Die Erkenntnis, dass man seine Vergangenheit nicht einfach abschütteln kann, dass sie immer ein Stück von einem bleiben wird, mit dem man leben muss, ist eine Binsenweisheit. Über die Nachwirkungen der Vergangenheit in unserem individuellen Bewusstsein und in unseren gesellschaftlichen Orientierungen, in unseren persönlichen Erinnerungen und Erfahrungsbildern gibt es mittlerweile eine breit gefächerte Forschungsliteratur. Die von Marcel Proust in seinem siebenbändigen Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vermittelte Einsicht, dass die Vergegenwärtigung der Vergangenheit aus sehr unterschiedlichen Deutungsperspektiven erfolgt, in denen sich Geschichte und Gegenwart gleichermaßen widerspiegeln, gilt nicht nur für die Spurensuche in der eigenen Biografie. Sie gilt auch für Parteien und Nationen. Sobald Parteien ein bestimmtes Alter erreicht haben, gehört die historische Selbstvergewisserung durch Rückblicke auf die eigene Geschichte zur Substanz ihrer Identität und ihres Werteverständnisses. Insbesondere für die aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Parteien mit einer mehr als hundertjährigen Geschichte hat der Blick zurück eine wichtige Orientierungsfunktion für die Gegenwart und die Zukunft.
Diese Auffassung vertritt auch der Ältestenrat der Linkspartei in einer Grundsatzerklärung, in der es heißt, die Partei Die Linke solle sich »zu einem ihrem politischen Profil entsprechenden Geschichtsverständnis bekennen«, weil sich darin »stets ihre politische Positionierung zur Gegenwart und Zukunft« widerspiegele. Denn in jeder Partei gebe es »unverkennbar ein enges Wechselverhältnis zwischen ihrem vorherrschenden und in die Öffentlichkeit getragenen Geschichtsverständnis und ihrer aktuellen Politik«.1 Nicht anders definiert man auch in den Führungsgremien der Sozialdemokratie den Zusammenhang von Geschichtsverständnis und aktueller Politik für die eigene Partei. Nicht zufällig verfügen deshalb auch beide Parteien über von ihren Vorständen berufene historische Kommissionen, die den Prozess ihrer geschichtlichen Selbstvergewisserung als Experten begleiten sollen.
Ohne Zweifel hat der derzeit viel diskutierte politisch-programmatische Klärungsprozess zwischen Linkspartei und Sozialdemokratie auch eine historische Dimension, wie man aus den geschichtspolitischen Veröffentlichungen ersehen kann. Diese besitzen bei allen mit Blick auf die nächste Bundestagswahl angestellten Koalitionsüberlegungen eine eigene, nicht zu unterschätzende Bedeutung, weil sich in ihnen die kollektive Seelenlage der beiden Parteien in ihren verschiedenen historischen Facetten widerspiegelt.
Bilanziert man heute, also ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR, die geschichtspolitischen Standpunkte und Sichtweisen der Linkspartei und der Sozialdemokratie, so findet man eine Reihe von interpretatorischen Übereinstimmungen, vor allem wenn es um die politischen und programmatischen Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung als proletarische Emanzipationsbewegung in den Revolutionsjahren von 1848/49 oder um den Aufstieg der Sozialdemokratie zur proletarischen Massenpartei bis zum Ersten Weltkrieg geht. Doch für die dann folgenden Jahrzehnte, die das 20. Jahrhundert zu einem Zeitalter der Extreme werden ließen, kann man nicht mehr von einem gemeinsamen Geschichtsbild der beiden Parteien sprechen. Denn die mit der Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung im und nach dem Ersten Weltkrieg aufgebrochenen prinzipiellen Unterschiede zwischen dem revolutionären Radikalismus der kommunistischen Linken und dem parlamentarischen Reformismus der Sozialdemokratie wirken bis heute nach. Dieses programmatische Erbe hat in den aktuellen politischen Kontroversen zwischen Linkspartei und SPD immer noch ein nicht zu unterschätzendes Eigengewicht.
Da für beide Parteien der Zusammenhang zwischen Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartsanalysen und Zukunftsperspektiven einen besonderen Stellenwert besitzt, ist für sie die Diskussion über historische Streitfragen mehr als nur ein rechthaberischer Rückblick auf die Welt von gestern. Denn sie wissen, dass ihre politische und moralische Glaubwürdigkeit auch aus dem selbstkritischen Umgang mit der eigenen Geschichte und aus dem Dialog mit Andersdenkenden erwachsen muss. Hierzu gehört für beide Parteien die Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wurzeln in der Ära der frühen Arbeiterbewegung, als diese das »Banner der Brüderlichkeit« entfaltete.2 Hierzu gehört aber auch eine umfassende und fundierte Analyse der Spaltung der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden besonders konfrontativen Ära der Weimarer Republik, die mit der Zerschlagung von KPD und SPD durch den Nationalsozialismus endete. Hierzu gehört ferner die Aufarbeitung der Geschichte des geteilten Deutschland zwischen 1945 und 1989. Schließlich gehört hierzu insbesondere eine prinzipielle Auseinandersetzung mit der kommunistischen Erblast des Leninismus und des Stalinismus sowie eine prägnante Definition der programmatischen Substanz des demokratischen Sozialismus, der heute auch von der Linkspartei als Fundament ihres Selbstverständnisses bezeichnet wird. Dass die SPD für die Programmatik des demokratischen Sozialismus die historischen Urheberrechte besitzt, wird von der Linkspartei dabei allerdings verschwiegen.
Die Linkspartei wurde im Sommer 2007 als ein Zusammenschluss der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), der ostdeutschen Nachfolgepartei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), mit heterogenen politischen und fundamentalistischen Randgruppen aus Westdeutschland gegründet. Wohl auch deshalb gab sie sich mit ihrem plakativen Namen »Die Linke« ein vieldeutiges Label. Diese Vieldeutigkeit spiegelt sich auch in ihren geschichtspolitischen Positionen wider. Das Spektrum reicht von apologetischen Kernsätzen, die an parteikommunistische Auffassungen nahtlos anknüpfen, bis hin zu selbstkritischen Abgrenzungen von diesem Erbe. Die Linkspartei betont ihre Verwurzelung in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und beruft sich dabei auf Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Zugleich will sie sich auch an Traditionen orientieren, für die Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als revolutionäre Kronzeugen stehen. In dieser Ahnengalerie fehlen nicht zufällig Ferdinand Lassalle, Karl Kautsky oder Eduard Bernstein, obwohl mit deren Namen die Programmatik des demokratischen Sozialismus untrennbar verbunden ist.
Analysiert man die historische Selbstverortung der Linkspartei in ihrem Programm von 2011, dann stößt man auf ein geschichtspolitisches Denken, das an die Argumentationsmuster der klassischen Arbeiterbewegung anknüpft. Prinzipiell orientiert sich die Partei an der Vorstellung, »in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung« zu stehen, dessen Verlauf von vielen Reformschritten, aber auch »von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe« geprägt werde.3 Es handelt sich hierbei also – zugespitzt formuliert – um eine Interpretation, die sich stark an überkommenen linken Utopien sowie an der zukunftsgewissen Selbstgewissheit der Sozialdemokratie im späten 19. Jahrhundert orientiert, also an einem sozialistischen Fortschrittsglauben, der wie eine säkulare Heilslehre auftrat, als die SPD im Kaiserreich prophetisch verkündete, mit ihr ziehe die neue Zeit.
Dieser auf einen sozialistischen »Zukunftsstaat« hinführende Optimismus der Linkspartei ist der Sozialdemokratie im Laufe ihrer Geschichte mehr und mehr abhanden gekommen. Die im Erfurter Programm von 1891 noch formulierte Prognose von einer sich »mit Naturnotwendigkeit« vollziehenden Spaltung der modernen Industriegesellschaft in »zwei feindliche Heerlager« wurde schon wenige Jahre später von den Parteitheoretikern Kautsky und Bernstein infrage gestellt. Beide wandten sich entschieden gegen deterministische Festlegungen und gegen die visionäre Vorwegnahme künftiger Entwicklungen, wie sie beispielsweise der Parteivorsitzende Bebel immer wieder ausgemalt hatte, wenn er den »großen Kladderadatsch« der bürgerlichen Gesellschaft für die nahe Zukunft vorhersagte. Die von Bernstein entwickelten programmatischen Leitlinien verabschiedeten sich von der Vorstellung, dass der Geschichtsprozess gesetzmäßig ablaufe und von revolutionären Schüben stetig vorangetrieben werde. Bernstein setzte vielmehr auf eine Strategie, die den Kapitalismus durch Reformen humanisieren wollte. Für ihn war die Republik der einzig denkbare politische Handlungsraum, in dem sich Staat und Gesellschaft in freier Selbstbestimmung entwickeln konnten. Bernsteins evolutionäres Modernisierungskonzept, in dem der demokratische Sozialismus sich Schritt für Schritt verwirklichen sollte, markierte eine klare Gegenposition zu Auffassungen, die auf einen revolutionären Sprung in das Reich der Freiheit setzten und den von ihm analysierten widerspruchsvollen und von Rückschlägen geprägten Weg des Reformismus vermeiden wollten.4
Bis heute spiegeln sich diese Unterschiede zwischen einem parteimarxistisch inspirierten Utopismus und einem reformistischen Pragmatismus in den Geschichtsbildern der Linkspartei und der Sozialdemokratie noch deutlich wider, wenn es darum geht, das eigene Selbstverständnis und die eigenen programmatischen Sichtweisen historisch zu legitimieren. Wo diese Bruchstellen zwischen Linkspartei und Sozialdemokratie liegen, kann man an ihren Diskussionen über Streitfragen in der deutschen Geschichte besonders gut erkennen. Hier reicht das Themenspektrum von der Bewilligung der Kriegskredite durch die Reichstagsfraktion der SPD im August 1914 und der von ihr dann im Ersten Weltkrieg verfolgten Burgfriedenspolitik über die unterschiedliche Beurteilung des revolutionären Umbruchs von 1918/19 bis zur kampflosen Kapitulation der Arbeiterbewegung in der Endphase der Weimarer Republik. Auch die Geschichte des geteilten Deutschland in der Ära des Kalten Krieges bietet eine Vielzahl von Ansatzpunkten für geschichtspolitische Kontroversen, beispielsweise bei der Bewertung des Gründungsprozesses der SED oder der Charakterisierung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR. Bei der Interpretation des Mauerbaus von 1961 setzen Linkspartei und Sozialdemokratie ebenfalls unterschiedliche Akzente. Auch die Antworten auf die Frage, warum ausgerechnet in der sich als »realsozialistisch« bezeichnenden DDR eine erfolgreiche friedliche Revolution stattfand, in der die Menschen sich ihre individuelle Freiheit gegen einen sie bevormundenden Überwachungsstaat erkämpften, fallen in der Linkspartei anders aus als in der SPD.
Setzt man sich mit den wissenschaftlichen Maßstäben und inhaltlichen Bewertungen in der Geschichtspolitik der Linkspartei und der Sozialdemokratie auseinander, stößt man immer wieder auf nicht miteinander vereinbare Deutungsperspektiven, die sich auch auf ein unterschiedliches Demokratieverständnis zurückführen lassen. Das historische Gedächtnis der beiden Parteien orientiert sich nämlich an demokratietheoretischen Richtmarken, die nur selten oder gar nicht deckungsgleich sind. Als exemplarisch hierfür kann der Umgang mit der Geschichte der Weimarer Republik gelten.
Immer noch wird die Sozialdemokratische Partei in Grundsatzerklärungen der Historischen Kommission der Linkspartei als eine Partei charakterisiert, deren Führung in den Revolutionsmonaten 1918/19 »mit dem Geld der Wirtschaft und der Waffengewalt des weißgardistischen Militärs« die Republikgründung »auf ungehemmt bürgerlich-kapitalistische Strukturen und Ziele« begrenzt und mit dieser Politik die »maximal-demokratischen Möglichkeiten der Revolution« verfehlt habe.5 Die Linkspartei hält also im Kern an der Verratsthese der SED und damit an einer dogmatisch fixierten marxistisch-leninistischen Forschungsposition fest, die differenzierte Analysen zum Revolutionsverlauf, zu den Entscheidungsalternativen und zu den konkreten Kräfteverhältnissen bei der Gründung der Weimarer Republik weitgehend ausblendet oder völlig ignoriert.
Auch wenn man nach den in der Umbruchzeit von 1918/19 verpassten Chancen fragen muss und darüber diskutieren kann, ob die sozialdemokratischen Staatsgründer über einen breiteren, von ihnen nicht genutzten Handlungsspielraum verfügten, um der Republik ein krisenfesteres Fundament zu geben, wird man nicht um den zentralen Befund herumkommen, dass es das Verdienst der sozialdemokratischen Revolutionsregierung war, in Deutschland eine parlamentarische Demokratie zu begründen. Welche »maximal-demokratischen Möglichkeiten« sie dabei verfehlt hat, erläutert der Sprecherrat der Historischen Kommission der Linkspartei in seiner Erklärung vom 30. Oktober 2008 jedoch nicht. Weder diskutiert er die keineswegs triviale Frage, wo die Möglichkeiten und Grenzen eines revolutionären Umbruchs in hochindustrialisierten Gesellschaften liegen, noch würdigt er den von der SPD vorangetriebenen fundamentalen Verfassungswandel, mit dem diese den Systemwechsel vom kaiserlichen Obrigkeitsstaat zur parlamentarischen Republik verwirklichte und legitimierte.6
Die Behauptung von prominenten Historikern der Linkspartei, dass für die Gründer der KPD »die Grund- und Freiheitsrechte nicht weiter zu hinterfragende Standards« gewesen seien,7 wird man mit Blick auf die Entstehung und die Geschichte der Kommunistischen Partei in der Weimarer Republik mit Fug und Recht anzweifeln können. Beleuchtet man nämlich den militanten antirepublikanischen Aktivismus der KPD, der das Kennzeichen der Partei von ihrer Gründung bis zu ihrer Zerschlagung durch den Nationalsozialismus blieb, dann kommt man zu anderen Befunden. Zwischen der Umsturzstrategie der Kommunisten, die sich die russische Oktoberrevolution von 1917 zum Vorbild nahmen und ein Sowjetdeutschland schaffen wollten, und der auf einen schrittweisen Ausbau der sozialen Demokratie setzenden Politik der SPD ließ sich während der Weimarer Republik keine tragfähige Brücke bauen.
Zu dieser Einsicht kommt übrigens mittlerweile auch eine Stellungnahme des Sprecherrates der Historischen Kommission der Linkspartei vom Januar 2013, in der es heißt, die KPD habe in der Weimarer Republik eine »fehlgeleitete Strategie« verfolgt und an »falschen Fronten« gekämpft.8 Merkwürdigerweise fehlt in dieser aktuellen Erklärung zur Machtauslieferung an die Nationalsozialisten jedoch die Auseinandersetzung mit der verhängnisvollen Sozialfaschismusdoktrin der KPD. Diese Doktrin, von der sich die PDS als Nachfolgepartei der SED in ihrer Gründungsphase noch eindeutig distanziert hatte, lieferte nämlich die ideologische Begründung für die programmatisch und politisch folgenreiche falsche Frontstellung der KPD in der Endphase der Weimarer Republik.9 Der vom Sprecherrat der Historischen Kommission der Linkspartei ebenfalls angesprochene »Zustand der Selbstblockade und der Lähmung« der deutschen Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Nationalsozialismus wird nun zwar nicht mehr einseitig auf dem Schuldkonto der SPD verbucht. Aber immer noch heißt es, die »rechte Führung der SPD« habe, »geblendet durch ihren Antikommunismus, wichtige Errungenschaften der Weimarer Demokratie preisgegeben«. Was damit eigentlich gemeint ist und für welche »Errungenschaften« die KPD in der Weimarer Republik kämpfte, bleibt ausgeklammert.10
Für die sozialdemokratische Geschichtsschreibung ist die kampflose Kapitulation der eigenen Partei vor dem Nationalsozialismus ebenfalls eine historische Last. Man diskutiert darüber, warum die Kraft der SPD unter dem Doppeldruck von politischer Radikalisierung und Wirtschaftskrise ab 1930 immer mehr erlahmte und fragt, weshalb ihre auf Zeitgewinn setzende Ermattungsstrategie gegen die autoritär regierenden Präsidialkabinette ebenso erfolglos blieb wie ihr defensiver Legalismus in den ersten Monaten nach der Machtauslieferung an den Nationalsozialismus. Die in der SPD zeitweise auf Resonanz stoßende These, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung hätte dem Nationalsozialismus nicht nur mit Worten, sondern auch mit Waffen gegenübertreten müssen, hat in der Hausgeschichtsschreibung der Partei heute keine namhaften Anhänger mehr. Zweifellos mangelte es der Sozialdemokratie in der Endphase der Weimarer Republik aber nicht nur an Bündnispartnern, die es links von ihr auch nicht gab, sondern auch an innovativen eigenen Gestaltungsideen, mit denen sie mehr Menschen zum Widerstand gegen die Zertrümmerung der Demokratie hätte mobilisieren können.
In den Geschichtsbildern, die von der Linkspartei und der SPD für die Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit gezeichnet wurden, spiegeln sich oft persönliche Prägungen der Autoren durch ihre politische Sozialisation in West- oder Ostdeutschland wider. Während die SPD-nahe Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik den Wandel der Sozialdemokratie zur Volkspartei nach der programmatischen Neuorientierung von Godesberg und ihre Reformerfolge als Regierungspartei in den 1960er und 1970er Jahren mit selbstbewusstem Stolz präsentiert, haben sich die zumeist in der DDR groß gewordenen Historiker der Linkspartei mit der Erblast der SED-Herrschaft und den Ursachen ihres Scheiterns auch aus persönlicher Betroffenheit auseinanderzusetzen. Ihre postkommunistische Fehleranalyse hat deshalb oft eine historiografische Grundierung, in der sich Selbstkritik und Selbstrechtfertigung miteinander vermischen. Dies ist jedoch auch darauf zurückzuführen, dass in der Linkspartei programmatisch sehr unterschiedlich orientierte Diskursgruppen um die Deutungshoheit über die Parteigeschichte kämpfen. Die ideologische Bandbreite dieser Gruppen reicht organisatorisch von der marxistisch-orthodoxen Kommunistischen Plattform bis zum reformorientierten Forum Demokratischer Sozialismus.
In der Geschichtspolitik der Linkspartei steht deshalb immer wieder die Grundsatzfrage im Mittelpunkt, inwieweit eine Distanzierung von der kommunistischen Vergangenheit für die eigene Glaubwürdigkeit dringend erforderlich ist. Zugleich streitet man aber auch darüber, wo die politischen und ideologischen Grenzen für eine rigorose Abrechnung mit der eigenen Geschichte liegen, wenn man die programmatische Identität der Partei nicht infrage stellen will. Wie weit die Meinungen hier voneinander abweichen, kann man an den immer wieder aufbrechenden innerparteilichen Kontroversen über die Bewertung des Leninismus,11 die emanzipatorische Ausstrahlung der russischen Oktoberrevolution12 oder die prinzipiell als »unwiderruflich« bezeichnete Absage an den Stalinismus erkennen.13 Hinzu kommt ein oft nur »halbherziger Revisionismus«, wenn es darum geht, sich von der SED als der eigenen Vorgängerpartei und von den mit ihrem Namen verbundenen politischen und ideologischen Altlasten zu distanzieren.14 Die Neigung, für alle Strömungen in der Partei ein konsensfähiges Geschichtsbild zu zeichnen, lässt sich in den um den innerparteilichen Frieden bemühten Stellungnahmen des Sprecherrates der Historischen Kommission der Linkspartei immer wieder deutlich erkennen. Dass die dort vertretenen Positionen sich allenfalls partiell mit den Positionen der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung decken können, liegt auf der Hand.
Dies könnte man beispielsweise ausführlich an den kontroversen Diskussionen zwischen den Historikern der beiden Parteien über die Gründungsgeschichte der SED beleuchten. Aus der Sicht der Sozialdemokratie ist die gezielte Ausschaltung der SPD in der Ostzone als eine »Zwangsvereinigung« mit der von Moskau aus gelenkten KPD zu bewerten, während diese Charakterisierung des Zusammenschlusses in der Linkspartei immer noch als ein Kampfbegriff aus dem Kalten Krieg zurückgewiesen wird. Bis heute besteht hier zwischen den Interpretationen beider Parteien eine erinnerungspolitische Kluft. Sind für die SPD die massiven Repressions- und Verfolgungsmaßnahmen gegen ihre Mitglieder in der Ostzone ein Beleg für den dort grenzenlosen kommunistischen Herrschaftsanspruch, so verweist die Linkspartei auf die hier im Frühjahr 1946 vielerorts unter der Parole der Einheit vollzogene freiwillige Verschmelzung von KPD und SPD. Fraglos wurden dabei aber auch massive politische Druckmittel eingesetzt und stalinistische Terrorpraktiken angewandt, die im historischen Gedächtnis der Sozialdemokratie fest verankert sind.15 Der von Historikern der Linkspartei mittlerweile als »undemokratischer Geburtsfehler«16 charakterisierte Gründungsprozess der SED überschattete die Beziehungen der SPD zur Staatspartei der DDR bis zu deren Ende. Dieser »Geburtsfehler« gehört bis heute zur historischen Last der Linkspartei und ist zugleich ein erinnerungspolitischer Markstein im historischen Gedächtnis der SPD.
Aber auch bei der Bewertung anderer Schlüsselsituationen in der Geschichte der DDR weichen die Interpretationen der Historiker der beiden Parteien voneinander ab. Die Erforschung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR wird von der Historischen Kommission der Linkspartei immer noch »im Bannkreis politischer Interessen« verortet, weil die Einordnung der Massenproteste gegen die SED-Herrschaft in der Erinnerungskultur nach wie vor von Deutungsmustern des Kalten Krieges überformt sei. Dass es mittlerweile sehr umfassende zeithistorische Analysen der Vorgänge im Juni 1953 gibt, die man nicht mehr mit dem Etikett Konfrontationshistoriografie des Kalten Krieges abwerten kann, verschweigt diese Stellungnahme der Historischen Kommission der Linkspartei aus dem Jahr 2013. Indem ihre Autoren »den sowjetischen Truppen ein maßvolles Vorgehen bescheinigen«17 und kein Wort über die Todesopfer, Hinrichtungen und Massenverhaftungen im Juni 1953 verlieren, dokumentieren sie zudem noch eine deprimierende Geschichtsvergessenheit.
Natürlich ist auch der Mauerbau von 1961 buchstäblich ein Stein des Anstoßes für die Historiker in West und Ost geblieben. Hier kam die Historische Kommission der Linkspartei fünfzig Jahre später zu eindeutigen Befunden,18 als sie betonte, mit den Grenzsicherungsmaßnahmen sei die Idee des Sozialismus missbraucht und diskreditiert worden. Daraus zieht die Kommission dann die auf die Zukunft zielende Schlussfolgerung: »Sozialismus braucht Mehrheiten und kann nicht erzwungen werden.« Diese einleuchtende programmatische Position wird anschließend mit einem Zitat Rosa Luxemburgs aus dem Spartakusprogramm vom Dezember 1918 in absurder Weise »untermauert«. Die Kronzeugin der Linkspartei betont in diesem Zitat nämlich, man brauche keine Partei, »die über die Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will«. Die Regierungsgewalt dürfe nie anders übernommen werden »als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in Deutschland«. Ihre im Dezember 1918 eingenommene Haltung war aber die revolutionäre Absage Rosa Luxemburgs an die parteienstaatliche Demokratie und an die Suche nach parlamentarischen Mehrheiten jenseits von Klassengrenzen.
Diese eindeutige Gegenposition zum republikanischen Pluralismus und zu Koalitionen und Kompromissen mit bürgerlichen Parteien markierte in der Revolution von 1918/19 die entscheidende Bruchstelle zwischen dem sozialdemokratischen und dem kommunistischen Demokratieverständnis. Wenn die Linkspartei sich heute immer noch auf Rosa Luxemburg beruft, um den »selbstbestimmten und demokratischen Sozialismus« der Partei historisch zu legitimieren, dann orientiert sie sich an einer zweifelhaften Ratgeberin, wenn es um Regierungsbündnisse mit der Sozialdemokratie geht. Die Turmwächter der radikal-marxistischen Tradition, unter denen Rosa Luxemburg einen der prominentesten Plätze in der Linkspartei einnimmt, eignen sich also nicht unbedingt als Vordenker für die aktuelle Politik der Partei. Ganz generell gilt für die Linkspartei und auch für die Sozialdemokratie beim Umgang mit der eigenen Geschichte die Einsicht: Verantwortliches politisches Handeln in der Gegenwart, das dem Postulat der Aufklärung verpflichtet ist, sollte sich nicht nur an historischen Lehrmeistern orientieren.
1 »Anregungen zum Umgang mit der Geschichte. Erklärung des Ältestenrats der Partei Die Linke« vom 16. Juli 2008. Zitiert nach: www.die-linke.de/partei/geschichte/anregungen-zum-umgang-mit-der-geschichte, ges. am 11. November 2014.
2 Siehe dazu die umfassende Darstellung von Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000.
3 »Programm der Partei Die Linke. Beschluss des Parteitags der Partei Die Linke vom 21./22./23. Oktober 2011 in Erfurt.« Zitiert nach: www.die-linke.de/partei/dokumente/programm-der-partei-die-linke, ges. am 24. November 2014.
4 Siehe dazu Thomas Meyer: Bernsteins konstruktiver Sozialismus. Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozialismus, Bonn 1982.
5 »Die revolutionäre Geburtsstunde der deutschen Demokratie. Erklärung des Sprecherrates der Historischen Kommission der Linken zum 90. Jahrestag der deutschen Revolution von 1918/19« vom 30. Oktober 2008. Zitiert nach: www.die-linke.de/partei/weitere-strukturen/berufene-gremien/historische-kommission/erklaerungen-und-stellungnahmen/die-revolutionaere-geburtsstunde-der-deutschen-demokratie/, ges. am 24. November 2014.
6 Zum aktuellen Forschungsstand in der Revolutionsforschung siehe Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, 8. überarb. und erw. Aufl., München 2013, S. 166–179.
7 Klaus Kinner/Elke Reuter: Der deutsche Kommunismus als Quelle emanzipatorischer Politik, in: Klaus Kinner (Hg.): Die Linke – Erbe und Tradition. Teil 1: Kommunistische und sozialdemokratische Wurzeln (= Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, Bd. XI), Berlin 2010, S. 171–188, Zitat S. 172.
8 So der Sprecherrat der Historischen Kommission der Linkspartei in: »Zum 80. Jahrestag der Machtübernahme des Hitlerfaschismus. Erklärung der Historischen Kommission beim Vorstand der Partei Die Linke« vom 22. Januar 2013. Zitiert nach: www.die-linke.de/partei/weitere-strukturen/berufene-gremien/historische-kommission/erklaerungen-und-stellungnahmen/zum-80-jahrestag-der-machtuebernahme-des-hitlerfaschismus/, ges. am 24. November 2014.
9 Siehe dazu Hermann Weber: Hauptfeind Sozialdemokratie. Strategie und Taktik der KPD 1929–1933, Düsseldorf 1981.
10 Siehe zu den unterschiedlichen Positionen beider Parteien in der Weimarer Republik Klaus Schönhoven: Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989.
11 Der Ältestenrat der Linkspartei betont in seinen »Anregungen zum Umgang mit der Geschichte« (Anm. 1) die Bedeutung der Traditionspflege auch mit Blick auf Lenin, »der entgegen allen Verleumdungen einen bleibenden Beitrag zum heute nicht minder aktuellen wissenschaftlichen Sozialismus geleistet« habe.
12 In »Verzicht auf Borniertheit. Nachdenken über den Umgang mit der Oktoberrevolution« spricht Stefan Bollinger, ein führender Historiker der Linkspartei, in der Mitgliederzeitschrift »Disput« einerseits die Opfer und Verbrechen in der Sowjetunion an und betont andererseits, man müsse aber auch »die zumindest zeitweise wirksame Vorbildfunktion« und die »praktischen Verbesserungen im Leben unterm Roten Stern« im Ostblock im Auge behalten. Dieses Leben habe »zivilisatorische Leistungen« hervorgebracht und eine »Fern- und Beispielwirkung auch auf die westlichen Länder und ihre Arbeiterbewegung wie auf die Befreiung der Kolonien dieser Welt« entfaltet. Zitiert nach: www.die-linke.de/politik/disput/archiv/detail/archiv/2007/oktober/browse/2/zurueck/archiv-1/artikel/verzicht-auf-borniertheit/, ges. am 24. November 2014.
13 Siehe hierzu die Auseinandersetzungen über die Anbringung einer Gedenktafel an der Parteizentrale der Linkspartei im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, mit der die Partei an die Verfolgung und Ermordung von zahlreichen Kommunisten in der Sowjetunion während der stalinistischen »Säuberungen« erinnern wollte. Vor der offiziellen Enthüllung dieser Gedenktafel im Dezember 2013 bezeichnete Hans Modrow, der letzte Vorsitzende des Ministerrates der DDR und Vorsitzende des Ältestenrates der Linkspartei, die Anbringung dieser Tafel als die Errichtung einer »Klagemauer gegen die Sowjetunion« und monierte, dass die Erinnerungskultur der Linken sich immer mehr dem »antikommunistischen Zeitgeist« anpasse. Siehe dazu die scharfe Gegenposition von Michael Brie, der als theoretischer Vordenker der Linkspartei in den innerparteilichen Debatten viele Akzente gesetzt hat: Stalins kommunistische Opfer, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 61 (2014), H. 4, S. 41–44.
14 Der Ältestenrat der Linkspartei hält »es für erforderlich, eine bisher oftmals noch vorherrschende Konzentration auf eine Distanzierung von der Politik sozialistischer Führungskräfte im 20. Jahrhundert, von damaligen Unzulässigkeiten, Fehlern, sonstigen negativen Handlungen und ihren nachwirkenden Folgen zu überwinden«. Er spricht sich ebenfalls für eine »Verurteilung von Untaten, die im Namen des Sozialismus begangen wurden«, aus. Aber diese Aussage relativiert er sogleich mit der Feststellung: »Nur sollte man nach unserer Auffassung nicht der Benennung von Fehlern den dominierenden Platz einräumen.« »Anregungen zum Umgang mit der Geschichte« (Anm. 1). Siehe dazu grundsätzlich die Beiträge in dem von Rainer Eckert und Bernd Faulenbach hrsg. Sammelband: Halbherziger Revisionismus. Zum postkommunistischen Geschichtsbild, München 1996.
15 Siehe dazu Bernd Faulenbach/Heinrich Potthoff (Hg.): Sozialdemokraten und Kommunisten nach Nationalsozialismus und Krieg. Zur historischen Einordnung der Zwangsvereinigung, Essen 1998.
16 So Stefan Bollinger: Erbe und Tradition der SED für die Linke, in: Kinner: Die Linke (Anm. 7), S. 230–282, Zitat S. 237.
17 Siehe »Der 17. Juni 1953 im Bannkreis politischer Interessen. Stellungnahme des Sprecherrates der Historischen Kommission« vom 14. Mai 2013, in: www.die-linke.de/partei/weitere-strukturen/berufene-gremien/historische-kommission/erklaerungen-und-stellungnahmen/der-17-juni-1953-im-bannkreis-politischer-interessen/, ges. 24. November 2014. Zum aktuellen Forschungsstand siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953. Geschichte eines Aufstands, München 2013.
18 Siehe hierzu »Zum 50. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer. Erklärung der Historischen Kommission der Partei Die Linke.« vom 14. Juni 2011. Zitiert nach: www.die-linke.de/partei/weitere-strukturen/berufene-gremien/historische-kommission/erklaerungen-und-stellungnahmen/zum-50-jahrestag-des-baus-der-berliner-mauer/, ges. am 24. November 2014.