JHK 2019

Sibirien und die Mongolei zwischen Russischem Reich und Komintern

Regionalismus, Nationalismus und Imperialismus in den Werken von Elbek-Dorži Rinčino

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 53-66 | Metropol Verlag

Autor/in: Ivan Sablin

1. Einführung

Der Export der Revolution in die Mongolei war einer von zwei erfolgreichen für die Kommunistische Internationale (Komintern). In den frühen 1920er-Jahren sollte er der erste Schritt auf dem Weg zur sozialistischen Entkolonialisierung von Inner- und Ostasien sein. Obwohl vor dem Zweiten Weltkrieg keine weiteren sozialistischen Staaten gegründet wurden, die Agenda der Weltrevolution aufgegeben wurde und es mit der Komintern bereits in den späten 1920er-Jahren bergab ging, blieb die Mongolei eine sowjetische Dependenz und für den größten Teil des 20. Jahrhunderts »der Prototyp des modernen Satellitenstaates«.[1]

In poststrukturalistischer Perspektive argumentiert dieser Beitrag, dass die Politik der Komintern in der Mongolei und allgemein in Asien auf dem diskursiven und politischen Vermächtnis des Russischen Reiches – einem gemischten multiethnischen, multireligiösen und ansonsten sozial diversen Raum[2] – und der transkulturellen Mobilität[3] regionaler Akteure an der sibirisch-mongolischen Grenze beruht. Diese beiden Faktoren machten die Komintern im Umgang mit der Mongolei erfolgreich, führten aber in China, Korea, Japan oder anderswo nicht zu ähnlichen Erfolgen. Um die komplexen Überschneidungen und Wechselbeziehungen zwischen globalen, imperialen und lokalen Diskursen aufzuspüren und zu zeigen, wie zuvor marginalisierte Akteure außerhalb des imperialen Zentrums nachweislich entscheidend für die Gestaltung der Asienpolitik der Komintern wurden, konzentriert sich dieser Artikel auf die politische Biografie und die Schriften von Elbek-Doržhi Rinčino (1888–1938) – einer Schlüsselfigur bei der Entwicklung der mongolischen Revolution von 1921 und bei der Gründung der Burjat-Mongolischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik in Sibirien.

Rinčino gehörte zum indigenen Volk der Burjaten Sibiriens und war nie Mitglied der bolschewistischen Partei. Obwohl er außerhalb der Mongolei und des Zentrums des neuen sowjetischen Reiches stand,[4] leitete er die mongolisch-tibetische Abteilung des Fernost-Sekretariats der Komintern, war 1921 als Koautor am Programm der Mongolischen Volkspartei und 1924 an der Verfassung der Mongolischen Volkrepublik beteiligt. Außerdem galt er bis zu seiner Abberufung in die Sowjetunion 1925 als »De-facto-Diktator« der Mongolei.[5]

Rinčinos Ideen zum burjatischen und mongolischen (»panmongolischen«) Nationalismus wurden von Robert A. Rupen, L. B. Žabaeva, B. V. Bazarov und Xavier Hallez beleuchtet. Ihr Fokus auf den Nationalismus erklärt allerdings nicht, warum Rinčino in der Asienpolitik der Komintern so einflussreich geworden ist und wie er dazu beigetragen hat, sie auf ganz besondere Weise zu gestalten. Dieser Artikel geht über den Nationalismus hinaus und zeichnet andere Diskurse nach, so den gemäßigten Sozialismus, den sibirischen Regionalismus und Imperialismus, an deren Gestaltung Rinčino wesentlich beteiligt war und auf den er sich in seinen Schriften und politischen Aktivitäten immer wieder bezog. Alle diese Diskurse trugen zu seinem Plan einer Komintern für Asien bei. Wie von zahlreichen Autoren bereits gezeigt wurde, die verschiedene Akteure untersucht und Regionalstudien betrieben haben, veranlassten die Hinterlassenschaften des Reiches – die Forderungen nach Dezentralisierung und die Möglichkeiten, diese de facto umzusetzen, das Zirkulieren von Minderheitennationalismen während der Ersten Russischen Revolution (1905–1907), die progressive Orientalistik, an der indigene Intellektuelle beteiligt waren, und die äußerste Vielfalt verschiedener lokaler, imperialer und globaler Diskurse und Praktiken – die Bolschewiki, eine neue imperiale Formation statt des ursprünglich geplanten Einheitsstaates zu errichten.[6] Dieser Beitrag versucht mit einem neuen Blick auf die Schriften Rinčinos, seine Artikel und Programmschriften, zu dieser Literatur der Transformation des Imperiums beizutragen, indem er nicht nur den komplexen diskursiven und politischen imperialen und post-imperialen Formationen gebührende Aufmerksamkeit schenkt, sondern sich auch mit Rinčinos Agieren als Politiker und Intellektueller befasst. Zusammen mit anderen trug sein Handeln dazu bei, das, was als russische imperiale Revolution begann – die Versuche, die Hierarchien im Russischen Reich zugunsten marginalisierter kultureller und sozialer Gruppen umzugestalten[7] –, in den neuen sowjetischen Imperialismus zu transformieren. Dieser zielte auf die Schaffung eines neuen, nach wie vor auf das Übergewicht der russischen (obwohl dann kommunistisch geformten ) Metropole zentrierten Empire, das eine formelle (die Sowjetunion) und eine informelle Seite (die von der Komintern errichteten Abhängigkeitsverhältnisse) besaß.[8]

 

2. Transkulturelle Biografie

Rinčino wurde 1888 in dem burjatischen ulus Khargana in der Bargusiner Steppenduma des Transbaikal-Gebiets geboren. Die Baikalregion, Grenzland zwischen dem Zarenreich und dem Reich der Qing-Dynastie, war charakterisiert durch selbstverwaltete indigene Gemeinden der Burjaten und Ewenken sowie eine große russische Siedlerbevölkerung; orthodoxe Christen (einschließlich der Altgläubigen), Buddhisten und Schamanisten bildeten die größten Konfessionsgruppen. Die Region diente auch als Stützpunkt für die östliche und südliche Ausdehnung des Russischen Reiches auf das Gebiet der Qing-Dynastie (Annexion des Amur 1858–1860) mit einer verstärkten Präsenz in der Mongolei und Tannu-Tuwa. In den Jahren zwischen 1912 und 1915 schien das Russische Reich zunächst die Unabhängigkeitsansprüche der Mongolei zu unterstützen, entschied sich aber schließlich für die Autonomie der Äußeren Mongolei innerhalb Chinas und einige Privilegien in der Region.[9] Mit Ausnahme der Häftlinge genoss die Bevölkerung Sibiriens zwischen Ural und Pazifik aufgrund der unterentwickelten Kommunikation eine relativ geringe staatliche Kontrolle. Doch die imperialen Hierarchien waren greifbar. Die Mehrheit der indigenen Bevölkerung gehörte zum sozialen Stand der inorodcy, die im Vergleich zu Kosaken und Bauern weniger Rechte hatten. Im Jahr 1901 waren indigene Völker und Juden die einzigen Gruppen, die in Sibirien kein Land erwerben konnten. Die zaristische Regierung versuchte, die Bevölkerung durch gezielte Russifizierung und Christianisierung zu homogenisieren, indem sie unter anderem buddhistische Praktiken einschränkte. Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn (1891–1903) stimulierte die Siedlungskolonisation. Um den Anteil der Russen an der Bevölkerung zu erhöhen, verabschiedete die Regierung neue Landnutzungsbestimmungen, die in den Jahren von 1896 bis 1901 sowie von 1905 bis 1917 europäische Siedler begünstigten. An der Wende zum 20. Jahrhundert schaffte die Regierung auch die indigene Selbstverwaltung der Steppendumas ab. Anderen Gruppen der Landbevölkerung war die Selbstverwaltung ebenfalls verwehrt, was zusammen mit weiteren imperialen Praktiken zum Diskurs vom Sibirischen Regionalismus beitrug, der das ganze Gebiet zu einer »Kolonie« des europäischen Russland erklärte.[10]  

Rinčinos marginalisierte Herkunft begründete sein Interesse an der Sozialdemokratie während der Ersten Russischen Revolution, dem großen Versuch, die imperialen Hierarchien umzugestalten. Als Schuljunge hatte er zwischen 1905 und 1907 die Möglichkeit, in den Städten Werchneudinsk und Troizkosawsk mit den städtischen Revolutionären Kontakt aufzunehmen. Seiner Autobiografie zufolge nahm er an politischen Untergrundaktionen unter Boris Sacharovič Šumjackij (1886–1938) teil, der als Jude ebenfalls einer unterdrückten Minderheit angehörte. Nachdem Rinčino, Šumjackij und viele andere junge russische Untertanen in den Werken von Karl Marx und anderen europäischen Autoren Lösungen für ihre drängenden Probleme gefunden hatten, schlossen sie sich der globalen Suche nach sozialer Gerechtigkeit an. Für viele andere burjatische Intellektuelle war ethnische und religiöse Gleichheit wichtiger. Cyben Žamcarano, Michail Nikolajevič Bogdanov und andere Mitarbeiter Rinčinos in der revolutionären Selbstverwaltung nach 1917 beteiligten sich aktiv an der imperiumsweiten Autonomiebewegung, die eine globale, antikoloniale und nationalistische Richtung einschlug.[11]

Während seines kurzen Studiums in Tomsk zwischen 1907 und 1908 traf Rinčino Grigorij Nikolaevič Potanin, einen der prominentesten Vertreter des sibirischen Regionalismus. Rinčino zufolge verdankte er es Potanins Einfluss, dass er sich vom Marxismus abkehrte und den »linkspopulistisch-regionalistischen« Denkern anschloss. Potanin, Nikolai Michailovič Jadrincev und andere sibirische Regionalisten kritisierten das Missverhältnis zwischen dem europäischen Russland und Sibirien. Unter Betonung der geografischen, kulturellen und wirtschaftlichen Besonderheiten Sibiriens forderten sie eine breite regionale Selbstverwaltung. Obwohl die sibirischen Regionalisten nie eine kohärente politische Gruppe bildeten und daher keine einheitliche Haltung zu den Minderheitenrechten einnahmen, erfreuten sie sich dank ihres Interesses für die Probleme der nichtslawischen sibirischen Bevölkerung wachsender Beachtung bei indigenen Intellektuellen. In den Jahren zwischen 1908 und 1914 studierte Rinčino an der Juristischen Fakultät der Universität Sankt Petersburg und nahm weiterhin an politischen Untergrundaktivitäten teil. Obwohl er nicht so eng wie Žamcarano mit progressiven Orientalisten zusammenarbeitete, wurde Rinčino Teil der imperialen akademischen Expansion nach Innerasien und schloss sich 1915/1916 der russischen Expedition in die Mongolei an.[12]

Während der Russischen Revolution von 1917 wurde Rinčino einer der Führer der im April 1917 proklamierten burjatmongolischen Autonomie. Es war eine der ersten selbst proklamierten Autonomien im ganzen Reich. Wie viele andere Autonomisten unterstützten Rinčino und andere burjatische Führer die Sozialistischen Revolutionäre (SR). Seit Oktober 1917 war er Vorsitzender des Burjatischen Nationalkomitees (Burnackom) – der Autonomieregierung. Wenngleich die Provisorische Regierung die Autonomie nicht anerkannte, erwies diese sich als stabiles politisches Gebilde, das mehrere post-imperiale Regime überlebte und im Sommer 1918 schließlich von den regionalen sowjetischen Behörden anerkannt wurde, obwohl Rinčino sich den Bolschewiki formal nicht angeschlossen hatte.[13]

Nach dem Zusammenbruch des ersten sowjetischen Regimes in Sibirien durch die Intervention der Alliierten – östlich des Baikal hauptsächlich der Japaner – ging Rinčino im Sommer und Herbst 1918 kurz in den Untergrund, instruierte aber seinen Nachfolger Daši Sampilon, Verbindungen zu Antibolschewisten und Japan herzustellen. Rinčino schlug vor, einen vereinigten mongolischen Staat unter Führung der Burjaten zu gründen. Er nahm persönlich am konstituierenden Kongress eines solchen Staates teil, einberufen im Februar 1919 mit Unterstützung des projapanischen Warlords Grigorij Michajlovič Semënov in Tschita, und wurde einer der Anführer des »panmongolischen« Projekts. Die mangelnde Unterstützung der japanischen Regierung, die Ablehnung der Initiative durch die Äußere Mongolei und die Niederlagen der Antibolschewisten im Jahr 1919 setzten dem Projekt jedoch ein Ende.[14]

Nachdem Rinčino sich wieder mit den Bolschewiki verband, beteiligte er sich an der Bildung der auf Asien orientierten Abteilungen der Komintern. Im Oktober 1920 nahm er an einer Sitzung des Politbüros unter Vladimir Ilʼič Lenin teil, die im Zusammenhang mit dem Export der Revolution in die Mongolei stand und darüber hinaus die Autonomie für die Burjaten und Kalmücken beschloss. 1921 leitete Rinčino die mongolisch-tibetische Abteilung des Fernostsekretariats der Komintern unter Šumjackij. Zusammen mit ihm wurde Rinčino zur Schlüsselfigur der Kominternpolitik in Innerasien und einer der Drahtzieher der sowjetischen Operation gegen die Antibolschewisten im Sommer 1921, die sich zur mongolischen Revolution ausweitete. In den nächsten Jahren gehörte er zu den Führern des neuen mongolischen Staates.

Nachdem er von anderen mongolischen und sowjetischen Politikern verdrängt worden war, kehrte Rinčino 1925 in die Sowjetunion zurück. Von 1927 bis 1937 lehrte er an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens. 1937 wurde Rinčino verhaftet und im Jahr darauf wegen Mitgliedschaft in einer »panmongolischen« Gruppe und Spionage für Japan hingerichtet. 1957 wurde er postum von allen Vorwürfen freigesprochen.[15]

 

3. Sibirischer Regionalismus

Sibirischer Regionalismus und Sozialismus übten starken Einfluss auf Rinčinos frühe Schriften aus. Sein Manuskript »Die regionalistische Bewegung in Sibirien und die Sozialdemokratie« (1914) baute auf Potanins Ideen über Sibirien auf, führte aber gleichzeitig eine sozialistische Kritik an dem heterogenen regionalistischen Diskurs ein. Jadrincev und Potanin brachten die These vor, Sibirien sei wegen des Fehlens von Bildungsinfrastruktur und Selbstverwaltung sowie wegen der zerstreuten Besiedlung und einer unzulänglichen Wirtschaftsgesetzgebung eine Kolonie des europäischen Russland. Potanins wichtigster Vorschlag, der von den Regionalisten erstmals während der Ersten Russischen Revolution diskutiert wurde, bestand in der Schaffung einer regionalen Legislative – der Sibirischen Regionalduma –, die die Autonomie Sibiriens von der Metropole sicherstellen sollte. Er betonte auch, dass die Massenbesiedlung Konflikte zwischen alten (auch nichtrussischen Ethnien) und neuen Siedlern auslöse und reguliert werden müsse. Das Problem der ökonomischen »Versklavung« Sibiriens durch die Industrie des europäischen Russland sollte durch die Einführung des zollfreien Handelsverkehrs an den Flussmündungen des Ob und Jenissei gemildert werden. Ein autonomes Sibirien sollte auch kleinere selbstverwaltete Einheiten, einschließlich solcher der Minderheiten, umfassen.[16]

Rinčino behauptete, dass es zwischen Kolonie und Metropole sowohl »national-regionale« als auch »ständisch-klassenmäßige« Interessenunterschiede gebe. In der Erörterung des ersten Punktes stellte er Sibirien auf eine Stufe mit der Ukraine, dem russischen Norden und dem Kaukasus und unterstützte auch die regionale Selbstverwaltung. Hinsichtlich des zweiten Punktes betonte er, dass die fehlenden Erfahrungen mit Leibeigenschaft und Großgrundbesitz Sibirien vom europäischen Russland und seinen »bourgeoisen Grundbesitzern« unterschieden. Er widersetzte sich energisch Versuchen, in Sibirien Großgrundbesitz einzuführen, und begrüßte die bäuerliche Selbstorganisation in Kredit-, Produktions- und Konsumgenossenschaften, die sich gegen das »Zwischenhandelskapital« wendeten.[17]

Rinčino kritisierte die Sozialdemokraten für den Versuch, Russland durch die Beseitigung von »national-regionalen« Unterschieden zu homogenisieren. Sein antikoloniales Argument war, dass Sibiriens marginalisierte Position für die Bauern, Arbeiter, Bourgeoisie und Großgrundbesitzer Russlands gleichermaßen profitabel sei. Arme Bauern erhielten durch die Enteignung der alten Siedler und der nichtslawischen Ethnien Sibiriens Ansiedlungsmöglichkeiten; der Umzug der armen Landbevölkerung nach Sibirien senkte die Konkurrenz für Arbeiter; für Großgrundbesitzer und Bourgeoisie milderte die Besiedlung Sibiriens die Agrarkrise im europäischen Russland und verhinderte eine neue Revolution. Rinčino zufolge richteten sich die mögliche Eröffnung der Nordostpassage und die daraus entstehende Konkurrenz mit deutschen und englischen Waren auch gegen die Interessen der Arbeiter in der Metropole. Sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat würden von der Ausbeutung Sibiriens profitieren, das damit den Kolonien der europäischen Imperien ähnele. Laut Rinčino könnten die Hierarchien nur dann beseitigt werden, wenn sich die Lage im europäischen Russland ändern und ein fortschrittlicheres Regime den Kolonialismus abschaffen würde. Deshalb unterstützten die sibirischen Regionalisten die breitere politische Opposition Russlands.[18]

Obwohl Rinčino die russischen Sozialdemokraten kritisierte, beteiligte er sich prominent an ihren Diskussionen, die von John A. Hobsons Imperialism: A Study inspiriert waren, sich aber erst erweiterten, als Lenin 1917 sein berühmtes Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus veröffentlichte.[19] Gleichzeitig beteiligte sich Rinčino an den linksliberalen oppositionellen Debatten über die Dezentralisierung, die sich während der Ersten Russischen Revolution und insbesondere durch die Debatten der Staatsduma im Russischen Reich verbreiteten. Wie Potanin, der behauptete, Jadrincev habe den allrussischen Patriotismus nur abgegrenzt, indem er die Loyalität zur eigenen Region propagierte, sah Rinčino keinen Widerspruch zwischen Regionalismus und imperialem Nationalismus, da er ihn als Indikator für die gesamte kulturelle Entwicklung des Reiches interpretierte.[20]

 

 4. Minderheits- und Mehrheitsnationalismus

Schon in seinen frühen Werken betonte Rinčino die imperialen Hierarchien in Bezug auf die sibirischen Minderheiten im Allgemeinen und die Burjaten im Besonderen. Nach der Desillusionierung über die Ergebnisse der Revolution von 1917 und unter Ausnutzung der politischen Möglichkeiten des russischen Bürgerkriegs (1917–1922) setzte er sich nun für den Minderheits- (Burjaten) und Mehrheitsnationalismus (Mongolen) ein.

1914 arbeitete Rinčino den »ultra-kolonialen Charakter« der russischen Besiedlung der Baikal-Region im 17. Jahrhundert heraus. In dieser Perspektive waren Massenbesiedlung und Landverwaltung eine Fortsetzung der Eroberung, da es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen neuen Siedlern und den sibirischen nichtslawischen indigenen Ethnien (inorodcy) kam. Rinčino verglich die Situation mit den Methoden zur Eliminierung der »Indianerstämme« in Nordamerika.[21] In seinem Artikel »Die Große Revolution und das Inorodcy-Problem in Sibirien«, der im September 1917 verfasst und 1918 mit einigen Zusätzen veröffentlicht wurde, behauptete Rinčino, dass die Besiedlung für indigene Viehzüchter nachweislich besonders nachteilig war, da sie viele Burjaten dazu veranlasste, in die Mongolei auszuwandern. Er brachte seine Enttäuschung über die Russische Revolution von 1917 zum Ausdruck, die nicht alle Völker des Reiches in einer demokratischen föderativen Republik vereinte. Die politischen Parteien der »dominierenden Nationalität« waren gegen die Umsetzung der nationalen Selbstbestimmung, während die Burjatmongolen, ein »kleines Volk«, das unter jahrhundertelanger Unterdrückung litt, keine anerkannte Selbstverwaltung aufbauen konnten. Außerdem wurde die Revolution von der Gewalt der russischen Bauernmehrheit gegen die Burjaten in der Baikalregion begleitet, deren Landenteignung fortgesetzt wurde.[22]

Die bolschewistische Machtübernahme schien keinen unmittelbaren Unterschied zu machen. Im Gegensatz zu den Führern der Ukrainischen Volksrepublik und anderen Minderheitspolitikern, die sich für den Bruch mit Sowjetrussland entschieden, brachte Rinčino – unter Verweis auf die Zimmerwalder Konferenz (1915) und die Konferenz der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im April 1917 – die Hoffnung zum Ausdruck, dass der revolutionäre Internationalismus nationale Selbstbestimmung ermöglichen würde.[23]

Rinčino verließ jedoch den Viktimisierungsdiskurs und positionierte die Burjatmongolen in zunehmendem Maße als fortschrittlichste Gemeinschaft in Inner- (Zentral-)Asien, die Intellektuelle zu ihren Angehörigen in die Autonome Mongolei und das Altaigebiet schickte.[24] Die Idee der mongolischen Vereinigung unter burjatischer Führung zeichnete sich 1918 in Rinčinos Brief an Sampilon deutlich ab, in dem er auch – angesichts der Tatsache, dass das erste sowjetische Regime in Sibirien niedergeschlagen wurde – den Diskurs des Internationalismus aufgab und sich auf die Interessen der burjatischen Nation (statt Nationalität) konzentrierte. Als Vertreter dieser Interessen gestaltete das Burjatische Nationalkomitee eine entsprechende Außen- und Innenpolitik. Die Beziehungen zu verschiedenen russischen Behörden fielen zusammen mit den Beziehungen zu Japan in den Bereich der Außenpolitik. Rinčino betonte, dass die Burjaten die einzige Nation in ganz Russland seien, die es schaffte, ihre gewählten Selbstverwaltungsorgane zu behalten und Anarchie und bolschewistisches Chaos nicht zuzulassen. Dies bewies ihre Fähigkeit zur Staatsbildung, während die Russen und die russischen Parteien im Aufbau von Staat und Gesellschaft versagten. Rinčino kam zu dem Schluss, dass die Angelegenheiten der Burjaten keiner der konkurrierenden russischen Behörden unterstellt werden dürften, sondern dass die Russen vielmehr von den Burjaten zu lernen hätten. Folglich sollten die Burjaten – als die kulturell fortschrittlichste Nation in Innerasien – anstelle eines gescheiterten russischen Staates das Zentrum der mongolischen Vereinigung bilden.[25]

Das aus dem sibirischen Regionalismus übernommene Denken in zusammengesetzten imperialen Räumen, die aus verschiedenen nationalen und regionalen Gruppen bestehen, und der linksliberale Dezentralisierungsdiskurs erlaubten Rinčino, sich einen neuen, auf den Resten des Russischen und des Qing-Reiches aufbauenden Raum vorzustellen. Er sprach von Burjaten und anderen Mongolen nicht als einer Nation. Stattdessen befürwortete er ein neues, größeres heterogenes Ganzes, die föderative mongolische Republik, zu der die Burjaten gehören sollten, wie zu Sibirien. [26] Gleichzeitig zeigte der Plan, aus dem ehemaligen Russischen Reich auszubrechen, dass Rinčino sich mit seinen Ideen denen anderer Minderheitsnationalisten annäherte, die beschlossen hatten, ein unabhängiges Gemeinwesen aufzubauen.[27]

Interessanterweise bewahrte Rinčino das Argument kultureller Überlegenheit in seinem Memorandum Die gegenwärtige Lage der Mongolei, das er Ende 1919 an die bolschewistischen Führer sandte und in dem er die Burjaten als den fortschrittlichsten »mongolischen Stamm« bezeichnete. Obwohl er die Anstrengungen der mongolischen Nationalisten anerkannte, nach der Xinhai-Revolution (1911) eine einheitliche und unabhängige Mongolei zu schaffen, behauptete er, dass diese Bemühungen stattdessen zur Spaltung der Mongolei geführt hätten.[28]

1920 kam er in seinem Artikel »Die Inorodcy-Frage und die Aufgaben der Sowjetmacht in Sibirien« auf die Sprache und Hierarchien des Imperiums zurück, indem er, als er von den Burjaten sprach, den Begriff inorodcy verwendete und deren Viktimisierung bekräftigte. Dennoch behauptete er erneut, die Burjaten und Tungusen[29] seien mehr oder weniger zivilisiert, hätten eine eigene Schrift und Literatur. Darüber hinaus betonte er bei der Erörterung der Probleme der indigenen Völker ihren sozialen Charakter und die Ausbeutung nicht durch die Russen als eine Gruppe, sondern durch die Administration, die Priester, die Kulaken und auch einige gewöhnliche Bauern. Die inorodcy selbst wurden als arbeitende »Mitte« unter russischen Bauern angesehen. Rinčino kam zu dem Schluss, dass die inorodcy-Frage nicht nur eine nationale, sondern auch eine soziale Frage sei – in ihrer Bedeutung vergleichbar mit der Arbeiterfrage – und daher die besondere Aufmerksamkeit der sowjetischen Regierung erfordere.[30]

 

 5. Der neue Imperialismus

Während Rinčinos Abkehr vom und Rückkehr zum Sozialismus als rhetorisches Mittel eines erfahrenen Politikers gelten kann, blieb das Verständnis von einem zusammengesetzten politischen Raum während des Bürgerkriegs in seinen Schriften erhalten und legte den Grundstein für seine Vorschläge an die Bolschewiki. Ironischerweise unterschieden sich diese Empfehlungen nicht grundlegend von denen, die er ursprünglich Japan unterbreitet hatte. In beiden Fällen erweiterte Rinčino die imperiale Logik über die formellen internationalen Grenzen hinaus und schlug vor, informelle abhängige Gebiete zu schaffen, die durch Ideologie, Panasianismus oder Kommunismus an ihre Metropolen gebunden waren, gleichzeitig aber burjatische und mongolische nationale Interessen im Auge behielten.

Die Diskussion über Sibirien und die Mongolei vor dem Hintergrund der Weltpolitik war Teil des Diskurses der sibirischen Regionalisten. Bereits 1884 erkannte Potanin, als er an Expeditionen nach Nord- und Innerasien teilnahm, die Verflechtungen zwischen Burjaten und Mongolen. Laut Potanin würde eine richtige Ausbildung eine burjatische Intelligenzija hervorbringen, die den russischen geistigen Einfluss auf das Gebiet des Qing-Reiches ausdehnen könne.[31]

Nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904/1905) erwog Potanin, dass ganz Sibirien ein Puffer zwischen dem europäischen Russland und Japan sein könne, der sich bei angemessener wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung sicher stabilisieren würde.[32] 1914 unterstützte Rinčino die defensive Haltung gegenüber Japan durch seinen Verweis auf die große Bedeutung Sibiriens für Russland. Doch er forderte, dass sich Sibirien auch auf das europäische Russland verlassen können müsse, denn dieses verhindere, dass es weder von Japan noch von China »geschluckt« werde.[33]

Nach seiner Enttäuschung über die Russische Revolution von 1917 gab Rinčino seine antijapanische Haltung auf. Ende 1918 beauftragte er Sampilon, sich für eine projapanische Ausrichtung zu entscheiden, wenn sich die demokratische Opposition gegen die Bolschewiki als unkooperativ erweise. Semënov sollte als Bevollmächtigter dienen, um die Japaner zu gewinnen, von denen zu erwarten war, dass sie die Burjaten bei ihrem Streben nach ein oder zwei mongolischen Pufferstaaten zwischen Sibirien und China unterstützten. Rinčino schlug vor, dass, wenn solch ein Staat geschaffen würde, die Burjaten sich wieder in der Äußeren Mongolei ansiedeln oder ihre Gebiete mit den Russen tauschen und sich in Grenznähe niederlassen könnten.[34]

In dieser Hinsicht schloss das Projekt nicht nur den symbolischen Transfer des burjatischen Elements in einen anderen zusammengesetzten Raum ein, sondern auch die physische Bewegung von Menschen. Obwohl Rinčino nur mit einem südmongolischen Staat unter japanischem Protektorat rechnete, während der nordmongolische Staat neutral bleiben sollte, suchte er dennoch japanische Unterstützung für das Gesamtprojekt.

In dem Artikel »Die Großmächte und die Unabhängigkeit der Mongolei«, den er im Mai 1919 in Tschita veröffentlichte, postulierte Rinčino, dass eine neutrale föderative Mongolei auch von einem zukünftigen demokratischen Russland unterstützt würde. Letzteres sollte mithilfe Japans wiederhergestellt werden und daher auch eine projapanische Haltung einnehmen, was jedoch nicht zwangsläufig Unterordnung bedeutete. Das Britische Empire sollte der dritte Förderer einer formell unabhängigen Mongolei sein, da es an einem ähnlichen Status für Tibet interessiert war, wobei andere Großmächte vermutlich nachziehen würden.[35]

Nachdem der Plan, für einen vereinigten mongolischen Staat japanische Unterstützung zu gewinnen, fehlschlug, beschloss Rinčino, das Projekt zu nutzen, um die Bolschewiki anzuziehen. Im Dezember 1919 präsentierte er das Vorhaben der mongolischen Vereinigung als japanische Initiative zur Schaffung eines »Asien für Asiaten«. Rinčino behauptete, dass Semënov 1919 in der Mongolei panasiatische Proklamationen verbreitete, in denen Japan als stärkster Verteidiger aller schwachen asiatischen Nationalitäten und als ihr Retter vor europäischer Versklavung dargestellt wurde. Rinčino verschaffte seinen bolschewistischen Korrespondenten auch Informationen über die wirtschaftliche Expansion Japans in der Mongolei. Die Misserfolge des Russischen Reiches, tatsächlich die Kontrolle über die Mongolei zu gewinnen, erklärte er sowohl mit der Teilung in Äußere und Innere Mongolei als auch mit der Ignoranz der zaristischen Vertreter. Das Chaos in Russland unterminiere sogar den begrenzten Einfluss auf die Mongolei, doch ein neu erstarktes Russland würde seine früheren Positionen wiederherstellen.[36]  

Obwohl Rinčino in diesem Bericht den Klassenunterschied zwischen den burjatischen Intellektuellen und den mongolischen Fürsten und Geistlichen erwähnte, die eine mögliche Vereinigung als Bedrohung für das Feudalsystem der Mongolei ansahen, verblieb er im Bereich des »alten Imperialismus«, indem er lieber von einem möglichen russischen als einem sowjetischen Einfluss in der Mongolei sprach.[37] Er war wahrscheinlich nicht vertraut mit der beginnenden bolschewistischen Neuorientierung nach Asien, die im August und September 1919 von Lev Davidovič Trockij nach dem Zusammenbruch der Ungarischen Räterepublik initiiert wurde. Trockij schlug den Marsch der Roten Armee nach Indien und die Schaffung eines revolutionären Zentrums für Asien im Ural oder in Turkestan vor. Lenin unterstützte die stärkere Aufmerksamkeit für Asien, und im November 1919 beschloss der Zweite Allrussische Kongress der Kommunistischen Organisationen der Völker des Ostens, die Rote Armee des Ostens als Teil der Internationalen Roten Armee zu etablieren.[38]

Nachdem Rinčino in Irkutsk zum bolschewistischen Diskurs vorgedrungen war, ergriff er im März 1920 die Initiative, einen Plan zur Neuorientierung der Bolschewiken nach Asien durch Sibirien und die Mongolei zu entwerfen. Er stellte eine direkte Verbindung zwischen dem russischen Imperialismus in Sibirien und dem Bild der Bolschewiken in Inner- und Ostasien her. Er wies auf die weitläufigen wechselseitigen Verbindungen zwischen den indigenen Völkern Sibiriens und ihren Sprach- und Kulturverwandten jenseits der Grenze hin, betonte besonders die Verbindungen zwischen den Burjaten und der Mongolei und brachte erneut die Gefahren der japanischen panasiatischen Propaganda zur Sprache. Seiner Meinung nach bedrohte Japans möglicher Erfolg unter den Völkern Innerasiens und Sibiriens die bloße Existenz des revolutionären Russland.[39]

Anders als in seinem Memorandum von 1919 lieferte Rinčino nun einen ideologisch aufgeladenen Plan, der seine früheren antikolonialen Ideen mit den Ideen Lenins verband. Der Sieg des revolutionären Russland über die reaktionären Kräfte der Welt und die Zerstörung der kapitalistischen Ordnung hingen von der Weltrevolution ab, und Rinčino schlug vor, diese in Asien zu beginnen, wo sich die Kolonien der imperialistischen Großmächte befanden.

Doch die allgemeine Abneigung der Massen in der Region gegen die »europäischen Vergewaltiger« erfordere eine nuancierte Herangehensweise im Sinne einer Propagierung der Revolution bei den indigenen Völkern Sibiriens. Um sich in Asien zu empfehlen, musste die bolschewistische Regierung den inorodcy Selbstverwaltung gewähren, sie mit Bildung, kulturellen und medizinischen Angeboten versehen und ihre persönliche Sicherheit gewährleisten.[40] Auf diese Weise verband Rinčino ein regionalistisches und nationalistisches Minderheitenprogramm mit der bolschewistischen Agenda der Weltrevolution.

Der Ton auf dem Zweiten Kongress der Komintern, auf dem Lenin im Juli/August 1920 die – zumindest partielle – Ausrichtung auf Asien bekräftigte,[41] und der Kongress der Völker des Ostens im September desselben Jahres zeigten, dass Rinčinos Plan akzeptabel war. Um diesen anzustoßen, bedurfte es allerdings Rinčinos Eingreifen als Intellektueller und Politiker.

Lenin erhielt Mitte 1920 Kenntnis von Rinčinos Artikel. Dieser arbeitete im Oktober desselben Jahres als Dolmetscher für eine Delegation mongolischer Revolutionäre, die sich mit Lenin und den Mitgliedern des Politbüros traf. Die Verabschiedung einer Resolution, die die Errichtung der Autonomie für die Burjaten und Kalmücken mit den Bemühungen der Komintern in der Mongolei verband, bedeutete, dass Rinčinos Ideen mit den Interessen der Bolschewiki in Einklang standen. Rinčino legte seinen Plan dar und schlug vor, dass sich die Burjaten von Russland abspalteten und der Mongolei beitraten, die wiederum Teil der geplanten chinesischen Föderation werden sollte. Obwohl Rinčino die Unterstützung der Bolschewiken Jakov Davidovič Janson und Lev Michailovič Karachan erhielt, lehnte das Volkskommissariat für Nationalitäten den Vorschlag ab. Dennoch wurde der Plan in das Programm der Mongolischen Volkspartei aufgenommen, an dem Rinčino mitgewirkt hatte, und während des Parteitags in Troizkosawsk (1. bis 3. März 1921) angenommen.[42]

Šumjackijs Unterstützung für die Unabhängigkeit der Mongolei ermöglichte eine partielle Umsetzung des Plans. Die Sowjets stellten Hilfe und Truppen für die erfolgreiche mongolische Revolution von 1921 zur Verfügung, die als Operation gegen die verbleibenden antibolschewistischen Kräfte jenseits der Grenze begann. Im Jahr 1923 sorgte Moskau trotz der Opposition der regionalen nicht-indigenen Bolschewiki für die Gründung der Burjatisch-Mongolischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik.

1924 schrieb Rinčino an der Verfassung der Mongolischen Volksrepublik mit, die trotz Moskaus Anerkennung der chinesischen Souveränität über die Mongolei in diesem Jahr die Unabhängigkeit verkündete. Bis zu seiner Abberufung nach Moskau im Juli 1925 setzte er sich weiterhin für eine vereinigte Mongolei entweder als Einheit innerhalb der Sowjetunion oder der projektierten chinesischen Föderation ein.[43]

Auch seine Prognose eines japanischen Panasianismus, der 1919 unter konservativen Militärs viele Befürworter fand, erwies sich als richtig, da Japan in den Jahren zwischen 1936 und 1945 tatsächlich ein Klientelregime im Südosten der Mongolei protegierte.

 

 6. Schlussfolgerung

Trotz der sich verändernden politischen Umstände demonstrieren die hier untersuchten Werke Rinčinos ein imperiales Verständnis der Politik in Sibirien, der Mongolei und darüber hinaus. Als Teil einer Tradition, die die Dezentralisierung Russlands in den Vordergrund rückte und es als einen aus regionalen und nationalen Elementen zusammengesetzten Raum verstand, projizierte Rinčino dieses Bild zuerst auf eine mögliche mongolische Föderation und dann auf ein größeres bolschewistisches Reich in Asien.

Rinčinos Teilerfolg bei Semënov und den Bolschewiki zeigt an, dass sein Denken von jenen geteilt wurde, die mit dem späten imperialen Diskurs vertraut waren. In dieser Hinsicht kann die Asienpolitik der Komintern, die versucht hat, die Logik der Bildung national autonomer, aber informell abhängiger Einheiten in China, Korea und anderswo fortzusetzen, eher als direkte Fortsetzung der russischen imperialen denn als einer sozialistischen Revolution gesehen werden.

Der neue Imperialismus der Bolschewiki zielte darauf ab, einen neuen Raum nationaler Einheiten zu schaffen, die durch ihre informelle Subordination unter Moskaus Führung verbunden waren. Obwohl das Projekt schließlich die kommunistische Machtübernahme in diesen Einheiten vorsah, nährte die Politik selbst in erster Linie den antikolonialen Nationalismus. Immerhin hat die Mongolei nie aufgehört, eine nationale Republik zu sein.

Auf die Frage, warum der Plan der Komintern in der Mongolei nicht vollständig umgesetzt wurde und überdies nicht effizient war, gibt es mehrere mögliche Antworten. In den Jahren 1925/1926 gab die bolschewistische Führung die Weltrevolution als unmittelbares Ziel auf und verkündete das Prinzip des Sozialismus in einem Land. Damit wurde die Rückkehr zu den konventionellen auswärtigen Beziehungen zum Abschluss gebracht, die faktisch bereits nach dem Rücktritt Trockijs als Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten 1918 begonnen hatte und in den 1930er-Jahren das innenpolitische Ende der imperialen Revolution markierte. Stalins Regierung kehrte zum Diskurs der russischen kulturellen Vorherrschaft und im Falle der Burjaten und anderer indigener Gruppen zu einigen Aspekten der Russifizierung zurück, beispielsweise durch die Einführung der kyrillischen Schrift. Im gleichen Jahrzehnt wurde die burjatisch-mongolische Republik in drei Teile geteilt, während die meisten prominenten burjatischen Intellektuellen und Politiker in der »Großen Säuberung« (»Großer Terror«) umkamen.

Es ist jedoch auch möglich, dass der Standpunkt Rinčinos und weiterer Erben des imperialen Diskurses sich für die asiatische und die Weltpolitik als vereinfacht erwies. Tatsächlich funktionierte das Denken in Bezug auf nationale und regionale Einheiten angesichts der zahlreichen Konflikte um die Abgrenzung nationaler Territorien und der fortwährenden Versuche, die Region in Wirtschaftsregionen zu spalten, gerade in Sibirien selbst nicht richtig, ganz zu schweigen von dem ausgedehnten post-imperialen Kontext. Zudem war es in russischen Besonderheiten verwurzelt und deshalb nicht mit der Komplexität vertraut, die im früheren Qing-Reich bestanden hatte.

 


[1] Owen Lattimore: Satellite Politics. The Mongolian Prototype, in: Western Political Quarterly 9 (1956), H. 1, S. 39.

[2] Ilya Gerasimov u. a.: In Search of a New Imperial History, in: Ab Imperio (2005), H. 1, S. 33–56.

[3] Madeleine Herren/Martin Rüesch/Christiane Sibille: Transcultural History. Theories, Methods, Sources, Heidelberg 2012, S. 5 f.

[4] Dominic Lieven: The Russian Empire and the Soviet Union as Imperial Polities, in: Journal of Contemporary History 30 (1995), H. 4, S. 607–36.

[5] Robert A. Rupen: The Buriat Intelligentsia, in: Far Eastern Quarterly 15 (1956), H. 3, S. 388.

[6] Aleksandr Korobejnikov: Jakutskaja avtonomija. Postimperskije političeskije projekty jakutskoj intelligencii, 1905–1922 gg. [Jakutiens Autonomie. Post-imperiale politische Projekte der jakutischen Intelligenzija, 1905–1922], in: Ab Imperio (2017), H. 3, S. 77–118; Vera Tolz: Russia’s Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods, Oxford 2011; Mark von Hagen: Federalisms and Pan-Movements. Re-Imagining Empire, in: Jane Burbank/Mark von Hagen/Anatolyi Remnev (Hg.): Russian Empire. Space, People, Power, 1700–1930, Bloomington, IN 2007, S. 494–510.

[7] Ilya Gerasimov: The Great Imperial Revolution, in: Ab Imperio (2017), H. 2, S. 21–44.

[8] Prasenjit Duara: The Imperialism of ›Free Nations‹. Japan, Manchukuo and the History of the Present, in: Ann Laura Stoler/Carole McGranahan/Peter Perdue (Hg.): Imperial Formations, Santa Fe 2007, S. 211–239.

[9] S. B. Očirov: Elbek-Dorži Rinčino, in: Š. B. Čimitdoržiev/T. M. Michailov (Hg.): Vydajuščiesja burjatskije dejatel’i [Herausragende burjatische Persönlichkeiten], Bd. 1, Ulan-Ude 2009, S. 76; Ivan Sablin: Governing Post-Imperial Siberia and Mongolia, 1911–1924. Buddhism, Socialism and Nationalism in State and Autonomy Building, London 2016, S. 22–66.

[10] I. L. Damešek u. a.: Sibir’ v sostave rossijskoj imperii [Sibirien als Teil des Russischen Reiches], Moskau 2007, S. 58, 67, 213 f., 221, 236, 238 f.; N. M. Jadrincev: Sibir’, kak kolonija v geografičeskom, etnografičeskom i istoričeskom otnošenij [Sibirien als Kolonie in geografischer, ethnografischer und historischer Beziehung], 2. Aufl., Sankt Petersburg 1892; Steven G. Marks: Road to Power. The Trans-Siberian Railroad and the Colonization of Asian Russia, 1850–1917, Ithaca 1991.

[11] Očirov: Elbek-Dorži Rinčino (Anm. 9), S. 76; Elbek-Dorži Rinčino: Avtobiografija (1934), in: R. D. Nimaev u. a. (Hg.): Elbek-Dorži Rinčino. Dokumenty, Stat’i, Pis’ma [Elbek-Dorži Rinčino. Dokumente, Aufsätze, Briefe] (im Folgenden: Rinčino. Dokumenty), Ulan-Ude 1994, S. 10.

[12] N. M. Jadrincev: Sibirskije Inorodcy, ich bytʼ i sovremennoje položenie: Etnografičeskije i statističeskije issledovanija s priloženiem statističeskich tablic [Die sibirischen »inorodcy«, ihr Alltag und ihre gegenwärtige Lage: Ethnografische und statistische Forschungen mit Blick auf statistische Erhebungen], Sankt Petersburg 1891; Jadrincev: Sibir’, kak kolonija (Anm. 10); Očirov: Elbek-Dorži Rinčino (Anm. 9), S. 76; G. N. Potanin: Nuždy Sibiri [Nicht nur Sibirien] (1908), in: A. P. Kasarkin (Hg.): Izbrannoje sočinenija [Ausgewählte Werke], Tomsk 2014, S. 93–125; Rinčino: Avtobiografija (Anm. 11), S. 10 f.; M. V. Šilovskij: Polnejšaja samootveržennaja predannost’ nauke. G. N. Potanin, biografičeskij očerk [Selbstlose Hingabe an die Wissenschaft. G. N. Potanin, biografischer Abriss], Nowosibirsk 2004.

[13] Očirov: Elbek-Dorži Rinčino (Anm. 9), S. 76 f.; Sablin: Governing Post-Imperial Siberia and Mongolia (Anm. 9), S. 87 f., 96.

[14] B. V. Basarov/L. B. Žabajeva: Burjatskije nacional’nye demokraty i obščestvenno-političeskaja mysl’ mongolskich narodov v pervoj treti XX veka [Die burjatischen nationalen Demokraten und das sozial-politische Denken der mongolischen Völker im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts], Ulan-Ude 2008, S. 147–158, 171–173.

[15] Očirov: Elbek-Dorži Rinčino (Anm. 9), S. 77 f.

[16] Jadrincev: Sibir’, kak kolonija (Anm. 10); Potanin: Nuždy Sibiri (Anm. 12), S. 93–95, 98–100, 107–111, 113–116.

[17] Elbek-Dorži Rinčino: Oblast’ničeskoje dviženie v Sibir’i i social-demokratija [Regionalistische Bewegungen in Sibirien und die Sozialdemokratie] (1914), in: Rinčino. Dokumenty (Anm. 10), S. 14, 17, 20–22, 27, 34.

[18] Ebd., S. 14–16, 29 f., 32 f.

[19] J. A. Hobson: Imperialism: A Study, New York 1902; V. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916), in: Lenin: Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 189–309.

[20] F. F. Kokoškin: Oblast’naja avtonomija i edinstvo Rossii [Gebietsautonomie und die Einheit Russlands], Moskau 1906; Potanin: Nuždy Sibiri (Anm. 12), S. 112; Rinčino: Oblast’ničeskoe dviženie (Anm. 17), S. 14. Mehr über den imperialen Nationalismus bei Ilya Gerasimov/Jan Kusber/Alexander Semyonov (Hg.): Empire Speaks out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden 2009.

[21] Rinčino: Oblast’ničeskoje dviženie (Anm. 17), S. 24, 33.

[22] Elbek-Dorži Rinčino: Velikaja Revoljucija i inorodčeskaja problema v Sibir’i (1918) [Die Große Revolution und das Inorodcy-Problem in Sibirien], in: Rinčino. Dokumenty (Anm. 10), S. 35–39, 65, 68–70.

[23] Ebd., S. 38 f.

[24] Ebd., S. 69 f.

[25] Elbek-Dorži Rinčino: Pis’mo Daši Sampilonu [Brief an Daši Sampilon] (1918), in: B. B. Batuev (Hg.): Nacional’noje dviženie v Burjatii v 1917–1919 gg. Dokumenty i materialy [Die nationale Bewegung in Burjatien 1917–1919. Dokumente und Materialien], Ulan-Ude 1994, S. 165–167.

[26] D. Radin [Elbek-Dorži Rinčino]: Velikije deravy i nezavisimost’ Mongolii [Die Großmächte und die Unabhängigkeit der Mongolei] (1919), in: Rinčino. Dokumenty Anm. 10), S. 112.

[27] Ronald Grigor Suny: The Revenge of the Past: Nationalism, Revolution, and the Collapse of the Soviet Union, Stanford, CA 1993.

[28] Erdeni Rinčino [Elbek-Dorži Rinčino]: Sovremennoje položenie Mongolij [Die gegenwärtige Lage der Mongolei] (1919), in: I. I. Kudrjavcev u. a. (Hg.): Mongolija v dokumentach kominterna, 1919–1934 [Die Mongolei in den Dokumenten der Komintern 1919–1934], Ulan-Ude 2012, S. 13 f., 24.

[29] Er meinte wahrscheinlich die Ewenken, die in der Baikalregion lebten und eng mit den Burjaten verbunden waren.

[30] Elbek-Dorži Rinčino: Inorodčeskij vopros i zadachi sovetskogo stroitel’stva v Sibirʼi (1920) [Die Inorodcy-Frage und die Aufgaben der Sowjetmacht in Sibirien], in: Rinčino. Dokumenty (Anm. 10), S. 75–78.

[31] G. N. Potanin: Inorodčeskij vopros v Sibirʼi [Die Inorodcy-Frage in Sibirien] (1884), in: A. P. Kazarkin (Hg.): Izbrannoje sočinenija (Anm. 13), S. 63–65.

[32] Potanin: Nuždy Sibirʼi (Anm. 12), S. 116 f.

[33] Rinčino: Oblast’ničeskoje dviženije (Anm. 17), S. 32, 34.

[34] Rinčino: Pis’mo Daši Sampilonu (Anm. 25), S. 166 f.

[35] Rinčino: Velikije deržavy (Anm. 26), S. 112, 114 f., 117, 120.

[36] Rinčino: Sovremennoje položenije Mongolii (Anm. 28), S. 14–18, 23, 27.

[37] Ebd., S. 24 f.

[38] G. M. Adibekov u. a. (Hg.): Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Komintern 1919–1943 gg. Dokumenty [Politbüro des ZK der KPR (B) – VKP (B) und die Komintern 1919–1943. Dokumente], Moskau 2004, S. 30 f.

[39] Rinčino: Inorodčeskij vopros (Anm. 30), S. 78 f., 81, 85 f.

[40] Ebd., S. 86–88.

[41] V. I. Lenin: Doklad komissii po nacional’nomu i kolonial’nomu voprosam, 26 ijulia 1920 g. [Bericht der Kommission für die nationale und koloniale Frage], in: Pol’noje sobranije sočinenij, 5. Aufl., Bd. 41, Moskau 1981, S. 241–247. Siehe auch V. I. Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage, in: Lenin: Werke, Bd. 31, S. 132–139.

[42] Bazarov/Žabaeva: Burjatskije nacional’nye demokraty (Anm. 14), S. 203–207; S. G. Luzianin: Rossiia – Mongoliia – Kitai v pervoi polovine XX veka. Političeskije vzaimootnošenija v 1911–1946 gg. [Russland – Mongolei – China in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Politische Wechselbeziehungen 1911–1946], 2. Aufl., Moskau 2003, S. 105–107.

[43] Ebd., S. 138–140, 155 f.; Očirov: Elbek-Dorži Rinčino (Anm. 9), S. 77.

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