JHK 2014

Die Ambivalenz staatlicher Förderung. Eine Chance für die DDR-Aufarbeitung oder »gefährliche Abhängigkeit«?

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 1-16 | Metropol Verlag

Autor/in: Markus Goldbeck

Dass die Historie der Geschichtsaufarbeitung reich an Konflikten ist und es dabei oft um Geld geht, ist kein Geheimnis. Paradoxerweise resultieren in Deutschland viele Auseinandersetzungen um die Aufarbeitung aus der Tatsache, dass sich der Staat in hohem Maße im Bereich der Vergangenheitsaufarbeitung engagiert – einem Feld, das ohne staatliches Geld kaum im jetzigen Ausmaß existieren würde. Dies gilt auch für den Bereich der DDR-Aufarbeitung. Einerseits ergeben sich für zivilgesellschaftliche Initiativen hervorragende Arbeitsmöglichkeiten. Doch geraten diese nicht andererseits in eine »gefährliche Abhängigkeit«1 von staatlichen Zuwendungen und passen sich über kurz oder lang geschichtspolitischen Vorgaben an? Fraglos hat das staatliche Engagement den »Streitwert« der Konflikte merklich erhöht. Inhaltliche Differenzen werden nun von finanziellen Bindungen begleitet und auch verstärkt – Mitarbeiterstellen, Ausstellungen und Buchprojekte hängen von den Finanzmitteln ab. Sprudelnde Fördergelder symbolisieren darüber hinaus Anerkennung für die Empfänger und sind daher auch prestigeträchtig. Die Konfliktkonstellation lässt sich indes nicht auf einen Streit zwischen »der Zivilgesellschaft« und »dem Staat« reduzieren, und ebenso wenig geht es nur um Geld – es ist komplizierter.

Die Akteure im Bereich Geschichtsaufarbeitung, Erinnerung, Gedenken sowie Geschichtspolitik sind in ein Beziehungsgeflecht zwischen Politik bzw. Staat, Medien und Wissenschaft eingebunden. Diese Beziehungen sind durch teils übereinstimmende, öfter jedoch durch divergierende oder gar antagonistische Interessen gekennzeichnet sowie durch (idealtypische) strukturelle Widersprüche. Wissenschaftliche Zeitgeschichte orientiert sich beispielsweise zeitlich, strebt eine kognitive Problemdurchdringung an und hinterfragt dabei ihren Untersuchungsgegenstand. Gedenken orientiert sich dagegen räumlich, nähert sich seinem Gegenstand emotional und versucht diesen Gegenstand, wie z. B. die Erfahrungen politischer Verfolgung, nicht zu hinterfragen.2 Ähnlich widersprüchlich ist das Verhältnis zwischen parlamentarischen Akteuren und »Geschichtsaufarbeitern«. Kurzfristig sind oft beide am konfliktbehafteten Aufdecken oder gar am Skandal interessiert: parlamentarische Akteure, um im politischen Tageskampf punkten zu können, und Aufarbeiter, um Aufmerksamkeit für die eigenen Anliegen zu erregen. Langfristig streben Erstere aber tendenziell den Ausgleich, die Einbindung, den Kompromiss an, während Aufmerksamkeit und Konflikt die dauerhafte Grundlage für die Arbeit der Aufarbeiter bilden. Die Liste der Gegensätze ließe sich mühelos erweitern. Wie kompliziert diese Beziehungen sein können, zeigen Untersuchungen zu Interessenvertretungen von Opfern: Bei ihnen überlagern sich die Ziele von Individuen, Organisationen, Dachverbänden, Parlamenten, Parteien, Massenmedien, Verwaltung, Fachwissenschaft etc. zu einem kaum durchschaubaren Gewirr aus Absichten und Ansprüchen, Abhängigkeiten und Widersprüchen.3 Doch damit nicht genug: Kein Akteur darf als monolithischer Block gesehen werden, da es eben nicht den fördernden, normierenden oder (un)engagierten Staat und den aufrechten oder rückwärtsgewandten Aufarbeiter gibt. Will man die Aufarbeitung der realsozialistischen Diktatur in Deutschland, besonders aber die aus ihrer Finanzierung resultierenden Konflikte und Normierungen verstehen, muss diese Komplexität stets mitbedacht werden.

Um die Widersprüchlichkeit des bundesdeutschen Aufarbeitungsfeldes zu erkunden, werden in diesem Aufsatz schlaglichtartig drei relevante Akteursebenen in den Blick genommen.4 Zunächst gilt die Aufmerksamkeit der politischen Ebene mit ihrem geschichtspolitischen Ehrgeiz und ihren spezifischen Strategien, um ihre Gestaltungsansprüche durchzusetzen. Welche Folgen hat ein solches Interesse der Politik für die Aufarbeitung? Dann soll mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Stiftung Aufarbeitung) eine zentrale Organisation deutscher DDR-Aufarbeitungsförderung im Mittelpunkt stehen. Von Interesse sind hier vor allem die Muster der Förderpraxis zwischen 2002 und 2010. Ein dritter Punkt beleuchtet den Streit um die Zeitschrift Horch und Guck in den Jahren 2006 und 2007, der einige Konflikte erhellt, die im Zuge der Geschichtsaufarbeitung zwischen Staat und Zivilgesellschaft entstehen können – einschließlich der Gegensätze aufseiten der »Geschichtsaufarbeiter«. Ohne den Anspruch, das Thema auch nur annähernd erschöpfend behandeln zu können, gilt das Interesse einer Aufarbeitungspraxis, die »konkurrierende Vergangenheiten«5 aushalten und Akteure mit unterschiedlichen Handlungsrahmen und je unterschiedlichen »Freiheiten und Beschränkungen«6 integrieren muss.

Kulturpolitik – Geschichtspolitik – staatliche Förderung: Ein Politikfeld und seine Auswirkungen auf die Geschichtsaufarbeitung

Haben sich Politiker oder staatliche Institutionen mit Problemen der Geschichte zu befassen? Diese Frage wird kontrovers diskutiert. Während etwa Eric Hobsbawm die Ansicht vertrat, Politiker sollten sich von Geschichte fernhalten,7 ist im wiedervereinigten Deutschland eher die gegenteilige Meinung verbreitet. Da Erinnerungskultur eine stark identitätsbildende Kraft innewohne, so der CDU-Politiker Norbert Lammert in einem im Jahr 2009 erschienenen und vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien geförderten Band zu Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, gebe es eine »unmittelbare staatliche Verantwortung«.8 An gleicher Stelle beschreibt die CDU-Abgeordnete Monika Grütters die Ansprüche des Staates: »Nationales Gedenken« lasse sich zwar »weder amtlich formulieren, noch behördlich regeln«, es könne als öffentliche Angelegenheit aber nicht rein bürgerschaftlich bewältigt werden.9 Der hier aufscheinende Gegensatz zwischen dem Gestaltungsanspruch des Staates einerseits und der Vorstellung von einer pluralen Ausgestaltung von Aufarbeitung andererseits ist in gewisser Weise typisch für den Umgang mit Geschichtsaufarbeitung in Deutschland. Eine einheitliche Position der Politik gab und gibt es aber nicht. Obwohl unter den etablierten Parteien ein gewisser Konsens über Geschichtsaufarbeitung als gesellschaftlicher Aufgabe besteht, gehen die Meinungen etwa über die Gewichtung von NS- und DDR-Aufarbeitung sowie über die jeweils zu beschreitenden Wege auseinander.10 Umstritten war beispielsweise seit jeher, wie stark die Rolle des Staates sein sollte. Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt sprach sich in dem bereits erwähnten Band Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik gegen eine paternalistische Aufarbeitung aus, da eine »lebendige Erinnerungskultur« von unten komme und »nicht vom Staat verordnet und reguliert werden« solle.11

Staatliche Regulative in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung wurden allerdings auch durch abweichende »Geschichtsgefühle« der Zivilgesellschaft herausgefordert.12 Das »spannungsreiche Konkurrenzverhältnis von offiziellem Gedenken einerseits und zeitgenössischer [...] Erinnerung andererseits«13 gilt nämlich nicht nur für die jeweiligen Differenzen zwischen »Diktaturgedächtnis«, »Arrangementgedächtnis« und »Fortschrittsgedächtnis«, wie sie Martin Sabrow skizziert hat.14 Auch innerhalb des »Diktaturgedächtnisses«, also zwischen jenen, die sich beispielsweise über den diktatorischen Charakter der DDR prinzipiell einig sind, ist die Spannung zwischen staatlichem und zivilgesellschaftlichem Zugriff auf die Vergangenheit unschwer auszumachen. Ein wichtiges geschichtspolitisches Ziel staatlicher, parlamentarischer oder parteipolitischer Initiativen im Bereich historischer Aufarbeitung war daher die Erhöhung der Legitimation mittels wissenschaftlicher Expertise und die Objektivierung durch »historische Fakten«.15 So sollte einer »missbräuchlichen Funktionalisierung«16 entgegengetreten werden, während zugleich die offizielle Gedenkpolitik »ihren rational-moralischen Anspruch gegebenenfalls auch gegenüber einem emphatischeren Geschichtsgefühl behaupten« wollte.17

Die starke Rolle des Staates in der Geschichtsaufarbeitung war indes zunächst nur zum Teil intendiert – sie ergab sich vor allem aus der Situation nach der deutschen Wiedervereinigung. Schon zuvor war das Feld des Erinnerns Teil politischer Auseinandersetzungen und Geschichtspolitik das Mittel parteipolitischer Profilbildung gewesen.18 Das institutionelle und finanzielle Engagement in Sachen Aufarbeitung der Vergangenheit war vor 1990 aber noch überschaubar. Ein wichtiges Folgeproblem der Wiedervereinigung war zunächst der Umgang mit den KZ-Gedenkstätten, doch bald wurde die Diskussion auch auf Gedenkstätten für die SBZ- und DDR-Zeit ausgeweitet. Der bis weit in die Neunzigerjahre reichende Diskussionsprozess brachte »nicht nur eine neue politische, sondern auch administrative Konstellation« mit sich.19 Es wurden Relevanzkriterien für förderwürdige Projekte festgelegt: Neben einem Mindestmaß an fachlicher Qualität sollte die gesamtstaatliche Bedeutung und die enge Beteiligung vor allem der Bundesländer im Vordergrund stehen. Um das in Sachen Gedenkstätten überproportional »betroffene« Berlin finanziell nicht zu überlasten, bedurfte es einer Sonderregelung. Der Bund erklärte sich deshalb zur Unterstützung bereit. Diese leitete allerdings eine Entgrenzung bundesdeutscher Kulturförderung im Bereich Gedenkstätten ein, da sich auch andere Länder mit dem Unterhalt ihrer Gedenkstätten stark belastet sahen. Letztlich nahm die Bedeutung des Bundes auf diesem Feld erheblich zu.

Die Folgen für die Geschichtsaufarbeitung waren ambivalent. Das finanzielle Engagement des Staates führte einerseits zu einem regelrechten Aufarbeitungsboom.20 Andererseits rückten Mechanismen und Prinzipien der politischen Auseinandersetzung näher an das Feld der Aufarbeitung heran – und damit auch unterschiedliche Interessen und die daraus erwachsenden Konflikte. Wenn beispielsweise Politiker das »notwendige Miteinander gesellschaftlicher Kräfte« im Auge behalten und nach »ein[em] parteiübergreifende[n] Ausgleich der Interessen«21 suchen, verstehen sich Aufarbeitungsinitiativen als »zivilgesellschaftliches Gewissen«22 – Konfliktfälle waren also lediglich eine Frage der Zeit. Daneben wurde mit der Ernennung eines Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien im Jahr 1998 eine Art »partizipative[r] Politikberatung« verstetigt, wie sie in den Enquetekommissionen zur DDR praktiziert worden war, um eine höhere Legitimation für die geschichtspolitischen Vorhaben zu erlangen. Mit der Etablierung des Kulturressorts auf Bundesebene wurde auch ein eigener Parlamentsausschuss geschaffen. Auf diese Weise rückte nicht nur die Regierung, sondern auch das Parlament näher an kulturpolitische Problemlagen heran und schuf damit mehr Einflussmöglichkeiten für parlamentarische wie außerparlamentarische Akteure.23 Unmittelbare Auswirkungen ergaben sich auch aus der Definitionsmacht der Geldgeber: Wenn der Staat Geld zur Aufarbeitung bereitstellt, dann kann er auch Vergabekriterien festlegen – darin liegt, intendiert oder nicht, erheblich normierendes Potenzial.

Die »Stiftung Aufarbeitung« und die Pflege einer »Aufarbeitungslandschaft«

Ein Blick auf den finanziellen Umfang bundesrepublikanischen Engagements in Sachen DDR-Aufarbeitung beeindruckt: Seit 1991 wurden allein der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen mehr als zwei Milliarden Euro zugewiesen – jährlich meist zwischen 90 und 100 Mio. Euro.24 Angesichts solcher Zahlen erscheint die finanzielle Ausstattung der Stiftung Aufarbeitung eher bescheiden, doch auch hier finden sich immer noch respektable Summen: Der Etat der Stiftung Aufarbeitung für 2011 belief sich auf 5,6 Mio. Euro und von 1998 bis 2011 wurden 31,6 Mio. Euro an Fördermitteln ausgeschüttet.25 Die Stiftung, die 1998 nach Abschluss der Enquetekommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« als unabhängige Fördereinrichtung gegründet worden war, betrachtet sich vor allem als Dienstleister und versucht unterschiedliche Aufarbeitungsansätze zu vernetzen sowie Beratungsangebote zu erfassen. Recht schnell sah sie sich einem großen Ansturm auf die Fördergelder ausgesetzt. Obwohl nicht als reine Finanzierungsinstitution gedacht, wurde doch versucht, die zum Teil massiven finanziellen Probleme vorhandener Aufarbeitungsinitiativen abzufangen.26 Wenngleich die Stiftung Aufarbeitung keine Monopolstellung auf dem Feld der DDR-Aufarbeitung hat und auch andere Organisationen Projektförderung betreiben, avancierte die Stiftung für viele zivilgesellschaftliche Initiativen zur wichtigsten Anlaufstelle in Sachen Finanzierung. Dies verdeutlicht eine Rundschau über die Förderpraxis der Stiftung in der Zeit zwischen 2002 und 2010: In dem genannten Zeitraum entfielen über die Hälfte der Fördermittel auf die im engeren Sinne mit der DDR-Aufarbeitung befassten Betroffenenverbände, auf Vereine, Aufarbeitungsinitiativen und Gedenkstätten.27 Ein knappes Drittel der Gelder floss an Organisationen, die sich in einzelnen Projekten, nicht aber permanent mit der DDR-Aufarbeitung befassten. Etwa ein Sechstel der Mittel ging an Organisationen aus dem Bereich Kunst und Kultur, Verlage, Museen, Bildungseinrichtungen u. a. (siehe Diagramm 1).

Ein detaillierter Blick offenbart zudem, dass die Förderung in dem betrachteten Zeitraum auf einen konstanten Empfängerkern konzentriert war. Fast ein Zehntel der knapp 400 Organisationen wurde in sieben bis neun Jahren unterstützt, knapp 80 Prozent waren dagegen in höchstens einem bis drei Jahren unter den Geförderten. Daneben ist auch die Zahl der vergebenen Projekte beachtenswert: Knapp 46 Prozent der über 1500 geförderten Projekte entfielen auf die häufig Geförderten und nur ein knappes Drittel auf diejenigen, die nur selten unterstützt wurden. Ähnliches gilt für die Verteilung der Fördersummen (siehe Diagramm 2).

Die Förderung der Aufarbeitung war zudem auch räumlich konzentriert. Blickt man auf die Standorte der Geförderten, so zeigt sich die große Bedeutung Berlins: 37 Prozent der Organisationen kamen aus Berlin, und auf sie entfielen mehr als zwei Fünftel (41,7 Prozent) der bewilligten Projekte und sogar über die Hälfte (knapp 55 Prozent) der bewilligten Fördergelder (siehe Diagramm 3). Noch ausgeprägter war dieses Muster unter den jährlich Geförderten: 44 Prozent der Organisationen stammten aus Berlin, und diese erhielten über 52 Prozent der Projekte und fast 75 Prozent der Fördermittel (siehe Diagramm 4). Ursache dieses Phänomens war zwar nicht die Fördertätigkeit der Stiftung, sie wurde aber durch dieselbe unzweifelhaft verstärkt oder zumindest fortgeschrieben.28

Die Förderung der DDR-Aufarbeitung konzentrierte sich zwischen 2002 und 2010 also auf relativ wenige Schlüsselorganisationen. Allerdings gab es hier erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Höhe der Fördersummen und der Zahl der bewilligten Projekte. Die Empfänger mit den meisten Zuwendungen waren Interessenvertretungen, wie die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e. V. (UOKG), der Bund der Stalinistisch Verfolgten e. V. (BSV) und die Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS). Daneben finden sich vor allem Aufarbeitungsinitiativen, die im Kontext der friedlichen Revolution von 1989/90 entstanden waren, wie das Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V., das Bürgerkomitee Leipzig e. V., das Bürgerkomitee »15. Januar« e. V., die Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. sowie die Antistalinistische Aktion Berlin Normannenstraße e. V. (ASTAK).

Eine wichtige Rolle in der Förderpraxis der Stiftung Aufarbeitung spielten Organisationen, die den DDR-Bürgerrechtlern und -Oppositionellen sowie den Aktivisten der Jahre 1989/90 nahestehen bzw. Betroffenenverbände. Initiativen in und um Berlin erhielten dabei einen beachtlichen Anteil der finanziellen Mittel. Neben universitären Akteuren und Instituten wie dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam profitierten besonders Organisationen wie das Robert-Havemann-Archiv oder die ASTAK. Diese Konstellation ist zu berücksichtigen, wenn im Folgenden der Fall Horch und Guck näher betrachtet wird.

»Horch und Guck in Not«: Eine Diskussion um Selbstbestimmung und Qualität

Im Januar 2007 war die Aufregung nicht nur in der Berliner Aufarbeitungsszene groß: Die aufarbeitungsorientierte Zeitschrift Horch und Guck sollte die finanzielle Unterstützung der Stiftung Aufarbeitung verlieren.29 Die Zeitschrift existierte seit 1992 und war aus dem Umfeld der DDR-Bürgerbewegung und der Stasi-Auflöser des Jahres 1990 hervorgegangen.30 Seit 1998 hatte die Stiftung Aufarbeitung die Zeitschrift gefördert und auch für das Jahr 2007 hatte der Trägerverein, das Berliner Bürgerkomitee »15. Januar«, knapp 59 000 Euro beantragt. Mit der Nichtbewilligung dieser Mittel stand Horch und Guck vor schweren Zeiten.31 Die sich im Laufe des Jahres 2007 entwickelnde Debatte über den »wirklichen« Grund für die Ablehnung offenbarte einige Widersprüche der Aufarbeitungsförderung und der Aufarbeitungsszene. Im Folgenden soll der Konflikt daher kurz nachgezeichnet werden.

Kritik an der Nichtbewilligung kam von den Redakteuren,32 den Herausgebern und auch von Unterstützern der Zeitschrift. Ihr Widerspruch bezog sich vor allem auf die Begründung der Ablehnung durch die Stiftung Aufarbeitung: Dort war der Verlust an »Qualität, Themenvielfalt, Pluralität, Relevanz und Verbreitung« bemängelt worden.33 Die Kritik war nicht neu. Schon zuvor hatte die Stiftung Ähnliches vorgebracht, und man hatte sich zunächst auf die Einrichtung eines Beirats geeinigt, der die Redaktion von Horch und Guck qualitativ beaufsichtigen und beraten sollte. Vonseiten der Stiftung waren Ehrhart Neubert und Hans-Georg Golz, von der Redaktion Edda Ahrberg, Renate Hürtgen, Ilko-Sascha Kowalczuk, Tobias Hollitzer und Carlo Jordan als Mitglieder benannt worden.34 Die Beziehung zwischen Beirat und Redaktion erwies sich aber als schwierig. Ende 2006 trat die Mehrzahl der Beiräte zurück – der Beirat war gescheitert.35 Es folgte die Ablehnung einer weiteren Förderung durch die Stiftung. Aufseiten von Horch und Guck wurde das Argument mangelnder Qualität vor allem als Vorwand gesehen. Der Vereinsvorsitzende Stefan Wolle mutmaßte, die Geldgeber würden sich an der politischen Ausrichtung des Blattes stören – »Linkslastigkeit« sei ihnen vorgeworfen worden – oder aber an der pazifistischen und generell geheimdienstkritischen Grundorientierung. Das seit 1989 gepflegte Prinzip der Selbstbestimmung sei mit inhaltlicher Bevormundung nicht zu vereinbaren. Die Stiftung Aufarbeitung bestritt derartige Vorwürfe und verwies erneut auf qualitative Mängel. Die Stiftung sei verpflichtet, »angesichts der Vielzahl von Anträgen verantwortungsbewusst mit den ›begrenzten Steuergeldern‹ umzugehen«.36Andere Beobachter kamen zu einem abgewogeneren Urteil. Obgleich »manch krudes Pamphlet aus der Aufarbeitungsszene« veröffentlicht worden war, galt hier die Qualität der Zeitschrift nicht als Hauptproblem. Johannes Beleites hielt beispielsweise die »innere Stagnation des Blattes« und vor allem eine gewisse Abwehrhaltung gegenüber dem eigenen Geldgeber für die größte Schwierigkeit: Einwände der Stiftung Aufarbeitung seien nicht als konstruktive Kritik, sondern als Bevormundung und Gängelei aufgefasst worden. Dies habe vor allem daran gelegen, dass sich »in den ehemals oppositionellen Zirkeln [...] eine Weltsicht des Kampfes von David gegen Goliath gehalten« hätte und man Außenstehenden ein latentes Misstrauen entgegenbringe.37

Dieses ambivalente Meinungsbild legt den Schluss nahe, dass es sich um eine Auseinandersetzung zwischen der zivilgesellschaftlichen Aufarbeitungsszene und den staatlichen Förderern gehandelt habe. Bei genauerer Betrachtung fällt aber eine zweite Konfliktlinie innerhalb der Aufarbeitungsszene auf. Die Ablehnungsbegründung der Stiftung wurde nämlich auch unter ehemaligen Bürgerrechtlern durchaus unterschiedlich bewertet. Dies zeigte sich auf einer Versammlung am 7. Februar 2007, auf der über weitere Maßnahmen zur Rettung von Horch und Guck beraten werden sollte. Anders als manche Stiftungskritiker erwartet hatten, wollten viele Anwesende keineswegs »solidarisch nach Wegen zum Erhalt ihrer Zeitung suchen« und »sich klar und eindeutig zur Stiftungslinie äußern«. Im Gegenteil: Die Mehrzahl der Anwesenden nahm den Konflikt zum Anlass, um ihrerseits die Redaktion der Zeitschrift und den Vorstand des Bürgerkomitees zu kritisieren. Auch die Bewertungen des Stiftungsbescheids lagen entsprechend weit auseinander. Die Mehrheit beschied den Stiftungskritikern: »Dass ein staatlicher Geldgeber in seinem pflichtgemäßen Ermessen Forderungen gestellt habe«, sei ein »erwartbarer« Umstand, auf den »man sich einstellen« müsse.38 Diese Vielfalt der früheren Bürgerbewegung war schon im Zuge der schrittweisen Eskalation des Konflikts Ende 2006 zutage getreten. Die Qualitätsdebatte hatte sich da schon längst mit Diskussionen über Personen und die Art und Weise gemeinsamer Zusammenarbeit vermischt. Beklagten einige Beiräte die Weitergabe von Informationen aus Sitzungen, so sahen andere dies als Zeichen der Transparenz und als Erbe der friedlichen Revolution.39 Sahen einige kapitalismus- und militärkritische Artikel als Zeichen der Pluralität, da sie frühere linksorientierte bzw. pazifistische Oppositionsgruppen integrierten, galt dies der Stiftung Aufarbeitung als »für eine ›historisch-literarische Zeitschrift‹ eher untypisch«.40 Die dezidiert subjektive sowie staats- und regierungskritische Art der Geschichtsbetrachtung, die von manchen angestrebt wurde, lief gewiss dem geschichtspolitischen Ziel einer Professionalisierung und Objektivierung entgegen und evozierte daher Kritik. Auf beiden Seiten standen Mitglieder der früheren Bürgerbewegung, die schon immer heterogen gewesen war.41 Ohne Zwischentöne zu nivellieren, kann man den Fall Horch und Guck auch als einen Konflikt zwischen jenen Vertretern der Bürgerbewegung sehen, die dem Aufarbeitungssystem skeptisch gegenüberstanden, und jenen, die in diesem System »angekommen« waren. Der Konflikt drehte sich damit auch um Werte und Maßstäbe: Während sich die »Skeptischen« auf die Ideale der Oppositionsgruppen, der Bürgerbewegung und vor allem auf die Ideen von 1989 beriefen und damit in vielen Fällen versuchten, eine ostentativ ostdeutsche Identität zu beschwören, handhabten die »Angekommenen« den Umgang dieser Werte pragmatischer und auf die Verhältnisse des vereinigten Deutschlands bezogen.

Die Gegensätze innerhalb der Gruppe der vormaligen Bürgerrechtler bzw. Oppositio-
nellen spiegelten manche der bundesdeutschen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen des neuen Jahrtausends wider, und doch handelte es sich auch um einen separaten Schauplatz, auf dem sich bundesdeutsche und ostdeutsche Konflikte überlagerten. Auch unter den Stiftungskritikern hatte sich beispielsweise die Einsicht durchgesetzt, dass ein Großteil der vormaligen DDR-Bürgerbewegung die von den Kritikern abgelehnte staatliche Geschichtspolitik keineswegs nur aus opportunistischen Gründen tolerierte oder gar vertrat.42 Trotzdem beklagte man fortwährend den Verlust alter Ideale und appellierte an einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund, den es in dieser Form nicht mehr gab, den man aber konservieren, vielleicht auch reaktivieren wollte. Die Ursache für dieses Bestreben ist wohl in der Umbruchzeit 1989/90 zu suchen. Viele Bürgerrechtler hatten im Laufe der friedlichen Revolution die frustrierende Kluft zwischen »revolutionärer Legitimität« und »administrativer Legalität« erfahren und die Nichtdurchsetzung ihrer Ideale als Niederlage erlebt.43 Die Berufung auf die Ideale der Bürgerbewegung bzw. der friedlichen Revolution war der erneute Versuch, in die Definition der »Spielregeln« einzugreifen. Auf der einen Seite wurde von den Skeptikern eine Aufarbeitung ohne Hierarchien, im Verbund mit »Transparenz, Öffentlichkeit und demokratische[n] Spielregeln« imaginiert.44 Dem gegenüber wurden bundesrepublikanisch geprägte politische, wissenschaftliche und auch bürokratische Traditionen gesehen, von denen sich die Skeptiker qualitativ abgrenzen wollten – oder an die man sich – wie die »Angekommenen« – anpassen konnte. Gerade die Debatte um die Qualität einer Zeitschrift führte letztlich zu der Frage, wer Qualität definieren dürfe und was unter Qualität zu verstehen sei. Die Stiftung Aufarbeitung orientierte sich an den Maßstäben Professionalität und Objektivität. Verfechter der Traditionen von 1989 sahen von dem Streben nach zunehmender Professionalisierung aber die von ihnen propagierte »Geschichte von unten« bedroht. Daher wehrte man sich auch dagegen, »das Profil der Zeitschrift zu Ungunsten der bürgerbewegten ›Nichtstudierten‹ hin zu mehr Wissenschaftlichkeit zu ändern«.45 Dieser Widerstand war durchaus verständlich: Die eingeforderte Professionalisierung konnte – ob nun intendiert oder nicht – als Bedrohung der Ideen der Bürgerbewegung gesehen werden, denn hinter dem »Anspruch auf eine ›selbstverwaltete Vergangenheit‹« stand immerhin die »Utopie einer basisdemokratisch verfassten Gesellschaft« – ein Kernelement bürgerbewegten Denkens.46 Mit dem Verschwinden einer »Geschichte von unten« drohte aber noch ein weiterer unangenehmer Nebeneffekt für die »Skeptischen« einzutreten: Der Verlust einer – vielleicht der letzten – öffentlichen Plattform könnte den Verlust von Deutungsmacht nach sich ziehen.47

Der »Fall Horch und Guck« beschränkte sich indes nicht nur auf ostdeutsche Befindlichkeiten. Die Skepsis manch eines Bürgerbewegten gegenüber den geschichtspolitischen Initiativen seit 2005 war grundsätzlicher Natur. Einigen galt der von der Stiftung Aufarbeitung ausgerufene Förderschwerpunkt für die Jahre von 2008 bis 2010 als eigentlicher Auslöser des Konflikts um Horch und Guck, der wiederum als Teil eines konservativen Neuordnungsversuchs der Geschichtspolitik verstanden wurde. Die Stiftung hatte die Fördermittel anlässlich der in den Jahren 2009 und 2010 anstehenden Jahrestage von friedlicher Revolution und deutscher Wiedervereinigung vor allem auf solche Projekte konzentrieren wollen, »die besonders dazu geeignet waren, das gesamtdeutsche Bewusstsein für die epochale historische Bedeutung der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiederherstellung der deutschen Einheit zu stärken«.48 Sebastian Gerhardt beispielsweise interpretierte dies als »hegemoniale Geschichtspolitik nationalen Zuschnitts«, da »Projekte von überregionaler und/oder gesamtstaatlicher Bedeutung, die über eine möglichst große Reichweite verfügen«, angestrebt würden und die dezentrale Arbeit »kleiner und zumeist regionaler Aufarbeitungsinitiativen mit dem Ausschluß aus dem Kernbereich der Förderung« bedroht würde.49Auch der Förderpolitik des Staates an sich stand manch einer skeptisch gegenüber, da sie die Geförderten korrumpiere. Der aus den staatlichen Fördermechanismen resultierende Opportunismus gebe sich zwar als »Pragmatik« oder »Realismus« gegenüber der Stiftung Aufarbeitung aus, in Wahrheit gehe es den meisten Akteuren aber lediglich um ihren Vorteil und die persönliche Absicherung. Dieser korrumpierende Effekt schlage sich in Form massiver Entsolidarisierung auch bei den Aufarbeitungsinitiativen insgesamt nieder. Im Fall von Horch und Guck hätten beispielsweise andere Initiativen geschwiegen, um die eigene Förderwürdigkeit nicht zu gefährden. In gleicher Weise sei die zunehmend dialogorientierte Haltung des Trägervereins »15. Januar« gegenüber der Stiftung Aufarbeitung unsolidarisch gegenüber kleineren Initiativen, weil egoistisch versucht worden sei, die eigene Förderungsfähigkeit wiederherzustellen.50

Diese Vorbehalte wurden nicht zuletzt durch einen Umstand verstärkt: Ein Teil der DDR-Aufarbeiter mit bürgerbewegtem Hintergrund fühlte sich nicht ernst genommen und kaum geschätzt. Die Stiftungsentscheidung im Fall Horch und Guck etwa wurde als willkürlich empfunden – der Wunsch nach partnerschaftlicher und transparenter Zusammenarbeit, der von bürgerbewegten Akteuren oft geäußert wurde, war auch ein Wunsch nach Interaktion auf Augenhöhe. In der Praxis sah man sich aber – schon wieder – in der Defensive.

Auch für Horch und Guck brachte das Jahr 2007 einen erheblichen Umbruch. Mit der Berufung einer neuen Redaktion sollten die inhaltlichen Streitpunkte aufgegriffen und auch die Aufmachung der Zeitschrift modernisiert werden. Gerade das veränderte Layout wurde dabei von der neuen Redaktion auch explizit als Zeichen einer Weiterentwicklung verstanden.51 Dies schien Horch und Guck nicht geschadet zu haben: War die Auflage zwischen 2004 und 2007 von 1200 auf 800 gefallen, so stabilisierte sie sich in der Folgezeit bei etwa 1000 Exemplaren pro Ausgabe.52

Die Aufarbeiter, der Staat und das Geld – ein Dilemma?

Wie ist staatliche Aufarbeitungsförderung zu beurteilen? Werden Aufarbeitungsinitiativen durch finanzielle Förderung normiert und korrumpiert, oder ist die »ordnende Hand« des Staates unabdingbar? Eine intensive Beschäftigung mit problematischer Vergangenheit benötigt unbestreitbar materielle Ressourcen, etwa um Zeitschriften zu verlegen, Rechercheprojekte zu realisieren oder um Sammlungen anzulegen und zu verwalten. Ohne die finanzielle Beteiligung des Staates wäre dies kaum vorstellbar. Die Aktivität des Staates hat aber auch Folgen für das Feld der Aufarbeitung: Sobald sich der Staat finanziell engagiert, muss er festlegen, welche Voraussetzungen für die Empfänger gelten sollen. Ohne entsprechende Anforderungen wäre eine Förderung entweder willkürlich oder uferlos – beides kann nicht Ziel einer Politik sein, die den Umgang mit begrenzten finanziellen Mitteln verantworten können sollte. Wenn politische Entscheidungsträger zusätzlich (legitime) geschichtspolitische Gestaltungsansprüche haben, sind Rahmenvorgaben ohnehin unausweichlich. Indes können jedwede Auswahlkriterien mit den Ansätzen zur Geschichtsaufarbeitung oder (geschichts-)politischen Ideen der Geförderten in Konflikt stehen. Daher waren die Kriterien Professionalität und Qualität in Deutschland umstritten, erscheinen derzeit aber auch aus Mangel an Alternativen unverzichtbar.

Welche Kriterien auch gefunden werden, in jedem Falle hätten sie strukturelle Auswirkungen auf die Aufarbeitung. Es ist zu vermuten, dass sowohl die derzeit vorhandenen (partei-)politischen Einflüsse53 als auch die selektierende und damit letztlich marginalisierende Wirkung bei der Verwendung anderer Förderkriterien kaum abnehmen würden, denn Organisationen, die gefördert werden wollen, müssten weiterhin diesen Kriterien entsprechen oder auf die Förderung verzichten. Für die Aufarbeitungsförderung ergibt sich daraus die paradoxe Situation, dass die Konflikte, die sich aus den skizzierten Zwängen ergeben, dem eigentlich identitätsstiftenden und integrierenden Moment des Geschichtsaufarbeitungsprozesses zuwiderlaufen.

Der hier betrachtete Fall deutet aber auch an, dass nicht nur der Staat normierend wirkt. Das Konfliktpotenzial im Fall Horch und Guck war insbesondere deshalb hoch, weil die Aufarbeitungsförderung der Stiftung Aufarbeitung aus unterschiedlichen Gründen stark auf Organisationen von Diktaturbetroffenen und/oder DDR-Bürgerrechtlern bzw. »Aktivisten« der friedlichen Revolution ausgerichtet ist. Bei diesen überlagern sich teilweise – wie bei den Vertretern der Parteien auch – Aufarbeitungsimpetus und politischer Gestaltungsanspruch (z. B. in der Orientierung an den »Idealen von 1989«). Daher wirkten neben dem Staat auch einzelne Gruppen der Aufarbeitungsszene normierend, indem sie versuchten, eigene Deutungsangebote festzuschreiben. Für den Staat macht die große Verschiedenheit der Vertreter dieser Organisationen eine Einbeziehung aller Gruppen unmöglich – Selektion ist auch aus diesem Grund unausweichlich. Für politische Entscheidungsträger ergibt sich hieraus ein Zielkonflikt: Das Ziel »Pluralität in der Aufarbeitung« und die konsequente Umsetzung eines geschichtspolitischen Anspruchs sind zumindest mit der gegenwärtigen Förderpraxis kaum zu vereinbaren.

Doch nicht nur die staatliche Seite steht vor Dilemmata: Auch für die Geförderten – das hat das Beispiel Horch und Guck anschaulich gezeigt – treten entscheidende Probleme auf. Für Initiativen der Aufarbeitungsszene ist oft unklar, ob auch im nächsten Jahr Fördermittel erfolgreich eingeworben werden. Diese Ungewissheit erzeugt nicht nur erheblichen Anpassungsdruck, sondern mitunter auch prekäre Arbeitsbedingungen. Zwar sind in dieser Hinsicht auch die Initiativen in der Pflicht, sich selbst um langfristige Perspektiven zu bemühen. Doch die Suche nach alternativen Geldgebern neben den verschiedenen staatlichen Quellen dürfte für die Mehrzahl der Aufarbeitungsprojekte ergebnislos bleiben. Bund, Länder und Kommunen können nur eine begrenzte Anzahl von Aufarbeitungsinstitutionen langfristig unterhalten – eine ganze »Aufarbeitungslandschaft« ist nicht zu finanzieren. Eine private Finanzierung scheint indes noch unwahrscheinlicher, und welche Zwänge und Abhängigkeiten würde dies schaffen? Auch dies ist letztlich eine politische Frage. Betrachten wir Aufarbeitung als Angelegenheit des Gemeinwesens, und wenn ja, wie viel Geld wollen wir in welcher Form dafür aufwenden? Oder ist dies ein Anliegen der Zivilgesellschaft und wir streben eine Aufarbeitung an, die vielleicht »bunt«, dafür aber kaum politisch steuerbar ist? All dies sind Fragen, die im politischen Rahmen diskutiert und entschieden werden müssen. So gesehen richtete sich im Fall Horch und Guck der Unmut der Stiftungskritiker gegen die »falsche« Stelle. Wie die angesprochenen Widersprüche entschärft werden können, muss zukünftig weiter diskutiert werden. In der praktischen geschichtspolitischen Arbeit wie auch der Aufarbeitungspraxis wird es auch in Zukunft auf die richtige Mischung zwischen dem Aushalten abweichender Meinungen, auf die Fähigkeit zum Kompromiss und auf hinreichende Sensibilität der verschiedenen Akteure ankommen.

1 Thomas Moser: Gefährliche Abhängigkeit, in: Publik-Forum vom 28. Juli 2006, S. 26.

2 Siehe Martin Sabrow: Das Unbehagen an der Aufarbeitung. Zur Engführung von Wissenschaft, Moral und Politik in der Zeitgeschichte, in: Thomas Schaarschmidt (Hg.): Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008, S. 11–20, hier S. 18. Diese Gegenüberstellung bedeutet nicht, dass die Erfahrungen politisch Verfolgter infrage gestellt werden sollen. Die Unterscheidung zielt vor allem auf die strukturelle Differenz zwischen einem analytischen und einem emotionalen Zugriff auf diese Erfahrungen ab.

3 Exemplarisch Jörg Siegmund: Opfer ohne Lobby? Ziele, Strukturen und Arbeitsweise der Verbände der Opfer des DDR-Unrechts, 2. Aufl. Berlin 2003.

4 Zu den Ebenen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit siehe: Bernd Faulenbach: Acht Jahre deutsch-deutsche Vergangenheitsdebatte – Aspekte einer kritischen Bilanz, in: Christoph Kleßmann/Hans Misselwitz/Günter Wichert (Hg.): Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999, S. 15–34, hier S. 15 f.

5 Bernd Faulenbach: Konkurrierende Vergangenheiten? Zu den aktuellen Auseinandersetzungen um die deutsche Erinnerungskultur, in: Deutschland Archiv 37 (2004), H. 4, S. 648–659.

6 Günter Nooke: Staatsziel Aufarbeitung oder Menschenrecht auf Wahrheit? Anmerkungen zu heiklen Debatten und Kriterien, in: Katrin Hammerstein u. a. (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 277–296, hier S. 278.

7 Siehe Matthias Hannemann: Verordnetes Gedenken führt zu nichts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Dezember 2008, S. 36.

8 Norbert Lammert: Bikini-Verkäufer am FKK-Strand? Der Staat und die Erinnerungskultur, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik (= Jahrbuch für Kulturpolitik 2009, Bd. 9), Bonn 2009, S. 33–39, hier S. 33.

9 Monika Grütters: Das Gedächtnis der Deutschen. Erinnerungsarbeit – zentral für das Selbstverständnis deutscher Kulturpolitik, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Erinnerungskulturen (Anm. 8), S. 67–73, hier S. 68.

10 Exemplarisch siehe Erik Meyer: Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes als Instrument zur geschichtspolitischen Steuerung, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Erinnerungskulturen (Anm. 8), S. 101–108.

11 Katrin Göring-Eckardt: Für ein kritisches Geschichtsbewusstsein, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Erinnerungskulturen (Anm. 8), S. 95–99, hier S. 95 f.

12 Siehe Lammert: Bikini-Verkäufer (Anm. 8), S. 36 f.

13 Ebd., S. 37.

14 Martin Sabrow: Die DDR erinnern, in: ders. (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–27.

15 So zuletzt im Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur, in: www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/BKM/2013-01-08-bericht-aufarbeitung-sed-diktatur.pdf, ges. am 24. September 2013, S. 15.

16 Grütters: Das Gedächtnis (Anm. 9), S. 68.

17 Siehe Lammert: Bikini-Verkäufer (Anm. 8), S. 35 f., Zitat S. 36.

18 Siehe ebd., S. 34.

19 Meyer: Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes (Anm. 10), S. 103.

20 Siehe Ralph Jessen: Alles schon erforscht? Beobachtungen zur zeithistorischen DDR-Forschung der letzten 20 Jahre, in: Deutschland Archiv 43 (2010), H. 6, S. 1052–1064.

21 Grütters: Das Gedächtnis (Anm. 9), S. 68.

22 Faulenbach: Acht Jahre (Anm. 4), S. 21.

23 Siehe Meyer: Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes (Anm. 10), S. 104–107, Zitat S. 107. Für derartige politische Einflussnahme lassen sich unzählige Beispiele finden. Exemplarisch außerhalb der Geschichtsaufarbeitung: Philipp Lichterbeck/Kai Müller: Zankapfel Migration. Es gilt das gesprochene Wort, in: Der Tagespiegel vom 12. November 2009.

24 Berechnet nach den Angaben aus den Tätigkeitsberichten der/des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus den Jahren 1993–2011.

25 Tätigkeitsbericht der Stiftung Aufarbeitung 2011, Klappentext.

26 Siehe Rainer Eppelmann: Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in: Wolfgang Thierse/Ilse Spittmann-Rühle/Johannes Kuppe (Hg.): Zehn Jahre deutsche Einheit. Eine Bilanz, Opladen 2000, S. 229–235.

27 Diese und alle nachfolgenden Zahlen entstammen den Tätigkeitsberichten der Stiftung Aufarbeitung aus den Jahren 2002 bis 2010 und eigenen Berechnungen. Die Tätigkeitsberichte sind verfügbar unter: www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/taetigkeitsberichte-2001-2009-2484.html, ges. am 24. September 2013. Um eine bessere Vergleichbarkeit der Zahlen zu gewährleisten, setze ich erst mit der Einführung des Euro im Jahr 2002 ein. Der Überblick beschränkt sich dabei auf die geförderten Organisationen. Einzelpersonen werden nicht berücksichtigt.

28 Zu den Spezifika der Entwicklung Berliner Gedenkstätten siehe Alfons Kenkmann: Fokussierung oder Vielfalt? Aktuelle Diskussionen um die Struktur der NS-Gedenkstätten – Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, in: Hammerstein u. a. (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur (Anm. 6), S. 59–69.

29 Horch und Guck in Not, in: Der Tagesspiegel vom 9. Januar 2007.

30 Siehe Johannes Beleites: Man schlägt den Sack und meint den Esel. Zum Konflikt um die Zeitschrift Horch und Guck, in: Deutschland Archiv 40 (2007), H. 2, S. 205–209, hier S. 206.

31 Horch und Guck in Not (Anm. 29).

32 Die Mitglieder der Redaktion waren Ende 2006 Uwe Boche, Werner Kiontke, Stephan Konopatzky, Dirk Moldt und Erhard Weinholz.

33 Zitiert nach Horch und Guck in Not (Anm. 29).

34 Siehe Beleites: Man schlägt (Anm. 30), S. 207. Neubert war von 1997 bis 2005 Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung der BStU und seit 1998 auch Vorstandsmitglied der Stiftung Aufarbeitung. Siehe Wer war wer in der DDR?, in: www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html, ges. am 24. September 2013. Golz war Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Edda Ahrberg war von 1994 bis 2005 Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes in Sachsen-Anhalt, siehe www.volksstimme.de/nachrichten/sachsen_anhalt/719542_Edda-Ahrberg.html, ges. am 24. September 2013. Renate Hürtgen war Historikerin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, siehe www.dr-huertgen.de/person.htm, ges. am 24. September 2013. Ilko-Sascha Kowalczuk war Mitglied der Enquetekommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, danach Mitarbeiter der Stiftung Aufarbeitung und schließlich der BStU, siehe www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Forschung/Mitarbeiter/kowalczuk.html, ges. am 24. September 2013. Tobias Hollitzer war Mitarbeiter der Außenstelle der BStU in Leipzig sowie im Bürgerkomitee Leipzig und im Museum in der »Runden Ecke« aktiv, siehe www.chronikderwende.de/lexikon/biografien/biographie_jsp/key=hollitzer_tobias.html, ges. am 24. September 2013. Carlo Jordan stand der DDR-Umweltbewegung nahe, siehe bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html, ges. am 24. September 2013.

35 Wer die Verantwortung dafür trug, ist nicht klar. Beleites vermutete, dass die Redaktion den Beirat eher als Zugeständnis an die Stiftung verstanden habe, selbst aber keine drängenden qualitativen Probleme sah. Siehe ders.: Man schlägt (Anm. 30), S. 208. Die Redakteure Moldt und Weinholz widersprachen dieser Sichtweise. Siehe Dirk Moldt/Erhard Weinholz: Für eine Aufarbeitung ohne Schläge, Esel, Säcke und Igel!, in: Deutschland Archiv 40 (2007), H. 3, S. 407–409, hier S. 408.

36 Alle Zitate aus: Horch und Guck in Not (Anm. 29).

37 Alle Zitate: Beleites: Man schlägt (Anm. 30), S. 206.

38 Diese und die vorangegangenen Zitate: Thomas Klein: Eine Leserversammlung gibt Auskunft, in: Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte (Hg.): hauspost, August 2007, o. S.

39 Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk/Edda Ahrberg/Hans-Georg Golz: Anmerkungen zu: Johannes Beleites, »Man schlägt den Sack und meint den Esel.« Zum Konflikt um die Zeitschrift Horch und Guck (DA, 2/2007, S. 205–209), in: Deutschland Archiv 40 (2007), H. 3, S. 406. Die gegenteilige Ansicht vertritt: Renate Hürtgen: Zu dem Beitrag von Johannes Beleites und zur vorstehenden Anmerkung, in: Deutschland Archiv 40 (2007), H. 3, S. 407.

40 Beleites: Man schlägt (Anm. 30), S. 206 f.

41 Programmatische und strategische Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppierungen hatten 1989 kaum eine Rolle gespielt – in gewisser Weise wurden sie auch später wenig thematisiert. Exemplarisch Caroline Fricke: Gründungsfieber – neue politische Vereinigungen. Motive, Ziele, Wirkung. Stationen der Revolution 1989/90, Diskussionsveranstaltung in Berlin, 10. September 2004, in: Deutschland Archiv 37 (2004), H. 6, S. 1063–1065.

42 Siehe Sebastian Gerhardt: Der Fall von Horch und Guck. Zur politischen Ökonomie der Aufarbeitung der SED-Diktatur, in: Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte (Hg.): hauspost, August 2007, o. S.

43 Diese Erfahrung wurde schon früh beschrieben und als ein wichtiger Grund für die hartnäckige Beschäftigung der Bürgerrechtler mit dem MfS angeführt. Siehe dazu Bernhard Gill: Alle Staatsgewalt geht von den Akten aus. Stasi-Auflösung zwischen demokratischem Neubeginn und bürokratischer Kontinuität, in: Berliner Debatte Initial (1993), H. 2, S. 29–38, Zitat S. 29.

44 Renate Hürtgen: Offener Brief An die Mitglieder des Bürgerkomitees 15. Januar e. V., in: Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte (Hg.): hauspost, August 2007, o. S.

45 Moldt/Weinholz: Für eine Aufarbeitung (Anm. 35), S. 408.

46 Reiner Merker: Spannungsfeld zwischen »Aufarbeitungsinitiative« und »klassischem Archiv«. Arbeitsbedingungen und Bedeutung der DDR-Oppositionsarchive, in: Deutschland Archiv 41 (2008), H. 2, S. 295–301, hier S. 297.

47 Siehe Uwe Boche/Werner Kiontke/Erhard Weinholz: Offener Brief an den Vorstand des »Bürgerkomitees 15. Januar«, in: Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte (Hg.): hauspost, August 2007, o. S.; Hürtgen: Offener Brief, in: ebd.; Thomas Klein: »Eine Zensur findet nicht statt.«, in: ebd.

48 Dokumentation: Ausschreibung für die Förderjahre 2008–2010, in: www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/foerderschwerpunkt-2008-2010-1903.html, ges. am 24. September 2013.

49 Gerhardt: Der Fall von Horch und Guck (Anm. 42).

50 Hürtgen: Offener Brief (Anm. 44); dies.: Wie steht es jetzt um Horch und Guck? , in: ebd. sowie Klein: »Eine Zensur findet nicht statt.«, in: ebd.

51 In diesem Sinne äußerte sich die Redaktion im Editorial für das zweite Heft im Jahr 2007, siehe in: www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2004-2007/heft-58/05801/, ges. am 24. September 2013.

52 Siehe Beleites: Man schlägt (Anm. 30), S. 206 und die Mediadaten des Jahres 2013 von Horch und Guck, in: www.horch-und-guck.info/hug/service/mediadaten/, ges. 24. September 2013.

53 Zur Politisierung der derzeitigen Aufarbeitungspraxis siehe Thomas Großbölting: Eine zwiespältige Bilanz. 20 Jahre Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit im wiedervereinigten Deutschland, in: ders. u. a. (Hg.): Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der Diktaturen in Europa und ihre Folgen, Essen 2010, S. 61–74, hier S. 71 f.

Inhalt – JHK 2014

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