JHK 2019

Marx in Beijing

Freie Lohnarbeit und »ursprüngliche Akkumulation« außerhalb Europas

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 273-290 | Metropol Verlag

Autor/in: Felix Wemheuer

1. Unbehagen am Universalismus

Seit zwei Jahrzehnten ist sowohl von feministischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch von Teilen der Postcolonial Studies sowie Labor Studies Kritik an einem »Eurozentrismus« in der Theorie des Kapitalismus von Karl Marx formuliert worden. Eine zentrale These in seinem Werk war, dass Kapitalismus auf freier Lohnarbeit beruhen und sich diese Form der Arbeit gegenüber unfreien Verhältnissen wie Sklaverei oder Leibeigenschaft durchsetzen würde. Nach Marx ist der Lohnarbeiter im doppelten Sinne frei, da er seine Arbeitskraft nicht an einen bestimmten Herrn verkaufen muss, aber auch frei von Besitz an Produktionsmitteln und Land ist. Eine auf Subsistenz beruhende, unabhängige Bauernschaft würde im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus zerstört oder marginalisiert werden. Diesen »historischen Scheidungsprozess der Produzenten und der Produktionsmittel« nannte Marx die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals«. Kritiker wenden ein, dass bis heute in großen Teilen des Globalen Südens nur eine kleine Minderheit der Arbeitenden freie Lohnarbeit ausüben würde. Die These, dass die Entwicklung des Kapitalismus zur vollständigen Proletarisierung der Bevölkerung führe, habe sich nicht bestätigt.[1]

Der Artikel analysiert vor dem Hintergrund dieser Debatten die soziale Transformation der Volksrepublik China seit Beginn der »Reform und Öffnung« 1978. Es wird argumentiert, dass in China eine große Landnahme im Sinne einer »ursprünglichen Akkumulation des Kapitals« stattfindet. Im Zentrum der Analyse stehen dabei die Auflösung der staatssozialistischen Arbeiterschaft, die Herausbildung einer neuen migrantischen Arbeiterklasse sowie die Kommerzialisierung des Agrarlandes und der Landwirtschaft. Wie im Falle der englischen Industrialisierung spielt in China die »außerökonomische Gewalt des Staates« eine zentrale Rolle. Im Unterschied zu Westeuropa ist es in der VR China jedoch gerade die Abwesenheit von Privateigentum an Grund und Boden, die diesen Prozess beschleunigt.

Im Gegensatz zum orthodoxen Marxismus-Leninismus der Sowjetunion der Stalin-Ära in den 1930er-Jahren entwickelte Marx nie eine kohärente Geschichtstheorie, nach der die gesamte Menschheit gesetzmäßig die Stufen der Urgesellschaft, Sklaverei, des Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus/Kommunismus durchlaufen müsse. Seine Aussagen zur Existenz einer »asiatischen Produktionsweise«, die auf Staatseigentum an Grund und Boden sowie der Notwendigkeit einer staatlichen Organisation der Bewässerung in der Landwirtschaft beruhen würde, blieben fragmentarisch.[2] In seinem Spätwerk dachte Marx über einen alternativen Weg zum Kommunismus in Russland nach, der auf der traditionellen Dorfgemeinschaft basieren könne, die auf Kollektivbesitz des Bodens beruhte. Allerdings könne die Dorfgemeinschaft nur in Verbindung mit einer Revolution, und wenn sie sich die technischen Errungenschaften der modernen Landwirtschaft aneigne, gerettet werden. In privaten Briefen deutete Marx an, dass in Russland eine andere Entwicklung als in Westeuropa möglich sei.[3]

Bei seinen Thesen zur »sogenannten ursprünglichen Akkumulation« wollte Marx keine globale Verallgemeinerung vornehmen. Er kritisierte an dem Mainstream der politischen Ökonomie der damaligen Zeit, dass er keine überzeugende Erklärung für die »ursprüngliche Akkumulation des Kapitals«, sprich die Entstehung der Klassen der Kapitalisten und Lohnarbeiter, habe. Im letzten Kapitel des ersten Bandes von Das Kapital versuchte er, diesen Prozess am Beispiel Englands seit dem 16. Jahrhundert zu zeigen. Durch die brutale Gewalt des Staates seien das Gemeindeland der Bauern und das ländliche Handwerk aufgelöst und somit die Landbewohner in freie Lohnarbeiter verwandelt worden. Marx schrieb zum englischen Fallbeispiel: »Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden. Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. Ihre Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihenfolge und in verschiedenen Geschichtsepochen. Nur in England, das wir daher als Beispiel nehmen, besitzt sie klassische Form.«[4]

Am Fall Frankreichs zeigte Marx, dass eine Parzellenbauernschaft als unabhängige Klasse eine wichtige politische Rolle auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielen konnte.[5] Die Bodenreform der Französischen Revolution habe die Kleinbauern gestärkt und laut Marx damit im Vergleich zu England die Industrialisierung verlangsamt. Bauern waren im 20. Jahrhundert eine wichtige soziale Basis der revolutionären Bewegungen in Russland, Mexiko, China, Vietnam, Korea oder Algerien. Die Agrarfrage und die Bauern wurden zu einer großen Herausforderung für marxistische Theorien.

 

2. Neuere Debatten um den Eurozentrismus von Marx

Im 20. Jahrhundert verbreiteten sich verschiedene Formen des Marxismus auch außerhalb Europas und Nordamerikas. Zwischen der Oktoberrevolution von 1917 und dem Ende der Welle der revolutionären Bewegungen im Rahmen der Dekolonialisierung Ende der 1970er-Jahre bezogen sich auch in der nichtwestlichen Welt Millionen von Aktivisten positiv auf den Marxismus. Seit den 1980er-Jahren wurde jedoch im Rahmen der Postcolonial Studies argumentiert, dass die Theorien von Marx »eurozentrisch« seien oder sogar »orientalistisch«. Diese akademische Strömung konnte sich vor allem an US-amerikanischen Eliteuniversitäten in der Kultur- und Literaturwissenschaft etablieren.[6] Marx habe wie auch andere westliche Denker des 19. Jahrhunderts die Gesellschaften des »Orients« als geschichtslose, despotische, barbarische und stagnierende beschrieben, deren Entwicklung nur vom Westen durch Gewalt von außen angestoßen werden könne. Seine Ansichten zu China und Indien hätten sich nicht grundlegend von denen imperialistischer Denker unterschieden.[7]

Marxistische Wissenschaftler reagierten auf diese Kritik: Vor allem Kevin Anderson versucht nachzuweisen, dass die Arbeiten von Marx zu nichtwestlichen Gesellschaften wesentlich komplexer waren. In späteren Jahren habe Marx indische Aufständische, amerikanische Sklaven oder russische Bauern als potenzielle Verbündete des Proletariats in einer globalen Revolution gesehen.[8] Anderson weist außerdem darauf hin, dass große Teile von Marxens Manuskripten zu Indien und zur islamischen Welt bisher noch nicht veröffentlicht worden sind. Es gebe daher noch weiteres Forschungspotenzial.

Der Soziologe Vivek Chibber löste eine Debatte mit Hauptvertretern der Postcolonial Studies aus. Er wendet sich gegen die Ablehnung der Annahme eines universellen Charakters des Kapitalismus und damit der universellen Bedürfnisse der arbeitenden Menschen durch diese Strömung. Durch die Überbetonung des Partikularen der nichtwestlichen Gesellschaften würden die Anhänger der Postcolonial Studies Länder wie Indien faktisch »orientalisieren«, trotz ihrer ununterbrochenen Kritik am »Orientalismus«.[9] Harry Harootunian entwickelte eine Kritik am »westlichen Marxismus« der Nachkriegszeit, der die Relevanz von Marx auf die westliche Welt beschränke und damit »provinzialisiert« habe. In seinem Buch stellte er fruchtbare Auseinandersetzungen mit Theorien von Marx zu verschiedenen Übergängen von Agrargesellschaften zum Kapitalismus durch Theoretiker in Ländern wie Japan, Peru und China seit den 1920er-Jahren vor.[10] Die Herausforderung sei heute, den Marxismus wieder zu »entprovinzialisieren«.

Von feministischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wurde an Marxens Theorie zum Kapitalismus kritisiert, dass sie zu sehr auf den männlichen, weißen Industriearbeiter Westeuropas fixiert gewesen sei. Dass Lohnarbeit und Kapitalismus auch auf der unbezahlten Reproduktionsarbeit von Frauen in der Familie basieren würden, hätte er zu wenig berücksichtigt. Global betrachtet müsse der Kapitalismus zur Realisierung des Mehrwertes die vorkapitalistischen Gesellschaften des Südens durch Gewalt und Landnahme in den Prozess der Kapitalakkumulation einbeziehen. Patriarchale Ideologie erkläre alle Dinge, die der Kapitalismus sich kostenlos aneignen möge, zu einem Bestandteil der Natur wie die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen, Sklavenarbeit der Schwarzen oder den Boden, den die Kolonialherren den »Naturvölkern« raubten. Feministische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler argumentieren, dass besonders im Globalen Süden freie Lohnarbeit nur von einer kleinen Minderheit geleistet werden würde. In der »unsichtbaren Ökonomie« von Heim- und Hausarbeit, Subsistenzlandwirtschaft und dem informellen Sektor in den Slums seien besonders Frauen und auch Kinder stark vertreten.[11] Generell wurde die einseitige Reduzierung von Arbeit auf Lohnarbeit in der westlichen Arbeiterbewegung kritisiert. Als Resultat würden andere Tätigkeiten, wie zum Beispiel Sorgearbeit in der Familie, abgewertet.[12]

Marx sprach die Rolle der Gewalt während der Kolonialisierung und Plünderung Amerikas, Australiens und Afrikas zwar mehrfach an, hielt sie jedoch nur für die »historische Genesis der kapitalistischen Produktion«. Er schrieb in Das Kapital über den etablierten Kapitalismus: »Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den ›Naturgesetzen der Produktion‹ überlassen bleiben, d. h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital.«[13] Feministische und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betonen hingegen, dass auch der »Normalbetrieb« des Kapitalismus, vor allem im Globalen Süden und besonders für Frauen, auch heute noch durch Gewaltverhältnisse geprägt sei. Der marxistische Geograf David Harvey argumentiert in eine ähnliche Richtung, dass der gegenwärtige Kapitalismus eine permanente »Akkumulation durch Enteignung« betreibe. Als Beispiel gelte das »Landgrabbing« im Globalen Süden und Teilen Osteuropas durch multinationale Konzerne, durch das Millionen von Bauern ihren Zugang zu Land verlieren. Im Globalen Süden würden Bauern und kranke Menschen durch die Patentierung von Nutzpflanzen und Arzneimitteln, die traditionell kostenlos genutzt werden konnten, durch multinationale Konzerne enteignet werden. Er argumentiert, dass die »ursprüngliche Akkumulation« keineswegs ein historischer Prozess sei, der im 19. Jahrhundert an sein Ende kam, sondern der weltweit bis heute andauern würde.[14] Diese Argumente gehen in die Richtung, dass Marx aus heutiger Sicht seine Thesen von der gewaltsamen Landnahme als Grundlage der Entwicklung des Kapitalismus zu sehr auf eine Periode der europäischen sowie kolonialen Geschichte eingeschränkt habe.

Eine einflussreiche Schule von Historikern sieht das globale Netzwerk des atlantischen Sklavenhandels (16. bis Mitte des 19. Jahrhunderts) und den folgenden Handel mit Kulis als zentrale Bestandteile des Aufstiegs des Kapitalismus.[15] Auch heute noch sind Sklaverei und andere unfreie Formen der Arbeit wie Schuldknechtschaft in Teilen Afrikas, den arabischen Golfstaaten und Südasiens verbreitet. In den letzten Jahren haben Teile der Labor Studies die Kritik an Marxʼ Thesen zur Lohnarbeit zum Ausgangspunkt ihrer Forschungsagenda gemacht. Besonders Marcel van der Linden möchte »über Marx hinaus« gehen, indem er argumentiert, dass freie Lohnarbeit als dominante Form der Kommodifizierung von Arbeit global gesehen eine historische Ausnahmeerscheinung in Europa und Nordamerika gewesen sei.[16] In seiner Globalgeschichte der »Arbeiter der Welt« argumentiert er dabei, dass es viele Überschneidungen zwischen freier und unfreier Arbeit gab und gibt sowie weiter zwischen Lohnarbeit, Subsistenzwirtschaft sowie selbstständigen Tätigkeiten.[17] Sowohl für die Seite des Kapitals als auch für die der Arbeit kann es unter Umständen von Vorteil sein, Lohnarbeit mit bäuerlicher Subsistenzwirtschaft zu kombinieren. Für das Kapital können dadurch Lohnkosten unter das Existenzminimum gesenkt werden. Der Arbeitende hat eine Absicherung im Fall von Krise und Entlassung, wenn er die Verbindung zum Dorf behält, besonders in Ländern ohne Sozialsystem.

Heide Gerstenberger hat darauf hingewiesen, dass auch in einigen westlichen Ländern bis ins 19. Jahrhundert Vertragsbruch vonseiten der Arbeitenden strafrechtlich geahndet wurde. Außerdem hatten Herren teilweise gesetzlich verbrieft das Recht, Diener, Gesinde, Seeleute und, in den Kolonien, »Eingeborene« körperlich zu züchtigen. Erst im 20. Jahrhundert habe die Arbeiterbewegung im Westen eine Entkriminalisierung des Arbeitsrechts sowie das Recht auf kollektive Lohnverhandlungen durchgesetzt. Nach Meinung von Gerstenberger ist »freie Lohnarbeit« kein automatisches Produkt kapitalistischer Entwicklung, sondern musste hart erkämpft werden. Heute seien zwar auch im Globalen Süden vertragliche Arbeitsverhältnisse die formale Norm, jedoch spiele dabei Gewalt häufig noch eine Rolle.[18]

Laut van der Linden haben sich die Labor Studies lange zu sehr auf Europa, den nationalstaatlichen Rahmen und männliche Industriearbeiter beschränkt. Die These von der Dominanz der Lohnarbeit als westliche Ausnahme kann dabei im Rahmen dieses Artikels auf globaler Ebene nicht bewertet werden. Ich will aber vor dem Hintergrund dieses Forschungsstandes das Fallbeispiel der VR China näher betrachten.

 

3. Die »ursprüngliche Akkumulation des Kapitals« in der VR China

Die VR China ist ein interessantes Fallbeispiel für den Prozess der »ursprünglichen Akkumulation«: Sie gilt als eines der wenigen Länder des Globalen Südens, dem nach 1945 eine nachholende Industrialisierung und Befreiung aus Unterentwicklung und Abhängigkeit gelungen ist. Mit der Reform- und Öffnungspolitik nach 1978 strebte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) eine Reintegration in den kapitalistischen Weltmarkt an. China profitierte von der Herausbildung einer neuen globalen Arbeitsteilung. Die Industrialisierung des Landes ist eine Kehrseite der teilweisen Deindustrialisierung der kapitalistischen Zentren. Einige Ökonomen argumentieren, dass die massive Auslagerung der Produktion vom Globalen Norden in den Süden seit den 1970er-Jahren eine Reaktion der Unternehmen auf die Durchsetzung von hohen Lohn- und Sozialstandards durch die nordamerikanische und westeuropäische Arbeiterbewegung war.[19] China wurde in der Folge zur »Werkbank der Welt« und es entstand eine neue Arbeiterklasse. Laut offizieller chinesischer Statistik sank zwischen 1978 und 2016 der Anteil der Landbevölkerung an der Gesamtbevölkerung von 82 Prozent auf 42 Prozent. Insgesamt reduzierte sich der Prozentsatz von Arbeitskräften in der Landwirtschaft im gleichen Zeitraum von 70 Prozent auf 27 Prozent.[20] Gleichzeitig bildete sich eine neue Klasse von privaten Kapitalisten heraus und auch von sogenannten Kader-Kapitalisten, die auf das Engste mit dem Staatsapparat verbunden sind. Seit den 2000er-Jahren gehört China weltweit zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit. Nach dem Gini-Koeffizienten war 2013 die Ungleichheit bei Einkommen in China größer als in den USA und Indien.[21] 

In diesem Beitrag sollen die zentralen Aspekte der Umwälzung der Arbeitsverhältnisse durch die »ursprüngliche Akkumulation« seit 1978 analysiert werden. In der englischsprachigen und chinesischen Forschung besteht das Problem, dass sich viele Wissenschaftler entweder auf Labor Studies spezialisiert haben oder sich mit der Transformation der Bauern und der Landwirtschaft beschäftigen. Es gibt nur wenige, die beide Prozesse im Zusammenhang betrachten. Dieser Versuch soll in diesem Beitrag unternommen werden.

 

Entstehung der »Bauern-Arbeiter« nach 1978 und Ursachen der unvollständigen Proletarisierung

In der Mao-Ära (1949–1976) wurden die Herausbildung von freier Lohnarbeit und die private Anhäufung von Reichtum durch die gesellschaftlichen Strukturen blockiert. Der Staat etablierte ein System der Haushaltsregistrierung (hukou), das die Bevölkerung in »Agrar«- und »Nicht-Agrar-Haushalte« einteilte. Die Stadtbevölkerung war dabei in der großen Mehrheit Mitglied von Arbeitseinheiten (danwei). Sie hatte Anrecht auf lebenslange Anstellung, Rationen für Lebensmittel und Gebrauchsgüter, Gesundheitsversorgung sowie stark verbilligten Wohnraum. Dieses System wurde auch die »eiserne Reisschüssel« genannt. Arbeitsverträge hatten die Mitglieder der danwei nicht. Ihre Arbeitskraft war dekommodifiziert, d. h., sie konnte nicht auf dem Markt ge- oder verkauft werden.[22] Städtische Staats- und Kollektivbetriebe konnten zwar temporär Zeitarbeiter (linshigong) vom Land anstellen, diese machten allerdings nur einen kleinen Teil der Beschäftigten aus. Die Gesellschaft auf dem Land unterschied sich grundlegend von der in der Stadt. »Agrarhaushalte« waren Mitglieder der Volkskommunen. Die Bauern hatten kein Anrecht auf staatliche Lebensmittelrationen und waren nicht in den Sozialstaat eingebunden. Nach 1962 gestand die Partei den Bauern Parzellen zur privaten Nutzung innerhalb der Volkskommunen zu, damit sich die Bauern selbst ernähren konnten. Die Transformation der Eigentumsverhältnisse stagnierte in der Folge. Die Volkskommunen blieben meiner Meinung nach bestenfalls halbsozialistische Institutionen. Ländliche Schulen und Gesundheitsversorgung mussten überwiegend aus lokalen Mitteln finanziert werden. Durch das hukou-System unterband die Regierung zumindest zwischen 1962 und Ende der 1970er-Jahre effektiv Landflucht und Urbanisierung. Das Verhältnis von Stadt- zu Landbevölkerung blieb mit 20 zu 80 Prozent relativ konstant. Ohne Erlaubnis der Behörden konnten Bauern weder die Dörfer verlassen noch in die Städte übersiedeln. Gingen die Bauern ohne Erlaubnis in die Städte, hatten sie weder legalen Zugang zu Nahrungsmitteln noch zu Wohnraum – sie waren »außerhalb des Systems«. Der Staat sparte dadurch enorme Ressourcen, da nur der städtische Versorgungsstaat subventioniert werden musste. Allerdings war die Kontrollmacht des Staates auf den Dörfern geringer als in den Städten. 

Für die Herausbildung der freien Lohnarbeit ist es nach Marx zentral, dass der Arbeiter nicht an die Scholle gefesselt ist und ein freier Verkäufer seiner Arbeitskraft wird, »der seine Ware überall hinträgt, wo sie einen Markt findet«.[23] Die Auflösung der Volkskommune setzte eine riesige Masse einer unterbeschäftigten ländlichen »Überbevölkerung« frei. Durch die Zulassung von privaten Unternehmen entstanden auch Arbeitsmärkte in der Stadt. Schrittweise wurde bis Ende der 1980er-Jahre die Zuteilung von Gütern durch staatliche Rationierungsmarken aufgehoben. Obwohl das hukou-System nicht abgeschafft wurde, konnten Bauern als Arbeitskräfte oder Kleinhändler in den Städten arbeiten und sich selbst versorgen. In der Frühphase der Reformära konnten selbst Straßenhändler von den Versorgungsengpässen der städtischen Planwirtschaft profitieren. Ihre Geldeinkommen übertrafen oft die der Staatsarbeiter.

Schon in den frühen 1980er-Jahren richtete die Regierung sogenannte Sonderwirtschaftszonen als Experimentierfelder mit »Marktwirtschaft« ein. Ausländische Direktinvestitionen wurden zugelassen, die zunächst überwiegend aus Taiwan, Hongkong und von Auslandschinesen getätigt wurden. Die Unternehmen konnten auf billige migrantische Arbeitskräfte vom Land zugreifen, die faktisch rechtlos waren. Eine wichtige Triebkraft des rasanten Wirtschaftswachstums waren auch die kollektiven Gemeindeunternehmen auf dem Land. Bis 1988 durften private Unternehmen außerhalb der Sonderwirtschaftszonen nur acht Personen anstellen. Um dieses Verbot zu umgehen, registrierten sich private Unternehmer mithilfe korrupter Kader als Kollektivbetriebe, die keinerlei Beschränkung unterworfen waren. Das nannte man die »rote Mütze aufsetzen« (dai hong maozi).

Zunächst scheint sich am Fallbeispiel der frühen Reformära die These zu bestätigen, dass trotz der Akkumulation von Kapital eine Proletarisierung der Landbevölkerung ausblieb. Mit der Einführung des Haushaltsverantwortlichkeitssystems auf dem Land wurde Anfang der 1980er-Jahre die Familie zur zentralen Wirtschaftseinheit auf dem Land. Der Boden wurde nicht privatisiert, aber an die Familien zur Nutzung verteilt. Die erste Generation der ländlichen »Wanderarbeiter« der 1980er- und 1990er-Jahre verließ die Dörfer in der Regel nur temporär für Jobs in der Industrie, dem Baugewerbe oder Servicesektor. Sie übernahmen schlecht bezahlte und anstrengende Jobs, die die Stadtbevölkerung, die immer noch in die Arbeitseinheiten eingebunden war, nicht übernehmen wollte. In den Betrieben, die für den Weltmarkt produzierten, wurden in der Regel nur unverheiratete junge Arbeiterinnen und Arbeiter eingestellt.[24] Die Unternehmen erwarteten, dass diese zum Heiraten und für die Geburt der Kinder in die Dörfer zurückgingen. Auch der Boom der ländlichen Gemeindeindustrie ermöglichte es »Wanderarbeitern« oft, in der Nähe des Heimatdorfes zu arbeiten. Ein Teil der Familie bestellte weiterhin das Land. Die Sorgearbeit von kleinen Kindern und Kranken wurde in zunehmendem Maße von der Generation der Großeltern übernommen.

In China werden diese »Wanderarbeiter« offiziell als »Bauern-Arbeiter« (nongmingong) bezeichnet. Das bedeutet, dass sie eine ländliche Haushaltsregistrierung haben, die zur Zuteilung von Land berechtigt, nicht aber zu einer langfristigen Niederlassung in den Städten. Besuchen ihre Kinder eine städtische Schule, müssen sie dafür bezahlen. Im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter ist das Dorf der Rückzugsort. Besonders die erste Generation der »Bauern-Arbeiter« war auch ohne Landenteignung in der Regel bereit, im Niedriglohnsektor zu arbeiten, weil Lohnarbeit als Nebenverdienst betrachtet wurde. Nach Marx bestimmen die »Existenz- und Fortpflanzungskosten« die untere Grenze des Minimums des Arbeitslohns bezogen auf die gesamte Klasse.[25] In der Kombination von Lohnarbeit und Subsistenzlandwirtschaft liegt ein Grund, warum China zum »Billiglohnland« wurde. Die Unternehmen konnten lange niedrige Löhne bezahlen, die weit unter den »Existenz- und Fortpflanzungskosten« in der Stadt lagen, da die Reproduktion der Arbeitskraft weitgehend in die ländlichen Familien ausgelagert wurde. Selbst bei Arbeitsunfällen wird »Bauern-Arbeitern« bis heute weniger Entschädigung gezahlt als Stadtbewohnern, mit dem Argument, dass auf dem Land die Lebenshaltungskosten niedriger seien. Die Fluktuation der Belegschaften ist in den Betrieben, die für den Weltmarkt produzieren, sehr hoch. Der Nachschub an jungen Arbeitskräften schien bis vor einigen Jahren unbegrenzt zu sein.

Push-Faktoren, die die Aufnahme von Lohnarbeit förderten, waren in den späten 1980er- und 1990er-Jahren auch die hohe Steuer- und Gebührenlast der ländlichen Bevölkerung. Die ländliche kollektive Gesundheitsversorgung brach mit der Auflösung der Volkskommunen zusammen. Kreiskrankenhäuser, Ärzte und Wunderheiler boten ihre Dienste gegen Bezahlung an. Eine chronische Krankheit in der Familie konnte zum Ruin führen. Außerdem mussten Bauern bis 2006 eine Agrarsteuer an den Staat abführen. Bis Anfang der 2000er-Jahre weigerte sich die Zentralregierung in Beijing, das ländliche Gesundheits- und Bildungswesen substanziell mitzufinanzieren. Als Folge erhoben lokale Behörden eine Vielzahl von legalen und illegalen Abgaben und Steuern, um die Schulen, aber auch den expandierenden Beamtenapparat zu finanzieren. Die Zentralregierung erließ mehrere Beschlüsse gegen illegale Besteuerung und Erhebung von Gebühren für die Pflichtschule von neun Jahren, war aber nicht bereit, die fehlenden Mittel zur Verfügung zu stellen. Allein für die Finanzierung des Schulbesuches der Kinder wurde die Aufnahme von Lohnarbeit außerhalb der Dörfer in vielen Regionen unabdingbar.

 

Proletarisierung der Staatsarbeiterschaft

In China begannen die weitreichendsten Wirtschaftsreformen in der Landwirtschaft. Erst ab Mitte der 1980er-Jahre wurden Staatsbetriebe stärker auf kapitalistische Rationalität, also die Generierung von Profiten ausgerichtet. Die Manager bekamen mehr Macht. Neue Gesetze machten Konkurse, Arbeitsverträge auf Zeit und Entlassungen möglich. Schrittweise wurde die Arbeitskraft der Staatsarbeiter kommodifiziert. In der neuen Verfassung von 1981 kam das Streikrecht nicht mehr vor. Zu einer großen Welle der Privatisierung der Staatsindustrie kam es erst in der Jiang Zemin-Ära (1993–2002) zwischen 1998 und 2002. Allerdings handelte es sich keineswegs um eine »Schock-Therapie« wie im Russland der 1990er-Jahre, als fast die gesamte Wirtschaft privatisiert wurde. In China versuchte der Staat hingegen, strategisch wichtige Staatsbetriebe zu »reformieren«, um sie für den nationalen und später sogar internationalen Wettbewerb auszurichten. Andere Betriebe wurden geschlossen oder privatisiert. Zwischen 1995 und 2003 sank die Zahl der urbanen Beschäftigten in Staatsbetrieben von 112 auf 68 Millionen sowie in Kollektivbetrieben von 31 auf 10 Millionen.[26] Bis heute hält jedoch der Staat in Branchen wie dem Finanz-, Rohstoff-, Rüstungs-, Kommunikations- und Verkehrssektor strategische Anteile.

Die entlassenen Staatsarbeiter verloren oft nicht nur ihre Arbeitsplätze, sondern mit dem Konkurs der Arbeitseinheiten auch den Anspruch auf Sozialleistungen und Rente. Die von der Schwerindustrie geprägten Regionen wie die Mandschurei wurden besonders von den sozialen Folgen wie hoher Arbeitslosigkeit getroffen. Während im Perlfluss-Delta im Süden die Weltmarktfabriken des »Sonnengürtels« boomten, verkam die alte Schwerindustrie im Nordosten zum »Rostgürtel«. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten gab es für die ältere Generation der Staatsarbeiter kaum. Zu den Löhnen der »Bauern-Arbeiter« konnte niemand arbeiten, der in der Stadt seine Familie versorgen musste. Um das Jahr 2002 gab es große Proteste und Demonstrationen in der Mandschurei gegen Werksschließungen und Unterschlagungen von Betriebseigentum sowie Rentenkassen durch korrupte Kader. Ching Kwan Lee argumentiert, dass die Staatsarbeiter die Werkschließungen als Verletzung des »Gesellschaftsvertrages« des Sozialismus betrachteten. Sie hatten für ihre Loyalität gegenüber dem Staat soziale Sicherheit und Wertschätzung ihrer Arbeit erwartet.[27] Die Regierung begann zögerlich, ein nationales System von Sozialhilfe (dibao) in den Städten aufzubauen, das unabhängig von den Arbeitseinheiten ist. Allerdings erreichte es viele Arbeitslose nicht und wurde im Vergleich zu den früheren »sozialistischen Errungenschaften« oft als Degradierung empfunden. Man kann argumentieren, dass sich die Proteste der Staatsarbeiter gegen ihre Proletarisierung, sprich die Verwandlung in freie Lohnarbeiter, richteten. Sie forderten nicht höhere Löhne für ihre Arbeit, sondern Hilfe von der Zentralregierung, um den Status quo zu erhalten, den sie aus der sozialistischen Ära als ihr Anrecht verstanden. Während viele »Bauern-Arbeiter« die Reformära zunächst als Befreiung aus der dörflichen Enge erlebten, bedeutete sie für ehemalige Staatsarbeiter oft den sozialen Abstieg. Es entstand eine neue Schicht von städtischen Armen und Ausgegrenzten. Allerdings hatten auch in der Mao-Ära nie mehr als ca. 20 Prozent der Bevölkerung die Errungenschaften der »eisernen Reisschüssel« genossen. Es kam bei den Protesten der Staatsarbeiter und Streiks von »Bauern-Arbeitern« zu keiner Solidarisierung zwischen beiden Gruppen.

 

Die zweite Generation der »Bauern-Arbeiter« und die Dominanz der Lohnarbeit

Seit den 2000er-Jahren nahmen die Streiks und Arbeitskämpfe der »Bauern-Arbeiter« im »Sonnengürtel« zu. Ursachen waren oft Betrug durch Unternehmen, die Forderung nach höheren Löhnen sowie der Kampf gegen Diskriminierung als »Bürger zweiter Klasse«.[28] Streiks auf Betriebsebene werden in China von Behörden oft geduldet, Versuche einer überbetrieblichen oder gar überregionalen Organisierung jedoch unterdrückt.

Die Zentralregierung unter Hu Jintao änderte 2006 offiziell die negative Haltung gegenüber den ländlichen Migranten, indem sie die »Bauern-Arbeiter« als »wichtigen Teil der chinesischen Arbeiterklasse« bezeichnete.[29] Im Jahr 2008 verbesserte das neue Arbeitsvertragsgesetz schließlich den Kündigungsschutz. Die Zentralregierung startete eine Kampagne, dass jeder Beschäftigte einen Arbeitsvertrag haben soll, was in Branchen wie der Bauwirtschaft nicht der Fall war. Auch wenn Lohnarbeit stärker verrechtlicht wurde, blieben die Arbeitsbedingungen äußerst hart.

Um das Jahr 2010 entwickelte sich in den chinesischen Medien und unter Wissenschaftlern eine Debatte um die sogenannte zweite Generation der »Bauern-Arbeiter«.[30] Auslöser war die Selbstmordwelle bei der taiwanesischen Firma Foxconn, die für westliche Konzerne auf dem chinesischen Festland elektronische Geräte herstellt. Junge »Bauern-Arbeiter« waren aus Verzweiflung über Arbeits- und Lebensbedingungen von den Dächern gesprungen. China erlebte 2010 auch zum ersten Mal in der Reformära eine größere überregionale Streikwelle, die die Produktion des japanischen Automobilherstellers Honda lahmlegte. Zeitweise berichteten die offiziellen Medien sogar positiv über den Streik. Vielerorts konnten Lohnerhöhungen von bis zu 30 Prozent durchgesetzt werden und auch Mindestlöhne wurden eingeführt. In chinesischen und westlichen Wirtschaftskreisen begann man, über das Ende von China als »Billiglohnland« zu diskutieren.

Träger der Arbeitskämpfe ist die »zweite Generation«, die in den 1990er-Jahren geboren wurde. Im Unterschied zu ihren Eltern verfügen sie über einen höheren Schulabschluss, in der Regel den der Mittelschule. Bei der Organisation der Streiks spielen soziale Medien eine zentrale Rolle. Viele »Bauern-Arbeiter« haben nie auf einem Feld gearbeitet und träumen von einem Leben in der Stadt. Die zentrale Forderung der Streiks war daher die Erhöhung der Löhne. Es scheint, dass die meisten ihre Rolle als Lohnarbeiter akzeptieren, aber einen Lohn haben wollen, der eine Teilnahme am urbanen Leben möglich macht. Doppelt freie Lohnarbeiter im Marxʼschen Sinne sind sie formal noch nicht, da ihnen aufgrund ihrer Klassifizierung als »Agrarbevölkerung« im hukou ein Anrecht auf die Zuteilung von Kollektivland in ihrem Heimatdorf zusteht. Ob viele der »zweiten Generation« diesen Boden jemals selbst bestellen werden, bleibt allerdings fraglich. Menschen mit ländlichem hukou im Alter zwischen 16 und 35 Jahren sollen nach einer Statistik von 2012 zu 87 Prozent Vollzeit außerhalb der Landwirtschaft arbeiten.[31]

Die Erfolge in den Lohnkämpfen gehen teilweise auf das politische Klima zurück. Die Zentralregierung verfolgt, verstärkt seit der Weltfinanzkrise von 2008, ein ambitioniertes Programm einer industriellen Aufwertung. China soll langfristig nicht mehr nur die »Sweatshops« auf der unteren Ebene der globalen Produktionsketten bedienen, sondern selbst Markenprodukte und Sektoren der Hochtechnologie entwickeln. Einige Wissenschaftler meinen, dass die Lohnerhöhungen zu diesen Plänen passten, um Unternehmen zur Rationalisierung durch technische Innovationen zu zwingen. Schon Marx hatte argumentiert, dass das Kapital versuche, Erfolge der Arbeiter im Lohnkampf durch technische Rationalisierung zu entwerten.[32] Teile der Unternehmen reagierten auch mit der Verlagerung der Produktionsstätten in den Westen des Landes, wo es noch ein größeres Reservoir an billigen Arbeitskräften gibt. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Zusammenhang die »außerökonomische Gewalt« des Staates. In kürzester Zeit wurde Land von Bauern enteignet, um es den Firmen zur Verfügung zu stellen. Im Fall der Firma Foxconn verpflichtete die Regierung in der Provinz Sichuan lokale Kader, Quoten bei der Rekrutierung von Arbeitskräften zu erfüllen. Harvey argumentiert, dass dem Kapital neben der »technischen Lösung« des Problems von hohen Lohnkosten noch die »räumliche Lösung« durch die Auslagerung der Produktion zur Verfügung stehen würde.[33] Mittlerweile hat Foxconn angekündigt, in Indien eine Million neue Arbeitsplätze zu schaffen. Bangladesch hat einen Teil der chinesischen Textilexporte in die EU übernommen. Ob sich die große Masse der chinesischen »Bauern-Arbeiter« in einem anderen Land gänzlich ersetzen lässt, bleibt jedoch fraglich.

 

Staatlich forcierte Urbanisierung  

Der freie Lohnarbeiter kann nicht an die Scholle gebunden sein. Mobilität zwischen Stadt und Land ist zentral. Die Regierung in der Hu Jintao-Ära (2002–2012) förderte Urbanisierung, versuchte aber gleichzeitig, die Landflucht in Grenzen zu halten. 2006 verkündete sie das Programm des Neuen Sozialistischen Dorfes. Ein zentrales Argument war, dass die Lage der Bauern und die Landwirtschaft verbessert werden müsse, um ein weiteres Ausbluten der Dörfer zu verhindern. Mit dem Programm wurden auch zerstreute Siedlungen zu neuen Dörfern zusammengelegt, um das Agrarland effektiver nutzen zu können. Das Programm gibt es offiziell zwar immer noch, die Regierung unter Xi Jinping verfolgt jedoch eine forciertere Urbanisierung. 2014 wurde ein »Nationales Programm für neuartige Urbanisierung« beschlossen. Bis 2020 soll die Stadtbevölkerung auf 60 Prozent der Gesamtbevölkerung steigen. Das wären 100 Millionen Menschen zusätzlich verglichen mit 2014, die einen städtischen hukou bekommen sollen. Darüber hinaus ist geplant, dass alle Stadtbewohner Zugang zu einer allgemeinen Alters- und Krankenversicherung erhalten. Auch das städtische Schulwesen soll für die Kinder der »Bauern-Arbeiter« geöffnet werden. Slums und informelle Siedlungen sollen verschwinden, indem günstiger Wohnraum durch staatliche Subventionierung geschaffen wird. [34] Einige Städte bieten Migranten vom Land an, den ländlichen hukou durch einen städtischen zu ersetzen. Damit verlieren die Menschen in ihren Heimatdörfern das Anrecht auf Land, sind aber in der Stadt nicht mehr »Bürger zweiter Klasse«. Was von den Plänen umgesetzt wird, ist noch offen. Mit einer generellen Abschaffung des hukou-Systems ist in naher Zukunft nicht zu rechnen.

Ein wichtiges Argument der Regierung bezüglich der »neuartigen Urbanisierung« ist, dass man mehr Menschen in die städtischen Warenkreisläufe, sprich die Konsumgesellschaft, einbeziehen möchte. In den offiziellen Parteimedien wird die langfristige Niederlassung von »Bauern-Arbeitern« in den Städten als Möglichkeit angesehen, »Überkapazitäten« in der Produktion abzubauen. Der sparsame, sich selbst versorgende Bauer, der kein Reiskorn verschwendet, galt in der Mao-Ära als Ideal. Heute ist ein Bürger ohne Bankkonto und Kreditkarte ein schlechter Konsument. Kredite müssen neue Stadtbürger auch für den Kauf von subventionierten Wohnungen aufnehmen.

Bezogen auf die Landwirtschaft scheint die Regierung den langfristigen Plan zu haben, dass sich selbst versorgende Kleinbauerntum abzuschaffen und durch industrielle Landwirtschaft im großen Stil zu ersetzen. So sollen die Megastädte in der Zukunft versorgt werden können. Zentrale Aspekte sind dabei die Kommerzialisierung der Bodenrechte, Förderung von agroindustriellen Großbetrieben und die Proletarisierung von Bauern.

 

Die große Landnahme durch staatliche Akteure und Unternehmen

In der wissenschaftlichen Debatte um die Entwicklung der Landwirtschaft in China spiegelt sich der uralte Streit zwischen Populisten und Marxisten wider, ob bäuerliche Familienwirtschaft überleben kann oder vom Kapitalismus notwendigerweise zerstört wird. Für Marx war die »Scheidung von Produzenten und Produktionsmittel« die Voraussetzung für die Herausbildung der Klasse von Lohnarbeitern. In England erfolgte dieser Prozess durch die Enteignung und Privatisierung des Gemeindelandes. Außerdem entstand eine Klasse kapitalistischer Pächter, die Großgrundbesitzern eine Grundrente zahlten und Lohnarbeiter beschäftigten. Giovanni Arrighi, der das chinesische Modell als Alternative zum angloamerikanischen Neoliberalismus sieht, sprach noch 2008 von einer »Akkumulation ohne Enteignung«.[35] Philip Huang hofft, dass sich in China eine »Kapitalisierung ohne Proletarisierung der Landwirtschaft« entwickele, in deren Prozess Bauernfamilien die zentralen ökonomischen Akteure bleiben könnten. In China würde Lohnarbeit nur bei den hochkommerzialisierten Produkten für den städtischen Markt wie Äpfel, Schweinefleisch, Milch oder bei der Zucht von Fischen und Meeresfrüchten eine wichtige Rolle spielen. Andere Wissenschaftler wie Yan Hairong und Chen Yiyuan argumentieren hingegen, dass sich auf dem Land eine neue Klassenzusammensetzung mit Großbetrieben als Pächtern und Lohnarbeitern herausbilde.[36]

Zumindest in den 1980er-Jahren erschien ein »egalitärer Kleinbauern-Sozialismus« ohne Großgrundbesitzer und besitzlose Landarbeiter in großer Masse möglich. Dann wurden Millionen Bauern enteignet, ohne dass eine grundlegende Transformation der Eigentumsverhältnisse stattfand. Privateigentum an Grund und Boden gibt es in der VR China bis heute nicht. Laut Verfassung gehört das Land in der Stadt dem Staat und auf dem Land dem Kollektiv, verkörpert durch die Dorfregierungen. Seit 2002 bekommen Bauernfamilien ein Nutzungsrecht für den Boden für 30 Jahre zugesprochen. Der Staat kann die dörflichen Kollektive enteignen, indem er Kollektiv- als Staatsland reklassifiziert. Das Nutzungsrecht kann dann an Investoren verpachtet werden, zu einem Preis, der die Entschädigung für die Bauern um ein Vielfaches übersteigt. Immer wieder verpachten korrupte Kader auch illegal kollektives Land an Firmen. Die Unterdrückung von Protesten durch Schlägerbanden war dabei keine Seltenheit. Seit den 1990er-Jahren sind Landenteignungen eine der wichtigsten Ursachen für Bauernproteste. Die Protestierenden beziehen sich auf nationale Verordnungen und Gesetze, die besagen, dass diese Form der Landnahme illegal sei, und appellieren an die Zentralregierung, sie zu unterstützen. In einigen besonders extremen Fällen ging die Zentralregierung gegen lokale Kader vor, hielt sich aber in den meisten Fällen aus den Konflikten heraus. Wie viele Bauern die Nutzungsrechte für ihr Land unfreiwillig verloren haben, ist schwer zu quantifizieren. Die Schätzungen von chinesischen Wissenschaftlern gehen weit auseinander: Nach verschiedenen Berechnungsmodellen verloren von 1984 bis 2004 30 bis 180 Millionen Bauern ihr Land. Von 2005 bis 2011 sollen 2,5 bis 3,5 Millionen jährlich landlos geworden sein.[37]

 

Die Kommerzialisierung des Bodens und »Drachenköpfe« als Pächter

Seit zwei Jahrzehnten läuft in der chinesischen Landwirtschaft ein Prozess der »Vergreisung«. Die Felder der Familien bestellen in manchen Gegenden Menschen im Alter von über 60 Jahren. Die Frage, wer nach dem Ableben dieser Generation das Land bestellen soll, wird daher rege diskutiert. Die Zentralregierung hat darauf mittlerweile eine klare Antwort gegeben: Eine der wichtigsten Veränderungen in der Landwirtschaft ist die Liberalisierung der Verpachtung der Bodenrechte, die seit 2008 durch neue Gesetze forciert wird.[38] Gleichzeitig begann der Staat, auch Haushalte und Unternehmen zu subventionieren, die sich auf bestimmte Produkte für den Markt spezialisieren. Dahinter steht die Vision, durch die Kommerzialisierung der Bodenrechte die Landwirtschaft zu modernisieren. So sollen auch Investitionen im großen Maße aus anderen Bereichen der Wirtschaft angezogen werden. 2013 hat die Regierung unter Xi diese Pläne für die Landwirtschaft in dem zentralen Dokument Nr. 1 bekräftigt. Unmissverständlich wurde darin festgelegt, dass Nutzungsrechte für Boden im großen Maßstab an »neue Subjekte des Produktionsmanagements« (xinxing shengchan jingying zhuti) transferiert werden sollen. Darunter fallen »große spezialisierte Haushalte« (zhuanye dahu), »Familienfarmen« (jiating nongchang), die überdurchschnittlich viel Land pachten und für den Markt produzieren sollen, sowie Genossenschaften. Der Begriff »Farm« wird bewusst zur Abgrenzung von Kleinbauern (xiaonong) benutzt, die in erster Linie zur Selbstversorgung produzieren und nur den Überschuss auf dem Markt verkaufen. Nach diesem Dokument sollen auch die Subventionen und Steuererleichterungen vor allem den »neuen Subjekten« zugutekommen. Die gewinnorientierten Genossenschaften sind mit denen der Mao-Ära nicht zu verwechseln. Sie spielen allerdings bisher keine große Rolle. Im Dokument von 2013 wird auch die zentrale Bedeutung der »Drachenkopf-Unternehmen« (longtou qiye) unterstrichen. Diese agro-industriellen Konzerne pachten das Land von mehreren Dörfern. Sie sollen wie ein Drachenkopf einen Schwanz an Kleinbauern in den Markt ziehen.

Durch die Reformen von 2008 und 2013 breiteten sich Institutionen und Märkte für den Handel mit Nutzungsrechten in schnellem Tempo aus. René Trappel sieht darin eine große Umwälzung der Landwirtschaft, in welcher der Staat Bauern zu einer stärkeren Kommerzialisierung der Produktion zwingt.[39] 2008 wurden 17 Prozent der Nutzungsrechte der gesamten agrarischen Fläche an »neue Subjekte« transferiert, 2013 waren es schon 26 Prozent und im Juni 2016 ein Drittel.[40] Um das Jahr 2014 sollen 40 Prozent aller Bauernhaushalte in der einen oder anderen Form mit »Drachenkopf-Unternehmen« verbunden gewesen sein.[41] Es gibt verschiedene Modelle: In manchen Gegenden schließen die Unternehmen mit Kleinbauern Verträge über Produktionsquoten für bestimmte Bereiche der Produktionsketten ab oder sie pachten das gesamte Land und beschäftigen in allen Teilbereichen der Produktionsketten Lohnarbeiter. Oft sind es die auf dem Land »zurückgelassenen« Frauen, die diese Arbeit annehmen. Zu den »Drachenkopf-Unternehmen« gibt es bisher wenig wissenschaftliche Forschung. Fallstudien zeigen zumindest, dass die Pachtverträge aufgrund der lokalen Machtverhältnisse nicht zum Vorteil der Bauern geschlossen werden. Verträge gelten oft für einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren. Die lokale Bevölkerung verfügt über wenige Möglichkeiten, deren Einhaltung auch durchzusetzen. Die Pacht ist in der Regel gering, weil die Bauern wenig Verhandlungsmacht haben. Außerdem ist die Wertschätzung von Agrarland in den Augen der ländlichen Bevölkerung generell gesunken, seit vielen bewusst wurde, dass man von Landwirtschaft alleine nicht mehr überleben kann. Offen ist auch, ob die Bauern nach Ablauf der Pacht ihre Nutzungsrechte überhaupt zurückbekommen werden. [42]

Zhang Qian argumentiert, dass viele Haushalte »zu wohlhabend« sind, um sich selbst in der Familienwirtschaft auszubeuten, weil zumindest die jüngere Generation ein Einkommen durch Lohnarbeit in den Städten hat, von dem ein Teil zurück an die Familie überwiesen wird. Diese Bauern sind aber »zu arm«, um in die risikoreiche und kapitalintensive Produktion von Agrarprodukten für den Markt einzusteigen.[43] Interesse, mehr Land zu pachten, haben daher eher kapitalstarke Großunternehmen, was wiederum zur weiteren Verdrängung der Kleinbauern führt. Es scheint, als wolle die Zentralregierung die große Landnahme nun durch die Zwänge des Marktes erzeugen. Mit der Legalisierung des Transfers der Nutzungsrechte können lokale Behörden und Unternehmen jetzt argumentieren, die Bauern hätten freiwillig die Pachtverträge unterschrieben und alles entspreche den Gesetzen.

Laut offiziellen Statistiken stieg der Lohn, als Teil des Einkommens der ländlichen Haushalte, von 19 Prozent 1985 auf 41 Prozent 2010.[44] Die Zahl der Lohnarbeiter in der Landwirtschaft taucht in offiziellen Statistiken nicht auf. Unbestritten ist in der Forschung, dass eine rapide Kommerzialisierung der Landwirtschaft stattfindet. Einige Wissenschaftler bezeichnen dies als »versteckte Revolution«. Zwischen 2004 und 2014 stieg der Anteil des Getreides (liangshi), das für den Markt produziert wird, von 50 auf 85 Prozent. Unter diesen Begriff fallen Reis, Weizen, Hafer, Roggen, Hirse und Süßkartoffeln. Bei Gemüse, Früchten wie Äpfeln und Baumwolle ist die Quote schon bei fast 100 Prozent.[45] Besonders die Produktion von Milch und Fleisch ist kapitalintensiv und benötigt eine gute Infrastruktur und Anbindung an die Städte. Die Kommerzialisierung der Landwirtschaft ist nicht zuletzt auch ein Resultat der veränderten Ernährungsgewohnheiten der Stadt- und Landbevölkerung. Bis in die frühen 1980er-Jahre stammten bis zu 80 Prozent der Kalorien in der Nahrung der Bauern aus Getreide. Fleisch war ein Essen für Festtage, Eier und Obst galten als Kostbarkeit. Mittlerweile gehört es auch in den ländlichen Regionen zum Standard eines »guten Lebens«, jeden Tag Fleisch essen zu können. In den Städten ist der Anteil des Getreides in der Nahrung dramatisch zurückgegangen und durch Gemüse, Fleisch- und Milchprodukte ersetzt worden.

Mit der Zurückdrängung des sich selbst versorgenden Kleinbauerntums verfolgt die Regierung auch das Ziel, den inneren Markt zu entwickeln. Marx sah darin, neben der Schaffung von freien Lohnarbeitern, einen zentralen Aspekt der »ursprünglichen Akkumulation«: »In der Tat, die Ereignisse, die die Kleinbauern in Lohnarbeiter und ihre Lebens- und Arbeitsmittel in sachliche Elemente des Kapitals verwandeln, schaffen gleichzeitig diesem letzten seinen inneren Markt. Früher erzeugte und bearbeitete die Bauernfamilie die Lebensmittel und Rohstoffe, die sie nachher größtenteils selbst verzehrte. Diese Rohstoffe und Lebensmittel sind jetzt Waren geworden; (…) Die zahlreiche zerstreute Kundschaft, bisher bedingt durch eine Menge kleiner, auf eigene Rechnung arbeitender Produzenten, konzentriert sich jetzt zu einem großen, vom industriellen Kapital versorgten Markt.«[46]

Wie die »Bauern-Arbeiter« in den Städten werden damit auch Bauern selbst zu Konsumenten von Agrarprodukten, die durch Lohnarbeit oder »Familienfarmen« produziert werden.

 

4. Die chinesische Form des Kapitalismus

Man kann die zentralen Aspekte der »ursprünglichen Akkumulation des Kapitals« in China seit 1978 zusammenfassen als Auflösung und Proletarisierung der alten Staatsarbeiterschaft sowie als Herausbildung einer neuen Klasse der »Bauern-Arbeiter«, bei deren zweiter Generation seit den 2000er-Jahren der Bezug zur Landwirtschaft deutlich abgenommen hat. Lohnarbeit hat sich in den Städten als die dominante Form der Beschäftigung durchgesetzt. Abermillionen von Bauern sind landlos geworden. Es entstehen kapitalistische Großbetriebe als Pächter und eine Klasse der Lohnarbeiter auf dem Land. Durch die von der Regierung forcierte Kommerzialisierung der Landwirtschaft nimmt die Bedeutung der bäuerlichen Selbstversorgung ab. Die zentrale These der Strömung der Labor Studies um van der Linden, dass Lohnarbeit im Globalen Süden nicht das zentrale Charakteristikum des Kapitalismus sei und nur eine Form der Beschäftigung unter vielen, kann für den chinesischen Fall nicht bestätigt werden. Sally Sargeson hat sogar argumentiert, dass in China Subsistenzbauern (peasants) als Klasse in Zukunft dem Untergang geweiht seien.[47] Mein Verständnis der »ursprünglichen Akkumulation« in China soll nicht heißen, dass Kleinbauern oder Lohnarbeit in den Städten in Kombination mit Subsistenzwirtschaft auf den Dörfern in den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten komplett verschwinden werden. Die KPCh war seit Gründung des Staates 1949 mehrfach gezwungen, gegenüber den Bauern Zugeständnisse zu machen.[48] Allerdings bilden die Bauern mittlerweile nicht mehr die Mehrheit, sondern eine Minderheit der Bevölkerung. Durch die Schwächung ihrer Subsistenzwirtschaft und dörflichen Gemeinschaften haben sie an Möglichkeiten eingebüßt, sich Plänen des Staates und Zwängen des Marktes zu entziehen.

Weiterhin gibt es unter der akademischen Elite und auch innerhalb der Partei eine einflussreiche Strömung, die vor der Auflösung der Kleinbauernschaft warnt. Sie argumentiert, dass die Zerstörung der Subsistenzwirtschaft als soziales Sicherheitsnetz zur gesellschaftlichen Katastrophe führen könnte. Diese Strömung fordert eine Politik, die massive Ressourcen in die Vitalisierung der dörflichen Gemeinschaften investiert. Kleinbauern sollen vor den Auswirkungen des nationalen und globalen Kapitalismus geschützt werden.[49] Diese Strömung hat seit dem Machtantritt von Xi deutlich an Einfluss verloren, formuliert jedoch eine Alternative zur derzeitigen Politik gegenüber den Dörfern.

In einer Debatte argumentierte Charles Post gegenüber Michael Webber, dass dessen These von einer »ursprünglichen Akkumulation« in China nicht zutreffen würde, da es zu keiner Transformation des Bodens in privates Eigentum gekommen sei. Das Fehlen von kapitalistischen Eigentumsverhältnissen auf dem Land würde China zur Akkumulation von Kapital auf transnationaler Ebene zwingen, um industrielles Wachstum zu erzeugen.[50] Allerdings wurden beide Artikel vor der Liberalisierung der Nutzungsrechte von 2008 geschrieben. Der chinesische Fall legt nahe, dass eine Kommerzialisierung der Nutzungsrechte ausreicht, um Kapitalismus auf dem Land zu entwickeln, selbst wenn es kein Privateigentum an Grund und Boden gibt.

Dieser Beitrag hat auch gezeigt, dass die zentrale Rolle des Staates bei der »ursprünglichen Akkumulation« für China besonders zutrifft. Marx schrieb über England, Spanien, Holland, Portugal und Frankreich: »Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozess der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.«[51] Ironischerweise geht der Prozess der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise in China in einem noch schnelleren Tempo vonstatten, da der Staat über den Boden verfügen kann. Er ist in der Lage, die Kommerzialisierung der Bodenrechte und Landwirtschaft »treibhausmäßig zu fördern«, ohne Grund und Boden zu privatisieren. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der chinesische Staatskapitalismus unter Führung der KPCh von europäischen Entwicklungswegen.

 


[1] Jim Glassman: Primitive Accumulation, Accumulation by Dispossession, Accumulation by ›Extra-Economic‹ Means, in: Progress in Human Geography 30 (2006), Nr. 5, S. 608–625.

[2] Siehe Reinhart Kößler: Dritte Internationale und Bauernrevolution: Die Herausbildung des sowjetischen Marxismus in der Debatte um die »asiatische« Produktionsweise, Frankfurt a. M. 1982.

[3] Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im Folgenden: MEW), Berlin 1983, Bd. 19, S. 384–406.

[4] MEW, Bd. 23, S. 744.

[5] MEW, Bd. 8, S. 198–200.

[6] Für eine Einführung siehe: María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl., Bielefeld 2015.

[7] Edward Said: Orientalism, London 2003, S. 152–156.

[8] Kevin Anderson: Marx at the Margins: On Nationalism, Ethnicity, and Non-Western Societies, Chicago 2010. Siehe zur Debatte: Felix Wemheuer (Hg.): Marx und der globale Süden, Köln 2016.

[9] Vivek Chibber: Postcolonial Theory and the Specter of Capital, London 2013, S. 288–290.

[10] Harry Harootunian: Marx after Marx: History and Time in the Expansion of Capitalism, New York 2015.

[11] Siehe z. B. Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies: Eine Kuh für Hillary: Die Subsistenzperspektive, München 1997.

[12] Zur Debatte um den Arbeitsbegriff siehe auch: Andrea Komlosy: Arbeit: Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, Wien 2014, S. 11–21.

[13] MEW, Bd. 23, S. 765.

[14] David Harvey: The New Imperialism, Oxford 2003, S. 144 f.

[15] Michael Zeuske: Karl Marx, Sklaverei, Formationstheorie, ursprüngliche Akkumulation und Global South: Eine globalhistorische Skizze, in: Wemheuer: Marx (Anm. 8), S. 96–144.

[16] Marcel van der Linden: Workers of the World: Essays toward a Global Labor History, Leiden 2008, S. 47.

[17] Ebd., S. 22. Siehe auch Marcel van der Linden/Karl Heinz Roth (Hg.): Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin 2009.

[18] Heide Gerstenberger: Markt und Gewalt: Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus, Münster 2017, S. 620.

[19] Li Minqi: The Rise of China and the Demise of the Capitalist World Economy, London 2008, S. 69.

[20] China Statistical Yearbook 2017, Abschnitt 2.1 und 4.3 www.stats.gov.cn/tjsj/ndsj/2017/indexeh.htm, ges. am 3. September 2017.

[22] Joel Andreas: Industrial Restructuring and Class Transformation in China, in: Beatriz Carrillo/David Goodman (Hg.): China’s Peasants and Workers: Changing Class Identities, Cheltenham 2012, S. 107.

[23] MEW, Bd. 23, S. 743.

[24] Zum Verhältnis von Geschlecht und Arbeit siehe Pun Ngai: Made in China: Women Factory Workers in a Global Workplace, Durham 2005; Yan Hairong: New Masters, New Servants: Migration, Development, and Women Workers in China, Durham 2008.

[25] MEW, Bd. 23, S. 185.

[26] China Statistical Yearbook 2017 (Anm. 20), Abschnitt 4.2.

[27] Ching Kwan Lee: Against the Law: Labor Protests in China’s Rustbelt and Sunbelt, Berkeley 2007, S. 10–12.

[28] Ebd., S. 195–201.

[29] Das zentrale Dokument ist Guowuyuan guanyu jiejue nongmingong wenti de ruogan yijian [Einige Vorschläge des Staatsrats bezüglich der Lösung der Probleme der Bauern-Arbeiter], 2006, www.gov.cn/gongbao/content/2006/content_244909.htm, ges. am 3. September 2017.

[30] Siehe Pun Ngai/Ching Kwan Lee: Aufbruch der zweiten Generation: Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China, Berlin 2010.

[31] Sally Sargeson: The Demise of China’s Peasantry as a Class, in: The Asia-Pacific Journal 14 (2016), Nr. 13, apjjf.org/-Sally-Sargeson/4918/article.pdf, S. 9, ges. am 3. September 2017.

[32] MEW, Bd. 23, S. 432.

[33] Harvey: The New Imperialism (Anm. 14), S. 115–123.

[34] Siehe das Dokument Guojia xinxing chengzhenhua guihua 2014–2020 nian [Plan des Staates zur neuartigen Urbanisierung, 2014–2020], www.gov.cn/zhengce/2014-03/16/content_2640075.htm, ges. am 3. September 2017.

[35] Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing: Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2008, S. 451–453.

[36] Philip Huang/Gao Yuan/Yusheng Peng: Capitalization without Proletarianization in China’s Agricultural Development, in: Modern China 38 (2012), Nr. 2, S. 139–173; Yan Hairong/Chen Yiyuan: Agrarian Capitalization without Capitalism? Capitalist Dynamics from above and below in China, in: Journal of Agrarian Change 15 (2015), Nr. 3, S. 366–391.

[37] Zhou Bingbing u. a.: Zhongguo gengdi zhengshou de shengji chayi yu shidi nongmin cesuan yanjiu [Forschung zur Quantifizierung der landlosen Bauern und Unterschiede bei der Enteignung von Agrarland auf Provinzebene in China], in: Zhongguo nongxue tongbao [Bulletin für chinesische Agrarwissenschaften] 31 (2015), Nr. 11, S. 285, 288.

[38] Zhonggong zhongyang guowuyuan guanyu jiakuai fazhan xiandai nongye jinyibu zengqiang nongcun fazhan huoli de ruogan yijian, 31. Dezember 2012 [Einige Vorschläge des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas und des Staatsrats bezüglich einer beschleunigten Entwicklung und Modernisierung der Landwirtschaft und schrittweisen Steigerung der Vitalität der dörflichen Entwicklung], www.moa.gov.cn/ztzl/yhwj2013/zywj/201302/t20130201_3213480.htm, ges. am 3. September 2017.

[39] René Trappel: China’s Agrarian Transition: Peasants, Property, and Politics, Lanham 2016.

[40] Jane Hayward: Beyond the Ownership Question: Who Will Till the Land? The New Debate on China’s Agricultural Production, in: Critical Asian Studies 49 (2017), Nr. 4, S. 10.

[41] Yan/Chen: Agrarian Capitalization without Capitalism? (Anm. 36), S. 376.

[42] Trappel: China’s Agrarian Transition (Anm. 39), S. 128.

[43] Zhang Qian Forrest: Class Differentiation in Rural China: Dynamics of Accumulation, Commodification and State Intervention, in: Journal of Agrarian Change 15 (2015), Nr. 3, S. 361.

[44] Ebd., S. 358.

[45] Yan/Chen: Agrarian Capitalization without Capitalism? (Anm. 36), S. 372.

[46] MEW, Bd. 23, S. 775.

[47] Sargeson: The Demise of China’s Peasantry as a Class (Anm. 31), S. 17.

[48] Siehe Felix Wemheuer: Die Waffen der Schwachen: Alltäglicher Widerstand der chinesischen Bauern in der Ära der kollektiven Landwirtschaft (1953 bis 1982), in: Ulrich Mählert u. a. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007, Berlin 2007, S. 11–30.

[49] Alexander Day: The Peasant in Postsocialist China: History, Politics, and Capitalism, Cambridge 2013, S. 92–127.

[50] Michael Webber: Primitive Accumulation in Modern China, in: Dialectical Anthropology 32 (2008), Nr. 4, S. 299–320; Charles Post: Comment: Primitive Accumulation in Modern China, ebd., S. 324.

[51] MEW, Bd. 23, S. 779.

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