JHK 2015

Wilhelm Lamszus’ Reflexionen über die Ursachen kommunistischer Gewaltherrschaft

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 199-216 | Metropol Verlag

Autor/in: Andreas Pehnke

Wilhelm Lamszus engagierte sich über ein halbes Jahrhundert hinweg als Schriftsteller und Schulreformer für Frieden, Völkerverständigung sowie pädagogischen Fortschritt. Dennoch ist er weitgehend in Vergessenheit geraten. Verantwortlich für die begrenzte Rezeption seines Werkes ist vor allem der Ost-West-Konflikt. Das Aufkommen des Kalten Krieges seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als sich mit den vormalig Alliierten nun – geführt von den USA auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite – die Supermächte als erbitterte Feinde gegenüberstanden, und dessen Zuspitzung im Zuge der Wiederbewaffnung ließen für Persönlichkeiten wie Lamszus wenig Chancen auf Öffentlichkeit. Dieser sah sich selbst in diesen gesellschaftspolitischen Konfliktlagen des geteilten Deutschland als Vermittler zwischen den Fronten.

Biografische Vorbemerkungen

Wilhelm Lamszus wurde am 13. Juli 1881 im damals noch eigenständigen Altona geboren. Der Reformpädagoge, der 1902 in den Hamburger Schuldienst eintrat, wurde in der Wilhelminischen Ära vor allem durch seine – gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Adolf Jensen1 – herausgegebenen Streitschriften Unser Schulaufsatz ein verkappter Schundliterat (1910), Der Weg zum eigenen Stil (1912) und Poesie in Not (1913) zur Reform des Deutschunterrichts überregional bekannt. Ihre polemische Kraft und Emphase unterscheidet diese Titel grundlegend von ähnlicher Literatur der Zeit.2 Namhafte Schriftsteller wie Carl und Gerhart Hauptmann, Heinrich und Thomas Mann, Richard Dehmel, Arno Holz, Erich Mühsam und Herbert Eulenberg begrüßten dieses reformpädagogische Engagement. Als es in der Weimarer Republik erstmals möglich wurde, staatliche Modellschulen zu gründen, avancierte Lamszus 1920 zum kreativen Versuchsschullehrer in Tieloh-Süd, einem Arbeiterviertel in Hamburg-Barmbek, darüber hinaus betreute er weitere Versuchsschulgründungen zunächst in Gera sowie später in Braunschweig. 1930 wechselte er, nachdem sich seine Berufung zum Professor für Didaktik des Deutschunterrichts an der Technischen Hochschule Braunschweig zerschlug, weil dort in den Septemberwahlen 1930 der Übergang der Regierungsgewalt an eine nationalsozialistische Koalitionsregierung eingeleitet worden war, an die neu eröffnete Meerweinschule, eine reformpädagogisch inspirierte Gemeinschaftsschule in der Hamburger Jarrestadt.

Noch viel größere Aufmerksamkeit erlangte Wilhelm Lamszus jedoch als Autor massenwirksamer Antikriegsliteratur. Denn keiner der großen Dichter des beginnenden 20. Jahrhunderts schrieb wie er gegen die Gefahr des drohenden Weltkrieges an. Zwar gab es um die Jahrhundertwende einiges an allgemein pazifistischer Literatur, wie Bertha von Suttners bekannten Roman Die Waffen nieder! (1889), Leonid N. Andrejews Das rote Lachen (1904) oder die Schrift Die Vergangenheit des Krieges und die Zukunft des Friedens (1907), die der französische Mediziner Charles R. Richet veröffentlichte. Doch für die Exponenten der hohen Literatur schien der moderne Krieg kein Thema zu sein. So war es am Ende ein Volksschullehrer, der die große Warnung aussprach: Lamszus’ Roman, seine Prophezeiung Das Menschenschlachthaus – Bilder vom kommenden Krieg, die im Sommer 1912 erschien, löste einen Skandal aus. Es ist in der deutschsprachigen Literaturgeschichte der einzige Versuch, einen zukünftigen Krieg auf der Basis der technologischen Veränderungen seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zu imaginieren. Das Antikriegsbuch gibt mit seiner eindringlichen Sprache schon einen Ausblick auf die großen Erlebnisbücher des Ersten Weltkrieges, auf Henri Barbusse’ Feuer (1916), auf Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927), auf Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) oder auf Gabriel Chevalliers Heldenangst (1930).

Das Menschenschlachthaus erschien bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in 70 Auflagen und wurde in sieben Sprachen übersetzt. Es spricht für seine Bedeutung, dass beispielsweise Alfred Noyes zu der englischen, Ryokuyo Sato zu der japanischen oder Henri Barbusse zu der französischen Übersetzung das Vorwort schrieben. Alfred Hermann Fried und Martin Andersen Nexø zählten zu den bekanntesten Rezensenten. Auch Carl von Ossietzky steuerte zu einer späteren deutschen Ausgabe ein Vorwort bei.

1933 wurde Lamszus von den neuen Machthabern sogleich aus dem Schuldienst entlassen und mit Schreib- sowie Aufführungsverbot belegt. Seine geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Der große Totentanz, erschien 1946 und enthält u. a. seinen Prosatext »Der Forscher und der Tod«, in dem Lamszus als erster deutschsprachiger Autor unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki die Erfahrung des Atomkrieges thematisiert. Daneben engagierte er sich nach dem Krieg wieder in der Deutschen Friedensgesellschaft und als Rundfunkpädagoge. Schließlich forcierte er mit schulreformerischen Publikationen in Ost und West einen deutsch-deutschen Dialog zu Fragen einer Demokratiepädagogik und pflegte enge Kontakte zum 1952 gegründeten »Schwelmer Kreis«, dem gesamtdeutschen Forum von Reformpädagogen, das auf gemeinsamen Treffen gedanklich und programmatisch ein wiedervereintes Deutschland vorbereiten wollte. In seinen letzten Lebensmonaten meldete er sich 1964 mit Der Präsident wollte auf den Atomknopf drücken zu Wort, weil die bedrohliche Situation infolge der Kubakrise die Gefahren eines möglichen Atomkriegs heraufbeschwor. Am 18. Januar 1965 erfüllte sich ein bis in das hohe Alter hinein dem Friedensengagement und konsequenten Schulreformen gewidmetes Leben. Wilhelm Lamszus verstarb mit 83 Jahren in Hamburg.

Die Haltung zum Krieg als Basis politischer Orientierungen

Weil es Pädagogen im Kaiserreich verboten war, Mitglied der SPD zu sein, trat Lamszus, Sohn eines in der SPD aktiven Schuhmachermeisters, mit Beginn seines Schuldienstes 1902 der »Sozialwissenschaftlichen Vereinigung« bei, hinter deren unverfänglichem Namen sich der erste sozialdemokratische Lehrerverein Deutschlands verbarg. Als ihn aber im August 1914 die Nachricht von der Mobilmachung in seinem Ferienort im Rhöngebirge ereilte, traf ihn dies aus zweierlei Gründen wie aus heiterem Himmel. Einerseits enttäuschte ihn die Haltung der Sozialdemokratie zum Krieg. Andererseits hatte er nicht wahrhaben wollen, dass es je so weit kommen würde, weil er sich der unsagbaren Schrecken dieses Krieges im Voraus bewusst geworden war und diese in seinen literarischen Bildern vom kommenden Krieg in den Mittelpunkt gestellt hatte.3 Noch im Frühjahr 1913 erlebte Lamszus in Florenz eine ihn nachhaltig beeindruckende Mai-Demonstration, bei der er die zunehmende Stärke der internationalen »Nie wieder Krieg«-Bewegung zu erblicken glaubte, die ebenso wie in England, Holland, Deutschland und den skandinavischen Staaten Hunderttausende auf die Straße rief.4 Lamszus konstatierte zu Beginn des Krieges: »In Deutschland, England und Frankreich, in allen zivilisierten Ländern marschierten sie, grimmig entschlossen, sich niemals wieder gegeneinander auf die Schlachtfelder treiben zu lassen. – Dieser beglückenden Gewissheit wurde ein jähes Ende bereitet. Die deutsche Sozialdemokratie, die noch eben gemeinsam mit den französischen Sozialdemokraten den Völkermord verurteilt hatte, schwenkte in die patriotische Front ein und bewilligte im Reichstag die Kriegskredite. Ludwig Frank, der jüngste ihrer Abgeordneten und bis dahin leidenschaftlicher Kriegsgegner, meldete sich freiwillig zu den Fahnen und gab das begeisternde Beispiel für die deutsche Jugend.5 Alle Dichter, die wir ihrer Völker umfassenden Menschlichkeit wegen liebten und verehrten, verfassten flammende Kriegsgedichte.«6

Während des Ersten Weltkrieges blieb das Generalkommando stets darum bemüht, den Antikriegsschriftsteller so schnell wie möglich an die vorderste Front zu befehlen. Aber aus gesundheitlichen Gründen nur als »kriegsverwendungsunfähig« eingestuft, diente der lediglich »garnisonsdienstfähige« Lamszus vom Sommer 1915 bis zum Frühjahr 1916 im Ersatzbataillon in Rendsburg. Auch der Protest von Offizieren des Altonaer Generalkommandos gegen das medizinische Gutachten der Rendsburger Militärmediziner und die Anordnung fachärztlicher Untersuchungen sollten letztendlich für Lamszus folgenlos bleiben.7 In den Kriegsjahren war ihm zumute, als wäre die Welt zu einem »Irrenhaus« geworden.8 In immer neuen Gedichten hatte Lamszus seiner Verzweiflung über diesen Krieg Ausdruck gegeben. Diese gelangten unter gleichgesinnten Freunden von Hand zu Hand. Nach dem Krieg stellte er seine Antikriegslyrik in einem Buch zusammen, das unter dem Titel Der Leichenhügel – Gedichte während des Krieges 1921 in Leipzig erschien.

Sodann folgte Lamszus immer der Partei, die sich am konsequentesten gegen Militarismus und Krieg zu artikulieren wusste: »Die von stürmischem Leben erfüllten Revolutionsjahre veranlassten mich auch zur politischen Betätigung. Gleich nach dem Ersten Weltkrieg war ich Mitglied der USPD geworden. Diese Partei, die sich während des Krieges von der SPD trennte, hatte nach einiger Zeit im Reichstag die weiteren Kriegskredite abgelehnt. Sie war auch jetzt zu durchgreifenden sozialistischen Maßnahmen bereit. Als die USPD sich bald darauf spaltete und der größte Teil zur SPD zurückkehrte, blieb ich bei dem radikalen Flügel, der mit der KPD verschmolz. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren ihre Führer. Liebknecht hatte schon Ende 1914 im Deutschen Reichstag als einziger Abgeordneter gegen die Kriegskredite gestimmt. Er hatte 1916 in Berlin auf der Straße Flugblätter verteilt, in denen das deutsche Volk aufgefordert wurde, gegen den Massenmord zu protestieren. Er war dafür ins Zuchthaus gekommen. Seine und Rosa Luxemburgs unversöhnliche Feindschaft gegen den Krieg war es, die mich zu ihrem Gefolgsmann machte.«9

Lamszus wollte sich als KPD-Mitglied in der Kulturarbeit engagieren. Gemeinsam mit einem kommunistisch organisierten Vater, dessen zwölfjährigen Sohn Lamszus unterrichtete, organisierte er im Hamburger Gewerkschaftshaus kulturelle Großveranstaltungen. So lud er zunächst Mary Wigman ein, vor Hamburger Arbeitern einen Tanzabend zu veranstalten. Sie machte damals den rhythmisch-expressiven Ausdruckstanz als »New German Dance« international bekannt und galt als erfolgreichste deutsche Tänzerin. Lamszus erinnert sich: »Mit tiefer Ergriffenheit saßen die Zuschauer, die den großen Saal des Gewerkschaftshauses bis auf den letzten Platz füllten, vor den bisher noch nie gesehenen künstlerischen Darbietungen. Sie unterließen es vor lauter Ehrfurcht sogar, wie es sonst bei solchen Veranstaltungen üblich war, nach jedem Tanz ihrer Ergriffenheit durch Beifallklatschen Ausdruck zu geben. Erst ganz zum Schluss brachten sie der Künstlerin eine lang anhaltende Ovation.«10 Auch Lamszus’ nächste Veranstaltung, für die er den französischen Dichter Henri Barbusse gewinnen konnte, war ein großer Erfolg. Barbusse hatte, wie bereits erwähnt, das Vorwort zu der französischen Ausgabe von Lamszus’ Menschenschlachthaus geschrieben. Er berichtete den Hamburger Arbeitern, dass er seinen berühmten Antikriegsroman Das Feuer (1916) im Schützengraben verfasst habe. Barbusse war seit Beginn des Ersten Weltkrieges, für den er sich zunächst noch freiwillig gemeldet hatte, bis August 1916 Soldat, davon elf Monate an der Front. Durch die erlebte Kriegsrealität gelangte er zu einer konsequent kriegsgegnerischen Haltung und engagierte sich fortan in vielfältiger Weise pazifistisch.

Nachdem er aus seiner Antikriegsschrift, die in mehr als sechzig Sprachen übersetzt worden war, in Hamburg vorgelesen hatte, trug Lamszus eines seiner Gedichte vor, »in dem das stürmische Zueinanderdrängen zweier Völker durch Bergleute veranschaulicht wurde, die von beiden Seiten her einen Tunnel durch das trennende Gestein bohrten, bis sie in der Mitte freudig bewegt einander finden. Als ich geendet hatte, stand Barbusse auf und umarmte mich unter dem jubelnden Beifall der Zuschauer im Saal. Es war ein symbolischer Akt für die Verbrüderung zweier ehemals auf Leben und Tod sich bekriegender Völker.«11

Als Lamszus für seine dritte kulturelle Großveranstaltung seinen reformpädagogischen Mitstreiter Adolf Jensen bat, über Erziehungsfragen zu referieren, fand auch dieser großen Beifall für seine sehr humorvoll präsentierten Schulreformgedanken. Aber weil Jensen als aktives SPD-Mitglied bekannt war, hatte seine Einladung im kommunistischen Parteivorstand bedenkliches Kopfschütteln hervorgerufen. Nachdem Lamszus schließlich Heinrich Vogeler als vierten Vortragenden angekündigt hatte, wurde er zu einer Aussprache vor den Parteivorstand zitiert, für die sogar ein Mitglied des Zentralkomitees aus Berlin angereist war. In seinen Erinnerungen schreibt Lamszus darüber: »Dieser noch ziemlich junge Mann zog eine von jenen Broschüren aus der Tasche, in denen Vogeler seine revolutionären Gedanken veröffentlicht hatte. Mit gerunzelter Stirn las er einige Sätze vor. ›Ein einziger Rotfrontkämpfer ist mehr wert als ein Dutzend solcher intellektueller Wirrköpfe!‹, sagte er und warf das Heft verächtlich auf den Tisch.«12 Über diese Schlüsselszene, die Lamszus’ Kulturarbeit in der KPD beenden sollte und auch seinen Parteiaustritt einleitete, resümiert er in seiner Autobiografie weiter: »Vergeblich versuchte ich dem Parteivorstand klar zu machen, dass Heinrich Vogeler, wenn auch kein eingeschriebenes Mitglied der kommunistischen Partei, so aber doch seiner ganzen Haltung nach ein wahrer Kommunist wäre. Ich hatte ihn ja selber 1922 in Worpswede besucht und gesehen, welch vorbildliches Gemeinschaftsleben er auf seinem Barkenhoff mit den zu ihm geflüchteten politisch verfolgten Bremer Arbeitern führte.13 Es käme mir bei meinen Veranstaltungen darauf an, auch Redner zu Worte kommen zu lassen, die nicht der Partei angehörten. Sie böten die beste Gewähr für eine fruchtbare Aussprache. Zudem wollte ich meinen Hörern keine fertigen Meinungen übermitteln, sondern sie zum Denken anregen und sich ihr Urteil selber bilden lassen. Dieser Appell an die pädagogische Vernunft war vergeblich. Man gab mir auf, künftig nur noch Parteigenossen als Referenten zu nehmen. Damit war meine Kulturarbeit im Rahmen der KPD zu Ende. Und bald darauf auch meine Mitgliedschaft in ihr. Ich eignete mich auch im politischen Bereich nicht zum gehorsamen Befehlsempfänger.«14

Nachdem Vogeler mit seiner Ehefrau Sonja Marchlewska, der Tochter des europaweit agierenden polnischen Kommunisten Julian Marchlewski, die er 1926 geheiratet hatte, und dem gemeinsamen Sohn Jan 1931 in die Sowjetunion übergesiedelt war, pflegten er und Lamszus bis zum Kriegsausbruch eine regelmäßige Korrespondenz. Während Vogeler in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zunehmend nach ideologischen Grundmustern suchte, sie mithilfe seiner Frau Sonja im Marxismus fand und ihm jede – wenn auch nur als Regulativ gedachte – Vorstellung von Autonomie fehlte,15 war es für Lamszus zeitgleich die Idee der Freiheit geworden, die sich eben nicht in einer Zentralgewalt, sondern in Vielfalt und Weite realisiert.

Den kommunistischen Aufstand in Hamburg vom Oktober 1923 bewertete Lamszus als ein sichtbares Ergebnis »politischer Verbohrtheit«. Am frühen Morgen des 23. Oktober stürmten Rotfrontkämpfer die ihnen als geeignet erscheinenden 24 Polizeiwachen, davon 17 in Hamburg und sieben in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein, und bemächtigten sich der dort lagernden Waffen: »Es war ein völlig aussichtsloses Unternehmen, das durch eine falsche Meldung über eine gleichzeitige Erhebung der kommunistischen Arbeiterschaft im ganzen Reich hervorgerufen wurde. Zwar gelang es den todesmutigen Kämpfern, sich einige Tage hinter rasch errichteten Barrikaden zu verschanzen. Aber ihr Widerstand war bald gebrochen. Die Opfer, mehr als 100 Tote, waren umsonst gebracht.«16 Zugleich engagierte sich Lamszus in der »Freideutschen Jugend« und wurde 1923 zu einem der Hauptredner auf der zweiten Tagung auf dem Hohen Meißner und »geriet dabei vor 3.000 Teilnehmern geradezu in eine rednerische Ekstase«, wie er es seinem Tagebuch anvertraute.17 Nachdem Lamszus seine Kulturarbeit für die KPD beendet hatte, kam er einer Bitte der Organisation »Freie Proletarische Jugend« nach und leitete ihre Hamburger Gruppierung, die auch als »Lamszus-Kreis« bezeichnet wurde. Die Jugendlichen, zu denen beispielsweise der spätere Schriftsteller Willi Bredel oder der Journalist und Autor Gustav Leuteritz zählten,18 gehörten keiner politischen Partei an. Sie wollten mit ihrer politischen Entscheidung so lange warten, bis sie reifer wären. Die abendlichen Zusammenkünfte, die allwöchentlich in einer Schule stattfanden, begannen zumeist damit, dass die schreibenden 16- bis 20-Jährigen Skizzen, Erzählungen und auch Gedichte vorlasen, die sie im Laufe der Woche geschrieben hatten. Anschließend gab es eine Aussprache über Form und Inhalt der gehörten Arbeiten. Auch aktuelle Probleme, die damals im Blickpunkt der Jugend standen, wurden erörtert und leidenschaftlich diskutiert. Des Weiteren organisierten sie thematische Abende, die zum Beispiel sexuellen Fragen oder Fragen zur Freikörperkultur gewidmet waren. Namhafte Gäste wie Heinrich Vogeler, der Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn, der Schauspieler Hans Otto, die Aktivistin für die Rechte der Prostituierten Ketty Guttmann, oder die Pioniere der Jugendstrafvollzugsreform um den Kriminologen und Sozialpädagogen Walter Herrmann auf der Hamburger Gefängnisinsel Hahnöfersand wurden als kompetente Diskussionspartner für die Jugendlichen eingeladen. Lamszus’ ureigenes Interesse an diesen Gästen verband sich beispielsweise bei Jahnn mit dessen 1915 vollzogener Flucht nach Norwegen, um dem Dienst im Ersten Weltkrieg zu entgehen. Bei Otto gab die enge persönliche Freundschaft zwischen seiner und dessen Familie den Ausschlag, an Guttmann interessierte ihn ihr Ausschluss aus der KPD im August 1924. Guttmann hatte die Politik der KPD und der Kommunistischen Internationale als opportunistisch und konterrevolutionär kritisiert und sich sodann rätekommunistisch in der Allgemeinen Arbeiter-Union engagiert.19 Im Kontext der Strafvollzugsreform für jugendliche Häftlinge war Lamszus selbst als pädagogischer Berater tätig.

Leider findet sich in den vor Kurzem erstmals erschlossenen autobiografischen Aufzeichnungen von Lamszus keine detaillierte Zeitangabe zu seinem Austritt aus der KPD. Zeitzeugen und Erben geben einhellig das Jahr 1927 an.20

Enttäuschte Hoffnungen

So wie viele Schriftsteller, Künstler und andere Intellektuelle hatte auch Lamszus die russische Oktoberrevolution des Jahres 1917 als einen Aufbruch in ein neues Zeitalter der Geschichte der Menschheit freudig begrüßt. Mit höchster Spannung verfolgte er ihren weiteren Verlauf. Arthur Holitscher, der als erster deutscher Schriftsteller nach Sowjetrussland gereist war, berichtete 1921 in Drei Monate in Sowjet-Rußland begeistert von dem neuen Werden. Aber auch aus dem Land selbst vernahm Lamszus durch Filme wie Panzerkreuzer Potemkin (1925) von Sergej M. Eisenstein oder Die Mutter (1926) von Wsewolod I. Pudowkin Kunde von dem revolutionären Schwung: »Wir lasen die Gedichte und Romane der kommunistischen Dichter, die von dem Marsch in eine neue Zukunft kündeten. Und auch russische Menschen kamen zu uns. Marie Steinhaus, eine Moskauer Lehrerin, die von der Regierung auf eine Studienreise geschickt worden war, erschien in unserer Schule und erzählte von der neuen Erziehung in ihrem Lande, die auf staatlichem Geheiß denselben Weg einschlug, den wir in unseren Versuchsschulen beschritten hatten.«21 In der jungen Sowjetpädagogik der vorstalinistischen Entwicklungsphase war eine sehr nachhaltige Rezeption der angelsächsischen Reformpädagogiken nach John Dewey, Helen Parkhurst und Carleton Washburne erfolgt. Dewey und Washburne selbst erlebten und begleiteten die praxiswirksame Anwendung ihrer Reformkonzepte während ihrer einjährigen Studienreisen »vor Ort«. Dewey registrierte dabei 1928 den beginnenden spannungsgeladenen Übergang von der Renaissance demokratischer Reformpädagogiken hin zu ihrer administrativen Ausgrenzung, die in der stalinisierten Sowjetpädagogik zu Beginn der 1930er Jahre ihren Abschluss finden sollte, und berichtete darüber in seinem Buch Impressions of Soviet Russia and the Revolutionary World (1929). Lamszus selbst war mit diesen international geführten Debatten um reformpädagogische Bestrebungen vertraut; sowohl basispädagogisch als Hamburger Versuchsschullehrer als auch durch den 1921 gegründeten Weltverband »New Education Fellowship«, an dessen internationalen Kongressen er aktiv teilnahm, so mit einem der Hauptreferate 1925 in Heidelberg oder durch seine Teilnahme 1929 in Helsingør, Dänemark.22

Es hat jedoch geraume Zeit gedauert, bis Lamszus bemerkte, dass nach Wladimir I. Lenins Tod ein anderes Regiment in der Sowjetunion seinen Einzug hielt. Den entscheidenden Anstoß zum Zweifeln gab ihm Franz Pfemfert, den er – neben Erich Mühsam – in den 1920er Jahren in Berlin persönlich kennenlernen konnte. In der von Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion las Lamszus, dass David B. Rjazanov als Direktor des Moskauer Marx-Engels-Instituts, als der er noch 1930 anlässlich seines 60. Geburtstages überschwänglich gefeiert wurde, im Folgejahr abgesetzt worden war, weil er sich geweigert hatte, anstelle seiner bewährten Mitarbeiter die ihm von Josef W. Stalin empfohlenen Funktionäre aufzunehmen. Dieselben Zeitungen, die ihn noch kurz zuvor in den Himmel gehoben hatten, verdammten ihn nun als einen charakterlosen Schurken, der zudem jeder wissenschaftlichen Kenntnis des dialektischen Materialismus ermangele. Das war ein Widerspruch, der Lamszus entscheidend zu denken gab. Dann fiel ihm ein Buch in die Hand, in dem ein russischer Ingenieur, der aus einem sibirischen Arbeitslager geflohen war, von seinen Erlebnissen berichtete. Es waren empörende Tatsachen, die da zur Sprache kamen. »Das ist Propaganda«, sagte seine Frau, die an dem politischen Geschehen regen Anteil nahm und das Buch auch gelesen hatte. Schließlich las man seinerzeit in der Zeitschrift Das neue Russland, wie es auf allen Gebieten der Wirtschaft und der Kultur unaufhaltsam voranging.23 Außerdem berichteten die Delegationen, die in die Sowjetunion eingeladen waren, nach ihrer Rückkehr von den erstaunlichen industriellen und kulturellen Schöpfungen, die sie mit eigenen Augen gesehen hatten.24

Aber bereits in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurde es für Lamszus immer klarer, was Stalins Diktatur bedeutete: 1927 reiste Panait Istrati, einer der bedeutendsten rumänischen Dichter, nach Russland. Er wollte das Land, das seine revolutionären Träume verwirklicht hatte und dem seine ganze Liebe galt, mit eigenen Augen sehen. Da er von den bolschewistischen Führern als Freund betrachtet wurde und seine Bücher auch in der Sowjetunion erschienen waren, nahm Istrati die Gelegenheit wahr, 18 Monate lang ohne amtliche Begleitung durch das ganze Land zu reisen und das neue Leben gründlich kennenzulernen. Das Buch Auf falscher Bahn (1929), das er nach seiner Rückkehr schrieb, war ein Aufschrei aus tief empörter Seele. Der Protest, den Istrati in die Welt hinausrief, sollte den bolschewistischen Machthabern das Gewissen schärfen. Aber er verhallte ungehört. »Nur Dummköpfe können erwarten«, so hielt man ihm entgegen, »dass zehn Jahre sozialistischer Aufbau eine jahrhundertlange bourgeoise Misswirtschaft beseitigen können.«25

Ein knappes Jahrzehnt später, im Jahre 1936, reiste André Gide, der namhafte französische Dichter, der 1947 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, als gläubiger Wallfahrer nach Russland und kehrte tief bestürzt und völlig desillusioniert nach Hause zurück. Sein Rechenschaftsbericht Zurück aus der Sowjetunion schloss mit folgenden Worten: »Die Sowjetunion hat unsere teuersten Hoffnungen enttäuscht, sie hat uns gezeigt, wie eine ehrliche Revolution von trügerischem Flugsand zugeschüttet werden kann. Ein neuer furchtbarer Despotismus erdrückt den Menschen und beutet ihn aus, die ganze niedrige, verächtliche Mentalität, die für das Verhältnis zwischen Sklavenhalter und Sklave typisch ist, ist wieder auferstanden.«26

Tiefer noch als diese politischen Abrechnungen mit dem korrumpierten kommunistischen System erregten Lamszus die Berichte jener Menschen, welche die Zwangsarbeitslager, die Gefängnisse und die Terrormaßnahmen selbst erlebt hatten und der kommunistischen Hölle entronnen waren: »Sie führten dem Leser Schreckensbilder vor Augen, die an Grausamkeit und Barbarei nur in den düstersten Kapiteln der Weltgeschichte ihresgleichen finden.«27 Aber Lamszus genügte es nicht, die schauerliche Wirklichkeit in ihrem ganzen Ausmaß zu ermessen. Er wollte wissen, warum eine so großartige Idee, die der Menschheit Glück und Frieden versprach, sich so grauenhaft in ihr Gegenteil verkehren konnte: Er fand die Antwort auf diese schicksalsschwere Frage bei dem geistigen Urheber der Weltrevolution, bei Karl Marx: »Eine seiner lapidaren Maximen besagt, dass nicht das Bewusstsein des Menschen das gesellschaftliche Sein erzeuge, sondern das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein schaffe. – Das gesellschaftliche Sein des kommunistischen Staates ist auf Macht gegründet, die von den führenden Persönlichkeiten diktatorisch ausgeübt wird. Wer in einer in Machtkategorien funktionierenden Gesellschaft eine führende Rolle spielen will, der muss vor allem über ein ungewöhnliches Maß an Energie verfügen. Er muss auch scharfsinnig, geistesgegenwärtig, robust und skrupellos sein, um sich im Kampf um die Machtpositionen nach vorn zu spielen.«28 In dem Weg Stalins zum Alleinherrscher der sowjetischen Völker sah Lamszus das psychologische Schulbeispiel dafür, nach welchen Gesetzen sich die kommunistische Entwicklung vollzogen hatte. Lamszus fragte in diesem Zusammenhang, warum nach Lenins Tod nicht Leo Trotzki an die Macht gelangte, der Stalin geistig weit überlegen und zudem als Schöpfer der Roten Armee seine organisatorische Befähigung bewiesen hatte? Warum nicht Nikolai I. Bucharin, der Lieblingsschüler Lenins, der das klassische ABC des Kommunismus mitverfasst hatte und von allen Kampfgefährten Lenins den gesündesten Menschenverstand besaß? Ihnen fehlte, so Lamszus’ Schlussfolgerung, der verzehrende Wille zur Macht, der die Dominante in Stalins Charakter war. Darum war es ihm im politischen Schachspiel gelungen, seine Rivalen aus dem Felde zu schlagen und seine Gegner der Reihe nach zu erledigen, indem er die eine Gruppe geschickt gegen die andere ausspielte. Aber stählerne Willenskraft und intrigante Künste genügen nicht, um eine revolutionäre Bewegung in die richtigen Bahnen zu lenken, wenn sie nicht mit schöpferischer Kraft verbunden sind. Ebenso wenig wie ein Mensch, der sich die Theorie der Kunst zu eigen macht, imstande ist, ein wirkliches Kunstwerk zu schaffen, wenn er nicht von Haus aus künstlerische Begabungen mitbekommen hat. Ebenso wenig vermag der politische Diktator trotz aller marxistischer Studien ein wahres sozialistisches Reich zu schaffen, wenn ihm die schöpferischen Kräfte fehlen. »Er bleibt«, wie Lamszus resümiert, »ein blutiger Dilettant, nur dass er seine Stümpereien nicht an Leinwand, Marmor oder anderem toten Material ausübt, sondern an lebendigen Menschen.«29 Dieser für Lamszus nicht zu widerlegende psychologische Sachverhalt besiegelte das weitere Schicksal des revolutionären Umsturzes. Es hatte sich nach demselben Gesetz vollzogen, aufgrund dessen Stalin an die Macht gelangte. Der Diktator, der von sich selbst glaubte, dass das Wissen um den Marxismus ihn dazu befähigte, diesen auch zu verwirklichen, war fest davon überzeugt, dass auch jeder gut geschulte Kommunist die ihm gestellten Aufgaben auf das Beste erfüllen konnte. Darum ließ er alle neu geschaffenen Ämter und irgendwie verantwortliche Posten mit ihm genehmen Parteigenossen besetzen. »Nun liegt es aber im Wesen der menschlichen Natur«, gab Lamszus zu bedenken, »dass, wenn einflussreiche und einträgliche Posten zu vergeben sind, auch die Postenjäger in hellen Scharen nach der Futterkrippe drängen.«30 Schon der alte Bolschewistenführer Leonid B. Krassin hatte in einer Rede im kommunistischen Zentralkomitee gesagt: »Alle Übel, die wir zurzeit erleiden, sind durch die Tatsache bedingt, dass die kommunistische Partei zu zehn Prozent aus überzeugten Idealisten besteht, die bereit sind, für die gute Sache zu sterben, aber unfähig, für sie zu leben. Und zu neunzig Prozent aus gewissenlosen Mitläufern, die in die Partei eingetreten sind, um Posten zu ergattern.«31 Auch Grigor K. Ordschonikidse, der mit Stalin befreundete Organisator der Schwerindustrie, war sich dieses Missstandes bewusst: »Nehmen Sie unseren Sowjetapparat, und Sie werden darin eine kolossale Menge solcher finden, die zu nichts nutze sind. Solche, mit denen man nichts anzufangen weiß, und deren niemand bedarf, platziert man in die Kontrollkommissionen.«32 Dieser verhängnisvolle Trugschluss Stalins, dass die zur Schau getragene Gesinnung das geeignete Ausleseprinzip sei, hatte dazu geführt, dass die gesellschaftlichen Produktivkräfte, anstatt, wie Marx es erwartete, sich stürmisch zu entfalten, in eine rückläufige Bewegung gerieten. Das zwangsläufige Ergebnis war die staatlich konzessionierte Bürokratie, sodass zielbewusste Konjunkturisten, die ihre Ellenbogen gut zu gebrauchen wussten, die aber nirgendwo den Nachweis erbracht hatten, dass sie den nötigen Sachverstand oder auch nur die geringste organisatorische Fähigkeit besaßen, in die Amtsstuben eingezogen waren. Sie saßen in den Büros der Industriebetriebe und brachten, so Lamszus’ tiefe Überzeugung, mit ihren diktatorischen Maßnahmen die schöpferische Initiative zum Erliegen. Lamszus beruft sich auf Grigori J. Sinowjews treffende Erkenntnis, dass »schlimmer als Pest und Cholera die Bürokratie wütete, der es zu verdanken sei, dass ehemals landwirtschaftliche Erzeugnisse ausführende Sowjetrepubliken nun nicht mehr die eigene Bevölkerung ernähren konnten und blühende Industrierepubliken an den Bettelstab gerieten«.33 Die zu Amt und Würden gelangte schöpferische Unfähigkeit hatte für Lamszus auch den katastrophalen Verfall der Kunst auf dem Gewissen, weil Menschen, denen jegliches Kunstverständnis fehlte, sich als Exerziermeister betätigten und die Künstler auf Vordermann brachten. Auf welches Gebiet des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens Lamszus auch blickte, überall herrschte dasselbe psychologische Gesetz: Das Unvermögen Stalins, die von ihm in Angriff genommene Aufgabe mit staatsmännischer Kunst zu lösen, zwang ihn zur Gewaltanwendung. Der von ihm ausgeübte Zwang wirkte sich wie eine Kettenreaktion immer weiter nach unten aus und führte zu jenem barbarischen Zustand, wo nicht der Geist, sondern die nackte Gewalt regierte.

Doch was ließ Stalin zu so einem Monstrum werden, fragte sich Lamszus, das in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen findet? Er gelangte zu folgender Antwort: »Das von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 verkündete Kommunistische Manifest war ihm zu Fleisch und Blut geworden. Wer die Macht der kommunistischen Ideologie an sich selber erfahren hat, der weiß, welch eine unheimliche Kraft ihr innewohnt. Sie vollbringt an dem Menschen, der von ihr ergriffen wurde, das Wunder der Transsubstantiation. Sie schafft einen neuen Menschen aus ihm, der die Welt und alles, was in ihr geschieht, mit völlig neuen Augen sieht. Er sieht das Tun und Trachten der Menschen auf dieser Erde von der Gier erfüllt, so viel Geld und Gut wie möglich zu erraffen. Er sieht in diesem ungezügelten Streben nach Besitz die Menschen zu Raubtieren entarten und die größten Raubtiere des Grund und Bodens, der Bodenschätze und der Produktionsmittel sich bemächtigen. Das politische Ergebnis dieses hemmungslosen Kampfes aller gegen alle sind die blutigen Kriege, welche die Völker in immer größerem Ausmaß miteinander führen. Wie einleuchtend und einfach ist der Weg, um dieser mörderischen Selbstzerfleischung zu entrinnen! Man enteigne die Besitzenden und führe, was sie dem Volke geraubt haben, wieder in den Besitz des Volkes zurück! Dann nimmt man den Kapitalisten, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, die Möglichkeit, den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter zu verwandeln, die nur so weit geduldet werden, wie ihre Tätigkeit der Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung dient. Die Abschaffung der Ausbeutung macht der Selbstentfremdung des Menschen und damit der Barbarei der Kriege für immer ein Ende und führt zu jener von dem Christentum vergeblich angestrebten bürgerlichen Menschengemeinschaft auf Erden.«34

Lamszus verdeutlichte in seinen Reflexionen über Stalin, inwiefern diesem der Kapitalismus als ein satanischer Feind erschien, den es mit allen Mitteln zu vernichten galt. Die Umwertung aller menschlichen Werte war für ihn nicht überraschend: Lüge, Täuschung und Verstellung waren in den Augen des klassenkämpferischen Revolutionärs keine moralischen Defekte, sondern klug geübte Kriegslist. Der organisierte Menschenraub, das Abschieben missliebiger Personen oder gar ihre Ermordung waren in den Augen des Diktators eine patriotische Tat. Auch die Aufhebung all jener bürgerlichen Grundrechte, der Presse-, Versammlungs- sowie Meinungsfreiheit, für die die Völker jahrhundertelang gekämpft hatten, wurde für die Stalinisten zur notwendigen Maßnahme, um der kommunistischen Wirtschaftsordnung den Weg zu bahnen. »Was will es schon besagen«, so die bittere Quintessenz von Lamszus, »dass auf dem Vormarsch der Weltrevolution auch manchen Menschen Unrecht geschieht, wo doch das Schicksal der ganzen Menschheit auf dem Spiele steht!«

In seinen psychologischen Schlussfolgerungen zum Diktator Stalin betont Lamszus, dass dieser sich als der von der Geschichte beauftragte Vollstrecker der Weltrevolution fühlte. Das ließ ihn nach Ansicht Lamszus’ jeden Widerstand gegen seine Maßnahmen als einen Angriff auf den Kommunismus empfinden und zu einem der größten Massenmörder aller Zeiten werden. Aber es war nicht diese Erkenntnis, die Lamszus zutiefst erschrecken ließ, sondern die Art und Weise, in der das Morden vor sich ging: »Während im ganzen Land die schrecklichsten Tragödien geschahen, saß ihr Urheber in seinem Kremlpalast, genoss Essen und Trinken, vollführte allmorgendlich seine gymnastischen Übungen, scherzte mit seinem Töchterchen Swetlana und legte sich nach vollbrachter Blutarbeit in dem Bewusstsein, der menschlichen Entwicklung den größten Dienst geleistet zu haben, seelenruhig schlafen. Während in den Dörfern die Leichen der infolge der überstürzten gewaltsamen Entkulakisierung verhungerten Bauern unbestattet herumlagen und die Überlebenden nach Sibirien abtransportiert wurden, versicherten die stündlich einlaufenden Telegramme dem Wohltäter des Volkes, wie glücklich er auch die Menschen auf dem Land durch seine väterliche Fürsorge gemacht habe, während in den Kerkern die Gefangenen Tag und Nacht gefoltert wurden, um ihnen Geständnisse von nie begangenen Verbrechen zu entreißen. Während in den Straflagern die Menschen schlimmer gehalten wurden als jemals auf der Welt die Sklaven und zu Hunderttausenden starben, schritt der Urheber dieser Gräuel in einer Wolke von Weihrauch durch das Leben, völlig überzeugt von seiner alles überragenden säkularen Größe. Er wies die Dichter an, wie sie zu dichten, die Maler und Baumeister, wie sie zu malen und zu bauen, die Lehrer, wie sie zu unterrichten, die Wissenschaftler, was sie zu denken hatten. Alle priesen ihn, den selbsternannten Generalissimus, mit überschwänglichen Worten als das größte Genie, das die Menschheit jemals hervorgebracht hätte. Auch nach Stalins Tod dauerte es noch fast drei Jahre, dass seinem Andenken noch immer göttliche Ehren dargebracht wurden.«35

Der 25. Februar 1956, jener denkwürdige Tag, an dem Nikita S. Chruschtschow die Welt mit seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU überraschte, in der er den Stalinmythos schonungslos zerfetzte, wurde von Lamszus begrüßt. Es folgte die Tauwetterperiode, in der eine ganze Reihe von Schriftstellern, unter ihnen auch Wladimir D. Dudinzew mit seinem berühmt gewordenen Roman Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (1956), plötzlich mit neuen Dichtungen hervortraten. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die gesellschaftlichen Zustände im eigenen Lande zu kritisieren. Es waren erstaunliche Dinge, von denen die Zeitzeugen damals erfuhren. Die Autoren, die sich mit dem Leben auf dem Lande befassten, schilderten in ihren Dorfromanen die grenzenlose Armut der Kolchosbauern und ihre Erbitterung über das herrschsüchtige Gebaren der sie drangsalierenden Staatsfunktionäre. Einige Schriftsteller führten dem Leser sogar Staatsminister und andere gewichtige Personen vor Augen, die durch die Verlockungen der Macht und durch das verschwenderische Leben, das sie führten, charakterlich entarteten. Sie wurden als Verbrecher entlarvt, die, um ihre gesellschaftliche Stellung zu behalten, vor keiner Schandtat zurückschreckten. Ein stinkender Sumpf von Korruption wurde sichtbar, wo bisher alles in bester Ordnung schien. Die Rebellion der Schriftsteller fand einen enormen Widerhall. Sie brachte in Ungarn, wie gleichzeitig auch in Polen, das ganze Staatsgebäude ins Wanken. Der Schock, den die kommunistische Welt davontrug, bewog Chruschtschow schließlich, dem Tauwetter schleunigst Einhalt zu gebieten. Aber auch, wenn man dem revolutionären Ungetüm ein Ende machte, war dennoch für Lamszus sichtbar geworden, dass sich der Mensch hinter dem Eisernen Vorhang keineswegs zur Marionette hatte machen lassen. Das Denken, das man der Jugend auf den Hochschulen beibrachte, hatte nicht bei Physik, Chemie und anderen Wissenschaften haltgemacht. Die rebellierenden jungen Schriftsteller in der Sowjetunion waren, wie Lamszus erkannte, keine Antikommunisten. Sie wollten die Lehren von Marx, Engels und Lenin sinngemäß verwirklichen und dem schamlosen Machtmissbrauch der Nutznießer ein Ende bereiten. Auf der ganzen Linie entbrannte ein erbitterter Kampf zwischen den Funktionären, die ihre einflussreiche Stellung nur dem Parteiapparat verdankten, und dem gefesselten, nun aufstrebenden Menschengeist. In Jugoslawien und in Polen erhielt die freiheitliche Entwicklung größere Spielräume. Dass dabei auch Chruschtschow begriffen hatte, dass das Gedeihen seines Staatswesens von der Entfesselung der schöpferischen Kräfte abhängig war, wurde für Lamszus offenbar, als er anfing, unfähige Funktionäre mit bitterer Kritik zu bedenken und selbst hohe Würdenträger davonjagte, wenn sie sich ihren Aufgaben nicht gewachsen zeigten.36

Fazit

Wilhelm Lamszus hegte lange Sympathien für die Ideale des Kommunismus, aber er konnte zu keinem Zeitpunkt dessen Methoden begreifen, geschweige denn gutheißen. Was hier für die Politik im Allgemeinen gilt, ist für Lamszus auch für die Pädagogik mit ihren Erziehungsidealen im Besonderen kennzeichnend: »Die Problematik beginnt bei den Methoden, mit denen man dieses Erziehungsziel verwirklichen will. Die theoretische Belehrung, die mit nicht zu übersehendem Eifer geübt wird, vermag zwar sozialistisches Wissen zu übermitteln. Aber wie weit kann sie auch menschliche Tugenden entwickeln? Man fordert das unbedingte Bekenntnis zu der als unantastbares Dogma verabreichten Lehre. Jeglicher Zweifel gilt als fluchwürdige Ketzerei und bringt den Zweifler in ernste Gefahr. Verführt nicht eine solche unerbittliche Praxis den Schüler dazu, die vorgeschriebene Gesinnung zu heucheln, auch wenn er, wie es bei jungen Menschen von jeher üblich war, opponierende Gedanken hegt? Und ruft nicht eine solche staatspolitische Methodik vor allem jene auf den Plan, die glauben, mit lautstarkem Lippenbekenntnis sich irgendwelche Vorteile verschaffen zu können? Auf die Täter des Wortes kommt es an, die ohne viel Aufhebens davon zu machen, das verwirklichen, was jene Wichtigmacher nur im Munde führen. Wie will man diesen charaktervollen jungen Menschen den ihnen gebührenden Platz verschaffen, damit nicht zu guter Letzt die skrupellosen Ehrgeizlinge das Rennen machen und auch später im Leben die Führung übernehmen? Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, wie weit im kommunistischen Reich von Erziehung zu wahrer Humanität gesprochen werden kann.«37

Die Wissenschaft, die der Menschheit einerseits die todbringenden Atombomben bescherte, zeigte ihr andererseits den Ausweg aus den gesellschaftspolitischen Spannungen auf, so Lamszus. Für den bedrohlichen Ost-West-Konflikt sah er – nun aus kosmischer Perspektive betrachtet – folgende Lösungsstrategie: »Mit jedem Satelliten, den sie [die Wissenschaft, A. P.] in das Weltall schickt, lässt sie die Erde, die einst der Mittelpunkt der Welt im menschlichen Bewusstsein war, immer mehr zu einem winzigen Planeten zusammenschrumpfen, der als eines der kleinsten unter Milliarden anderer Gestirne im unermesslichen Weltall kreist. Das planetarische Gefühl erwacht in den Menschen. Der Mensch, der von ihm ergriffen ist, betrachtet sein Leben aus kosmischer Schau. Er wird zum Weltbürger. – In diesem kosmopolitischen Geist wächst heute die Jugend der ganzen zivilisierten Welt heran. So sehr sich auch unverbesserliche Nationalisten hüben und drüben bemühen, die jungen Menschen zu gehorsamen Gefolgsleuten zu erziehen, sie können die Uhr der Weltgeschichte nicht zum Stillstand bringen. Die Entwicklung schreitet über sie hinweg. Wie zu allen Zeiten die junge Generation gegen die alte aufbegehrt, wenn diese in veralteten Vorstellungen steckengeblieben war, so greifen auch heute die von idealem Streben erfüllten jungen Menschen über die weltanschauliche Konzeption ihrer Väter hinaus. Sie werden mit unverbrauchten Kräften die Welt in ihrem Sinne neu gestalten und ihr Genüge nicht mehr darin finden, in großen weltanschaulich ausgerichteten Machtblöcken vereinigt zu sein. Sie werden sich zu den Vereinigten Staaten der Erde zusammenschließen und eine Weltregierung schaffen. Sie werden auch jene Probleme tatkräftig zur Lösung bringen, an denen ihre Väter nur notdürftig herumstümpern konnten: wie die drohende Übervölkerung der Erde infolge der explosiven Geburtenraten, die gemeinsame planvolle Verwaltung der noch übrig gebliebenen Rohstoffe unserer Erde, die Abschaffung der Not, des Hungers und der Krankheit in weltweitem Maßstab sowie die Erziehung der Menschheit und ihre Befreiung aus den Ketten primitiver Barbarei.«38

Wilhelm Lamszus war bis etwa zur Mitte der 1920er Jahre zweifellos von der Illusion beseelt, dass die Kommunisten dazu in der Lage wären, eine bessere, gerechtere und humanere Welt zu schaffen, was ihn dann – in einem langwierigen Erkenntnisprozess – dazu bewegte, sich endgültig von der KPD zu lösen. Später, mit dem Bekanntwerden der Grausamkeiten und Schrecken der Diktatur Stalins, wurde ihm seine ursprüngliche Sicht auf den Kommunismus als grundlegender Irrtum bewusst. Lamszus’ ablehnende Haltung gegenüber Vorstellungen einer Zentralgewalt und seine Hochschätzung von Autonomie, Vielfalt und Weite führten ihn zu kosmischen Perspektiven und ließen ihn schließlich zu einem kosmopolitisch denkenden Weltbürger werden.

1 Adolf Jensen (1878–1965), seit 1905 im Hamburger Schuldienst, trat 1907 der SPD bei. Bis 1914 wurde er wegen seines reformpädagogischen Engagements durch die Hamburger Schulbürokratie
14 Mal gemaßregelt und schließlich entlassen. In den Jahren 1920 bis 1929 war er Lehrer und seit 1924 Rektor an der Berlin-Neuköllner Versuchsschule (heutige Rütli-Schule), die er zum Modellschultyp einer Lebensgemeinschaftsschule profilierte, anschließend lehrte er als Professor für Methodik und Didaktik an der Technischen Hochschule Braunschweig. Die Nazis hatten ihn 1932 aus dem Braunschweigischen Staatsdienst entlassen. Von 1947 bis 1951 war der nach Kriegsende rehabilitierte Jensen in der ersten Wahlperiode Mitglied des Niedersächsischen Landtages.

2 Vor allem »Unser Schulaufsatz ein verkappter Schundliterat« wurde als Klassiker der Reformpädagogik national und international gefeiert. Siehe beispielsweise in: Nord und Süd – Eine deutsche Monatsschrift, 36 (1912), S. 341–344 oder The School Review 20 (1912), S. 117–120.

3 Siehe Wilhelm Lamszus: Antikrieg, in: Neue Deutsche Literatur, 10 (1962), H. 10, S. 157–160, hier S. 159.

4 Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gehörten etwa 10 000 Menschen in Deutschland pazifistischen Organisationen an; bis zum Ende der Weimarer Republik stieg diese Zahl reichsweit auf 70 000 (siehe Dieter Riesenberger: Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland von den Anfängen bis 1933, Göttingen 1985).

5 Der jüdische Rechtsanwalt Ludwig Frank vertrat seine Partei, die SPD, im Badischen Landtag sowie im Reichstag. Noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges bemühte er sich um eine Verständigung von Parlamentariern aus Frankreich und Deutschland. Auf seine Anregung luden schweizerische Parlamentarier zu einer deutsch-französischen Verständigungskonferenz nach Bern ein, die im Mai 1913 stattfand. Bereits am 3. September 1914 ist der Kriegsfreiwillige Frank gefallen.

6 Wilhelm Lamszus: »Begrabt die lächerliche Zwietracht unter euch!« Erinnerungen eines Schulreformers und Antikriegsschriftstellers (1881–1965). Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Andreas Pehnke, Markkleeberg 2014, S. 77. Siehe auch Steffen Bruendel: Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg, München 2014.

7 Unmittelbar nach Kriegsende erhielt Lamszus Kenntnis von einem sogenannten Uriasbrief des Generalkommandos an das Rendsburger Ersatzbataillon; so wie es in der Bibel steht: »Stellet Urias an einen Platz, damit er falle!« Siehe dazu ausführlich Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 83–85.

8 »Das Irrenhaus – Visionen vom Krieg« ist der Titel des Fortsetzungsbandes von »Das Menschenschlachthaus«. Er lag bereits 1914 druckfertig vor, konnte aber zensurbedingt erst 1919 in Hamburg erscheinen. Beide Teile wurden als Bd. 23 der Schriftenreihe »Geschichte & Frieden« im Bremer Donat Verlag 2014 von Andreas Pehnke neu herausgegeben und eingeleitet.

9 Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 123.

10 Ebd.

11 Ebd., S. 123 f. Siehe auch Wilhelm Lamszus: Barbusse, der Soldat der Menschheit. Zu seinem Besuch in Hamburg, in: Carl Thinius (Hg.): Der Pionier – Das Blatt der Unterdrückten und Totgeschwiegenen, Hamburg, 2 (1923), H. 8, S. 12 f.

12 Siehe Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 124.

13 Lamszus bezieht sich mit diesem Hinweis auf die politisch verfolgten Bremer Arbeiter, die nach der Zerschlagung der Bremer Räterepublik am 4. Februar 1919 verfolgt wurden und fliehen mussten. Dieser Konflikt forderte 75 Todesopfer.

14 Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 124. Der in den Augen der Apparatschiks als »intellektueller Wirrkopf« geltende Vogeler sollte bekanntlich 1925 doch der KPD beitreten. Siehe zu Heinrich Vogeler im Allgemeinen und seiner räte-republikanischen Muster-Kommune Barkenhoff in Worpswede im Besonderen Johannes Bilstein: Jugendstil, Kommunismus, Reformpädagogik. Zur Analogie künstlerischer und pädagogischer Motive bei Heinrich Vogeler, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 7, Bad Heilbrunn/Obb. 2001, S. 7–38.

15 Siehe ebd. S. 34.

16 Siehe Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 125.

17 Ebd., S. 114.

18 Das Schicksal von Leuteritz als Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft ist bis heute nicht aufgeklärt. Lediglich sein früherer Kollege Rudolf Reinhardt, der mit Leuteritz bei der sowjetischen »Tageszeitung für Dresden« und danach bei der sowjetischen »Täglichen Rundschau« in Berlin zusammengearbeitet hatte, berichtete, dass Leuteritz Chef des Feuilletons beider Zeitungen war, bis er 1946 plötzlich aus seiner Wohnung verschwand (siehe Rudolf Reinhardt: Zeitungen und Zeiten. Journalist im Berlin der Nachkriegszeit, Köln 1988, S. 18 f. und 82 f.). Lamszus berichtet in seiner Autobiografie (siehe Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 128), wie Leuteritz einem Hamburger Freund anvertraut habe, dass er politisch und beruflich kaltgestellt worden sei. Schließlich las Lamszus in der Tageszeitung »Die Welt« eine Todesanzeige, in der die Familie der Öffentlichkeit mitteilte, dass Gustav Leuteritz in Workuta gestorben sei.

19 Siehe Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 126–128. In diesem Zusammenhang ist zugleich die Information interessant, die ich im Interview mit Roswitha Paula Görner 2004 erfuhr, der Tochter des Chemnitzer Reformpädagogen Otto Rötzscher. Lamszus und Rötzscher waren durch ihre Tätigkeit als Versuchsschullehrer bekannt geworden. Lamszus hatte sich in seinen mir zur Einsichtnahme übergebenen Briefen an Rötzscher besonders für den am 1. April 1929 verfügten Ausschluss Rötzschers aus der KPD und seinen Wechsel in die Kommunistische Partei-Opposition (KPO) interessiert, für die Rötzscher noch im gleichen Jahr bei den sächsischen Wahlen als Abgeordneter kandidierte. Allerdings erhielt die KPO bei diesen Wahlen kein Mandat.

20 Siehe sowohl Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg (1912). Neu herausgegeben von Johannes Merkel und Dieter Richter, München 1980 als auch Andreas Pehnke: Der Hamburger Schulreformer Wilhelm Lamszus (1881–1965) und seine Antikriegsschrift »Giftgas über uns«. Erstveröffentlichung des verschollen geglaubten Manuskripts von 1932, Beucha bei Leipzig 2006.

21 Siehe Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 172.

22 Siehe ebd., S. 103–108. Siehe auch Steffi Koslowski: Die New Era der New Education Fellowship. Ihr Beitrag zur Internationalität der Reformpädagogik im 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2013.

23 »Die Gesellschaft der Freunde des neuen Russland« fungierte als Herausgeber der illustrierten Zeitschrift »Das neue Russland«. Die Organisation war vornehmlich von bürgerlichen Intellektuellen am 1. Juni 1923 in Berlin gegründet worden, nachdem Russland und Deutschland – beide wurden seit dem Ende des Ersten Weltkrieges von den westeuropäischen Siegermächten ausgegrenzt – am 16. April 1922 mit dem Vertrag von Rapallo eine Friedensregelung zum gegenseitigen Vorteil und zur Normalisierung der bilateralen staatlichen Beziehungen vereinbart hatten. Zu den Mitgliedern zählten: der Reichstagspräsident Paul Löbe, der Verleger Ernst Rowohlt, der Naturwissenschaftler Albert Einstein, der Ökonom und Soziologe Franz Oppenheimer und die Schriftsteller Heinrich und Thomas Mann, Arnold Zweig sowie Egon Erwin Kisch. Die Gesellschaft und ihre Zeitschrift wurden im April 1933 von den Nationalsozialisten verboten.

24 Beispielsweise war vom 11. August bis 9. September 1925 die erste westeuropäische Lehrerdelegation mit 15 deutschen, 12 belgischen und elf französischen Pädagogen unterschiedlicher politischer Orientierung in die Sowjetunion gereist. Der mit Lamszus bekannte und bereits erwähnte Chemnitzer Reformpädagoge Otto Rötzscher zählte dazu. Später reiste eine zweite Lehrerdelegation mit 14 Lehrern aus sechs Ländern dorthin, zu ihnen gehörte der Berliner Schulreformer Fritz Karsen, ein enger Vertrauter von Lamszus.

25 Zit. nach Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 173.

26 Zit. nach ebd.

27 Ebd. Siehe auch stellvertretend Julius Margolin: Überleben ist alles. Aufzeichnungen aus sowjetischen Lagern, Paris 1949 und München 1965 sowie Joseph Scholmer: Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta, Köln 1954.

28 Siehe Lamszus: Erinnerungen (Anm. 6), S. 173.

29 Ebd., S. 174 (siehe diese Quellenangabe auch für den vorstehenden Abschnitt).

30 Ebd.

31 Zit. nach ebd.

32 Zit. nach ebd.

33 Zit. nach ebd.

34 Ebd., S. 175.

35 Ebd., S. 175 f.

36 Siehe ebd., S. 176.

37 Ebd., S. 100.

38 Ebd., S. 177.

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