat und Politologe zwischen Weimarer Republik, Exil und westlichem Nachkriegsdeutschland, in: Klaus Kinner (Hg.): Die Linke – Erbe und Tradition, Teil 2: Wurzeln des Linkssozialismus, Berlin 2010, S. 77–96.
4 Die amerikanische Ausgabe von 1939 sowie ein Nachdruck von 1962 erschienen unter dem Titel: World Communism: A History of the Communist International.
5 Franz Borkenau: Nachwort zu: Richard Crossman (Hg.): Ein Gott der keiner war, Köln 1952, S. 255 f., 261. In diesem Kontext sei nicht verschwiegen, dass Borkenau im Mai 1951 in fälschlicher Weise den österreichischen Emigranten und mittlerweile zum US-Besatzungsoffizier aufgestiegenen Joseph von Franckenstein, den Ehemann der Schriftstellerin Kay Boyle, gegenüber dem FBI der kommunistischen Sympathien bezichtigte. Von Franckenstein verlor daraufhin seine Stelle im State Department, seine Frau ihre Anstellung als Auslandskorrespondentin des New Yorker. Lange gerichtliche Auseinandersetzungen folgten, die schließlich die Haltlosigkeit von Borkenaus Behauptung zeigten. Siehe William David Jones: The Lost Debate. German Socialist Intellectuals and Totalitarianism, Urbana/Chicago 1999, S. 185, unter Bezug auf US-Regierungsakten.
6 Franz Borkenau: Getting at the Facts Behind the Soviet Facade, in: Commentary 17 (1954), H. 4, S. 398.
7 Ebd., S. 400 [Hervorhebung wie im Original].
8 John E. Tashean: Franz Borkenau. A Study of his Social and Political Ideas, Ph.D. Thesis, Georgetown University, Washington, D.C. 1962, S. 130.
9 Walter Laqueur: Mythos der Revolution. Deutungen und Fehldeutungen der Sowjetgeschichte, Frankfurt a. M. 1967, S. 198 f. Siehe auch Franz Borkenau: The Chances of a Mao-Stalin Rift: Will China’s Communists Take the Tito Road?, in: Commentary 14 (1952), H. 2, S. 117–123; ders.: Getting at the Facts (Anm. 6).
10 Franz Borkenau: Was ist Kreml-Astrologie?, in: Der Monat 7 (1955), H. 79, S. 34.
11 Eric D. Weitz: Creating German Communism, 1890–1990. From Popular Protests to Socialist State, Princeton, NJ 1997, S. 12.
12 Franz Borkenau: Toynbee und die Zukunft der Juden, in: ders.: Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und der Entstehung des Abendlandes, hg. von Richard Löwenthal, Stuttgart 1984, S. 538.
13 Ebd., S. 546.
14 Siehe Franz Borkenau: Praxis und Utopie, in: Karl Marx. Auswahl und Einleitung von Franz Borkenau, Frankfurt a. M. 1956, S. 7–37.
15 Im Vorwort zur Neuausgabe des Buches bezeichnet Löwenthal seine frühere Erwartung im Sinne jener »Dritten Kraft« als realitätsfern. Siehe Richard Löwenthal: Nach dreißig Jahren. Vorwort zur Neuausgabe von »Jenseits des Kapitalismus«, in: ders.: Jenseits des Kapitalismus, Berlin 1977, S. XIII f.
16 Willy Brandt/Richard Löwenthal: Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit, München 1957, S. 207.
17 Richard Löwenthal: Chruschtschow und der Weltkommunismus, Stuttgart 1963, S. 8.
18 Ebd., S. 224.
19 Nachlass Richard Löwenthal, Box Nr. 49: Richard Löwenthal an Erik von Groeling, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Brief vom 4. Juni 1970, in: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn-Bad Godesberg.
20 Richard Löwenthal: Vormachtkontrolle und Autonomie in der Entwicklung des Sowjetblocks, in: ders./Boris Meissner (Hg.): Der Sowjetblock zwischen Vormachtkontrolle und Autonomie, Köln 1984, S. 33.
21 Ebd., S. 36.
22 Ossip K. Flechtheim: Der Weg zum Sozialismus, oder: Ethik und Politik (1937), Wiederabdruck in: ders.: Vergangenheit im Zeugenstand der Zukunft, Berlin 1991, S. 281.
23 Ossip K. Flechtheim (Hg.): Grundlegung der Politischen Wissenschaft, Meisenheim 1958, S. 70 f.
24 Siehe ebd., S. 66, und Hans K. Rupp/Thomas Noetzel: Macht, Freiheit, Demokratie. Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft, Marburg 1991, S. 47.
25 Sie wurden unter dem Titel »History and Futurology« (Meisenheim 1966) wiederveröffentlicht.
26 Siehe Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen, Stuttgart 1952.
27 Ossip K. Flechtheim: Weltkommunismus im Wandel, Köln 1965, S. 221.
28 Siehe Ossip K. Flechtheim: Bolschewismus 1917–1967. Von der Weltrevolution zum Sowjetimperium, Wien 1967, S. 178 f.
29 Ossip K. Flechtheim: Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, Frankfurt a. M. 1972, S. 270.
30 Siehe Ossip K. Flechtheim: Ist die Zukunft noch zu retten?, Hamburg 1987.
31 Neues Deutschland vom 23./24. November 1991.
32 Ossip K. Flechtheim, in: Hajo Funke: Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, Frankfurt a. M. 1989, S. 463.
33 Von Abendroth und Bergmann liegen längere autobiografische Texte vor. Siehe Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und hg. von Barbara Dietrich und Joachim Perels, Frankfurt a. M. 1976; Theodor Bergmann: Im Jahrhundert der Katastrophen. Autobiographie eines kritischen Kommunisten, Hamburg 2001. Während Abendroth Gegenstand mehrerer Forschungsarbeiten wurde, ist Bergmanns Wirken vor allem im Kontext der KPD-Opposition und der von ihm nach 1945 mit geleiteten Gruppe Arbeiterpolitik behandelt worden. Über Sternberg und Gurland fehlen noch ausführliche biografische Studien, hingegen erscheint über Ruth Fischer demnächst eine Biografie vom Verfasser dieser Zeilen. Bergmann, dessen Biografie ebenfalls noch geschrieben werden muss, kommt in einem Film aus dem Jahr 2007 (auf DVD erhältlich) ausführlich zu Wort: »Dann fangen wir von vorne an«. Fragen des kritischen Kommunismus.
34 Ossip K. Flechtheim, in: Funke: Die andere Erinnerung (Anm. 32), S. 402.