JHK 2015

Die Schwestern Gehrmann. Zwei deutsche Kommunistinnen zwischen Engagement und Resignation

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 137-150 | Metropol Verlag

Autor/in: Tanja Stern

Die Schwestern Magdalena (1899–1969) und Charlotte (1901–1985) Gehrmann gehörten zum Fußvolk der Geschichte. Weder beruflich noch politisch hatten sie je bedeutende Positionen inne; doch ihre Biografien als Frauen und als Kommunistinnen der ersten Stunde spiegeln über das Individuelle hinaus fast lehrbuchhaft all das wider, was deutschen Kommunisten im 20. Jahrhundert widerfahren konnte.1

Die beiden Schwestern wachsen in einer Berliner Arbeiterfamilie auf. Die resolute Mutter Berta Gehrmann sorgt dafür, dass sie nach der Schule, genau wie ihre Brüder, eine Berufsausbildung absolvieren. Sie sollen keine »Dienstbolzen« werden oder auf die Versorgung durch einen Ehemann angewiesen sein. Magda und Charlotte belegen Steno- und Schreibmaschinenkurse, verdienen sich ihr erstes Geld im Büro. Schon als sehr junge Mädchen treten sie der Roten Arbeiterjugend bei – wahrscheinlich noch ohne weitergehende ideologische Ambitionen: Sie wollen mit Gleichaltrigen zusammen sein, gemeinsam etwas Schönes, Spannendes erleben. Bei der Roten Arbeiterjugend gibt es Ausflüge an den Wannsee, Gesang am nächtlichen Lagerfeuer und hitzige philosophische Debatten darüber, wie die Welt besser werden kann. Es ist die Zeit, in der sich die deutsche Arbeiterbewegung zu spalten und zu radikalisieren beginnt. Das von Marx und Engels entwickelte Modell einer gesellschaftlichen Umverteilung ist in diesen Kreisen höchst populär, und mit dem Fortschreiten des Ersten Weltkriegs, der ganz Europa ins Elend stürzt, wächst unter der Arbeiterschaft die Bereitschaft zur gewaltsamen Selbstbefreiung, die dieses Modell verwirklichen soll. Insbesondere die revolutionär gesinnte Jugend blickt 1917 bewundernd nach Russland, wo Lenins Partei im radikalen Handstreich die überkommene bürgerliche Demokratie hinweggefegt hat. Könnte das doch in Deutschland auch geschehen!

Im Herbst 1918 scheint sich die ersehnte Gelegenheit zum Umsturz zu bieten. Das Land steht vor der militärischen Niederlage. Überall brodeln Unruhen, das Staatsgefüge wankt. Dies ist die große Stunde der Linken, deren Parteien, Bünde und Räte jetzt nur so aus dem Boden schießen. Dies ist auch die erste politische Hoch-Zeit im Leben der beiden Gehrmann-Schwestern. Wie im Sommer an den Wannsee ziehen sie im Spätherbst mit ihren Freunden in die Lehrter Straße, um das dortige Gefängnis zu stürmen und ihre Genossen zu befreien. Auch beim Sturm auf die Maikäferkaserne in der Chausseestraße am
9. November 1918 sind die Gehrmann-Mädchen dabei. Hier gibt es die ersten Opfer der deutschen Novemberrevolution, darunter Erich Habersaath, der erst 25-jährige Gruppenführer der Berliner Arbeiterjugend, der dem Demonstrationszug voranmarschiert. Herzschuss, der junge Mann ist sofort tot. Er war ein Freund der Gehrmann-Schwestern.

Spätestens jetzt ist die Zeit der netten Landausflüge und der theoretischen Debatten vorbei. Mit einem Schlag erwachsen geworden, finden sich Magda und Charlotte Gehrmann mitten in den Wirren einer aus den Fugen geratenen Welt. Die dramatischen Novembertage des Jahres 1918 werden ihr weiteres Leben prägen: Ihre Arbeitsstellen, ihre Männer – jeder Schritt, den sie tun, wird fortan ideologisch dominiert sein. Unversehens sind sie in die kommunistische Bewegung hineingeraten wie in einen reißenden Strudel, aus dem es kein Zurück mehr gibt in die seichten Gewässer der Normalität.

Auf die Höhe der Revolution folgen bald die Niederungen des Alltags, und die Gehrmann-Mädchen tun weiterhin das, wofür sie ausgebildet sind: Sie nehmen Steno-Diktate auf und tippen Texte in die Maschine, aber jetzt in den Büros der neu gegründeten USPD und im Auftrag ihrer Genossen. Die berühmten Hauptakteure der Geschichte sind ihre Kampfgefährten und zugleich ihre Chefs, deren Reden und Manifeste sie in lesbare Form zu bringen haben.

Zu ihnen gehört auch Viktor Stern (1885–1958), Rabbinersohn aus Mähren, promovierter Philosoph und seit Kriegsende hauptamtlicher Kommunist – ein Parteiarbeiter mit Leib und Seele. Er schreibt Artikel für die Partei, organisiert Versammlungen oder zieht als kommunistischer »Wanderprediger« durch das Land. Natürlich nimmt er auch aktiv an den Kämpfen teil, die Anfang der 1920er Jahre die junge Weimarer Republik erschüttern. Beim kommunistischen Ruhr-Aufstand, der 1920 auf den Kapp-Putsch folgt, wird er in den Zentralrat gewählt. In Leuna, einem Kerngebiet der kommunistischen Bewegung, ist er als Leiter des dortigen USPD-Blatts einer der Lokalmatadoren. Als er vom Polizeichef ausgewiesen wird, reagieren die Arbeiter der Region mit einem machtvollen Generalstreik.2

Viktor Stern ist der Mann, in den sich Magda um das Jahr 1920 verliebt. Er ist fünfzehn Jahre älter als sie und ihr an Bildung und Erfahrung weit überlegen. Anfangs blickt sie zu ihm auf wie zu einem Lehrer. Natürlich wollen beide eine unkonventionelle, eine wahrhaft kommunistische Ehe führen, fest vereint im Kampf um die große Sache. 1921 kommt ihr gemeinsamer Sohn Heinz zur Welt. Im selben Jahr wird Viktor Stern aufgrund kommunistischer Aktivitäten aus Deutschland ausgewiesen – er ist tschechischer Staatsbürger. Mit seiner Familie geht er nach Wien, wo er als Chefredakteur der Roten Fahne arbeitet. Das tschechische Reichenberg und Prag sind weitere Stationen des Wanderlebens, das die Eheleute Stern in den nächsten Jahren führen – er als Propagandist, Redakteur und Abgeordneter der tschechischen Kommunistischen Partei (KPTsch), sie als seine Sekretärin. Doch die 1922 geschlossene Ehe hält im Alltag ihren Ansprüchen nicht stand. Bald empfindet Magda Viktors Lehrer-Attitüde nicht mehr als Ausdruck eines großen Geistes, sondern als verbohrte Rechthaberei. In diesen Jahren wird die KPTsch, die Viktor Stern im Parlament vertritt, auf stalinistischen Kurs gebracht, sodass er von Berufs wegen ständig in hysterischen Fraktionskämpfen gegen »Revisionisten« und »Abweichler« wettert. Auch im häuslichen Bereich wittert er hinter jedem Widerspruch Defätismus und verteidigt seine Position mit einem Pathos, als gelte es, das letzte Gefecht der Internationale zu bestehen. Die ehelichen Streitigkeiten häufen sich, 1928 kommt es zur Trennung der Eheleute. Viktor Stern wird später im sowjetischen Exil zum fanatischen Stalinisten mutieren und es als solcher in der frühen DDR zum Dekan an der Zentralen SED-Parteihochschule Kleinmachnow bringen.3

Magda kehrt 1928 mit ihrem Sohn nach Berlin zurück, wohnt wieder bei ihren Eltern und findet Arbeit bei der Roten Fahne. Ihre Schwester Charlotte Gehrmann, die gleichfalls in der elterlichen Wohnung lebt, hat mittlerweile Karriere gemacht und bekleidet eine Vertrauensstellung im Büro Ernst Thälmanns, des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD); später wird sie die Sekretärin Wilhelm Piecks. Ihr Lebensgefährte ist Leo Flieg (1893–1939), rechte Hand Ernst Thälmanns und zu jener Zeit einer der wichtigsten Männer der Partei, auch wenn er sich als graue Eminenz gewöhnlich klug im Hintergrund hält. In erster Linie leitet er das sogenannte Technische Zentralkomitee, das für hochsensible, auch konspirative Bereiche des Parteiapparats zuständig ist, von der Verwaltung der Finanzen bis hin zur berühmten Passfälscherabteilung, die Kommunisten aus ganz Europa mit gefälschten Papieren versorgt.4

Wie die Beziehung zwischen Magda und Viktor Stern steht auch diejenige zwischen Charlotte Gehrmann und Leo Flieg ganz im Zeichen der politischen Arbeit für die Sache des Kommunismus. Für die beiden scheint es völlig normal zu sein, dass die Partei sich das Recht nimmt, nach Belieben in ihr Privatleben einzugreifen, jahrelange Trennungen zu verfügen oder Schwangerschaften zu untersagen. So werden beide Gehrmann-Schwestern in den 1920er Jahren wiederholt von der Komintern-Zentrale als Stenotypistinnen für Monate nach Moskau beordert. Charlotte Gehrmann nimmt darüber hinaus an Auslandseinsätzen von weitaus gefährlicherem Charakter teil, denn über Leo Flieg wird sie auch in die streng geheime konspirative Arbeit der KPD bzw. der Komintern einbezogen. Belegt ist etwa eine Reise nach China, bei der Charlotte 1932 im Auftrag der Moskauer Komintern-Zentrale als Geldkurierin fungierte – sicher kein Einzelfall. Doch niemand, nicht einmal die eigene Familie, weiß über solche Aktionen Bescheid.

Es sind dies vergleichsweise gute Jahre im Leben der beiden Gehrmann-Schwestern, denn bei aller Strenge der politischen Arbeit bleibt ihnen immer noch Zeit, das Leben auch ganz unpolitisch zu genießen, von der Kulturvielfalt im Berlin der späten Weimarer Republik bis hin zu anregenden Abenden im gleichgesinnten Freundeskreis. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten hat dies gleichsam über Nacht ein Ende. Das Zentralkomitee der KPD, Charlottes langjähriger Arbeitgeber, wird ebenso in die Illegalität verbannt wie die Zeitschrift Rote Post, für die Magda zuletzt tätig war – auf Arbeitslosigkeit folgt soziale Isolation. Die Schwestern haben fast ausschließlich in kommunistischen Kreisen verkehrt, ihr alltägliches Leben ist so stark mit der Marx’schen Ideologie verwoben, dass deren Verbot und Niederlage für sie einer Katastrophe gleichkommt. Innerhalb von wenigen Wochen gehen fast alle ihre Freunde ins Exil oder werden Opfer der ersten Verhaftungswelle nach dem Reichstagsbrand. Auch Leo Flieg, Charlottes Lebensgefährte, dessen Name auf der Fahndungsliste steht, hat sich nach Frankreich abgesetzt.

Die Gehrmann-Schwestern setzen ihre Arbeit für die KPD in der Illegalität fort. Über eine Deckadresse unterhält Charlotte Kontakt zu Leo Flieg, tauscht mit ihm Nachrichten aus dem In- und Ausland. Sie verwaltet Gelder für die KPD, reist wiederholt im Komintern-Auftrag nach Litauen und verwahrt in der Gehrmann’schen Wohnung Leo Fliegs Bibliothek, deren bloßer Besitz unter Strafe steht – »etwa 15 Zentner kommunistische Bücher«, wie es später in dem Urteil gegen sie heißt.5 Die ganze Familie Gehrmann wird an der illegalen Arbeit der Schwestern beteiligt: Die Mutter befördert geheime Briefe und verhilft Charlotte zu ihrer Deckadresse; selbst Magdas Sohn, der damals gerade zwölfjährige Heinz, wird als Kurier eingesetzt.

Vielleicht ist Magda und Charlotte das Ausmaß der Gefahr, in die sie sich begeben, anfangs gar nicht bewusst – vielleicht teilen sie die damals weitverbreitete Ansicht, das Hitlerregime sei bald am Ende, und nehmen den Kampf mit dem neuen Gegner als ein Katz-und-Maus-Spiel, wie sie es in der Weimarer Republik oft genug mit der Obrigkeit gespielt hatten. Aber diesmal ist es kein Spiel. Die Gehrmann-Schwestern sind als aktive Kommunistinnen bekannt und wahrscheinlich schon seit Längerem unter Beobachtung. Nachdem in Kassel eine Deckadresse aufgeflogen ist, die auch einen Hinweis auf Charlottes Tarnung liefert, findet bei den Gehrmanns im November 1933 eine Hausdurchsuchung statt. Dabei wird eine Fülle von belastendem Material konfisziert. Beide Gehrmann-Schwestern und ihre Mutter werden von der Gestapo verhaftet.

Glücklicherweise haben die Gehrmanns einen Rechtsanwalt in der Familie: Dr. Imanuel Stern (1882–1960). Der Bruder von Magdas Ex-Ehemann Viktor Stern ist ebenfalls Kommunist und versteht seine Anwaltstätigkeit auch als ideologischen Dienst. Aus Brünn, wo er praktiziert, reist er umgehend nach Berlin und übernimmt die Verteidigung der Frauen. In Bezug auf seine Ex-Schwägerin Magda macht er geltend, dass sie aufgrund ihrer Heirat tschechische Staatsbürgerin sei und nicht der deutschen Justiz unterstehe. Dass die Stern’sche Ehe längst geschieden ist, brauchen Magdas Ankläger nicht zu wissen. Der Coup gelingt: Nach drei Wochen Haft wird Magda auf freien Fuß gesetzt. Eine Beteiligung an kommunistischen Aktivitäten kann ihr ohnehin nicht nachgewiesen werden. Gleich nach ihrer Freilassung verlässt sie das Land und reiht sich in das gewaltige Heer der deutschen Exilanten ein.

Für Charlotte kann Imanuel Stern dagegen wenig tun; sie bleibt in Untersuchungshaft und wird nach eigenen Angaben in der Prinz-Albrecht-Straße, der berüchtigten Zentrale der Gestapo, im Lauf der Verhöre geschlagen und misshandelt.6 Im Frühjahr 1934 findet vor dem Kammergericht Berlin die Verhandlung gegen sie und ihre Mutter statt; die Anklage lautet auf Vorbereitung zum Hochverrat. Die Richter sehen es als erwiesen an, dass die Gehrmanns mit ihren Aktivitäten »das hochverräterische Unternehmen, die Verfassung des Deutschen Reiches gewaltsam zu ändern«,7 vorbereitet und gefördert haben. Während man die Mutter Berta Gehrmann als Helferin ihrer Tochter einstuft und »nur« zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, bekommt Charlotte die volle Härte des Gesetzes zu spüren: Ihr Urteil lautet auf drei Jahre Zuchthaus. In der Urteilsbegründung wird betont, dass Charlotte insbesondere aufgrund ihrer Auslands-
tätigkeit als »besonders gemeingefährlich« anzusehen sei und dass daher die gesetzliche Höchststrafe »eher zu niedrig als zu hoch« erscheine.8

Charlotte wird zur Verbüßung ihrer Strafe ins schlesische Frauenzuchthaus Jauer verlegt. Die Haftbedingungen sind hart: grimmige Winter in ungeheizten Zellen, schwere Arbeit und Schikanen der Aufseherinnen. Bleibende gesundheitliche Schäden werden Charlotte lebenslang daran erinnern. Aber sie ist nicht allein; viele der in Jauer inhaftierten Frauen sind Kommunistinnen wie sie und aufgrund politischer Delikte verurteilt. Es herrscht eine starke Solidarität, die Charlotte hilft, die Leidenszeit zu ertragen.9

Als die dreijährige Haftzeit vorüber ist, wird Charlotte Gehrmann nicht in die Freiheit entlassen, sondern, wie es in Nazideutschland mittlerweile üblich ist, in ein Konzentrationslager überstellt. Sie hat noch Glück im Unglück, denn sie kommt ins Konzentrationslager Moringen, wo sie die Gefangenschaft in relativ milder Form erlebt. Sie muss Näharbeiten verrichten und wird einigermaßen menschlich behandelt. Doch nach einem halben Jahr muss sie ins sächsische Lichtenburg wechseln, wo ein weitaus schärferer Wind weht: schwere Feldarbeit, rücksichtslose, entwürdigende Behandlung, Hunger. Aber auch hier erlebt sie die Solidarität der gefangenen Frauen, die wie Schwestern füreinander einstehen.

Im Juni 1938 besucht Heinrich Himmler das Lichtenburger Lager und lässt mit großer Geste eine Gruppe inhaftierter Kommunistinnen amnestieren, auch Charlotte Gehrmann zählt dazu; Grund ist der Hitler-Stalin-Pakt, der vorübergehend eine Kursänderung des nationalsozialistischen Regimes bewirkt.10 Nach viereinhalb Jahren hinter Gittern ist Charlotte nun also wieder frei, aber die Welt um sie herum erscheint ihr vollkommen fremd. Nur ihre alten Eltern sind noch für sie da; die Schwester und der Neffe leben weit entfernt in der Emigration, ihre Freunde sind in alle Winde verstreut. Leo Flieg, ihr einstiger Lebenspartner, sitzt zu dieser Zeit in einem Moskauer Gefängnis und wird absurderweise beschuldigt, eine trotzkistische Verschwörung geplant zu haben. Er gehört zu den Hunderttausenden von Kommunisten aus aller Welt, die Stalins Großer Säuberung zum Opfer fallen: Im März 1939 wird er in Donskoje hingerichtet.11

Zumindest zu diesem Zeitpunkt kann Charlotte eigentlich noch nichts davon wissen; dennoch scheint sie relativ früh, über welche Kanäle auch immer, von Leo Fliegs Tod und den Verbrechen des Stalinismus zu erfahren. Dies mag einer der Gründe für die politische Enthaltsamkeit sein, die sie fortan praktizieren wird. Gewichtiger dürfte aber der rein persönliche Faktor gewesen sein: Die lange Haft- und Lagerzeit hat in Charlotte einen Hunger nach gewöhnlichem Leben hervorgerufen, nach Hochzeitsglocken, Küchendunst und Kindergeschrei, nach all den bürgerlichen Werten, auf die sie einst mit ihren Genossen spöttisch herabsah: Sie will ein Heim, sie will einen Mann, und vor allem will sie, obwohl nun schon fast vierzig, unbedingt noch Mutter werden. Schon wenige Monate nach ihrer Entlassung aus dem Lager nimmt sie den Heiratsantrag eines langjährigen Verehrers an: Albert Schaer (1898–1981) hat bei Weitem nicht das intellektuelle und menschliche Format eines Leo Flieg, doch auch er ist Kommunist und hat für seine Überzeugung im Gefängnis gesessen, 21 Monate lang. Schon seit Jahren schwärmt er für Charlotte, und nun, da sie frei ist, in jeder Beziehung, bemüht er sich um sie mit einer Fürsorge, der sie die Dankbarkeit nicht versagen kann.

Nach der Hochzeit im September 1938 beziehen die Schaers eine kleine Wohnung im Nordwesten Berlins. Der Neuanfang ist für Charlotte nicht leicht. Sie muss sich zweimal pro Woche polizeilich melden und kann keine Arbeit finden: Man hat ihr die Auflage erteilt, bei jeder Bewerbung den potenziellen Arbeitgeber von ihrer Vorstrafe zu unterrichten, was einer Einstellung nicht gerade förderlich ist. Endlich bekommt sie eine schlecht bezahlte Stelle als Schreibkraft beim Berliner Tierschutzverein. Als sich der Krieg dem Ende nähert, erfüllt sich auch noch ihr größter Wunsch: 1944 bringt sie im Alter von 43 Jahren ihren ersten Sohn auf die Welt, der zum neuen Mittelpunkt ihres Lebens wird.

Während sich Charlotte mitten im Krieg ein privates kleines Glück aufbaut, treibt ihre Schwester Magda Stern in zielloser Flucht durch die halbe Welt. Nach ihrer Ausreise aus Deutschland lässt sie sich zunächst in Frankreich nieder – ohne ihren Sohn, der diese Jahre in Brünn bei seinem Onkel Imanuel Stern verlebt. In Paris geht es Magda relativ gut, zumindest im Vergleich zu anderen Emigranten, denn ihre Ausbildung als Sekretärin sichert ihr auch jetzt das Überleben. Sie arbeitet für mehrere deutschsprachige Verlage, lernt Französisch, später auch Spanisch, und findet einen neuen Lebenspartner: Heinz Renner (1892–1964) stammt aus Essen und war dort ein bekannter KPD-Funktionär, bis die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten auch ihn ins Exil gezwungen hat. Später wird er als kommunistischer Störenfried in die Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen.12

1940 hat der Zweite Weltkrieg auch Frankreich erreicht, und wieder bricht alles zusammen, was Magda sich mühsam aufgebaut hat. Wie die meisten in Frankreich lebenden Ausländer wird sie verhaftet und interniert. Es folgt eine turbulente Zeit der Fluchten und wechselnden Aufenthalte: Magda versucht, illegal in die Schweiz einzureisen – im Parteiauftrag, wie sie später erklärt –, wird aber gleich an der Grenze verhaftet und nach Frankreich zurückgebracht, wo man sie für ihren Fluchtversuch zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Nachdem sie ihre Strafe abgesessen hat, lebt sie monatelang illegal in Marseille und versucht, auf eines der rettenden Schiffe nach Südamerika zu kommen. Tatsächlich gehört sie zu den wenigen, denen das gelingt; doch von ihrem Lebensgefährten Heinz Renner wird sie durch die Wirren der Flucht getrennt.

Im Mai 1942 erreicht Magda Stern Mexiko. Auch hier gibt es eine starke deutsche Emigrantenszene, zu der viele namhafte Autoren zählen. Der Verleger Walter Janka gibt ihre Bücher im Verlag »El libro libre« heraus. Dort wird Magda als Sekretärin eingestellt, wahrscheinlich auf Empfehlung von Anna Seghers, mit der sie gut befreundet ist. Wieder bringt Magda für berühmte Akteure die Manuskripte in Form: für Seghers, Egon Erwin Kisch, Paul Merker und Ludwig Renn. Es gibt Bücher und Bilder mit herzlichen Widmungen, die bezeugen, dass Magda in diesem Kreis so etwas wie die gute Seele gewesen ist.

1945 kann sich Walter Jankas Verlag nicht mehr halten, und Magda verliert ihre Arbeitsstelle. Der Kampf ums Überleben beginnt aufs Neue. Weil sie keine Arbeit mehr als Sekretärin findet, verdingt sie sich als Köchin im Haushalt eines Arztes; später leitet sie eine Fabrikkantine. Finanziell hält sie sich gerade so über Wasser, doch Einsamkeit und Heimweh machen ihr schwer zu schaffen. Sie weiß, dass Heinz Renner von den Franzosen nach Deutschland ausgeliefert worden ist, und befürchtet das Allerschlimmste. Auch über das Schicksal ihres Sohnes Heinz, der jetzt bei seinem Vater Viktor Stern im sowjetischen Exil lebt, ist sie jahrelang im Ungewissen. Sie ist gerettet, aber mutterseelenallein.

Ende 1945 bekommt sie über eine Suchanzeige endlich Nachricht von ihrem Sohn. Er ist inzwischen Journalist und rüstet sich in Moskau gerade zur Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone Berlins. Auch Heinz Renner hat den Krieg überlebt. Er ist wieder in seiner Heimatstadt Essen und engagiert sich in der Kommunalpolitik. Magda hält es nicht mehr aus, sie will nur noch heim nach Deutschland. Alles, was die Welt an Freude und Geborgenheit zu bieten hat, hofft sie jenseits des Atlantiks zu finden. Aber die Ausreiseformalitäten ziehen sich quälend lange hin. Noch über ein Jahr kämpft Magda mit den Behörden; ihre Briefe werden immer verzweifelter. Erst im Frühjahr 1947 hat sie endlich die nötigen Papiere beisammen und besteigt ein Schiff nach Deutschland.

In Berlin hat Charlottes Familie inzwischen das Kriegsinferno überstanden, aber die Schrecken noch nicht vergessen: die Bomben, den ständigen Hunger, den Zuammenbruch der bürgerlichen Ordnung. Die alten Eltern Gehrmann sind gestorben, ohne ihre Tochter Magda und ihren Enkel Heinz noch einmal wiederzusehen. Nach dem Krieg schöpft die Familie dennoch neuen Mut. Albert Schaer schlägt sich als Vertreter durch. Charlotte handelt auf dem Schwarzmarkt mit Stoffen, treibt unter schwierigsten Bedingungen die nötigen Nahrungsmittel auf und findet nebenbei noch die Zeit, sich in einem lokalen Frauenausschuss für die Kinderhilfe zu engagieren. Ihrem Sohn geht es trotz dürftiger Ernährung gut; und 1947 wird Charlotte, nunmehr 46 Jahre alt, zum zweiten Mal Mutter eines Sohnes – das Leben zeigt seine unbesiegbare Kraft.

Für Magda jedoch, die sich von ihrer Heimkehr ein Übermaß an Glück versprach, hält die Nachkriegszeit nur Enttäuschungen bereit: in der Familie, in der Liebe, im Beruf und in der Politik. Unmittelbar nach ihrer Ankunft trifft sie die Nachricht vom Tod der Mutter, der erst wenige Wochen zurückliegt. Das Wiedersehen so knapp verpasst zu haben, ist ein Schlag, der Magda zeitlebens schmerzen wird. Dann die Enttäuschung in der Liebe: Magda war überzeugt, dass sie ihr Leben in Deutschland wieder mit Heinz Renner teilen würde, ihrem Pariser Lebensgefährten, von dem der Krieg sie vor Jahren trennte. Doch Heinz Renners Treue hat der langen Trennung nicht standgehalten. Längst lebt er in Essen mit einer anderen Frau zusammen. Magda bleibt für den Rest ihres Lebens allein.

Ihr Sohn Heinz, dem nun ihre ganze Liebe gilt, nimmt sie zwar in seiner Wohnung auf und bemüht sich redlich, sie nicht zu enttäuschen; doch er ist inzwischen ein erwachsener Mann und lebt sein eigenes Leben: Er studiert, arbeitet, geht auf Reisen, heiratet, lässt sich scheiden, heiratet wieder … Für die Mutter ist bei alldem nur am Rande Platz.

Zweifellos hatte Magda auch auf eine gute Arbeitsstelle gehofft. Zeit und Ort sind immerhin günstig für Menschen mit ihrer politischen Gesinnung. In der Sowjetischen Besatzungszone, alsbald DDR, stehen alle Zeichen auf Neuanfang, unbelastete Arbeitskräfte werden händeringend gesucht; und Magda ist nach den jetzt geltenden Maßstäben als »alte Genossin«, als Ex-Emigrantin und als Widerstandskämpferin gegen den Faschismus geradezu prädestiniert für eine späte Karriere. Ihre erste Anstellung scheint die Erwartungen zu erfüllen: Magda bekommt einen guten Posten bei der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft«, einer Organisation, die in der DDR hoch angesehen ist. Ihre Aufstiegschancen stehen zunächst recht gut. Doch als SED-Mitglied gehört Magda zur Gruppe der sogenannten Westemigranten. Als 1949 der US-amerikanische Kommunist Noel H. Field, der während des Krieges eine internationale Hilfsorganisation geleitet hatte, von Stalin der Spionage für den Westen bezichtigt wird, geraten alle Mitglieder dieser Gruppe unter Generalverdacht. Zwar hat Magda nie einen bedeutenden Posten im Parteiapparat der KP bekleidet, aber sie ist auch keine x-beliebige Westemigrantin, bewegte sie sich doch während ihrer Zeit in Mexiko und im Verlag »El libro libre« genau in der Szene, die jetzt im Fokus der Ermittlungen steht. Auch in Frankreich hatte sie Umgang mit Menschen, die neuerdings als Verfemte gelten, traf dort sogar die Frau von Field. Das bedarf einer gründlichen Klärung.

Im Juni 1950 muss sich Magda der Parteikontrollkommission des SED-Zentralsekretariats stellen. In der Befragung geht es hauptsächlich um zwei Punkte: erstens um die Auslandsverbindungen Magdas, die aktuellen wie auch diejenigen aus den Jahren der Emigration; zweitens um die Offenlegung aller, selbst der flüchtigsten Kontakte aus dem Umfeld Noel Fields. Magda erklärt hierzu mündlich und schriftlich, dass sie zwar einmal der Frau Noel Fields, ihm selbst aber nie begegnet sei und dass sie auch sonst keine suspekten Auslandskontakte pflege. Sie geht scheinbar ungeschoren aus der Parteikontrolle hervor; doch eineinhalb Jahre später räumt sie ihren Posten bei der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft – »krankheitshalber«, wie sie in ihrem Lebenslauf schreibt. In der Tat steht es nicht gut um ihre Gesundheit; während der Emigration hat sie sich ein schweres Bronchialleiden zugezogen. Doch das scheint nicht der einzige Grund für ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben gewesen zu sein. Fest steht, dass Magda erhebliche Probleme im Umgang mit ihren Kollegen hatte,13 wahrscheinlich ist sie infolge ihrer Erfahrungen in anderen Ländern und ihrer langen Wanderjahre einfach ungeeignet für das Leben in der zunehmend reglementierten und kleinkarierten DDR. Inwieweit auch der Status als Westemigrantin ihrer Position geschadet hat, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr feststellen.

Fortan wird Magda nur noch gelegentlich als Dolmetscherin eingesetzt. Außerdem tippt sie weiterhin, wie schon in den Zeiten des gemeinsamen Exils in Mexiko, die Manuskripte von Anna Seghers ab. Keine dieser Arbeiten füllt Magda aus – de facto ist sie mit Anfang fünfzig schon zur Frührentnerin geworden. Als anerkannte »Verfolgte des Naziregimes« (VdN) erhält Magda vom DDR-Staat eine lebenslange Rente, die sie vor materiellen Sorgen bewahrt – nur eine Aufgabe hat ihr die DDR nicht zu bieten.

Ihre letzten Jahre verbringt sie in einer kleinen Ost-Berliner Einraumwohnung. Zwar pflegt sie regen Kontakt zur Familie ihres Sohnes und hat auch einen kleinen Freundeskreis. Doch sie leidet stark unter der Zurückgezogenheit und Tristesse des Alltags, nachdem sie so viel von der Welt gesehen und so viele Berühmtheiten gekannt hat. Nur in der Erinnerung lebt sie auf und verklärt die Jahre, die sie in Paris und Mexiko verbrachte, zu einer großen Zeit. Ende der 1960er Jahre verschlimmert sich ihr Bronchialleiden zusehends. Mehrere Krankenhausaufenthalte bringen keine Besserung. Am 1. Januar 1969 stirbt Magda Stern, geborene Gehrmann, in einem Ost-Berliner Krankenhaus.

Ihre Schwester Charlotte überlebt sie noch um viele Jahre; doch auch für sie nimmt das Leben in der Nachkriegszeit eine schlimme Wendung. Zwar scheint ihr Plan, sich ins Private zurückzuziehen, zunächst aufzugehen. Die nunmehr vierköpfige Familie Schaer bewohnt ein kleines Haus im West-Berliner Stadtteil Hermsdorf, die Söhne wachsen gesund heran, und in den 1950er Jahren kann auch Albert Schaer, dessen beruflicher Weg bis dahin ziemlich unstet verlief, vom Wirtschaftswunder profitieren: Er bekommt eine Festanstellung bei der West-Berliner Stadtverwaltung und sichert der Familie damit ein solides Auskommen.

Doch in den 1960er Jahren erkrankt er schleichend an einer manisch-depressiven Störung, dominiert von manischen Phasen. In regelmäßigen Abständen läuft er zu euphorischer Hochform auf, eilt kreuz und quer durch die ganze Stadt, tätigt Großeinkäufe, die sich die Familie gar nicht leisten kann, und redet, redet, redet ohne Unterlass. Da er überzeugter Kommunist ist, bestehen seine Tiraden zumeist aus antikapitalistischen Parolen, was den Auswüchsen seiner Krankheit zusätzlich eine groteske Note verleiht. Im Familienkreis kommt es zu lautstarken Streitereien. Albert Schaer reagiert aggressiv auf jeden Widerspruch und jede kleinste Störung im Haushalt, er brüllt, wird bisweilen sogar handgreiflich und macht seiner Familie das Leben zur Hölle. In den depressiven Phasen liegt er dann tagelang apathisch im Bett und ist nicht ansprechbar – bis die Euphorie wieder Besitz von ihm ergreift.

Charlotte Schaer und ihre Söhne können das Krankheitsbild lange Zeit überhaupt nicht als solches erkennen und halten Albert einfach für einen hirnlos-cholerischen Tyrannen. Die Söhne raten ihrer Mutter, sich von ihm scheiden zu lassen; doch Charlotte kann auch jetzt nicht vergessen, wie viel sie ihm zu verdanken hat: die Fürsorge, mit der er sie in der düstersten Zeit ihres Lebens umgab, die ersten hoffnungsvollen Jahre ihrer Ehe, das Glück der späten Mutterschaft. Vielleicht spürt sie jenseits aller klinischen Befunde, dass ihr Mann sie gerade jetzt am allermeisten braucht.

So harrt sie bei ihm aus, Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis irgendwann eine Diagnose erfolgt, die ärztliche und menschliche Hilfe ermöglicht. Albert Schaer wird für mehrere Wochen in die Psychiatrie eingewiesen. Später versucht man mit wechselndem Erfolg, seine Schübe mithilfe von Medikamenten zu dämpfen. Schließlich verliert er seine sicher geglaubte Beschäftigung bei der Stadtverwaltung und findet nie wieder eine neue. Was er an Krankengeld beziehungsweise Rente bezieht, reicht jedoch nicht aus, um die Familie über Wasser zu halten.

Zum Glück ist Charlotte, genau wie Magda, als »Verfolgte des Naziregimes« anerkannt und hat damit einen Anspruch auf Renten- und Entschädigungszahlungen, den sie jetzt voll ausreizt – ihre wichtigste Einnahmequelle, zeitweise wohl sogar die einzige. Doch was der Ost-Berliner Schwester anstandslos bewilligt wird, muss sich die West-Berlinerin hart erstreiten. In den Jahren des Kalten Krieges ist alles, was auch nur entfernt den Anschein einer kommunistischen Gesinnung erweckt, für die Behörden ein rotes Tuch. Im Landesverwaltungsamt Berlin, bei dem Charlotte ihre Anträge einreicht, will man alles ganz genau wissen und häuft vor jeder Bearbeitung einen Wust an Formularen und Belegen an. Immer wieder muss Charlotte über Zeugen und Atteste den Nachweis führen, dass sie aus politischen Gründen inhaftiert war und aus ihrer Haftzeit gesundheitliche Schäden davongetragen hat. Jahrelang beschäftigt sie sogar einen Anwalt, der die ergangenen Bescheide anficht und höhere Beträge fordert als die vom Amt bewilligten.

Immerhin wird ihren Forderungen prinzipiell entsprochen, was zur damaligen Zeit keineswegs selbstverständlich ist. Kommunistische Widerstandskämpfer, die Entschädigungen verlangen, werden meist von den Behörden abgewiesen, besonders dann, wenn sie bekennen, auch gegenwärtig in einer kommunistisch ausgerichteten Partei aktiv zu sein. Aber das trifft auf Charlotte ohnehin nicht zu: Sie ist und bleibt politisch völlig untätig. Es scheint, als hüte sie sich, das »gewöhnliche Leben«, das sie nach ihrer Haftzeit kultiviert hat, irgendeiner Erschütterung auszusetzen. Sie will für nichts mehr streiten als für ihre Rente. Sie will sich für niemanden mehr aufopfern als für ihren Mann und ihre Söhne. Sie will die Welt nicht mehr verbessern – mit der Verbesserung des eigenen Familienlebens hat sie mehr als genug zu tun. Es gibt keine folgsamere Bürgerin, keine liebevollere Mutter als sie. Ihren Nachbarn in Hermsdorf muss sie geradezu als Muster der Biederkeit erschienen sein.

Die Gründe für ihre politische Abstinenz mögen mehrschichtig sein. Sicherlich hat Charlotte ihren naiven Glauben an den Kommunismus irgendwann verloren; insbesondere das Schicksal ihres früheren Lebensgefährten Leo Flieg dürfte sie entsetzt und abgestoßen haben. Gleichwohl hat sie sich nicht hinter ihrem Dasein als Hausfrau und Mutter verschanzt. Bis ins hohe Alter verfolgt sie mit regem Interesse das politische Leben und bewahrt sich zeitlebens ihre kapitalismuskritische Gesinnung. Die Schaers wählen links und schalten zu Hause gern das Ostfernsehen ein; doch sie geben Acht, dass nichts von ihren Ansichten je nach außen dringt.

Die Wahrheit ist, dass Charlotte nie mehr ihre Furcht vor dem Staat verliert, dass sie ihn auch jenseits des Dritten Reiches als eine zerstörerische Macht ansieht, die Ungehorsam drakonisch bestraft. Nie hört sie auf, sich bedroht und verfolgt zu fühlen, nie findet sie den Mut und den Kampfgeist wieder, der sie einst angetrieben hat. Als ihr jüngerer Sohn sich der Achtundsechzigerbewegung anschließt, kann sie nachts vor Angst kaum schlafen, wenn sie ihn auf einer Demonstration, einer Flugblattaktion oder einer hitzigen Versammlung weiß. Sie stellt sich vor, er werde zusammengeschlagen, verhaftet, womöglich gar umgebracht – Szenarien, die sie selbst in jungen Jahren oft genug erlebt hat.

Am Ende schlägt ihre Angst in Verfolgungswahn um. In dem Maße, wie ihre Geisteskraft nachlässt, gewinnen die Schrecken der Vergangenheit Raum. Erinnerungen an ihre Zuchthaus- und Lagerzeit werden wieder lebendig: Sie hört die Stimmen der Toten, sieht sich mit ihnen in den eisigen Zellen von Jauer.

Irgendwann kann sie nicht mehr für sich selbst sorgen. Die beiden Söhne bringen ihre Mutter in einem Pflegeheim bei Hannover unter. Dort lebt sie zuletzt in völliger geistiger Umnachtung, ist zu keinem sinnvollen Gespräch mehr fähig und ihren Ängsten hilflos ausgeliefert. Charlotte Schaer stirbt am 1. Februar 1985.

Beide Gehrmann-Schwestern enden als unglückliche Frauen. Jenseits aller Zufälle hat dies auch historische Gründe. Sie wachsen in einer extrem politisierten Zeit auf und stellen ihr Leben von Jugend an unter ein strikt politisches Regiment. Der reißende Strudel der Politisierung, in den sie hineingerissen werden, verleiht ihrem Leben Größe und Besonderheit, ist zugleich aber auch die Quelle ihrer Leiden und ihres Scheiterns. Am Ende müssen sie erkennen, dass die »große Sache«, an die sie glaubten und von der sie sich Erfüllung versprachen, sie genarrt und betrogen hat. Für Magda bleibt eine enge Wohnung in einem geistig engen Land, wo sie nostalgisch von ihrer großen Zeit träumt. Charlotte will sich aus dem reißenden Strudel der Politisierung befreien und ein bürgerliches Leben führen, doch die Geister der Vergangenheit lassen sie nicht los.

Magda und Charlotte Gehrmann, zwei Frauen aus dem Fußvolk der Geschichte. Doch in ihren Schicksalen spiegelt sich der Lauf der kommunistischen Bewegung: Aufstieg und Niedergang, Hoffnung und Enttäuschung, Engagement und Resignation.

1 Siehe Tanja Stern: Der Apparat und die Seele, Berlin 2012. Der vorliegende Aufsatz ist ein Teil der dort ausgeführten Gehrmann-Stern’schen Familiengeschichte. Sie wurde überwiegend aus nachgelassenen familieninternen Informationen und Dokumenten – Briefen, Lebensläufen, Berichten u. Ä. – recherchiert, die hier nicht näher spezifiziert sind. Weiteres Material zu den genannten Personen fand sich im Berliner Bundesarchiv, im Brandenburgischen Landeshauptarchiv, im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Stattssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und im Museum Neukölln. Eine Auswahl der ergänzenden Quellen wird im Folgenden angegeben.

2 Siehe u. a. Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004, S. 763 f.

3 Siehe u. a. Hans-Christoph Rauh: Stern, Victor, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hg): Wer war wer in der DDR?, Bd. 2, 5. aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Berlin 2010, S. 1276.

4 Siehe u. a. Siegfried Grundmann: Richard Großkopf und die kommunstische Passfälscherorganisation, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 40 (2004), H. 4, S. 423–464.

5 Urteil des Berliner Kammergerichts zum Az. O. J. 966/33 vom 16. Mai 1934, S. 2, Bundesarchiv,
R 3018 (alt NJ)/10208.

6 So schildert sie es u. a. in einem Schreiben vom 15. Juni 1953 an das Entschädigungsamt Berlin-Wilmersdorf, wo sie Entschädigungszahlungen als Verfolgte des Naziregimes beantragt.

7 Urteil des Berliner Kammergerichts (Anm. 5), S. 7.

8 Ebd.

9 Siehe u. a. Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Prenzlauer Berg und Weißensee (= Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945, Bd. 12, hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand), Berlin 2000.

10 Siehe u. a. Was ist denn mit der Frau los. Erlebnisbericht von Lisa Ullrich, in: Junge Welt, Wochenendbeilage, 16. August 2014, S. 6.

11 Siehe u. a. Ulla Plener/Natalia Mussienko (Hg.): Verurteilt zur Höchststrafe: Tod durch Erschießen, (= Rosa-Luxemburg-Stiftung, Texte 27), Berlin 2006, S. 34 f.

12 Siehe u. a. Günter Gleising: Heinz Renner – eine politische Biografie, Köln 1997.

13 In Magdas Kaderakte bei der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, die im Archiv des BStU verwahrt wird, findet sich eine interne »Charakteristik« der SED-Betriebsgruppe vom 21. Februar 1950, die Magdas Charakter und Verhalten äußerst kritisch bewertet.

Inhalt – JHK 2015

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Kurzbiografie

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