JHK 2020

Das westdeutsche und das chinesische »Wirtschaftswunder«: Der Wettstreit um die Interpretation von Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik in Chinas Preisreformdebatte der 1980er-Jahre

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 55-70 | Metropol Verlag

Autor/in: Isabella M. Weber

[1]Die westdeutsche Nachkriegszeit und die chinesische Reformära teilen das Potenzial, einen historischen Beweis für die Leistungsfähigkeit einer rasanten Marktliberalisierung zu liefern und sind als solche Projektionsflächen für ordo- und neoliberale Ordnungsvorstellungen. Der Ordoliberalismus ist dabei eine Spielart des Neoliberalismus, die die Ordnungsfunktion des Staates bei der Sicherstellung der Rahmenbedingungen für den Marktmechanismus in den Vordergrund stellt. Welche theoretische Fundierung Chinas Wachstumserfolg der letzten 40 Jahre zugeschrieben wird, hat weitreichende Implikationen für den wirtschaftspolitischen Diskurs. Deng Xiaopings Reformen haben die Grundlage für Chinas Transformation von einem niedrigen wirtschaftlichen Entwicklungsstand zu einer wichtigen Wirtschaftsmacht im globalen Kapitalismus gelegt: Ein »Wirtschaftswunder«, das an den westdeutschen Boom nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, allerdings auf einer ungleich größeren Skala.

            Jedoch zeigt dieser Aufsatz, dass weder Ludwig Erhards Bundesrepublik noch Deng Xiaopings China einer allumfassenden und schockartigen Liberalisierung folgten, wie sie dem ordo- oder neoliberalen Ideal entspräche. In beiden Fällen stellte sich die Frage, wie Marktmechanismen in eine weitgehend zentralgesteuerte Wirtschaft eingeführt werden können, wobei die Herausforderung der Preisreform eine zentrale Rolle spielte. Entscheidende Unterschiede waren der Grad der Industrialisierung und der Unternehmensstruktur: kapitalistische Unternehmen, die im Krieg Allianzen mit dem faschistischen Staat eingegangen waren, in der Bundesrepublik, und sozialistische Produktionseinheiten in Staats- oder Kollektiveigentum in China. Eine gewisse Gemeinsamkeit weisen beide jedoch in dem vorherrschenden pragmatischen Ansatz der partiellen Marktliberalisierung auf, der mit einer strategischen Kontrolle wichtiger Wirtschaftsbereiche kombiniert wurde. Dieser Ansatz war, wie dieser Aufsatz darlegt, in beiden Fällen umkämpft, aber letztlich vorherrschend. Die staatliche Regulierung von zentralen Konsum- und Industriegüterpreisen trug dabei zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit und exportorientierten Entwicklung bei.

            Der westdeutsche Nachkriegsboom und die chinesischen Wirtschaftsreformen weisen nicht nur aufschlussreiche Parallelen auf, sondern sind, wie hier gezeigt, auch diskursiv verbunden. Sowohl unter Ludwig Erhard als auch unter Deng Xiaoping sollte eine neue Wirtschaftsordnung geschaffen werden. Die politischen Vorzeichen unterschieden sich jedoch radikal: Wiederbelebung der Wirtschaft nach dem totalen Krieg auf der einen Seite und Aufgabe des revolutionären Maoismus sowie Hinwendung zum Primat der wirtschaftlichen Entwicklung auf der anderen. Mit Blick auf die Frage der Preisreform wurde die westdeutsche Erfahrung dennoch in der chinesischen Debatte zur Wirtschaftssystemreform als Beweis für das Erfolgspotenzial einer schockartigen Blitzliberalisierung herangezogen.

            Wie im Folgenden demonstriert wird, wurde das »Erhard-Wunder« von neoliberalen Vertretern wie Milton Friedman und Ordoliberalen wie Otmar Emminger in China zu einer Zauberformel für Schockliberalisierung stilisiert und von marktradikalen Anhängern und im Westen sehr bekannten Reformökonomen wie Wu Jinglian als solches im chinesischen Reformdiskurs propagiert. Im Gegensatz dazu zeigten die Analysen der Ökonomen des Forschungsinstituts für Wirtschaftssystemreform (jingji tizhi gaige yanjiusuo) in der Bundesrepublik unter der Leitung von Chen Yizi und Wang Xiaoqiang sowie die Warnungen des »Wirtschaftsweisen« und Energieökonomen Hans Karl Schneider, dass das deutsche »Wunder« keineswegs auf allumfassender Preisliberalisierung beruhte. Sie betonten, dass vielmehr die institutionellen Unterschiede für die Erfolgsaussichten entscheidend seien. Als Ergebnis der chinesischen Reformdebatte hat sich die chinesische Führung in den 1980er-Jahren gegen eine ordo- oder neoliberale Version der schockartigen Preisliberalisierung entschieden.

I. Westdeutsche Währungs- und Preisreform: Idee und Umsetzung

»Der Sprung in die freie Wirtschaft ist kein Sprung ins Dunkel und ins Chaos, sondern umgekehrt der Schritt aus dem Chaos in die natürliche Ordnung.«[2]

Im Zweiten Weltkrieg setzen alle kapitalistischen Kriegsmächte weitreichende Preiskontrollen und eine zentralistische Produktionsplanung ein. Nach dem Krieg stellte sich die Frage, ob die Kriegswirtschaft zum Ausgangspunkt einer staatlich gesteuerten Nachkriegswirtschaft dienen sollte, oder ob die zentralen Steuerungsinstrumente schnellstmöglich abgeschafft werden sollten, um dem Wettbewerb freien Lauf zu lassen.[3] In verschiedenen Ländern haben sich in dieser Debatte über die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit unterschiedliche Paradigmen durchgesetzt. Großbritannien wurde unter der Labour-Regierung zum Inbegriff eines graduellen Ansatzes der Transition, wobei die staatliche Regulierungsfunktion in Friedenszeiten für eine Mischwirtschaft eingesetzt werden sollte. Die Bundesrepublik wurde dagegen zum Symbol der rapiden Marktliberalisierung, die von Ordoliberalen als Ausgangspunkt des »Wirtschaftswunders« gesehen wird. Dabei bleibt allerdings umstritten, inwiefern Deutschland tatsächlich eine ordoliberale Wirtschaftspolitik verfolgte oder bereits Ende 1948 zu einer Mischwirtschaft überging.[4]

            Die Westalliierten übernahmen zunächst die Kommandowirtschaft und Preiskontrollen der Nationalsozialisten. In Anbetracht des Kollapses der Nazibürokratie war deren Wirkkraft jedoch gering. Als Ergebnis der Rationierung und aus Mangel an Konsumgütern hatte Geld kaum Kaufkraft und wurde durch Naturaltausch und Zigarettenwährung ersetzt. Schwarzmärkte boomten und die Geldwirtschaft verlor weitestgehend ihre Funktionsfähigkeit.[5] Es fehlte an einem effektiven gesamtwirtschaftlichen Koordinierungsmechanismus, und die Frage der Erschaffung einer neuen Wirtschaftsordnung war akut. Trotz steigender Zustimmung und einer »antikapitalistischen Grundstimmung« lehnte die Mehrheit in der Bundesrepublik eine Planwirtschaft ab.[6] Die Debatte wurde von sozialdemokratischen Kräften dominiert, die eine Mischwirtschaft mit weitreichendem öffentlichen Eigentum sowie staatsplanerischen Elementen forderten, und den Ordoliberalen des Freiburger Kreises, die die Rolle des Staates auf die Bereitstellung des notwendigen Rahmens für den Markt reduzieren wollten.[7]

            Diese Konfrontation spitzte sich in der Frage der Preispolitik zu: Ordoliberale, wie z. B. der Vordenker der Freiburger Schule Walter Eucken lehnten jegliche Form der Preiskontrolle ab und forderten stattdessen die Liberalisierung aller Preise auf einen Schlag und so schnell wie möglich. Anknüpfend an die Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus und in Übereinstimmung mit der neoliberalen Position argumentierten sie, dass jegliche Behinderung der Freiheit der Preise den Marktmechanismus unterwandern und damit eine rationale Wirtschaftsordnung unmöglich machen würde. Die Aufgabe des Staates sei aus dieser Sicht, die Effektivität des Preismechanismus als wirtschaftliches Koordinierungsinstrument schlechthin sicherzustellen. Im Gegensatz dazu forderten die sozialdemokratischen Stimmen einen interventionistischen Staat, der steuernd zur Erfüllung sozialer und wirtschaftlicher Ziele eingreife und auch vor der Regulierung von Preisen nicht zurückscheue. Dementsprechend verlangten sie keine umfängliche Liberalisierung der Preise. Sollten Preiskontrollen aufgehoben werden, hatte dies aus ihrer Sicht nicht oberste Priorität, da die Wiederbelebung der Wirtschaft nicht per se die Erschaffung vollständiger Märkte erfordere.[8]

            Im Wirtschaftsrat, dessen Führung Ludwig Erhard im März 1948 übernahm, kam es zur Konfrontation der im Wettstreit stehenden Ansätze zur Reform der westdeutschen Wirtschaft.[9] Wilhelm Kromphardt, damaliger Professor für Volkswirtschaftslehre an der TH Hannover, war die Stimme der sozialdemokratischen Position. Er argumentierte für ein duales Wirtschafts- und Preissystem, bestehend aus einem geplanten Kern und einem marktwirtschaftlich organisierten Rand. Der Kern sollte alle Grundbedürfnisse der Bevölkerung abdecken. Den Produzenten dieser Bedarfsgüter sollten für diesen Kern ihre Produktionsmittel durch eine zentrale Planung bereitgestellt werden und diese zu festen Preisen und basierend auf Rationierung verkaufen. Darüber hinaus könnten sie für den Markt produzieren. Die Produktion von Luxusgütern, wie z. B. kunstgewerblichen Aschenbechern, sei gänzlich dem Markt zu überlassen, wobei der Staat die Produktion von bestimmten Luxusgütern wie Schlagsahne anfangs auch verbieten könne.[10] Wie wir sehen werden, weist Kromphardts Vorschlag erstaunliche Parallelen mit dem Reformansatz auf, der sich in China in den 1980er-Jahren durchsetzte. Im Gegensatz dazu empfahlen die Ordoliberalen Wilhelm Röpke und Walter Eucken eine Kombination aus Währungsreform, geldpolitischer Restriktion und rasanter Liberalisierung aller Preise,[11] die der neoliberalen Schocktherapieformel, wie sie später z. B. in Chile nach dem Putsch von 1973 und in Russland in den frühen 1990er-Jahren angewandt wurde, sehr nahe kommt.

            Letztlich kam es jedoch zu einem Kompromiss, der von den pragmatischen Ordoliberalen Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack vorangetrieben wurde.[12] Diese teilten mit anderen Ordoliberalen die Vision einer Marktwirtschaft, in der der Staat die Funktionsfähigkeit des Marktes sicherstellt, ohne direkt steuernd einzugreifen. Um jedoch den Befürchtungen, dass eine zu weitreichende Preisliberalisierung Hunger und soziale Unruhen auslöse, entgegenzutreten, sahen sie für die Übergangsphase eine Kontrolle der Preise von Schlüsselindustrieprodukten und grundlegenden Konsumptionsgütern vor.[13]

            Am 20. Juni 1948 wurde die westdeutsche Währungsreform umgesetzt, die häufig Ludwig Erhard zugeschrieben wird. Tatsächlich ging sie auf den Colm-Dodge-Goldsmith-Plan zurück. Dieser wurde federführend von dem jüdischen Ökonomen und New Dealer Gerhard Colm entwickelt, der vor den Nazis in die USA geflohen war, und von der amerikanischen Besatzungsmacht in Abstimmung mit den anderen Westalliierten umgesetzt. Die Initiative, gleichzeitig mit der Währungsreform eine Preisliberalisierung umzusetzen, um nicht nur das allgemeine Preisniveau unter Kontrolle zu bringen, sondern auch die relativen Preise zu korrigieren, ging dagegen entscheidend vom Wirtschaftsrat unter Ludwig Erhard aus, wobei Fuhrmann überzeugende Argumente anführt, dass die Preisliberalisierung zunächst nicht gesetzeskonform war.[14]

            Allerdings ist der weithin bekannte Effekt, dass sich nach der kombinierten Währungs- und Preisreform die Schaufenster nach Jahren des Mangels über Nacht füllten, nicht dem Wunder des Marktes zuzuschreiben. Die Währungsreform war von der Militärverwaltung sorgfältig vorbereitet worden: Die Kombination aus Importen im Rahmen des Marshallplans und die Tolerierung des Anhäufens von Konsumgütern durch Produzenten und Ladenbesitzer sorgte dafür, dass die Lager voll waren. So wurde die Kaufkraft der D-Mark nicht nur durch die Vernichtung von Sparguthaben, sondern auch durch die ausreichende Verfügbarkeit von Waren sichergestellt. Das Ziel war, die regressive Wirkung der Aufhebung von Bankguthaben in der alten Währung, die den Eigentümern von nicht monetären Kapitalanlagen zugutekam, durch die plötzliche Verfügbarkeit von Konsumgütern hinnehmbar zu machen.[15]

            Die Preisreform war bei Weitem nicht allumfassend. Insbesondere die Preise für Grundnahrungsmittel, Rohmaterialien, Mieten und öffentliche Transporte sowie Löhne blieben staatlich gedeckelt, in einigen Fällen für Jahrzehnte. Ca. 30 Prozent der Konsumgüterpreise waren von 1948 bis 1963 staatlich kontrolliert. Trotz dieser weitreichenden Kontrolle wichtiger Preise und der Annullierung der Sparguthaben, hat die verbleibende zu Kriegszeiten aufgestaute Überschussnachfrage eine Inflation von 14,3 Prozent im Jahr 1948 verursacht. Mit weiter steigenden Preisen, aber gedeckelten Löhnen fielen die Realeinkommen, während die Kapitaleigentümer große Gewinne machten und die Ungleichheit drastisch anstieg. Insbesondere die Freigabe der Preise von Textil- und Lederwaren, von Gütern des täglichen Gebrauchs und von frischen Lebensmitteln wie Obst, Gemüse, Eiern und Butter führte dazu, dass sich diese teilweise vervielfachten. Als Ergebnis war z. B. der Konsum von Eiern für viele Familien nach der Reform unerschwinglich, während ihnen zuvor eine Ration zu einem fixen Preis zugestanden hatte.[16]

            Die Reaktion auf die steigenden Preise waren zunächst spontane und teilweise gewaltsame Proteste auf Marktplätzen, die schließlich von den Gewerkschaften in Kaufboykotten kanalisiert wurden. Die Frustration wurde zunehmend politisiert und entlud sich am 12. November 1948 in einem Generalstreik, der nicht nur die freien Preise und den Lohnstopp attackierte, sondern die freie Marktwirtschaft als System infrage stellte.[17]

Erhard selbst beschreibt in seinen Memoiren die Phase zwischen 1948 und 1950 als eine der dramatischsten in der deutschen Wirtschaftsgeschichte.[18] Tatsächlich kam es als Ergebnis des enormen politischen Drucks zu einer Umorientierung von einer »freien« zu einer »sozialen Marktwirtschaft«, die als Mischwirtschaft beschrieben werden kann, jedoch weit hinter den Forderungen des Generalstreiks nach Vergesellschaftung und Demokratisierung der Wirtschaft zurückblieb. Ein erster Schritt in diese Richtung war das sogenannte Jedermann-Programm. Dieses wurde zunächst für die knappen Textil- und Lederwaren umgesetzt und später auf weitere Konsumgüter und Maschinen ausgeweitet. Das »Jedermann-Programm« teilte privaten Unternehmen durch einen bürokratischen Verteilungsmechanismus knappe Rohstoffe zu niedrigen Preisen zu, aus denen diese zentral geplante Produkte zu festen Preisen herstellten. Jenseits des »Jedermann-Programms« produzierten die Unternehmen Güter zu Marktpreisen. Es kam also zu einem dualen System, das als eine reduzierte Version von Kromphardts Vorschlag interpretiert werden kann. Die Produktion eines Kerns wichtiger Konsumgüter und Maschinen wurde staatlich geplant, darüber hinaus herrschte der Markt. Das »Jedermann-Programm« trug entscheidend dazu bei, die Inflation Ende 1948 unter Kontrolle zu bringen.[19]

            Entgegen dieser wirtschaftsgeschichtlichen Auslegung von Ursprüngen, Umsetzung, Effekten und schließlich der teilweisen Revidierung der Währungs- und Preisreform von 1948 wurde diese von ordo- und neoliberalen Ökonomen zu Erhards persönlichem Wunderwerk stilisiert, das dank des Zaubers des Marktes die Probleme der westdeutschen Nachkriegswirtschaft im Handumdrehen gelöst habe.[20] Seit den 1970er-Jahren wurde das »Erhard-Wunder« als Beweis für die Effektivität der sogenannten Schocktherapie, einer Kombination aus einer über Nacht eingeführten Preisliberalisierung, Austerität, Privatisierung und Weltmarktöffnung angeführt.

Milton Friedman, einer der prominentesten Verfechter der Schocktherapie, bezieht sich zum Beispiel in einem Pamphlet aus dem Jahr 1977, das diese Politik für Großbritannien empfiehlt, auf das »Erhard-Wunder« und unterstellt, Erhard habe »an einem Wochenende alle Lohn- und Preiskontrollen aufgehoben«.[21] Im Kontext der Reform zentral geplanter Wirtschaften des Staatssozialismus wurde die Schocktherapie zur politischen Standardempfehlung der Bretton-Woods-Institutionen. Führende Politiker wie der polnische Finanzminister Leszek Balcerowicz, der die Transformation zur Marktwirtschaft plante, sowie Helmut Kohl, aber auch Ökonomen wie Jeffrey Sachs bezogen sich dabei explizit auf den Erfolg der Erhardʼschen Reformen.[22] Auch in China waren sowohl die mystifizierte Variante des »Erhard-Wunders« als auch eine Analyse der tatsächlichen Wirtschaftsgeschichte der westdeutschen Währungs- und Preisreform zentrale Elemente in der Debatte über die Reform des Wirtschaftssystems in den 1980er-Jahren.

II. Das »Erhard-Wunder« in Chinas Wirtschaftsreformdebatte

Während der Kulturrevolution waren Märkte als wirtschaftlicher Koordinationsmechanismus weitgehend als kapitalistisch verpönt und auf staatlich genehmigte Wochenmärkte reduziert. Statt wirtschaftlicher Rationalität wurde revolutionäre Politik zum Leitprinzip erhoben. Dieses Verhältnis wurde in der Reformära verkehrt. Reform implizierte einen Primat der wirtschaftlichen Entwicklung: Die sogenannten objektiven Gesetze der Wirtschaft sollten die Grundlage der Politikgestaltung bilden. Dafür wurde eine Rationalisierung des Preissystems als zentral erachtet. Die Diskussion der Neuordnung der Wirtschaft wurde schon Mitte der 1970er-Jahre und noch vor Maos Tod im Jahr 1976 zunächst sachte und indirekt wiederbelebt.[23]

            In diesem Kontext übte die westdeutsche Nachkriegserfahrung neben dem osteuropäischen Sozialismus (siehe dazu auch den Beitrag von Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Liu Hong in diesem Band) eine große Faszination auf chinesische Ökonominnen und Ökonomen sowie Kader aus. Zum Beispiel veröffentlichte die Forschungsgruppe für Kapitalistische Ökonomien der Fudan Universität im Jahr 1975 eine Studie zur westdeutschen Transitionserfahrung nach dem Zweiten Weltkrieg.[24] Der Rhetorik nach wird die Bundesrepublik als kapitalistisch und imperialistisch kritisiert, dennoch sind die Parallelen mit China offensichtlich. Die westdeutsche Lage der unmittelbaren Nachkriegszeit wird als eine Wirtschaft beschrieben, in der die Befehlsketten der Planwirtschaft zerfallen waren, während Märkte ein Schattendasein fristeten, sodass sich die Frage der Erschaffung einer neuen Wirtschaftsordnung gestellt habe. Zusätzlich zu der Herausforderung der Reetablierung eines gesamtwirtschaftlichen Steuerungsmechanismus, die sich für China aus der Sicht einiger Ökonominnen und Ökonomen ähnlich stellte, trug der wirtschaftliche Boom der Nachkriegszeit zum Interesse an der Bundesrepublik bei. Auch die Haltung einiger pragmatischer Ordoliberaler, wie z. B. Müller-Armack, dass eine Marktwirtschaft durchaus sozialistisch sein könne, dürfte vor dem Hintergrund der seit den 1950er-Jahren diskutierten Frage nach der Vereinbarkeit von Sozialismus und Markt unter reformorientierten Intellektuellen und Kadern Resonanz gefunden haben.[25]

            Chinas Öffnung gegenüber den kapitalistischen Ländern gewann unter Maos designiertem Nachfolger Hua Guofeng an Fahrt und chinesische Delegationen tourten um die ganze Welt, einschließlich der Bundesrepublik.[26] Insbesondere der Besuch des Vizepremiers Gu Mu im Mai 1978 mit dem Auftrag zu untersuchen, was China vom westdeutschen Entwicklungspfad lernen könnte, markierte den Beginn eines großen Interesses an Erhards Reformen.[27] In der chinesischen Debatte über die Erhardʼschen Reformen und deren Relevanz für China entstanden wettstreitende Interpretationen: auf der einen Seite die ordo-/neoliberale Lesart des »Erhard-Wunders«, die mobilisiert wurde, um für eine schockartige Liberalisierung der Preise zu werben, und auf der anderen Seite die wirtschaftshistorische Untersuchung der westdeutschen Nachkriegsreformen, die das Fortbestehen der Kontrolle über die Preise essentieller Konsum- und Industriegüter betonte. Diese zwei Interpretationen werden in den nächsten beiden Abschnitten gegenübergestellt.

Anrufung des neo- und ordoliberalen Mythos

Einer der ersten westdeutschen Ökonomen, der in China über das »Erhard-Wunder« referierte, war Wolfram Engels, ein Nachfahre des Bruders von Friedrich Engels und prominenter Ordoliberaler, der sich als Mitbegründer des Frankfurter Instituts (heute Stiftung Marktwirtschaft) und des Kronberger Kreises einen Namen machen sollte. Der deutsche Botschafter Erwin Wickert hatte ihn auf Initiative des Vizepremiers Fan Yi und des Vizeaußenministers Zhang Wenjin als privaten Gast im März 1979 eingeladen, um an der Botschaft zum deutschen Wiederaufbau vorzutragen. Engels Beitrag stieß auf so großes Interesse, dass weitere Vorträge organisiert wurden und er zu einem privaten Abendessen mit Gu Mu, einem der Anführer der Revolution und zu diesem Zeitpunkt Vizepremier, eingeladen wurde.[28] Aus einem Telegramm, das Wickert nach dem Treffen an Schmidts Kanzleramt schickte, geht hervor, dass die Idee von der Einrichtung eines Marktes bereits im März 1979 hoch im Kurs stand: Gu Mu habe seinen Gästen erklärt, dass Chinas Wirtschaftssystem mit einer Marktwirtschaft kombiniert werden müsse, die Frage sei jedoch, wie dies erreicht werden könne – in dieser Hinsicht sei die westdeutsche Nachkriegserfahrung von Relevanz.[29]

            Engels präsentierte seinem chinesischen Publikum die mystifizierte Version des »Erhard-Wunders«. Seine Botschaft war, dass das »Erhard-Wunder« aus stringenter makroökonomischer Stabilisierungspolitik (die in Deutschland die Form der Währungsreform und der Annullierung von Sparguthaben genommen hatte) kombiniert mit radikaler Preisliberalisierung bestanden habe und diese Politikkombination auch in China zur Erschaffung einer Marktwirtschaft anwendbar sei.[30] Noch im Sommer des gleichen Jahres wurden der ordoliberale Ökonom Armin Gutowski, damaliger Direktor des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) und Gründungsmitglied des Kronberger Kreises, und seine Ehefrau, die Spiegel-Redakteurin Renate Merklein, nach China eingeladen. Gutowski verstand es, die Erhardʼschen Lektionen auf den chinesischen Kontext zuzuschneiden und wurde zum Wirtschaftsberater der chinesischen Regierung ernannt. Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1987 kam Gutowski wiederholt nach China und empfing hochrangige Delegationen in der Bundesrepublik.[31] Gutowski betonte die strukturelle Parallele zwischen der Überhangnachfrage in China als Ergebnis einer auf die Schwerindustrie ausgerichteten Entwicklungsstrategie und der im Krieg aufgestauten Nachfrage. Auch er empfahl einen den Erhardʼschen Reformen gleichkommenden, klaren Schnitt. Gutowski räumte ein, dass in der Bundesrepublik eine kurze Periode hoher Inflation auf die Reformen gefolgt war, verschwieg aber den Generalstreik, der vor dem Hintergrund der chinesischen Sorge um die politische Stabilität stark ins Gewicht gefallen wäre.[32]

            In einem Vortrag von Milton Friedman in der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften im Rahmen seines Besuches in China im Jahr 1980 erreichte die Mystifizierung der Erhardʼschen Reformen als Wunderwaffe zur Erschaffung einer Marktwirtschaft eine neue Dimension. Er erklärte: »The so-called economic miracle produced by Ludwig Erhard in 1948 was a very simple thing. He abolished all price and wage controls and allowed the market to operate while at the same time keeping a strict limit on the total quantity of money issued.«[33]

            Entsprechend seiner monetaristischen Lehre verkündete Friedman, dass es bei der Anwendung dieser Politik zwar übergangsweise zu einem inflationären Schub kommen könne, dass aber, so lange die Geldmenge stabil gehalten werde, ein derartiger Sprung zu Marktpreisen keine nachhaltige Inflation auslösen würde. Im Jahr 1980 war Friedmans Empfehlung zu radikal und sein Lobgesang auf den freien Markt zu weit vom chinesischen Diskurs entfernt, als dass er wie Gutowski wiederholt eingeladen worden wäre. Jedoch fand sein Ansatz der Schocktherapie Anklang bei einigen chinesischen Ökonomen, die sich wiederholt auf seine Darstellung des »Erhard-Wunders« als Beleg für die Erfolgsaussichten dieses Reformansatzes beriefen.[34]

            Im Jahre 1984 wurde das duale Preissystem, das einen Marktpreis und einen Planpreis für unterschiedliche Segmente des Outputs derselben Waren nebeneinander bestehen ließ, für alle Sektoren der Wirtschaft, inklusive der für die Entwicklungsstrategie zentralen Schwerindustrie, zur offiziellen Politik erhoben. Als Reaktion darauf starteten diejenigen, die auf ein »Erhard-Wunder« durch einen klaren Schnitt in Form einer umfassenden Preisliberalisierung hofften, eine Kampagne für ihre Sicht der Dinge.[35] Unter ihnen war z. B. Wu Jinglian, der im Westen große Aufmerksamkeit als Reformökonom erhielt. Er veröffentlichte zwei viel beachtete Artikel: Zuerst in der von der Kommunistischen Partei herausgegebenen Tageszeitung Renmin Ribao, anschließend in der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschrift Jingjiyanjiu, in der er für ein Reformpaket plädierte und dieses dem vorherrschenden Gradualismus des dualen Systems gegenüberstellte. Die parallele Existenz von Markt und Plan sollte so schnell wie möglich überwunden werden. Wu stützte sich auf Friedman und seine Interpretation des »Erhard-Wunders« sowie auf den sogenannten Dodge-Plan.[36] Letzterer ist nach dem Detroiter Banker Joseph Dodge benannt, einem der Architekten der westdeutschen Währungsreform, der später in Japan den Übergang von der Kriegswirtschaft maßgeblich bestimmte. Der Dodge-Plan umfasste eine radikale Preisreform, vorbereitet durch stringente makroökonomische Austerität.[37]

            Die berühmte Bootskonferenz von Bashan auf dem Jangtse, die von der Weltbank im Jahr 1985 mit gesponsert wurde, um chinesische Reformökonominnen und -ökonomen sowie internationale Wirtschaftsexpertinnen und -experten zusammenzubringen und die Fragen der Einführung von makroökonomischer Regulierung und der Wirtschaftssystemreform zu diskutieren, schrieb der Preisreform eine prominente Rolle zu (siehe dazu auch den Beitrag von Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Liu Hong in diesem Band). Unter den Gästen waren Otmar Emminger, der einstige Präsident der deutschen Bundesbank (1977–1979) und ehemaliger Mitarbeiter in Erhards Wirtschaftsministerium, sowie Alec Cairncross, der als Wirtschaftsberater der britischen Regierung deren graduelle Preisereform nach dem Zweiten Weltkrieg mitgestaltete. Es kam gewissermaßen zu einer Wiederholung der Transitionsdebatte nach dem Krieg, aber mit Anwendung auf die chinesische Frage der Systemreform. Beim Staatsdiner mit Premier Zhao Ziyang pries Emminger einmal mehr die Wunder der Erhardʼschen Reformen an und empfahl diese als Vorlage für Chinas Preisreform. Die Politikempfehlung von Emminger erfolgte in Übereinstimmung mit János Kornai, der zu diesem Zeitpunkt bereits ein internationaler Star auf dem Gebiet der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Sozialismus war. Kornai unterschied zwischen Reformen, die Zeit bräuchten, wie z. B. die Reform der Unternehmensstrukturen, und Reformen, die so schnell und radikal wie möglich umgesetzt werden sollten. Hier sei vor allem die Preisliberalisierung entscheidend. Der Marktsozialist Włodzimierz Brus, der bereits zuvor wiederholt zum chinesischen Reformdiskurs beigetragen hatte, stimmte im Wesentlichen mit Kornai überein, auch wenn er aufgrund des unerwarteten Erfolges der landwirtschaftlichen Reformen einen etwas vorsichtigeren Ton anschlug. Im Gegensatz dazu warnten sowohl Alec Cairncross als auch James Tobin davor, die vermeintlichen Reformen Erhards zu kopieren und in China umzusetzen. [38]

            Von chinesischer Seite waren auf der Konferenz vorwiegend Ökonomen vertreten, die für ein Primat der Preisliberalisierung eintraten, wie z. B. Liu Guoguang, Zhao Renwei, Lou Jiwei, Guo Shuqing und zunehmend auch Xue Muqiao. Die Stimmen, die für eine Version des »Erhard-Wunders« eintraten, verliehen diesem Projekt Rückenwind. Im Jahr 1986 wurde von höchster politischer Ebene unter der Federführung von Zhao Ziyang das sogenannte Programmbüro eingerichtet, das den Auftrag hatte, ein Reformpaket auszuarbeiten. In dessen Zentrum stand eine kombinierte Reform von Preisen – insbesondere von entscheidenden Industriegütern wie Kohle, aber auch von Löhnen und Steuern –, die der mystifizierten Variante des »Erhard-Wunders« sehr nahe gekommen wäre. Allerdings wurde die Umsetzung dieses Plans letztlich von Zhao Ziyang selbst gestoppt, wobei die alternative Interpretation der westdeutschen Reformen eine gewisse Rolle spielte, da sie die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gefahren dieser Politik veranschaulichte.[39]

Lektionen der westdeutschen Erfahrung

Während die Vorbereitung eines Reformpaketes, das makroökonomische Kontrolle mit weitreichenden Preisreformen kombinieren sollte, in vollem Gang war, organisierten diejenigen Reformökonominnen und -ökonomen, die für einen experimentellen Gradualismus eintraten und die Idee der Reform rundweg ablehnten, eine wissenschaftlich fundierte Kritik. Dabei war insbesondere die vom Forschungsinstitut für Wirtschaftssystemreform unter der Federführung von Chen Yizi und Wang Xiaoqiang und der formalen Leitung von Gao Shangquan organisierte Reise nach Jugoslawien und Ungarn entscheidend. Da osteuropäische Reformökonomen eine wichtige Inspirationsquelle für den Reformpaketansatz waren, und chinesische Ökonomen, die für diese radikale Art der Reform eintraten, sich auf das Scheitern des Gradualismus in Osteuropa stützten, wurde den Feldforschungsergebnissen der Delegation großes Gewicht beigemessen. Sie warnte, dass das geplante Reformpaket nicht die erhoffte Anpassung der relativen Preise bringen würde, sondern vielmehr zu Kostendruckinflation führen würde, die durch makroökonomische Kontrolle nicht in den Griff zu bekommen sei und das Potenzial habe, die soziale und politische Stabilität zu untergraben.[40]

            Die Warnung des Forschungsinstituts für Wirtschaftssystemreform war ein wichtiger Faktor, der Zhao Ziyang dazu brachte, das Reformpaket des Programmbüros letztlich nicht umzusetzen. Neben der osteuropäischen Reformerfahrung und dem Rat osteuropäischer Ökonomen wie Brus und Kornai war das »Erhard-Wunder« eine wichtige Legitimationsquelle. Deshalb trug auch die Warnung gegen die Reformmaßnahme seitens des ordoliberalen Ökonomen Hans Karl Schneider dazu bei, Zhao Ziyang umzustimmen.[41] Im Zentrum der Kontroverse über die Preisliberalisierung stand die Frage der Deregulierung der Preise knapper Industriegüter mit unelastischem – also nicht schnell ausdehnbarem – Angebot. Schneider, der nicht nur aus erster Hand Erfahrung mit Erhards Wirtschaftspolitik hatte, sondern auch ein international anerkannter Energieökonom war, warnte vehement vor der Aufgabe von Preiskontrollen über Energie und knappe Rohmaterialien.[42]

            Auch wenn die Pläne für die Umsetzung eines Reformpaketes mit Preisliberalisierung als zentraler Maßnahme im Jahre 1986 aufgegeben wurden, setzten die Befürworter dieser Politik ihre Kampagne fort und beriefen sich dabei nach wie vor auf das »Erhard-Wunder«. Die Ökonomen am Forschungsinstitut für Wirtschaftssystemreform sahen sich dazu herausgefordert, im Jahr 1988 einer Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung zu folgen und die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute aufzusuchen, um ein besseres Verständnis von den konkreten Bedingungen des »Erhard-Wunders« zu bekommen. Im Zentrum der Kritik von Chen Yizi und Wang Xiaoqiang stand, dass die Bedingungen in China sich zu stark von denjenigen im Westdeutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit unterschieden, als dass die Erhardʼschen Reformen als Beweis für den Erfolg dieser Politik im chinesischen Fall dienen könnten.[43] Diese Auffassung bestätigte ausgerechnet Herbert Giersch, der amtierende Präsident sowohl der Mont Pèlerin Society[44] – häufig als das organisatorische Rückgrat des neoliberalen Denkkollektivs porträtiert – als auch des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Giersch hatte unter Müller-Armack zur Frage des Umgangs mit den Kriegslasten im Jahr 1948 promoviert und war retrospektiv ein Bewunderer der Erhardʼschen Reformen.[45] Dennoch berichtet Chen Yizi, dass er sachte die Idee einer von Erhard inspirierten Preisliberalisierung kombiniert mit Makrokontrolle für China erwähnte, um Gierschs Reaktion zu testen. Dieser habe daraufhin geantwortet, sie würde in China eine Katastrophe erzeugen, die einem Selbstmord gleichkäme. Im Gegensatz zu China hatte Westdeutschland nach dem Krieg marktwirtschaftliche Unternehmen und Unternehmer, reichlich Erfahrung mit Marktwettbewerb und ein auf die Marktwirtschaft ausgerichtetes Rechtssystem. Selbst in England habe Thatcher große Anstrengungen unternehmen müssen, um die weitreichenden Liberalisierungen vorzubereiten.[46]

            Noch während ihrer Reise 1988 durch die Bundesrepublik erfuhr die Delegation, dass Deng Xiaoping selbst die Initiative für eine radikale Preisreform ergriff.[47] Die politische Dynamik war durch die Analyse der Ökonomen nicht aufzuhalten. Erst der Ausbruch einer sehr hohen Inflation im Sommer desselben Jahres als Reaktion auf die Propaganda für eine weitreichende Preisreform brachte diesen Versuch, ein chinesisches »Erhard-Wunder« zu erzeugen, zum Erliegen. Der Kontrollverlust Mitte 1988 war so einschneidend, dass die Systemreformen allgemein gestoppt wurden. Im Herbst 1988 unternahmen die Befürworter einer radikalen Preisliberalisierung noch einmal die Anstrengung, Unterstützung für ihre Politik zu organisieren. Dazu wurde Milton Friedman erneut geladen und ein Treffen mit Zhao Ziyang organisiert. Doch die politische Spannung hatte die Situation so verschärft, dass diese Initiative ins Leere lief.[48]

III. Schlussbemerkung

Dieser Beitrag hat gezeigt, wie ordo- und neoliberale Ökonomen die westdeutsche Währungs- und Preisreform der unmittelbaren Nachkriegszeit zum »Erhard-Wunder« stilisiert haben: Die Freigabe der Preise einhergehend mit einer strengen Makrokontrolle und einer Reduktion der Geldmenge habe über Nacht eine funktionierende Marktwirtschaft erschaffen, die Deutschland aus Armut und Hunger an die Spitze des westlichen Kapitalismus katapultiert habe. Dieses Narrativ ist allerdings nicht vereinbar mit der wirtschaftshistorischen Aufarbeitung der Erhardʼschen Reformen. Die Preisreformen waren weder allumfassend – insbesondere zentrale Produktions- und Konsumgüter blieben noch für Jahrzehnte unter staatlicher Kontrolle –, noch erzeugten sie einen sofortigen Erfolg und endeten stattdessen zunächst in Inflation und Generalstreik. Dennoch wurde die Idee eines »Erhard-Wunders« im Kontext der Transitionsdebatte in sozialistischen Ländern weitläufig als Legitimierung für die sogenannte Schocktherapie angeführt. So auch im China der 1980er-Jahre: Von den ersten Tagen der Reform bis zu deren zwischenzeitigem Stillstand im Jahr 1988/89 argumentierte eine Koalition aus internationalen und chinesischen Ökonomen für ein »Erhard-Wunder« in China.

            Die chinesische Führung unternahm wiederholt Anläufe, die basierend auf dem »Erhard-Wunder« vorgeschlagene Kombination aus radikaler Preisliberalisierung und makroökonomischer Kontrolle umzusetzen. Jedoch wurden diese Anstrengungen jedes Mal in letzter Sekunde gestoppt, da die Gefahr für die wirtschaftliche und politische Stabilität als zu groß erachtet wurde. In diesem Kontext waren die Warnungen von abweichenden ordoliberalen Stimmen, wie z. B. von Schneider und Giersch, aber auch die Analysen des chinesischen Forschungsinstituts für Wirtschaftssystemreform in der Bundesrepublik von Relevanz. Sie argumentierten, dass aufgrund der großen institutionellen Unterschiede ein »Erhard-Wunder« in China nicht repliziert werden könne. Würde diese Reformpolitik dennoch umgesetzt, käme es zu einer wirtschaftlichen Katastrophe, die auch die soziale Stabilität unterwandern werde.

            China hat letztlich keine Schocktherapie angewandt und der experimentelle, gradualistische Reformansatz hat sich im Gegensatz zu Russland oder Osteuropa durchgesetzt. Allerdings gibt es mit Blick auf die relative Preisstruktur in der Bundesrepublik und China interessante Parallelen, die weiterer Forschung bedürfen. In beiden Fällen wurden die Preise von essenziellen Konsum- und Industriegütern staatlich auf einem niedrigen Niveau gehalten. Dies wirkte sich positiv auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit aus und kann als ein Teil der exportorientierten Entwicklungsstrategie angesehen werden, die eine staatlich kontrollierte Marktwirtschaft mit großer Weltmarktoffenheit verbindet.

 


 

[1] Für eine ausführlichere Analyse der ordo- und neoliberalen Interpretation der westdeutschen Nachkriegserfahrung und deren Mobilisierung im chinesischen Reformdiskurs der 1980er-Jahre in englischer Sprache siehe Isabella M. Weber: How to Make a Miracle? Ludwig Erhard’s Post-War Price Liberalisation in China’s 1980s Reform Debate, in: The New School for Social Research Economics Department Working Paper Series (2019), H. 1903. Für eine allgemeinere Diskussion des Verhältnisses zwischen Neoliberalismus und Chinas Wirtschaftsreformen siehe Isabella M. Weber: China and Neoliberalism: Moving Beyond the China Is/Is Not Neoliberal Dichotomy, in: Damien Cahill/Melinda Cooper/Martijn Konings/David Primrose (Hg.): SAGE Handbook of Neoliberalism, Los Angeles 2018, S. 219–233.

[2] Alfred Müller-Armack: Genealogie der sozialen Marktwirtschaft: Frühschriften und weiterführende Konzepte, Bern 1974, S. 102.

[3] Die Positionen zur Nachkriegsordnung wurden zu Kriegszeiten theoretisch vorbereitet. So z. B. Friedrich A. von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach/Zürich 1945. Für einen Überblick der Formierung der ordoliberalen sowie der sozialistischen Visionen für die Nachkriegsordnung siehe Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 133–200 und Helga Grebing (Hg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, 2. Aufl. Essen 2000, S. 355–405.

[4] In der mir bekannten systematischsten Analyse der Entstehung der westdeutschen Wirtschaftsordnung argumentiert Uwe Fuhrmann, dass der Versuch einer freien Marktwirtschaft basierend auf ordoliberalen Prinzipien im Jahre 1948 gescheitert sei und zur Einführung einer Mischwirtschaft unter dem Namen »Soziale Marktwirtschaft« geführt habe. Siehe Uwe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz/München 2017, S. 231–308, 319–330.

[5] Siehe Karl-Heinrich Hansmeyer/Rolf Caesar: Kriegswirtschaft und Inflation (1936–1975), in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a. M. 1976, S. 418–424.

[6] Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« (Anm. 4), S. 84 f.

[7] Siehe Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2011, S. 89 und Siegfried Freick: Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland: Weichenstellung für ein halbes Jahrhundert, Schkeuditz 2001, S. 75.

[8] Siehe Anthony James Nicholls: Freedom with Responsibility. The Social Market Economy in Germany, 1918–1963, Oxford 1994, S. 179–204.

[9] Siehe Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (Anm. 7), S. 93 und Hans Möller: Die westdeutsche Währungsreform von 1948, in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975 (Anm. 5), S. 458.

[10] Siehe Wilhelm Kromphardt: Marktspaltung und Kernplanung in der Volkswirtschaft, in: Dortmunder Schriften für Sozialforschung (Hamburg 1947), H. 3, S. 3–18.

[11] Siehe Nicholls: Freedom with Responsibility (Anm. 8), S. 176.

[12] Dieser Kompromiss baute in Teilen auf der Arbeit des sozialdemokratischen Ordoliberalen Leonhard Miksch auf. Zur Rolle von Leonhard Miksch und seinem Einfluss auf Ludwig Erhard siehe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« (Anm. 4), S. 144–146, 150–152.

[13] Siehe Irmgard Zündorf: Staatliche Verbraucherpreispolitik und Soziale Marktwirtschaft in Westdeutschland 1948–1963, in: André Steiner (Hg.): Preispolitik und Lebensstandard: Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik im Vergleich, Köln 2006, S. 129–169, hier S. 134.

[14] Siehe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« (Anm. 4), S. 155–159. Siehe Harald Hagemann: Colm, Gerhard, in: Harald Hagemann/Claus-Dieter Krohn (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, München 1999, S. 104–113; Wolfgang Krieger: General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945–1949, Stuttgart 1987, S. 374–381 und Irmgard Zündorf: Der Preis der Marktwirtschaft. Staatliche Preispolitik und Lebensstandard in Westdeutschland 1948–1963, München 2006, S. 134–136.

[15] Siehe Freick: Die Währungsreform (Anm. 7), S. 71–74 und Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (Anm. 7), S. 127.

[16] Siehe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« (Anm. 4), S. 167–169, 173.

[17] Ebd., S. 172–227; Zündorf: Staatliche Verbraucherpreispolitik (Anm. 13), S. 161–163 und Zündorf: Der Preis der Marktwirtschaft (Anm. 14), S. 131, 147–157.

[18] Siehe Ludwig Erhard: Wohlstand für Alle, Düsseldorf 1957, S. 24.

[19] Siehe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« (Anm. 4), S. 244–252, 264–296.

[20] Ebd., S. 319–330; Charles Kindleberger: A Financial History of Western Europe, London 1984, S. 416 und Ralf Ptak: Eine deutsche Legende. Die Freiburger Schule und der Ordoliberalismus, in: Indes (2014), H. 3, S. 70–77.

[21] Milton Friedman: Friedman on Galbraith and Curing the British Disease, London 1977, S. 45 (Hervorhebung durch Autorin).

[22] Siehe Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (Anm. 7), S. 402–407; Interview mit Jeffrey Sachs, in: www.pbs.org/wgbh/commandingheights/shared/minitext/int_jeffreysachs.html#19 (ges. am 5.3.2019); Leszek Balcerowicz: Poland, Stabilization and Reforms under Extraordinary and Normal Politics, in: Anders Åslund/Simeon Djankov (Hg.): The Great Rebirth. Lessons from the Victory of Capitalism over Communism, Washington 2014, S. 20, 22.

[23] Siehe Isabella M. Weber/Gregor Semieniuk: American Radical Economists in Mao’s China. From Hope to Disillusionment, in: Research in the History of Economic Thought and Methodology 37A (2019), S. 31–63.

[24] Siehe Fudan Dazue Zibenzhuyi Yanjiusuo [Kapitalismusforschungsinstitut der Fudan Universität]: Zhanhou Xide jingji [Die westdeutsche Wirtschaft nach dem Krieg], Schanghai 1975.

[25] Siehe Cyril Lin: The reinstatement of economics in China today, in: The China Quarterly 85 (1981), H. 3/4, S. 1–48 und Müller-Armack: Genealogie der sozialen Marktwirtschaft (Anm. 2), S. 30.

[26] Siehe Li Liangqing: Breaking Through: The Birth of China’s Opening-Up Policy, Oxford 2010 sowie Frederick C. Teiwes/Warren Sun: China’s New Economic Policy under Hua Guofeng: Party Consensus and Party Myths, in: The China Journal 66 (2011), S. 1–23.

[27] Siehe Martin Albers: Britain, France, West Germany and the People’s Republic of China, 1969–1982, London 2016, S. 190 f. sowie Gu Mu: Guanyu fangwen ouzhou wuguo de qingkuang baogao [Delegationsbericht über die Situation in fünf europäischen Ländern], 22. Juni 1978, in: Dokumente der Kommunistischen Partei (2009), H. 1, S. 28–37.

[28] Siehe Albers: Britain, France, West Germany (Anm. 27), S. 195, 296; Ulli Kulke: Ein undiplomatischer Diplomat und die Freiheitsliebe: Ein Interview mit Erwin Wickert, in: www.welt.de/politik/article800571/Ein-undiplomatischer-Diplomat-und-die-Freiheitsliebe.html (ges. am 1.3.2019); Stefan Pühringer: Think Tank networks of German neoliberalism. Power structures in economics and economic policies in post-war Germany, in: ICAE Working Paper Series 53 (2016), S. 13.

[29] Zitiert nach Bundesarchiv B136/12546, in: Albers: Britain, France, West Germany (Anm. 27), S. 195.

[30] Siehe Wolfram Engels: Lianbangdeguo sanshi nian de jingjifazhan [30 Jahre wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik], in: Ouzhouyanjiu [Europaforschung] (1984), H. 6, S. 56–64.

[31] Siehe Fan Shitao: Xue Muqiao nianpu [Xue-Muqiao-Chronik], Peking, unveröffentlichtes Manuskript 2018; Armin Gutowski: Xide jingji xuejia gutuofusiji jiaoshou jiangyan. Zhanhou xide jingji de huifu he fazhan [Die Rede des westdeutschen Volkswirtschaftlers Gutowski: Die Wiederbelebung und Entwicklung der westdeutschen Wirtschaft nach dem Krieg], in: Shijiejingji Zengkan Neibuwukan [Weltwirtschaft Interner Anhang] (1979), H. 4, S. 36–38 und Renate Merklein: China ist derzeit ein großes Laboratorium, in: Der Spiegel Nr. 49 vom 1. Dezember 1980, S. 167–187.

[32] Siehe Gutowski: Xide jingji (Anm. 31); ders.: Xide gutuofusiji jiaoshou dui woguo jingji he caizhengjinrong wenti tichu de zixunyijian [Die Empfehlungen und Vorschläge des westdeutschen Professors Gutowski für Chinas Fiskal- und Finanzfragen], in: Jinrongyanjiu [Finanzwissenschaft] (1982), H. 2, S. 9–14 und Armin Gutowski: Waiguoren kan zhongguo: lianbangdeguo gutuofusiji tan zhongguo jingjitizhigaige [Ein Ausländer betrachtet China: Westdeutscher Gutowski bespricht Chinas Wirtschaftssystemreform], in: Zhongguo jinmao baokan [Chinas Wirtschafts- und Handelsratgeber] (1986), H. 7, S. 24–28.

[33] Milton Friedman: Friedman in China, Hongkong 1990, S. 41.

[34] Ebd.

[35] Isabella M. Weber: How China Escaped Shock Therapy: The Market Reform Debate, Abingdon/UK, New York i. E.

[36] Siehe Wu Jinglian: Zailun baochi jingjigaige de lianghao jingjihuanjing [Erneute Diskussion der Aufrechterhaltung einer guten wirtschaftlichen Situation für Wirtschaftsreformen], in: Jingjiyanjiu [Wirtschaftsforschung] (1985), H. 5, S. 3–13 und ders.: Jingjigaige chuzhan jieduan de fazhan fangzhen he hongguankongzhi wenti [Entwicklungspolitik und makroökonomische Kontrolle in der Frühphase der Wirtschaftsreformen], in: Renmin Ribao [Volkszeitung] vom 11. Februar 1985; Wu Jinglian: Interview mit Isabella M. Weber, Peking 2016.

[37] James D. Savage: The Origins of Budgetary Preferences. The Dodge Line and the Balanced Budget Norm in Japan, in: Administration and Society 34 (2002), H. 36, S. 261–284.

[38] Siehe Chinesisches Forschungsinstitut für Wirtschaftssystemreform: Hongguan jingji de guanli he gaige. Hongguan jingji guanli guoji talunhui yanlun xuanbian [Makroökonomisches Management und Reform. Ausgewählte Reden der internationalen Konferenz zu makroökonomischem Management], Beijing 1986; Isabella M. Weber: Book Review of Unlikely Partners by Julian Gewirtz, in: The China Quarterly (2019), H. 237, S. 257–259 und Weber: How China Escaped Shock Therapy (Anm. 35).

[39] Ebd.

[40] Ebd.

[41] Schneider hatte seine Promotion zur Bestimmung von Gaspreisen geschrieben, bevor er in den 1950er-Jahren in Erhards Wirtschaftsministerium arbeitete und zur Zeit seines Besuches in China im Oktober 1986 Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung war.

[42] Siehe Cheng Zhiping: Jiagegaige sanshi nian, 1977–2006 [30 Jahre chinesische Preisreform, 1977–2006], Peking 2006, S. 96 und Zhao Ziyang: Chuli hao jiagegaige yu gaohuo qiye de guanxi. 1986 nian [Das Verhältnis zwischen einem guten Umgang mit der Preisreform und der Belebung von Unternehmen. 1986], in: Redaktionsgruppe der Gesammelten Werke von Zhao Ziyang: Zhao Ziyang wenji [Gesammelte Werke von Zhao Ziyang], Bd. 3 (1985–1986), Hongkong 2016, S. 460–462.

[43] Chen Yizi: Chen Yizi huiyilu [Die Memoiren von Chen Yizi], Hongkong 2013, S. 509; Wang Xiaoqiang: China’s Price and Enterprise Reform, London 1998, S. 13, 148; Wang Xiaoqiang: Interview mit der Autorin, Hongkong 2017.

[44] Die Mont Pèlerin Society ist eine im Jahr 1947 gegründete internationale Vereinigung führender neoliberaler Intellektueller, die zu jährlichen Konferenzen zusammentreffen. Siehe Philip Mirowski/Dieter Plehwe (Hg.): The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge MA 2009.

[45] Herbert Giersch: Die offene Gesellschaft und ihre Wirtschaft: Aufsätze und Kommentare aus fünf Jahrzehnten, Hamburg 2006, S. 207–221; Walter Otto Ötsch/Stephan Pühringer/Katrin Hirte: Netzwerke des Marktes. Ordoliberalismus als Politische Ökonomie, Wiesbaden 2018, S. 146 sowie Past Presidents, in: www.montpelerin.org/past-presidents-2/ (ges. am 1.10.2018).

[46] Chen Yizi: Chen Yizi huiyilu (Anm. 43), S. 510 f.

[47] Ebd.

[48] Weber: How China Escaped Shock Therapy (Anm. 35).

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