JHK 2019

Auf dem Weg zu einer transregionalen Geschichte des Kommunismus

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 1-14 | Metropol Verlag

Autor/in: Matthias Middell

[1]Die internationale Geschichtswissenschaft hat in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten eine grundlegende Wende zur stärkeren Beachtung transnationaler, transregionaler und sogar globaler Prozesse erlebt.[2] Diese wiedergewonnene Aufmerksamkeit für Akteursnetzwerke und Handlungsfelder, die über die Grenzen einzelner Staaten und Gesellschaften hinausreichen, ist zweifellos eine Reaktion auf den Aufstieg der Rede von einer allmächtigen Globalisierung, die frühere Formen der Verräumlichung hinweggefegt und durch neue, eben globale ersetzt habe.[3] Während die neuere Globalgeschichte von vielen vor allem als ein Produkt dieses Interesses an Globalisierung angesehen wird, ist sie doch zugleich auch eine fundamentale Kritik an einem Diskurs, der Globalisierung als etwas völlig oder weitgehend Neues versteht. Diese Kritik ist eine doppelte und betont zwei gleichermaßen konsequenzenreiche Gesichtspunkte: Aus dieser Perspektive ist die aktuelle Globalisierung erstens viel mehr die Fortsetzung eines weiter zurückreichenden historischen und dabei keineswegs linearen Prozesses, und sie ist zweitens niemals alternativlos gewesen, sondern lässt sich historisch wie gegenwärtig in einer größeren Zahl von Varianten beobachten.

Diese globalgeschichtliche Wende hat aus nachvollziehbaren Gründen auch ein erhebliches Echo unter europäischen Historikerinnen und Historikern gefunden. Sie hat die Auseinandersetzung mit einer langen Tradition des Eurozentrismus, der Europa (oder seinen Westen) nicht nur am Ursprung aller Moderne und damit auch der Globalisierung sieht, sondern die anderen Weltgegenden lediglich als Echokammern europäischer Entwicklung begreift, beflügelt. Aus der langen Tradition eurozentrischen Denkens einen Ausweg zu finden, motiviert Globalhistorikerinnen und Globalhistoriker in Europa in besonderer Weise, in jedem einzelnen Land auf eine ganz spezifische Weise, weil darin immer auch eine Neuinterpretation der jeweiligen Imperial-, Kolonial- und Nationalgeschichte enthalten ist.[4] Zunächst hat sich die Globalgeschichte, darin ganz ein Kind ihrer Entstehungszeit nach dem Ende des Kalten Krieges und Produkt eines liberalen Triumphalismus, mit der Geschichte des Westens und seiner Beziehungen zum Globalen Süden befasst. Angeregt wurde dies durch die Frage, ob die Welle globaler Verflechtungen und weltwirtschaftlicher Integration, die in den 1990er-Jahren zu beobachten war, historische Wurzeln, Vorläufer und Analogien hat.[5] Hinzu kam eine Krise der Area Studies in den USA, denen vorgeworfen wurde, weder den Zusammenbruch des Ostblocks noch den Aufstieg eines islamistischen Terrorismus ausreichend genau vorhergesagt zu haben. Die institutionell in Nordamerika an den Universitäten nicht sehr gut abgesicherten Area Studies suchten eine neue Anbindung und fanden sie an vielen Orten in den History Departments, die sich auf der Suche nach globalhistorischer Kompetenz der regionalwissenschaftlichen Expertise versicherten.[6] So führte paradoxerweise die Kritik an der Bilanz der Area Studies zum Aufblühen einer Historiografie, die wieder über den Tellerrand des »Westens« hinauszuschauen lernte.[7] Damit rückten auch Kolonialismus und Dekolonisierung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und veränderten die internationale Geschichtskultur nachhaltig, wie schon Charles S. Maier in einem Aufsatz im Jahr 2000 postuliert hatte.[8] Allerdings vollzog sich dieser Prozess nicht gleichförmig und gleichzeitig. Er erfasste auf ganz unterschiedliche Weise die Historiografien ehemaliger imperialer Zentren in Europa wie Großbritannien, Belgien, Italien, Deutschland und Frankreich, er wurde in den Geschichtskulturen der früheren Siedlerkolonien von Australien bis Kanada aufgegriffen, er fand eine wachsende Resonanz in Indien, China und Japan, er spiegelte sich im Bemühen um die Transnationalisierung einer vormals imperial überformten, aber nun besonders auf die jüngere Wiedergewinnung nationaler Unabhängigkeit konzentrierten Historiografie in Ostmittel- und Südosteuropa, er findet ein (mehr oder minder umfangreiches) Echo in unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas und Afrikas. Dieser Prozess versichert sich älterer Traditionen der Weltgeschichtsschreibung oder setzt neu bei einer Kritik des Nationalismus an; neue postkoloniale Ansätze werden ausprobiert, die die Vergangenheiten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas mit jenen Westeuropas und natürlich auch der USA, dem neuen Zentrum liberal ausgerichteter Globalgeschichte, verbinden. All diese Tendenzen auf einen Nenner zu bringen, fällt schwer, und eine detailliertere Darlegung würde hier den Rahmen sprengen. Halten wir stattdessen grundsätzlich fest: Die Rede von der einen Globalgeschichte führt eher in die Irre, zu unterscheiden sind vielmehr zahlreiche Varianten und Zugänge, die sich auch nicht umstandslos nationalen Schulen und Richtungen zuordnen lassen. Angesichts einer wachsenden Mobilität der Forscherinnen und Forscher, aber auch angesichts einer zunehmenden Kooperation über Ländergrenzen hinweg ist das Erforschen und Schreiben von Globalgeschichte längst an vielen Stellen transnationale Praxis geworden.

Aber ebenso, wie sich die Zugänge differenziert haben, fällt auch die Behandlung einzelner Weltregionen und Problemkreise völlig unterschiedlich aus. Die heutige Globalgeschichtsschreibung ist weit davon entfernt, alle Teile des Globus mit der gleichen Intensität zu betrachten und zu untersuchen. Dabei fällt eine Fehlstelle besonders auf: Paradoxerweise wurde die Geschichte des Staatssozialismus, seiner ideologischen und organisatorischen Inspirationsquellen und auch die Geschichte jener Region zwischen dem östlichen Europa und Zentral- und Ostasien, in der sich staatssozialistische Regime erstmals für eine längere Zeit etablierten, mindestens marginalisiert, wenn nicht teilweise ganz vergessen. Sie wird in den großen Synthesen nur am Rande behandelt, und die durchaus traditionsreiche russische Weltgeschichtsschreibung findet selbst mit ihren ambitioniertesten Produkten, wie der jüngst am Moskauer Akademie-Institut herausgegebenen mehrbändigen Weltgeschichte, fast keine auswärtige Resonanz. Dies erscheint aus gleich mehreren Gründen paradox. So gehörte Marx zu den frühen Analytikern des sich globalisierenden Kapitalismus, ja, man könnte ihn als einen frühen Vertreter der Globalgeschichtsschreibung charakterisieren.[9] Außerdem hat die von ihm inspirierte Arbeiterbewegung schon früh, besonders auffällig aber im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nach internationalistischen Antworten auf den Zusammenhang von Globalisierung und Nationalstaatsbildung gesucht. Schließlich lässt sich auch aus der kritischsten Perspektive auf die Historiografien, die die staatssozialistischen Gesellschaften hervorbrachten, dieser oft pauschal als marxistisch gekennzeichneten Geschichtsschreibung eine internationale Wirkung nicht absprechen.[10] Für Marx war die Grenzen einreißende Macht des Kapitals und der von ihm in Gang gesetzten Technologien ein riesiges Faszinosum, von dem er sich die Beseitigung aller alten, mit Lokalität und Regionalität verbundenen Gesellschaftsverhältnisse erwartete. Die Erste Internationale zielte bekanntlich auf einen Zusammenschluss entlang sozialer Kriterien (auch wenn der Terminus »Arbeiter«, der dabei im Mittelpunkt stand, viele Unschärfen aufweist) und versuchte das Projekt einer Organisation entlang geografisch-kultureller Kriterien (eben der Nation) zu konterkarieren. Dass dies mehrfach scheiterte – zunächst an der Nationalisierung der Sozialdemokratien vor und während des Ersten Weltkrieges sowie in der darauffolgenden revolutionären Krise –, ist an sich noch kein Grund, den internationalistischen Impuls als eine interessante Reaktion auf die Herausforderungen, die von moderner Globalisierung ausgehen, zu übersehen. Ebenso wie die Bildung von Nationalstaaten[11] war auch die Organisation über deren Grenzen hinweg eine Variante, die zunehmenden globalen Ströme von Menschen, Waren, Kapital und Ideen zu nutzen, um eigene Interessen durchzusetzen. Angesichts wachsender wirtschaftlicher Verflechtungen erschien es sinnvoll, den Widerstand der abhängig Beschäftigten nicht nur im nationalen Rahmen zu organisieren, sondern entlang der Wertschöpfungsketten und auf der Basis internationaler Solidarität.

Der Vorgang wiederholte sich gewissermaßen mit der Gründung der Dritten (Kommunistischen) Internationale. Wieder stand die Frage im Raum, ob auf eine neue Etappe globaler Integration, stärkeren Verlangens nach Dekolonisierung und Reorganisation des internationalen Systems so reagiert werden sollte, dass Nationalstaatsbildung (bzw. das Selbstbestimmungsrecht der Völker als dessen Grundlage) in den Fokus gerückt oder eine länderübergreifende Antwort entlang politisch-sozialer Kriterien gefunden werden sollte. Lenins Antwort auf den »Wilsonʼschen Moment«[12] in der Globalgeschichte war in dieser Hinsicht zwiespältig und wurde bald von Stalins Bevorzugung der imperialen Interessen des neuen Sowjetrussland einkassiert. Ungeachtet dieser Rücknahme des internationalistischen Anspruchs, die viele Kommunisten in den 1930er- und 1940er-Jahren mit dem Leben bezahlten und die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem raschen Verfall der Illusionen führte[13], ist die Geschichte des Sozialismus auch eine Geschichte immer neuer Kohorten von Anhängern grenzüberschreitender Solidarität und eines internationalen Kampfes gegen Ausbeutung und Diskriminierung, auch wenn dies stets erneut Dissidenten unterschiedlichster Couleur hervorbrachte. Ungeachtet dieses fundamentalen, dem staatssozialistischen Projekt inhärenten Widerspruchs leisteten die Sowjetunion und nach der von 1945 bis 1948 dauernden Übergangsphase der sich organisatorisch konsolidierende »Ostblock« einen Beitrag zur Transzendierung angestammter territorialer Grenzen im ganzen Verlauf des 20. Jahrhunderts: zunächst durch die interne Integration entlang der Linien von Warschauer Vertrag und Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)[14], darüber hinaus aber auch durch die inter-regionale (meist wirtschaftliche und militärisch-politische) Kooperation mit Ländern des Globalen Südens.

Von all dem war in der ersten Euphorie der neuen Globalgeschichte in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrtausendwende wenig bis gar nichts zu lesen. Die Delegitimierung des kommunistischen Projektes war beinahe vollständig, und jene, die es trotzdem verteidigten, sahen wenig Grund, einer scheinbar den Sieg des Neoliberalismus verkündenden und begründenden Globalisierungserzählung auch noch die eigene Geschichte anzugliedern. Dies hat sich in der letzten Zeit schrittweise geändert. Eine nach wie vor zahlenmäßig überschaubare Gruppe von vor allem jüngeren Historikerinnen und Historikern beginnt mit einer neuen Spurensuche. Es kann eigentlich kaum verwundern, dass der Ertrag solcher Archivrecherchen außerordentlich groß ist, denn die globalen Ambitionen der kommunistischen Parteien seit ihrer Gründung und des östlichen Lagers im Kalten Krieg wurden ja keineswegs im Verborgenen verfolgt, und ihre Dokumentation erfolgte viel zu akribisch, als dass sich in den Archiven nichts mehr davon finden ließe, auch wenn manch interessantes Detail noch immer hinter verschlossenen Türen auf einen zweiten Frühling der Archivöffnung wartet oder in den Wirren der Revolution von 1989 zerstört wurde. Die Hoffnung auf eine Weltrevolution begleitete diese internationalistischen Ambitionen von Anfang an, und schon die russischen Revolutionäre von 1917 taten sich schwer mit der Vorstellung, den Sozialismus zunächst nur in einem Teil der Welt aufzubauen und ihn damit auch der mühevollen und schmerzhaften Aushandlung mit einem »feindlichen Umfeld« auszusetzen. Lange galt dieses Argument als Entschuldigung für fortbestehende Defizite, und schlussendlich war die finale Krise vieler kommunistischer Parteien von dem Eingeständnis getragen, dass in dieser Konstellation nur Stellungsgewinne zu machen, aber nicht die Systemauseinandersetzung zu gewinnen gewesen wäre.

Eine solche Interpretation, die das Ende schon kennt und alles von dort her deutet, durchzieht weite Teile der Literatur. Auch dort, wo der Gedanke anerkannt ist, dass der Staatssozialismus eine gewisse Rolle in der Entfaltung globaler Verflechtungen im 20. Jahrhundert spielte, ist die Bewertung der »roten Globalisierung«[15] überblendet von der Idee finaler Erfolglosigkeit. Das Scheitern war dem Projekt von Anfang an eingeschrieben. Solche Urteile liegen vielleicht nahe, wenn man eben das Ende bereits gesehen hat, aber sie werfen zugleich die Frage auf, warum so viele Zeitgenossen Reisestrapazen auf sich nahmen, um nach den sowjetischen Antworten auf Fragen zu suchen, die sich auch anderswo stellten – seien es Fragen nach der Durchsetzung von Industrialisierung einer vordem stark agrarisch geprägten Gesellschaft oder solche nach originellen Formen der Staatlichkeit in einem postimperial(istisch)en Verbund von Metropole und ehemaligen Kolonien usw.[16] Ebenso gilt es, diese Urteile mit den Hoffnungen vieler auf einen Sieg der Roten Armee gegen die Achsenmächte abzugleichen. Und schließlich lässt sich mit Recht gegen ein allzu schnelles Verdikt auch einwenden, dass zweifellos das sowjetische Modell des Staatssozialismus 1991 zerbrochen ist, in anderen Teilen der Welt aber nach wie vor kommunistische Parteien nach einem erfolgreicheren Transformationspfad suchen und nach aktuellem Stand besonders in China dabei auch fündig geworden zu sein scheinen. Für eine historische Kommunismusforschung wäre es ein Armutszeugnis, dieses Problem allein mit dem Verweis wegzuwischen, es handele sich in China nun gerade nicht um lupenreinen Kommunismus, und auch das Überleben des Experiments der Castro-Brüder auf Kuba sei nur mit einer schrittweisen Abkehr von den Maximen des Staatssozialismus zu erklären. Demgegenüber scheint mir eine Argumentation aussichtsreicher, die gerade andersherum vorgeht und eine erhebliche Varianz von Ideen und Praktiken der Gesellschaftsgestaltung annimmt, die sich auf den seit Marx mäandrierenden Gedankenstrom sozialistischer und kommunistischer Intellektueller berufen und die sich – diese zweite Inspirationsquelle wird wohl notorisch unterschätzt – aus den sozialen Forderungen, Wünschen und Praktiken vieler »einfacher Leute« speisen. Die Ränder eines solchermaßen hergeleiteten »Kommunismus« sind notwendigerweise hochgradig unscharf, ganz besonders, wenn man sich eine globale Perspektive zu eigen machen will. Definitiv kommt dabei keine einheitliche Bewegung in den Blick, die stramm nach (Moskaus?) Pfeife tanzt, sondern eine Gemengelage ganz verschiedener geistiger und gesellschaftlicher Strömungen, divergierender Praktiken und durcheinanderlaufender Träume (Illusionen, solange die Kräfte für ihr Einlösen nicht reichen).

Hier kommt nun eine wichtige Einsicht der neueren Globalgeschichte in den Sinn: Die Zeit, in der es vor allem der geistigen Kraft des Welthistorikers bedurfte, um die (noch nicht bestehende) Einheit der Welt zu erzwingen (oder besser: zu erträumen und herbeizuwünschen), ist abgelöst durch einen Grad der Verflechtung der Welt (die sogenannte global condition), der es immer mehr Menschen möglich macht, aber auch auferlegt, die Welt durch ihr alltägliches Produzieren und Konsumieren zu verknüpfen.[17] Diese global condition sollte nicht verwechselt werden mit einer homogenen, alle glücklich machenden Welt, in der Ungleichheit und Ausbeutung, Gewalt und Krieg verschwinden. Im Gegenteil! Es ist eine hochgradig konfliktreiche Welt, weil es eben keine regulatorische Idee gibt, die diese Einheit normativ steuert, auch wenn an Vorschlägen für eine solche normative Grundlage kein Mangel herrscht.[18]

In dieser global condition ist auch das internationalistische Projekt des Kommunismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verankert. Als Marx und Engels im Kommunistischen Manifest feststellten, ein Gespenst gehe um in Europa, beflügelte sie der Gedanke, eine neue gesellschaftliche Kraft entdeckt zu haben, die die Einheit der Welt herstellen könne. Doch schon die Erfahrung der Revolution von 1848 belehrte sie, dass die Sache widersprüchlicher als angenommen sei. Die ökonomischen Studien, die Marx, nicht zuletzt gestützt auf die Erfahrungen seines Freundes Engels mit dem frühen Industrialismus in Manchester, zur Lösung des Rätsels unternahm, ließen ihn zwei Kräfte »entdecken«, die er für wirkmächtig hielt: den Kapitalismus und das Proletariat. Es ist hier nicht der Ort, seine diesbezüglichen Denkbewegungen nachzuzeichnen, zumal dies im Jubiläumsjahr 2018 reichlich geschehen ist. Wesentlich scheint mir, dass weder der Kapitalismus noch das Proletariat (oder die verschiedenen Substitute, die im Laufe der Entwicklung des Marxismus-Leninismus erörtert und erprobt wurden) jene Einheit der Welt geschaffen haben, die als kommunistischer Endzustand erträumt wurde. Vielmehr hat der Versuch, einen mächtigen Akteur zu schaffen und ihm über Parteibildung, Wahlen, den Ausbau diktatorischer oder autoritärer Vollmachten in der Regierungsmacht eine wachsende Mobilisierung von Anhängern zu vermitteln, den Konfliktreichtum der global condition nicht beendet, sondern diese eher bestätigt. Viele (wenn auch beileibe nicht alle) Ideen von Gerechtigkeit, die innerhalb der Arbeiterbewegung, aber auch unter den ihr verbundenen egalitär gestimmten Bauern attraktiv wurden, gingen Hand in Hand mit exklusiven Praktiken – und sei es gegenüber den Zwangsarbeitern und Lohnempfängern am anderen Ende der Welt, die als Konkurrenten um Ressourcen des heimischen Wohlfahrtsstaates angesehen wurden.[19] Mit der Etablierung des Wohlfahrtsstaates sah sich die Arbeiterbewegung noch stärker in das Dilemma der global condition gestellt, eine Balance zwischen Souveränitätsansprüchen und der Integration in Weltmärkte, Weltpolitik und zunehmend transnationale Zirkulationen kultureller Angebote finden zu müssen.

Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Debatten um mögliche Optionen für die Arbeiterbewegung eine gewaltige Zäsur.[20] Mit der Zustimmung zu Kriegskrediten hatten viele Repräsentanten sozialistischer Parteien akzeptiert, dass ihre Basis sich eher für nationale Kriegsziele als für eine internationalistische Solidarität begeisterte oder doch zumindest der Disziplinierung der rasch hochgradig militarisierten Gesellschaften folgte. Auf die finale Krise des Krieges reagierten sowohl der amerikanische Präsident Wilson als auch der russische Revolutionsführer Lenin mit einem Plädoyer für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wenn auch mit durchaus unterschiedlichen Hintergedanken. Ging es dem einen um die Schwächung der Kriegsverlierer in Wien und Berlin vor allem im ostmitteleuropäischen Raum vor dem Hintergrund der nordamerikanischen Erfahrungen mit Unabhängigkeit als Grundlage für liberal begründete Souveränität, so zielte der andere auf die Mobilisierung antiimperialistischer und antikolonialer Befreiungsenergien als vorläufigen Ersatz für die ausgebliebene (bzw. rasch wieder abflauende) Revolutionsbegeisterung im Westen Europas. Die Kommunistische Internationale sollte dieser Allianz den organisatorischen Rahmen bieten. Allerdings war das Projekt geprägt von den Geburtsmalen des zu Ende gehenden Weltkrieges und des unmittelbar anschließenden Bürgerkrieges sowie der enttäuschten Hoffnung auf jene »Weltrevolution«, deren es nach den Vorstellungen vieler bedurfte, um erfolgreich sein zu können. Lenins Entscheidung, die Herausforderung der »Revolution in einem Land« anzunehmen, bedeutete zugleich, dass soziale Fragen hinter dem Schutz dieses als vorläufig gedachten Vorpostens zurückzutreten hatten. Der Kampf der Bolschewiki um das Überleben in einer feindlichen Umgebung legte die Umdeutung des russischen Bürgerkriegs in einen fortdauernden weltweiten Bürgerkrieg nahe, für den allerdings die staatliche Konsolidierung wichtiger war als die zuvor propagierte Mobilisierung der Selbstverwaltungskräfte der Arbeiter- und Soldatenräte.[21] Diese staatliche Konsolidierung wiederum stand in der Tradition des russischen Imperiums und nicht etwa eines demokratischen Nationalstaates. Als Konsequenz ergaben sich zahlreiche Konfliktlinien, die den Kommunismus zu einem alles andere als eindeutigen Projekt werden ließen. Entsprechend versammelten sich unter dem Dach einer nur scheinbar konvergierenden kommunistischen Identität völlig unterschiedliche und zum Teil offen gegensätzliche Weltsichten, Einstellungen, Hoffnungen und politische Vorhaben. Diese Differenzen stießen sich heftig an den Aufnahmebedingungen, die sich die Kommunistische Internationale bei ihrer Gründung auferlegte. Man kann demzufolge den Kommunismus insgesamt als eines der großen Projekte zur Reaktion auf Globalisierungsbedingungen im 20. Jahrhundert ansehen und dann auf seine innere Dynamik und Widersprüchlichkeit verweisen, aber auch seine Fähigkeit nachzeichnen, immer wieder (wenn auch mit nachlassendem Erfolg) eine »einheitliche Linie« zu erzwingen bzw. auszuhandeln. Eine andere Variante besteht darin, die ganz unterschiedlichen Komponenten dieses »Weltkommunismus« in die jeweiligen Kontexte etwa der antikolonialen Bewegungen oder des Antifaschismus einzuordnen und den sowjetischen Dirigismus als eine externe Variable zu behandeln. Für beide Optionen gibt es in der Historiografie zahlreiche Beispiele, je nachdem, ob eine Geschichte des global agierenden Kommunismus oder eine Geschichte verschiedener territorialer Einheiten das Ziel ist. Diese Unentschiedenheit bzw. Widersprüchlichkeit hat Folgen für den Platz des Kommunismus in der Globalgeschichte.

Die in jüngerer Zeit erheblich in Gang gekommenen Forschungen zu den Bezügen zwischen kommunistisch regierten Ländern und der Weltwirtschaft oder zwischen kommunistischen Parteien und globalen Emanzipationsbewegungen oder zwischen kommunistischem Anspruch und neoimperialer Wirklichkeit haben bislang kaum tiefere Spuren in der allgemeinen Globalgeschichte hinterlassen. Dies hängt natürlich auch mit einer Marginalisierung der Region zusammen, in der der Staatssozialismus etabliert war: Für die neue Imperialgeschichte war zunächst die Untersuchung der überseeischen Besitzungen von Briten, Holländern, Franzosen, Belgiern, Nord- und Mitteleuropäern interessanter und angesichts des von Indien, Südamerika und dem subsaharischen Afrika ausgehenden Interesses an postkolonialen, subalternen und dependenztheoretischen Deutungen auch geschichtspolitisch aufregender. Die sich gleichzeitig entfaltende Debatte um Russlands Imperialgeschichte, sicherlich in ihrer geschichtspolitischen Aufladung am besten nachzulesen in den Spalten der Zeitschrift Ab Imperio, aber mittlerweile auch in prominenten Gesamtdarstellungen resümiert[22], bleibt davon eigentümlich abgespalten, allen Bemühungen komparativer Empire-Historiker[23] zum Trotz. Ähnliches lässt sich für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte konstatieren, die nur zögerlich das östliche Europa in ihre Neuinterpretationen etwa der Global Labour History[24] oder der Science and Technology Studies einbezieht.

Dieser widersprüchliche historiografische Befund eines sich verstärkenden Interesses unter den Spezialisten osteuropäischer Geschichte und der Geschichte des Sozialismus an transnationalen Zusammenhängen einerseits und der noch weitgehenden Marginalisierung dieser Gegenstände und Neuinterpretationen in einer allgemein auf globale Zusammenhänge ausgerichteten Geschichtsschreibung andererseits hat die Entscheidung befördert, einen Band des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung den globalen und transregionalen Bezügen in der Geschichte des Marxismus und des Staatssozialismus zu widmen und dabei auch die Zeit nach 1989 mit einzubeziehen.

Entsprechend bot sich eine Dreiteilung für diesen Band an, der zunächst die frühen Debatten um unterschiedliche Optionen im Umgang mit den globalen Herausforderungen rekonstruiert. Dabei bewegte die Frage nach einer eigentlich als notwendig angesehenen Weltrevolution die Gemüter, wie Christian Høgsbjerg am Beispiel von C. L. R. James exemplarisch darlegt. Dass diese Weltrevolution nicht von selbst kommen würde, sondern ein zentrales Subjekt haben müsse, das es erst noch politisch ebenso wie sozioökonomisch zu konstituieren gelte, scheint durch viele der Diskussionen durch. Wie aber sollte ein solcher Konstituierungsprozess unterstützt werden und in welchem Verhältnis müsste er zu den Wünschen der Mitglieder von Gewerkschaften stehen? Holger Weiss beschreibt die daraus resultierenden Konflikte am Beispiel der Seeleute und Hafenarbeiter, die in ihrer Berufspraxis in besonderer Weise mit den globalen Verflechtungen, aber auch der Spannung zwischen Internationalismus, Nationalismus und Rassismus konfrontiert waren.

Die Beiträge von Ivan Sablin und Moritz Florin behandeln die frühe Herausforderung, die ein imperiales Erbe für die Sowjetunion bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren darstellte, und schlagen damit eine Brücke zum größten Block in diesem Band, der sich mit der Zeit des Kalten Krieges beschäftigt. Die UdSSR war von einer Grundspannung gekennzeichnet zwischen »Ausdehnung, Multiethnizität, einer imperialen Elite, der asymmetrischen Zentrum-Peripherie-Struktur, dem Sozialismus als privilegierter Weltdeutung und zivilisierungsmissionarischer Ideologie sowie […] der latenten Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt zur Herrschaftssicherung«. So mischten sich die Merkmale eines Imperiums einerseits mit der selbst zugeschriebenen emanzipatorischen Rolle für die noch immer (wenn auch abgeschwächt) verfolgte Transformation der ganzen Welt in Richtung Sozialismus und Kommunismus andererseits. Dies führte auch zu den Widersprüchen der Globalpolitik Stalins und seines Nachfolgers Chruščëv. Dieser ging davon aus, »dass die sowjetische Ordnung durch Errungenschaften in Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie und Medizin, in Kultur, Bildung und allgemeinem Lebensstandard, durch das praktizierte Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Geschlechts und verschiedener Nationalitäten sowie durch ihre internationale Positionierung gerade in der Dritten Welt als Leitstern diente, dem Gesellschaften und Regierungen quasi wie von selbst folgen wollen würden«, wie Andreas Hilger die allgemeine Situation charakterisiert, bevor er sich dem indisch-sowjetischen Verhältnis genauer zuwendet. Auch hier zeigt sich ein Muster, das bereits in den 1930er- und 1940er-Jahren zu beobachten war. Die Richtungsentscheidung der sowjetischen Außenpolitik für eine engere Abstimmung mit der Zentralregierung Indiens bedeutete zugleich eine Absage an die Kommunistischen Parteien und ihre radikale Opposition zum Elitenprojekt des nation building. Das Vorhaben eines Aufbaus von Strukturen nationaler Souveränität, in die man in Moskau die größten Hoffnungen für einen späteren energischen Durchbruch zum Sozialismus setzte, erhielt fast durchweg Vorrang gegenüber der von den Kommunisten vor Ort besonders betonten sozialen Frage. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Legitimität des sozialistischen Anspruchs bei den Kadern und Anhängern der KPs, aber auch bei den peripheren Unterschichten, denen im nation building primär die Rolle des materiellen Fundaments, nicht aber des Nutznießers zugedacht war.

Damit setzte sich in der sogenannten Dritten Welt ein Dilemma fort, unter dem die kommunistische Bewegung schon seit den 1920er-Jahren gelitten und an dem sie in den 1930er-Jahren faktisch bereits zerbrochen war: Kommunisten ließen sich leicht als antinationale Kräfte und Handlanger eines ausländischen Imperialismus denunzieren, denen die globale Bewegung in Richtung Sozialismus wichtiger war als der Fortschritt in Richtung Souveränität des eigenen Landes. Der Schwenk von dem noch halbwegs glaubwürdigen Internationalismus Lenins, der die Malaise eines »Sozialismus in einem Land« immerhin kritisch reflektiert hatte, zur offenen und zunehmend brutalisierten Imperialpolitik unter Stalin hatte dem kommunistischen Projekt einen erheblichen Teil seiner Glaubwürdigkeit geraubt und wurde besonders auffällig, als der Hitler-Stalin-Pakt bekannt wurde. Begründet mit dem notwendigen Zeitgewinn für eine Aufrüstung, die den letztlich nicht aufhaltbaren Krieg mit Nazideutschland bestehen helfen sollte, ging dieser Pakt über die besondere Sensibilität in jener Zone hinweg, die gerade erst 1918 vom Überlappungsbereich dreier Imperien zu nationalstaatlicher Souveränität gefunden hatte, und signalisierte damit allen politischen Kräften mit vorrangig nationaler Agenda, dass sie es maximal zum taktischen Partner der Sowjetunion auf Zeit bringen würden. Der Schwenk in den 1950er- und 1960er-Jahren wiederum verdeutlichte, dass auch kommunistische Parteien in West, Süd und Ost nicht über eine solche Rolle hinaus Anerkennung finden würden, wenn es den machtpolitischen Interessen der sowjetischen Führung gefiele. Die Rhetorik der Brüderlichkeit war für die Festtags- und Parteitagsreden reserviert, im Alltag herrschte zumeist schiere Interessenpolitik. Dies blieb nicht unerkannt, und die emotionale Loyalität zur Vormacht des Kommunismus schmolz bei vielen dahin. Nach dem Zerwürfnis mit Chinas Führung suchten andere wie die nordkoreanische oder die vietnamesische die entsprechenden Spielräume ebenfalls für eine kühl kalkulierte Interessenpolitik zu nutzen. Allerdings macht der Vergleich, den Danhui Li und Yafeng Xia vorgenommen haben, darauf aufmerksam, dass bis in die 1970er-Jahre die Ressourcen des maoistischen China nicht ausreichend waren, um eine wirkliche Alternative im Bündnispoker zwischen den kommunistischen Rivalen zu bieten.

Auch Indien hatte versucht, Maos China für seine Politik der Neutralität und Verständigung zwischen den beiden Hauptlagern des Kalten Krieges zu gewinnen, konnte aber aus der zunehmenden Distanz zwischen Moskau und Peking letztlich ebenfalls keinen Gewinn ziehen, weil Mao eher auf eine alternative Form der Radikalisierung internationaler Beziehungen setzte. Der chinesisch-indische Waffengang und die scharfen Spannungen zwischen China und der Sowjetunion Anfang der 1960er-Jahre signalisierten, so Hilgers Resümee, dass von einem geschlossenen Lager mit gemeinsamer oder auch nur konvergierender Globalstrategie keine Rede sein konnte, sondern vielmehr in Moskau, Delhi und Peking drei ganz unterschiedliche und bei fast jeder sich bietenden Gelegenheit konfligierende Zukunftsentwürfe der internationalen Beziehungen und der Gesellschaftsentwicklung verfolgt wurden. Entsprechend lässt sich weder die Geschichte des Sozialismus/Kommunismus auf eine dieser Strategien reduzieren noch der Beitrag der staatssozialistischen Länder zu einer Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts allein mit Blick auf Moskaus Hegemonie über Ostmittel- und Südosteuropa abmessen.

Chinas Stunde sollte erst später schlagen und schon bald die amerikanische Herausforderung annehmen.[25] Vorerst allerdings hatte das »sozialistische Lager« unter Moskaus Führung noch einiges für Befreiungsbewegungen (Hanno Plass) und frisch an die Macht gekommene Regierungen in Afrika und Teilen Asiens, aber auch in Lateinamerika[26] und dem Nahen Osten[27] zu bieten. Und dies nicht zuletzt angesichts einer durchaus erst noch wiederzuentdeckenden Vielfalt der Zugänge und Offerten, die von Bulgariens Inszenierung als besonders kompetent in Agrar- und Bauernfragen (Stefan Troebst) über die breite Expertise beim Aufbau nationaler Gesundheitssysteme (Bogdan C. Iacob) bis zu Ungarns reform- und marktorientierten Vorschlägen für die weitere Integration in die Weltwirtschaft (Bence Kocsev) reichten. Dass dieses wachsende Engagement besonders im Nahen Osten und im subsaharischen Afrika, das nachweislich nicht unbeeindruckt von den dort gemachten Erfahrungen blieb (Constantin Katsakioris), auch die Gesellschaftstheorien in den staatssozialistischen Ländern selbst beeinflusste, belegen die Untersuchungen von Steffi Marung zur afrikawissenschaftlichen Forschung in der Sowjetunion und von Matthias Middell zum Entstehen der Area Studies in der DDR.

Allerdings verblasste der Stern des Kommunismus bereits in den 1980er-Jahren in vielen Teilen der Welt,[28] auch wenn der Beitrag von Hanno Plass in diesem Band mit Südafrika ein interessantes Gegenbeispiel liefert. Es läge deshalb nahe, die Geschichte der Begegnung von Kommunismus und Globalgeschichte im Jahr 1989 mit einem großen Knall enden zu lassen.[29] Nicht zufällig war um diese Zeit überall vom Zusammenbruch des Kommunismus zu lesen, und nach der schleichenden Legitimationskrise, die mindestens das davor liegende Jahrzehnt umfasste, sowie der Auflösung von Sowjetunion, Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und Warschauer Vertrag bot sich reiches Material für eine solche Diagnose. Von der Transformation oder vollständigen Selbstauflösung kommunistischer Parteien bis zum Elitenaustausch in den früheren staatssozialistischen Ländern, von der raschen Annäherung politischer Bewegungen, die vordem Unterstützung in Moskau, Ost-Berlin, Sofia oder Havanna gesucht hatten, an neue Bündniskonstellationen und Allianzen bis hin zur Vorstellung, die Welt sei nun mehr oder weniger für immer von einem übrig gebliebenen westlichen Hegemon dominiert, reichen die nicht von der Hand zu weisenden Argumente. Dass Kubas kommunistische Führung seine euphemistisch als »spezielle Periode« bezeichnete Krisenphase der Abnabelung vom RGW und sowjetischen Hilfslieferungen überlebte und dass Nordkoreas Dynastie nach einer katastrophalen Hungersnot sogar wieder in der Lage ist, mit Atomwaffen zu drohen, geht für den Mainstream eher als Kuriosität der Weltgeschichte durch und gilt noch nicht als Gegenbeweis für eine substanzielle Fortdauer des Kommunismus. Der Fall China liegt dagegen komplizierter. Wer ein pazifisches Jahrhundert prognostiziert, in dem China zum Hauptkonkurrenten der USA aufsteigt, muss sich auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass hier eine kommunistische Partei ihr Machtmonopol über die Krise von 1989 gerettet hat und heute von vielen Eliten in Afrika, Lateinamerika und Teilen Asiens als der attraktivere Verbündete und vielleicht sogar als Rollenmodell für künftige Entwicklung angesehen wird. Eine neue Facette des Kommunismus, die mit der auf den sowjetischen Typus des Kommunismus ausgerichteten Rhetorik des Kalten Krieges nicht genau zu treffen ist, bleibt als Herausforderung. Die sozialen Spannungen, die diese Verbindung von Marktorientierung und Autoritarismus hervorbringt, sind nicht zu übersehen, wie auch der Beitrag von Felix Wemheuer zeigt, der an die Einsicht der New Global Labour History anschließt und auf die Vielfalt der im Kapitalverhältnis entstehenden Formen abhängiger Beschäftigung hinweist. Aus einer anderen Richtung argumentiert Kolja Lindner, der das Potenzial der in den Marxʼschen Schriften nachvollziehbaren Gedankenentwicklung für eine Konzipierung künftiger Emanzipationsprogramme durchmustert. Er trägt damit zu deren Historisierung bei und stellt sich einer allzu vorschnellen – positiven wie negativen – Aktualisierung in den Weg, die, wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, in so vielen verschiedenen Formen und Kontexten stattgefunden hat, dass man kaum mehr das Gemeinsame zu erkennen meint.

Die hier versammelten Beiträge geben einen Einblick in neue Tendenzen der Forschung, aber sie sind selbstverständlich nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellt. Dies wäre schon angesichts der 2017 erschienenen dreibändigen Cambridge History of Communism vermessen, die eine noch deutlich breitere regionalwissenschaftliche Expertise für einen tatsächlich globalen Blick mobilisieren konnte. Unser Anliegen war dagegen, den Zusammenhang zu neueren Trends in der Globalgeschichtsschreibung zu verdeutlichen, denn allzu lange haben die Historiografien der globalen Verflechtungen und Globalisierungsprojekte einerseits und des Kommunismus andererseits nur wenig Kenntnis voneinander genommen. Die Integration des Kommunismus in ein überzeugendes globalgeschichtliches Narrativ des 20. Jahrhunderts steht noch aus, aber andersherum könnte man sagen, mit der Erschließung der Geschichte des Kommunismus als ein Bündel alternativer Globalisierungsprojekte nähert man sich einem überzeugenderen Bild vom 20. Jahrhundert an, als es eine Historiografie bieten kann, die einem triumphalistischen Bild vom Sieg des Westens lediglich den legitimatorischen Unterbau verschaffen will. Vielleicht bedurfte es für eine solche Perspektive notwendigerweise eines gewissen Abstandes von der Epochenzäsur 1989 und vom damals propagierten »Ende der Geschichte«.[30] Ganz offensichtlich hat sich auch diesmal der Traum von der Stilllegung aller Konflikte nicht erfüllt.

 

Dieser Band geht auf einen gemeinsam mit Katja Naumann vom GWZO Leipzig konzipierten Autorenworkshop zurück, den dankenswerterweise die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am Leipziger Centre for Area Studies ermöglicht hat. Er bildete die Grundlage für die hier präsentierte Kollektion von Aufsätzen. Nach einer sehr intensiven Debatte wurden die Texte überarbeitet und erlauben jetzt einen Blick in ein aufregendes Laboratorium neuer Ansätze der Geschichtsschreibung von Sozialismus und Kommunismus, die mit ganz unterschiedlichen Ansätzen versuchen, ausgetretene Pfade zu verlassen. Den Autorinnen und Autoren sei herzlich gedankt für die Mitwirkung an diesem Vorhaben. Gleichermaßen geht besonderer Dank an Forrest Kilimnick, Birte Meyer, Katharina Middell und Antje Zettler für Übersetzungen der ursprünglich auf Englisch eingereichten Texte und für die Unterstützung beim Copyediting. Zugleich sei auch die Hilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am DFG-Sonderforschungsbereich 1199 »Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen« erwähnt, die ein stimulierendes intellektuelles Umfeld auch für dieses Projekt gebildet haben.

 


[1] Die Herausgeber und die Redaktion danken Matthias Middell, Universität Leipzig, für die Konzeption und die gute Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Realisierung des »Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung 2019«.

[2] Unter den vielen Bilanzbänden, die zugleich auch immer programmatische Aufsätze enthalten, wie diese neue Art der Geschichtswissenschaft zu praktizieren sei: Jerry H. Bentley (Hg.): The Oxford handbook of world history, Oxford/New York 2011; Maxine Berg (Hg.): Writing the history of the global. Challenges for the 21st century, Oxford 2013; James Belich/John Darwin/Margret Frenz/Chris Wickham: The prospect of global history, Oxford 2016; Sven Beckert/Dominic Sachsenmaier (Hg.): Global history, globally. Research and practice around the world, London 2018; Matthias Middell (Hg.): Routledge Handbook of Transregional Studies, London 2018.

[3] Olaf Bach: Die Erfindung der Globalisierung. Untersuchungen zu Entstehung und Wandel eines zeitgeschichtlichen Grundbegriffs, Bamberg 2007, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2013; Paul James/Manfred B. Steger: A Genealogy of ›Globalization‹: The Career of a Concept, in: Globalizations 11 (2014), H. 4, S. 417–434; Jan Eckel: »Alles hängt mit allem zusammen.« Zur Historisierung des Globalisierungsdiskurses der 1990er und 2000er Jahre, in: Historische Zeitschrift 307 (2018), H. 1, S. 42–78.

[4] Tobias Rupprecht: Die Sowjetunion und die Welt im Kalten Krieg: Neue Forschungsperspektiven auf eine vermeintlich hermetisch abgeschottete Gesellschaft, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), H. 3, S. 381–399; Matthias Middell (Hg.): European Perspectives on Global History, London 2019.

[5] Für die Verbindungslinie zwischen Staatssozialismus und Neoliberalismus: Johanna Bockmann: The Origins of Neoliberalism between Soviet Socialism and Western Capitalism. A Galaxy without Borders, in: Theory and Society 36 (2007), H. 4, S. 343–371; dies.: The Long Road to 1989. Neoclassical Economics, Alternative Socialisms, and the Advent of Neoliberalism, in: Radical History Review (2012), H. 112, S. 9–42; dies.: Socialist Globalization and Capitalist Neocolonialism. The Economic Ideas behind the NIEO, in: Humanity (2015), S. 109–128.

[6] Siehe dazu David L. Szanton (Hg.): Politics of Knowledge. Area Studies and the Disciplines, Berkeley 2004; David C. Engerman: Know your enemy. The rise and fall of Americaʼs Soviet experts, New York/Oxford 2011; Torsten Loschke: Area Studies Revisited. Die Geschichte der Lateinamerikastudien in den USA, 1940 bis 1970, Göttingen 2017; Katja Naumann: Laboratorien der Weltgeschichtsschreibung. Lehre und Forschung an den Universitäten Chicago, Columbia und Harvard 1918 bis 1968, Göttingen 2018.

[7] Für eine Erfolgsgeschichte der neuen Globalgeschichte nordamerikanischer Provenienz: Patrick Manning: Navigating world history. Historians create a global past, New York 2003; dagegen frühere Konjunkturen (auch europäischer) Weltgeschichtsschreibung stärker gewichtend: Matthias Middell/Lluis Roura (Hg.): Transnational Challenges to National History Writing, Basingstoke/New York 2013.

[8] Charles S. Maier: Consigning the 20th Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831.

[9] Matthias Middell: Karl Marx (1818–1883), in: Lutz Raphael (Hg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft, München 2006, S. 123–141. Diese Deutung von Marx als heute noch interessantem Historiker der Anfänge moderner Globalisierung im 19. Jahrhundert teilt viele Gesichtspunkte etwa mit der Biografie von Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert, München 2013. Ähnlich jetzt auch für die Frühphase: Michael Heinrich: Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft: Biographie und Werkentwicklung, Bd. 1: 1818–1841, Stuttgart 2018. Eine solche historisierende Perspektive kann sich mit gutem Recht auf die von Marx selbst bevorzugte Methode stützen und stellt sich einer Inanspruchnahme für die verschiedensten Aktualisierungsbemühungen entgegen, indem sie zum Beispiel mit gewisser Akribie herausarbeitet, welche Informationen Marx überhaupt zugänglich waren und welche er tatsächlich benutzt hat. Dies ist auch für die Frage nach dem Marxʼschen Eurozentrismus wichtig, wie auch Kolja Lindner in seinem Beitrag zu diesem Band belegt.

[10] Ein Beispiel, das diese internationale Attraktivität belegen mag, ist sicherlich die von Zukov herausgegebene 10-bändige sowjetische Weltgeschichte, die im Zusammenhang mit der UNESCO History of Mankind und den parallelen nordamerikanischen Bemühungen von Stavrianos und McNeill zu analysieren wäre. Siehe Katja Naumann: Mitreden über Weltgeschichte – die Beteiligung polnischer, tschechoslowakischer und ungarischer Historiker an der UNESCO-Scientific and Cultural History of Mankind (1952–1969), in: Comparativ 20 (2010), S. 186–226.

[11] Zum Verhältnis von Nationalstaatsbildung und Globalisierung im späten 19. Jahrhundert siehe Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006.

[12] Erez Manela: The Wilsonian moment. Self-determination and the international origins of anticolonial nationalism, New York 2007.

[13] Unter den vielen Dokumenten, die dies aus biografischer Erfahrung verallgemeinern: François Furet: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1999 (franz. 1995).

[14] Uwe Müller: Der RGW als Schlüssel zu einer transnationalen Wirtschaftsgeschichte des östlichen Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Internationale Wissenschaftliche Vereinigung Weltwirtschaft und Weltpolitik (IWVWW) – Berichte (2015), 2 (April–Juni), S. 32–50; zuletzt auch das Themenheft 5–6/2017 der Zeitschrift Comparativ, »Comecon revisited. Integration in the Eastern Bloc and Entanglements with the Global Economy«, hrsg. von Uwe Müller und Dagmara Jajesniak-Quast.

[15] Oscar Sanchez-Sibony: Red Globalization. The Political Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev, New York 2014.

[16] Dieser Verweis auf eine frühe Faszination für sowjetische Lösungen für Entwicklungsprobleme von Gesellschaften, die eine Weltsystemtheorie wohl als peripher oder höchstens semiperipher einstufen würde, enthebt allerdings nicht von der Beantwortung der weiterführenden Frage, warum diese Lösungen stumpf wurden und die Faszination verblasste. Ähnliches mag für die in den frühen 2000er-Jahren aufblühende Faszination für chinesische Lösungen in Zukunft gelten. Es ist allerdings kein Spezifikum staatssozialistischer Gesellschaften.

[17] Michael Geyer/Charles Bright: World History in a Global Age, in: The American Historical Review 100 (1995), H. 4, S. 1034–1060.

[18] Charles Bright/Michael Geyer: Globalgeschichte und die Einheit der Welt. Weltgeschichte als Globalgeschichte – Überlegungen zu einer Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Comparativ 4 (1994), H. 5, S. 13–46.

[19] Marcel van der Linden/Karl Heinz Roth: Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin 2009.

[20] Silvio Pons/Stephen A. Smith (Hg.): World Revolution and Socialism in One Country 1917–1941 (= Cambridge History of Communism, 1), Cambridge 2017.

[21] Rex A. Wade: The Russian Revolution and Civil War, in: Pons/Smith: World Revolution and Socialism in One Country (Anm. 20), S. 74–95.

[22] Alexander Etkind: Internal Colonization: Russia’s Imperial Experience, London 2011; Nancy Shields Kollmann: The Russian Empire 1450–1801, Oxford 2017. Zur Rolle von Lernprozessen bei der Entfaltung des russischen Imperiums: Martin Aust/Ricarda Vulpius/Alexej Miller (Hg.): Imperium inter pares: Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700–1917) [Imperium inter pares: Die Rolle der Transfers in der Geschichte des Russischen Reiches], Moskau 2010.

[23] Karen Barkey/Mark von Hagen (Hg.): After Empire. Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman, and Habsburg Empires, Boulder 1997; Jane Burbank/David L. Ransel (Hg.): Imperial Russia: new histories for the Empire, Bloomington 1998; Kerstin S. Jobst/Julia Obertreis/Ricarda Vulpius: Neuere Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte: die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion, in: Comparativ 19 (2008), H. 2, S. 27–56; Jane Burbank/Frederick Cooper: Empires in world history. Power and the politics of difference, Princeton, N.J. 2010; Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen (Hg.): Comparing Empires: Encounters and Transfers in the long nineteenth century, Göttingen 2011.

[24] Vorbildlich in dieser Hinsicht: Alessandro Stanziani: Labour, coercion, and economic growth in Eurasia, 17th–20th centuries, Leiden/Boston 2012; ders.: After oriental despotism. Eurasian growth in a global perspective, London [u.a.] 2014. Für den Einbezug Ostmitteleuropas in die Globalgeschichte der Arbeit siehe Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, Wien 2014.

[25] Gregg A. Brazinsky: Winning the Third World: Sino-American Rivalry during the Cold War, Chapel Hill 2017.

[26] Tobias Rupprecht: Soviet Internationalism after Stalin. Interaction and Exchange between the USSR and Latin America during the Cold War, Cambridge 2015.

[27] Alexey Vasilyev: Russia’s Middle East Policy: From Lenin to Putin, London 2018.

[28] Juliane Fürst/Silvio Pons/Mark Selden (Hg.): Endgames? Late communism in global perspective, 1968 to the present (= Cambridge History of Communism, 3), Cambridge 2017.

[29] Matthias Middell: Was ist ein globaler Moment? Überlegungen anhand des Jahres 1989, in: Dietmar Müller/Adamantios Skordos (Hg.): Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas, Leipzig 2015, S. 103–115.

[30] Francis Fukuyama: The End of History?, in: The National Interest 16 (1989), S. 3–18.

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