JHK 2020

Vergessene Partner im Reformprozess: Der Dialog der VR China mit reform-kommunistischen Strömungen in Osteuropa (1977–1987)

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 37-54 | Metropol Verlag

Autor/in: Susanne Weigelin-Schwiedrzik/Liu Hong

Im Dezember 1978 traf das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) Entscheidungen, die heute für den Beginn der Periode von Reform und Öffnung stehen. Unter der Führung Deng Xiaopings entschied sich die KPCh für eine politische Linie, die den Schwerpunkt auf den ökonomischen Aufbau legte. Der Begriff Reform stand dabei für die Umgestaltung des Wirtschaftssystems, während der Begriff Öffnung eine umfassende Hinwendung zur Außenwelt im Sinne einer Öffnung des Marktes für ausländische Produkte und Investitionen, ausländisches Know-how sowie im Ausland übliche Technologien beinhaltete. Die Kombination von Reform und Öffnung sollte dazu beitragen, das Land aus der selbst wahrgenommenen Isolation und Rückständigkeit zu befreien und den Menschen die Perspektive zu eröffnen, ihren Lebensstandard schrittweise auf das Niveau eines im internationalen Vergleich mittleren Einkommens zu heben. 

            Diese Wende in der Politik der KPCh stand am Anfang einer inzwischen schon 40-jährigen Periode fast ununterbrochenen zweistelligen Wirtschaftswachstums, das erst seit der globalen Finanzkrise im Jahre 2008 in den höheren einstelligen Bereich gesunken ist und 2018 schätzungsweise bei 6,5 Prozent lag. Medien und Wissenschaft sind sich einig, dass der Beschluss der KPCh, das Land mittels eines hybriden Wirtschaftssystem, das schrittweise marktwirtschaftliche Elemente in das sozialistische System integriert, aus der Armut zu führen, sich im Wesentlichen als erfolgreich erwiesen hat. Für die Partei von besonderer Bedeutung ist freilich, dass die Transformation der Wirtschaft im Gegensatz zu der Entwicklung in der Sowjetunion und in Osteuropa ohne Regimewechsel vollzogen wurde. Nach wie vor steht die KPCh im Zentrum des politischen Systems.

            Die Öffnung Chinas begann, als Mao Zedong noch die Geschicke des Landes in seinen Händen hielt. Schon zu Lebzeiten Maos deutete sich an, was mit dem Beschluss von 1978 parteioffiziell wurde: Die Führung der VR China war vor allem an guten Beziehungen zu den nicht kommunistischen Staaten Europas und Nordamerikas interessiert und hoffte auf die rege Investitionstätigkeit dieser Länder. Im Zuge dessen kam es ab 1976 zu einer großen Zahl an Reisen chinesischer Delegationen in das sogenannte westliche Ausland und umgekehrt. Manager, Politiker und Wissenschaftler wurden nach China eingeladen, um dort der politischen Spitze und wissenschaftlichen Elite vorzutragen, wie eine moderne Gesellschaft zu regieren sei. Was weit weniger bekannt und erforscht ist und dennoch, so ein zentrales Argument dieses Aufsatzes, einen großen Einfluss auf die Entwicklung nahm, ist die Wiederannäherung an die Staaten des Ostblocks und der intensive Austausch mit Politikern und Wissenschaftlern vor allem aus Jugoslawien, Polen und Ungarn über die praktischen Erfahrungen und theoretischen Erkenntnisse, die man dort im Zuge der mehr oder weniger erfolgreichen Versuche zur Reformierung der Planwirtschaft gewonnen hatte. Dabei schreckte man nicht davor zurück, auch Wissenschaftler wie János Kornai, Włodzimierz Brus und Ota Šik zu hören,[1] die inzwischen in ihrem Land in Ungnade gefallen waren und aus dem Exil ihre Studien zur osteuropäischen Wirtschaft fortsetzten. Während der Austausch mit dem kapitalistischen Westen dazu diente, die Marktwirtschaft und ihre Bedeutung für alle Sektoren der Wirtschaft kennenzulernen, ermöglichte der Dialog mit Osteuropa, Chancen und Risiken der Wirtschaftstransformation in der Praxis zu beobachten und im Austausch mit Wissenschaftlern theoretisch zu durchdringen. Daneben diente die Begegnung mit den westlichen Eliten dazu, Investoren aus Europa und Amerika für China zu gewinnen, während die Erkenntnisse über die Reform des Sozialismus in Osteuropa benutzt werden konnten, »konservative« Kräfte in der KPCh davon zu überzeugen, dass eine Reform des Wirtschaftssystems nicht mit einer Abkehr vom Sozialismus gleichzusetzen sei. Doch auch wenn die Spitze der KPCh dies nie offen ausgesprochen hat, war allen Beteiligten klar: So sehr die Reformerfahrungen in Osteuropa für die Frühphase von Reform und Öffnung auch von politischer Bedeutung waren, ein Vorbild waren diese Länder für China nicht. Dafür waren sie wirtschaftlich nicht erfolgreich genug, konnten die Entwicklung in China nicht durch Investitionen unterstützen und waren zugleich Konkurrenten auf dem Markt der Exporte in das kapitalistische Ausland. Dass trotzdem der Austausch mit Osteuropa gesucht wurde, ist darauf zurückzuführen, dass diese Länder bieten konnten, was kein Lehrbuch der Volks- und Betriebswirtschaftslehre aus dem Westen darlegen konnte: eine Analyse der Schwächen des Systems der Planwirtschaft verbunden mit einer Auswertung der Erkenntnisse aus den vielfachen Reformversuchen, die in Osteuropa, allen voran in Jugoslawien und in Ungarn, seit den 1950er-Jahren vollzogen wurden. 

I. Das Beispiel Jugoslawien: Unterschiedliche Modelle für den sozialistischen Aufbau

Der erste Durchbruch zur Verbesserung der Beziehungen zwischen China und Osteuropa gelang nur ein Jahr nach dem Tod Mao Zedongs. Der jugoslawische Führer Tito folgte der Einladung der chinesischen Regierung und traf am 30. August 1977 in Peking ein, wo er bis zum 8. September blieb – ein Tag, bevor sich Maos Todestag zum ersten Mal jährte. Er traf Mao Zedongs Nachfolger Hua Guofeng[2] in seiner Funktion als Parteivorsitzender und Premierminister und wurde von diesem als »Genosse« bezeichnet. Damit wurde ein Diktum zurückgenommen, das auf die Zeit der »Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung« zurückging.[3] 1963 hatte die KPCh in einer von neun veröffentlichten Stellungnahmen unter dem Titel »Ist Jugoslawien ein sozialistisches Land?« Tito des Revisionismus bezichtigt.[4] Seit jener Zeit galt Jugoslawien als Paradebeispiel für die Restauration des Kapitalismus in einem vormals sozialistischen Land. Durch die Bezeichnung Titos als »Genossen« deutete sich 1977 jedoch eine Umorientierung an,[5] die im März 1978 mit der Reise einer chinesischen Delegation nach Jugoslawien weiter an Substanz gewann.

            Die chinesische Delegation unter der Leitung des ZK-Abteilungsleiters für internationale Beziehungen Li Yimang[6] hielt sich drei Wochen in Jugoslawien auf. Begleitet wurde er von hochrangigen Professoren für Marxismus-Studien, deren wichtigste Aufgabe war, zu überprüfen, ob Jugoslawien als sozialistisches Land zu bezeichnen sei. Nach ihrer Rückkehr verfasste die Delegation einen Reisebericht unter dem Titel »Untersuchungsbericht über die Reise der Delegation von Mitarbeitern der Kommunistischen Partei Chinas nach Jugoslawien«, der eindeutig zu dem Schluss kam, dass Jugoslawien ein sozialistisches Land sei, das versuche ein anderes als das sowjetische Modell des Sozialismus zu verwirklichen. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens sei eine marxistisch-leninistische Partei. Begründet wurde diese Einschätzung durch Äußerungen zu drei für den weiteren Verlauf der Diskussion in China wichtigen Punkten: Obwohl Jugoslawien unterschiedliche Formen des Eigentums zulasse, stünde das öffentliche Eigentum eindeutig im Vordergrund; den Konsum- und Einkommensbedürfnissen der Bevölkerung würde Rechnung getragen, aber es gebe keinen deutlichen Unterschied zwischen Arm und Reich; marktwirtschaftliche Elemente seien erkennbar, aber die Planwirtschaft sei der bestimmende Faktor. Zusammenfassend unterstrich der Bericht die Möglichkeit und Notwendigkeit, unterschiedliche Modelle für den Aufbau des Sozialismus zuzulassen. Damit wurde am Beispiel Jugoslawiens eine Einschätzung von weitreichender Bedeutung abgegeben: Das stalinistische Modell des Sozialismus, dem sich auch Mao verschrieben hatte und das ein System der Planwirtschaft darstellte, das keinerlei marktwirtschaftliche Elemente zuließ, war nicht mehr das einzig gültige. Auch in China konnten Experimente auf dem Gebiet des Eigentumsregimes, der Verteilung und der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente zugelassen werden, ohne dass der sozialistische Charakter der gesellschaftlichen Ordnung infrage gestellt würde.[7]

            Dass diese Ausführungen in der damaligen Parteiführung der KPCh nicht unumstritten waren, können wir dem Protokoll der Arbeitssitzung des Staatsrats zu Theoriefragen (guowuyuan xuwu huiyi) vom Juli/August 1978 entnehmen. Dort heißt es beispielsweise: »Am 20. und 21. Juli sprach Kang Yonghe vom Arbeitsbüro über die Frage der Entlohnung von Arbeit. Hua Guofeng und Li Xiannian machten einen Redebeitrag. Hua Guofeng führte fünf Punkte aus: Man dürfe sich nicht am kapitalistischen System von Kapital und Arbeit und auch nicht am Revisionismus orientieren, insbesondere nicht an dem jugoslawischen Lohnsystem […],und Li Xiannian sagte: Er halte an seinen negativen Auffassungen zu Jugoslawien fest.«[8]

            Dessen ungeachtet reiste der damalige Parteivorsitzende Hua Guofeng vom 21. bis 28. August 1978, also zu einem Zeitpunkt, als die oben angesprochene Arbeitssitzung unterbrochen war, nach Jugoslawien. Nach seiner Rückkehr hob er hervor, dass er vom System der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien sehr angetan sei, dass er aber befürchte, die einzelnen Teilrepubliken verfügten über zu viel Autonomie. Während er in diesem Bereich somit keine Möglichkeit sah, dass China von Jugoslawien lernen könne, hob er hervor, dass die Art und Weise, wie Jugoslawien mit dem kapitalistischen Ausland kooperiere und Investitionen aus dem Ausland zulasse, für China durchaus einen Vorbildcharakter haben könne. Schließlich zeigte er sich auch von der im Vergleich zu China hohen Produktivität der Industrieproduktion beeindruckt.[9]

            Als die Arbeitssitzung nach Hua Guofengs Rückkehr wieder aufgenommen wurde, hatte sich seine Haltung zu Jugoslawien grundlegend geändert. Li Yimangs Bericht wurde ebenfalls entsprechend positiv aufgenommen, obwohl es nach wie vor Widerstand gegen eine Abkehr von Maos Zurückweisung des jugoslawischen Modells gab. Heute wissen wir, dass die Arbeitssitzung im Sommer 1978 die Grundlage für den eingangs angesprochenen Beschluss der 3. Plenarsitzung des 11. ZK vom Dezember 1978 bildete. Aufgrund der ausdrücklichen Erwähnung der Jugoslawienreise Hua Guofengs in den Protokollen der vorbereitenden Sitzung kann heute davon ausgegangen werden, dass die Diskussion über den Charakter des jugoslawischen Experiments in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle gespielt hat. 

            Wie bedeutend die Einschätzung der Verhältnisse in Jugoslawien für den Schritt hin zu Reform und Öffnung in China war, zeigt sich auch daran, dass außerhalb der Parteispitze unter führenden Intellektuellen der damaligen Zeit heftig über Jugoslawien gestritten wurde. So widmete sich eine von der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften im Mai 1978 einberufene Konferenz, an der etwa 230 Personen teilnahmen, ausschließlich der Diskussion über Jugoslawien. Dabei wurde neben den oben angesprochenen Problemen auch über die Entwicklung des planwirtschaftlichen Systems gesprochen. Das jugoslawische Modell wurde als dezentralisierter Planungsmechanismus interpretiert, das mit dem Mittel des Vertragsabschlusses zwischen den einzelnen Ebenen von unten nach oben arbeite. Auch wenn die Effektivität dieses Systems in der Diskussion infrage gestellt wurde, zeigte sich gleichzeitig, dass die von der Rechtsordnung des Landes gestützte Vorgehensweise die Diskutanten nachhaltig beeindruckte. 

            Von November 1979 bis Januar 1980 besuchte eine Delegation der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften Jugoslawien und Rumänien. Der Delegation gehörte mit Sun Yefang[10] einer der prominentesten Wirtschaftswissenschaftler der Volksrepublik China an. Sun war in den 1960er-Jahren als Titoist abgestempelt worden und saß während der Kulturrevolution sieben Jahre in Haft. In Jugoslawien wurde er zunächst nicht erkannt und hörte zu seinem Erstaunen, wie die Gastgeber sich auf einen Professor Sun Yefang beriefen, der sie in ihren Reformmaßnahmen sehr beeinflusst habe.[11] Sun hatte aufgrund seiner Isolation nicht geahnt, dass er in Jugoslawien Nachahmer gefunden hatte. 

            Nach seiner Rückkehr aus Europa hielt Sun mehrere öffentliche Vorlesungen, in denen er sich insbesondere mit dem Verhältnis von Plan- und Marktwirtschaft auseinandersetzte und seine Stimme für die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in einer an sich von der Planwirtschaft beherrschten Ökonomie erhob. Vor dem Hintergrund seiner Gespräche in Jugoslawien trat er vehement dafür ein, das stalinistische Modell der sozialistischen Wirtschaft so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Suns Reise nach Jugoslawien gab ihm die Möglichkeit, zu wiederholen, wofür er in den frühen 1960er-Jahren hart bestraft worden war. Mit der Rehabilitierung Jugoslawiens war auch sein Ruf als Vertreter einer reformkommunistischen Strömung innerhalb der marxistischen Wirtschaftswissenschaft in China wiederhergestellt.[12]

            Im Zuge der intensiven Auseinandersetzung mit Jugoslawien wurde 1979 eine Gesellschaft zur Erforschung Jugoslawiens in China gegründet. Diese widmete ihren ersten Jahreskongress im Januar 1980 der Lektüre eines Buches, das mit Edvard Kardelj[13] von jenem jugoslawischen Chefideologen verfasst worden war, der im Zusammenhang mit dem System der Arbeiterselbstverwaltung den Begriff des »gesellschaftlichen Eigentums« geprägt hatte.[14] Kardeljs Ansichten waren gerade auf Chinesisch unter dem Titel Das öffentliche Eigentum und die ihm in der sozialistischen Praxis inhärenten Widersprüche erschienen. Es handelte sich dabei um eine Rede, die Kardelj 1972 gehalten hatte und in der er seiner Meinung Ausdruck verlieh, dass das System des Staatseigentums die Distanz zwischen dem Produzenten und dem Produkt und damit die Entfremdung nicht aufzuheben in der Lage sei. Aus dieser Einschätzung leitete er die Gefahr der Bürokratisierung des sozialistischen Systems sowie die Schwäche der Demokratie im Sozialismus ab. Für die Wissenschaftler an der Akademie der Sozialwissenschaften war dies offenbar ein wichtiger Ansatz, um sich aus dem System heraus auf der Basis der Frühschriften von Marx kritisch mit dem stalinistischen Erbe auseinanderzusetzen. Auch las man Kardelj, weil er sich dafür eingesetzt hatte, dass Reformmaßnahmen rechtlich abgesichert werden müssten, ein Schritt, den er im Zuge der jugoslawischen Verfassungsreform hervorhob – wohl auch in der Hoffnung, dass derart rechtlich abgesicherte Reformmaßnahmen nicht so schnell wieder rückgängig gemacht werden könnten. Kardeljs Auffassungen zur Arbeiterselbstverwaltung fanden einigen Anklang in China, doch war es wohl eher die Tatsache, dass er als designierter Nachfolger Titos so weitreichende Kritik am System des Sozialismus äußern konnte, die in China als inspirierend empfunden wurde. Als Kardelj noch vor Tito im Februar 1979 verstarb, kondolierte die chinesische Führung einem Mann, der in den 1960er-Jahren als damaliger Parlamentspräsident Jugoslawiens Chinas Kritik am Titoismus vehement zurückgewiesen hatte.

            Die Besuche in Jugoslawien und die in ihrem Anschluss intensiv geführte Diskussion ermöglichten die Reintegration Chinas in den Diskurs zur Reform des sozialistischen Systems, der in Osteuropa bereits in den 1950er-Jahren eingesetzt und in China in den frühen 1960er-Jahren in Reaktion auf die Große Hungersnot von 1959 bis 1961 schon einmal Früchte getragen hatte. Die Kulturrevolution hatte diese Versuche als »kapitalistisch« verdammt und die Träger der Reform als »Machthaber auf dem kapitalistischen Weg« verfolgt. Auch wenn zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Beziehungen zu Jugoslawien die Kulturrevolution noch nicht öffentlich kritisiert wurde, so wurde doch mit der positiven Einschätzung der Verhältnisse in Jugoslawien ein wichtiger Meilenstein in Hinblick auf den Beschluss vom Dezember 1978 markiert. Wie auch schon zu Beginn der reformkommunistischen Diskussion in Osteuropa diente das jugoslawische Beispiel als Initiator der Auseinandersetzung und legitimierte Überlegungen zur jeweils nationalen Ausprägung des Sozialismus.[15] Ähnlich wie China seit Beginn der 1970er-Jahre versuchte Jugoslawien, sich zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges zu positionieren. Dieses Vorgehen erschien aus der damaligen Perspektive als ein vergleichsweise erfolgreiches und vor allem konkretes Beispiel für einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

            Wie theoretisch die Diskussion trotz aller konkreten Anschauung war, zeigt die Tatsache, dass die Dokumente der damaligen Zeit keine Auskunft über die erheblichen Schwierigkeiten enthalten, in der die jugoslawische Wirtschaft steckte.[16] Hätten sich die Besucher aus China von Anfang an mit dem Problem der Nachhaltigkeit von Reformen des sozialistischen Systems, insbesondere der Problematik der drohenden Inflation, auseinandergesetzt, hätten sie erkennen können, dass auch in jenen Ländern, in denen die Reform nicht von konservativen Kräften innerhalb des Staats- und Parteiapparates unterdrückt wurde, erhebliche Schwierigkeiten im Reformprozess auftraten. Die reformorientierten Kräfte haben diese Probleme nicht gesehen oder wollten sie nicht sehen. Sie nutzten die Diskussion über Jugoslawien, um den Weg für Reform und Öffnung in China zu bereiten, nicht um sich mit dessen Problemen auseinanderzusetzen.

II. Marxismus und Markt: Erste Begegnungen mit Veteranen des Reformkommunismus 

Während bei der Wiederannäherung mit Jugoslawien im Rahmen der staatlichen Kooperation die diplomatische Ebene im Vordergrund stand und Kritiker außerhalb des Systems, wie z. B. Milovan Djilas,[17] zumindest unter Ökonomen kaum Gehör fanden, wird aus der Einladungspolitik der damaligen Zeit deutlich, dass es keine grundlegende Scheu gab, Wissenschaftler aus Osteuropa einzuladen, die inzwischen nicht mehr in ihrem Heimatland tätig bzw. dort in Ungnade gefallen waren. So wurde der polnische Ökonom Włodzimierz Brus[18] in den 1980er-Jahren mehrfach nach China eingeladen. Brus war bis 1968 in Polen als Reform-Ökonom aktiv, wurde jedoch im Zuge der Säuberung Mitte der 1960er-Jahre aus der Partei ausgeschlossen und verließ Polen 1972. Zu dem Zeitpunkt, als er in Peking das Interesse auf sich zog, war er Professor in Oxford. Der Kontakt nach China war über den damaligen Vizedirektor der Akademie für Sozialwissenschaften Dong Fureng[19] zustande gekommen, der Brus in Oxford kennengelernt hatte. 1961 hatte Brus sein Buch The General Problems of the Functioning of the Socialist Economy veröffentlicht. Darin setzte er sich für eine Verbindung von Plan- und Marktwirtschaft ein. Er orientierte sich an Ungarn und trat in diesem Zusammenhang dafür ein, dass der Staat lediglich auf makro-ökonomischer Ebene in das wirtschaftliche Geschehen eingreife, den Betrieben und den Familien als unterste Konsumptionseinheit jedoch weitestgehend Autonomie gewährt werden solle. In der Diskussion mit Brus reifte unter den chinesischen Ökonomen die Erkenntnis heran, dass es nicht dabei bleiben konnte, nur einzelne Reformmaßnahmen einzuführen. Es musste vielmehr ein Prozess der wirtschaftlichen Transformation eingeleitet werden, der – so zumindest Brusʼ Ausführungen – auch politische Implikationen hatte. Da seine Äußerungen bezüglich der wirtschaftlichen Reformen auch von Politikern der älteren Generation wie Bo Yibo[20] und Wan Li[21] positiv aufgenommen worden waren, fühlte sich Brus aufgefordert, seine Meinung zu drängenden Fragen in einem an die Führung der KPCh gerichteten Schreiben zusammenzufassen. Dieses erreichte seine Adressaten im Oktober 1982. Seither wurde er nicht mehr nach China eingeladen. Der Brief war wohl zur Unzeit verfasst, tobte doch 1982 eine heftige Auseinandersetzung innerhalb der Parteiführung über die Frage, wie weit und wie schnell die Reform vonstattengehen solle. Kurz war in Brus vermutlich die Hoffnung aufgeflammt, mit der chinesischen Partei- und Staatsführung einen Gesprächspartner gefunden zu haben, der an seinen Ratschlägen interessiert war. Doch wie schon in seinem Heimatland musste er lernen, dass man als Wissenschaftler in der Politik leicht zwischen die Fronten geriet und in Ungnade fallen konnte.

            Etwa zur gleichen Zeit wurde mit Ota Šik[22] ein weiterer Reformer aus den 1950er- und 1960er-Jahren nach China eingeladen. Šik war einer der Erfinder der Idee des »dritten Weges« und während des Prager Frühlings als Vizepremierminister und Wirtschaftsminister tätig. Nach dem Prager Frühling verließ er die Tschechoslowakei und lebte in der Schweiz, wo er an der Hochschule St. Gallen als Wirtschaftswissenschaftler arbeitete. In diesem Fall war der Kontakt über Liu Guoguang[23] hergestellt worden, der zum damaligen Zeitpunkt Vizedirektor des Staatlichen Büros für Statistik und Herausgeber der Zeitschrift »Wirtschaftsforschungen« (Jingji yanjiu) war. Liu hatte wie Dong Fureng in der Sowjetunion studiert und promoviert und offenbar aus diesem Grund Kontakte nach Osteuropa. Liu lud Šik im März und April 1981 nach China ein, wo letzterer sieben Vorträge in Peking, Schanghai und Suzhou hielt. Die gerade erst neu gegründete Zeitschrift »Forschungen zur Sowjetunion und Osteuropa« (Sudong wenti yanjiu) widmete die Januar-Nummer 1981 dem von Šik 1976 verfassten Buch Das kommunistische Machtsystem und dem sogenannten Šik-Modell, das ähnlich wie in den Vorstellungen von Brus zwischen makro-ökonomischer Lenkung durch den Staat und Autonomie der wirtschaftlichen Akteure auf der mikro-ökonomischen Ebene unterscheidet. Im Zuge seiner Vorträge stellte Šik die Erfahrungen mit der Preisreform in der Tschechoslowakei vor. Er empfahl, die Reform in zwei Schritten zu vollziehen: Zunächst müssten die Preise von Staats wegen angepasst werden, damit sie in einem zweiten Schritt freigegeben werden könnten, ohne dass der Unterschied zwischen den Planpreisen und den Marktpreisen den Konsumenten unerklärlich hoch erscheine. Šiks Vorlesungen wurden protokolliert und an die Partei- und Staatsführung weitergegeben. Zhao Ziyang war so angetan, dass er die Akademie für Sozialwissenschaften aufforderte, Šik künftig alljährlich einmal nach China einzuladen und ihn zum Berater für Reformfragen zu ernennen. Darüber hinaus sollte vor seiner Heimreise noch eine Diskussionsveranstaltung mit Šik organisiert werden. Diese wurde später von Diskussionen zur Frage der Preisreform bestimmt. Ein greifbares Ergebnis der Gespräche war die Gründung des Forschungszentrums zur Preisreform beim Staatsrat im Juli 1981. 

            Doch selbst von Zhao Ziyang angewiesene Vorhaben wurden in der damaligen Zeit nicht immer umgesetzt. Die gegen die Reform gerichteten Kräfte innerhalb der Parteispitze waren so stark, dass ein Bericht mit dem Titel »Ota Siks anti-marxistische Theorien zur Ökonomie« in Umlauf gebracht wurde. 1982 wurde Šik das letzte Mal nach China eingeladen. Danach erlahmte das Interesse an seinen Theorien. Auch Šik musste den Eindruck gewinnen, dass er in Ungnade gefallen war. 

III. Das Beispiel Ungarn: Erfahrungen über die Behandlung von Problemen im Reformprozess

Neben Jugoslawien spielte in der frühen post-maoistischen Reformphase auch Ungarn eine ganz entscheidende Rolle. Ungarns seit den 1950er-Jahren immer wieder angestoßene und dann doch nicht weitergeführte Versuche, das stalinistische Modell für den Aufbau des Sozialismus zu überwinden,[24] hatten chinesische Intellektuelle und Politiker schon seit Langem interessiert. Doch die zunächst guten und intensiven zwischenstaatlichen Beziehungen waren im Zuge des sino-sowjetischen Konflikts eingefroren, die Kontakte zwischen den »Bruderparteien« existierten nicht mehr. Nach dem Tod Maos sollte es zur Wiederannäherung kommen, doch unter den gegebenen Umständen hatte diese Wiederannäherung mit großer Vorsicht zu erfolgen, um zu vermeiden, dass sie auf den Widerstand der Sowjetunion stieße.[25] Im November 1979 schickte die Akademie für Sozialwissenschaften eine Delegation nach Ungarn, die von ihrem Präsidenten Yu Guangyuan[26] und dem später noch zu Berühmtheit gelangten Su Shaozhi[27] angeführt wurde. Das besondere Interesse an Ungarn hatte verschiedene Ursachen: Zum einen hatte Ungarn nicht nur früh Überlegungen zur Reform des Staatssozialismus angestellt. Es befand sich nach dem Aufstand von 1956 auch in einer Situation, die der in der VR China nach dem Tod Mao Zedongs und dem Ende der Kulturrevolution in vielem ähnlich war. Die Reformbereitschaft innerhalb der ungarischen Führung resultierte, so eine weit verbreitete Meinung, unmittelbar aus dem Legitimationsverlust im Zuge des militärischen Eingreifens der Sowjetunion während des Aufstands. Nur der wirtschaftliche Erfolg konnte die Bevölkerung an die Ungarische Arbeiterpartei binden. Zu dieser Einschätzung waren auch die Führer der KPCh im Anschluss an den Tod Mao Zedongs gekommen. Sie sahen die einzige Möglichkeit zur Verlängerung der Parteiherrschaft darin, dass sich die KPCh als Motor der Modernisierung und Garant für Chinas zukünftige Stärke erwies. Das stalinistische System der Wirtschaft war nicht geeignet, diesen Beweis zu erbringen. Sollte der Regimewechsel verhindert werden, musste auch in China versucht werden, die Bevölkerung über das Versprechen, dass sich das Leben jedes Einzelnen mit der Entwicklung der Wirtschaft verbessern werde, an sich zu binden. 

            In Ungarn hatten Wirtschaftswissenschaftler den Reformprozess besonders aktiv begleitet. Insbesondere János Kornai[28] gehörte zu den wenigen Ökonomen in Osteuropa, die nicht beschrieben, wie das staatlich gelenkte Wirtschaftssystem funktionieren sollte, sondern analysierten, wie es funktionierte. In seinem ersten, 1959 erschienenen Buch A Critical Analysis Based on Experience in the Hungarian Light Industry legte Kornai dar, dass ein System wie das stalinistische nicht durch inkrementelle Veränderungen an einzelnen Stellen reformiert werden könne. Er verlangte eine grundsätzliche Umgestaltung und begründete dies damit, dass es sich bei diesem System um einen geschlossenen Zirkel handele, in dem jedes Einzelelement mit jedem anderen Einzelelement untrennbar verbunden sei.[29] Derartige grundlegende Auseinandersetzungen mit dem eigenen System fehlten in den meisten sozialistischen Ländern, so auch in der VR China. 

            1983 reiste eine Delegation der Akademie für Sozialwissenschaften für drei Wochen nach Ungarn. Auf der Agenda fanden sich viele Themen, die fünf Jahre nach der Reform in China zur Diskussion standen. Die wichtigste Aufgabe des Besuches bestand aber wohl darin, den Gegenbesuch einer ungarischen Delegation vorzubereiten, von der man sich wichtige Hinweise für die Erstellung des in China anstehenden 7. Fünfjahresplanes erhoffte. Die ungarische Delegation traf am 24. Oktober 1983 in Peking ein und blieb drei Wochen im Land. Geleitet wurde die Delegation von Rezsö Nyers,[30] damals Direktor des Instituts für Ökonomie an der Akademie der Wissenschaften in Budapest. Vor einem ausgesuchten Publikum von 400 führenden Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft hielt er einen Vortrag über Ungarns Erfahrungen bei der Reform der sozialistischen Wirtschaft. Die Mitglieder seiner Delegation, Persönlichkeiten aus Ungarns Wirtschaftsleben, berieten ihre chinesischen Kollegen und übten einen erheblichen Einfluss auf den Entwurf des 7. Fünfjahresplanes aus. Die reformorientierten Kräfte in Peking fühlten sich durch ihre Anwesenheit und Berichte unterstützt und haben es auch ihnen zu verdanken, dass der politische Bericht der 3. Plenartagung des 12. ZK das Wirtschaftssystem in der VR China als sozialistische planwirtschaftliche Warenwirtschaft (shehuizhuyi you jihua shangpin jingji) bezeichnet.[31] Diese Formulierung beinhaltete, dass man dem Rat der ungarischen Kollegen gefolgt und bereit war, den Unternehmen mehr Autonomie zu gewähren sowie den politischen Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen zu reduzieren.

            Mitte der 1980er-Jahre inspirierte Kornais Buch über den Sozialismus als Mangelwirtschaft die Diskussionen in China. The Economics of Shortage wurde 1986 in China veröffentlicht, nachdem sechs Studierende der Volksuniversität dieses Buch gemeinschaftlich übersetzt hatten. Für die erste Auflage wurden zwei Millionen Exemplare gedruckt, es folgten weitere. Bis Ende des Jahres wurden sieben Millionen Bücher verkauft. Ein Vorabdruck der Übersetzung war bereits 1985 auf derartiges Interesse gestoßen, dass die Akademie für Sozialwissenschaften noch im August 1985 eine Versammlung einberief, zu der sie alle für den Reformprozess wichtigen Persönlichkeiten in Peking einlud, um Kornais Analyse der sozialistischen Wirtschaft zu diskutieren. Begriffe wie Investitionshunger, weiche Budgetrestriktionen und Paternalismus waren plötzlich in aller Munde und dienten dazu, das »Wesen« der sozialistischen Wirtschaft kritisch zu durchleuchten. Kornais Vokabular fand sogar Eingang in offizielle Reden und Parteidokumente. Bevor er im August 1985 erstmals persönlich nach China kam, hatte er sich nicht vorstellen können, wie groß der Einfluss war, den sein Buch auf die Diskussionen unter chinesischen Ökonomen der mittleren Generation ausgeübt hatte. 

            Somit lag es nahe, Kornai als Vertreter der Reformkommunisten zu der berühmten Bashan-Konferenz einzuladen. Organisatoren waren die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften, die Chinesische Forschungsgesellschaft für Systemreform und die Weltbank. Der damalige Premierminister Zhao Ziyang hatte bestimmt, dass die Konferenz auf dem neuen Luxusschiff Bashan stattfinden möge, damit die Konferenzteilnehmer ungestört und voll auf die Sache konzentriert einander begegnen konnten. Eine ganze Phalanx von weltberühmten Ökonomen sei einzuladen. Die Auswahl überließ Zhao Edwin Lim[32] von der Weltbank. Diesem gelang es, acht Ökonomen nach China einzuladen, darunter den Nobelpreisträger James Tobin (1918–2002), den britischen Ökonomen Alexander Cairncross (1911–1998), den damaligen Chef der Deutschen Bundesbank Otmar Emminger (1911–1986) sowie Leroy Jones[33] aus den USA, Spezialist für Entwicklungsökonomie. Neben Kornai wurden im Exil lebende Theoretiker des Reformkommunismus wie Brus und der Jugoslawe Aleksandr Bajt[34] eingeladen. Bevor die ausländischen Konferenzteilnehmer auf das Schiff stiegen, wurden sie in Peking von Zhao Ziyang empfangen, der ihnen deutlich machte, dass China bereit sei, den Weg der Reform mit aller Entschiedenheit weiterzugehen. Dabei hatte man es mit schwerwiegenden Problemen zu tun. In den Städten, insbesondere in Bezug auf den industriellen Sektor stellte sich die Reform als sehr schwierig heraus, und die Inflation ließ Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufkommen. Konservative Kräfte in der Partei warnten vor einer Überhitzung der Wirtschaft und forderten verstärkte staatliche Kontrolle.

            Von chinesischer Seite nahmen Ökonomen aller drei aktiven Generationen teil, unter ihnen prominente Vertreter der alten Generation wie Xue Muqiao,[35] Präsident der Akademie für Sozialwissenschaften, der Ökonom Ma Hong[36] sowie der Vizeminister an der Spitze der Kommission für Systemreform An Zhiwen.[37] Der bekannteste unter den Vertretern der mittleren Generation war der Ökonom Wu Jinglian.[38] Alle Teilnehmer fühlten sich der Reformagenda verpflichtet. Vertreter der konservativen Kräfte in Politik und Wissenschaft gehörten nicht zu den handverlesenen Teilnehmern auf chinesischer Seite.[39]

            Die Konferenz fand vom 2. bis 7. September 1985 statt. Das Luxusschiff fuhr die Teilnehmer währenddessen von Chongqing nach Wuhan. Kornai beteiligte sich an der Diskussion mit einem langen Referat, in dem er die Organisation der Wirtschaft aufgrund der Bedeutung des Marktes und der Intensität der politischen Intervention in verschiedene Modelle einteilte. Er warnte vor einer Überhitzung der Wirtschaft und vor der sich immer stärker entwickelnden Inflation. Beides sei nach seiner Auffassung dem sozialistischen System genauso inhärent, wie sie die Nachhaltigkeit der Reform gefährdeten. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Ungarn warnte er vor zu viel Euphorie und Siegesgewissheit.[40] Den chinesischsprachigen Berichten über die Konferenz zufolge sprach er sich für einen umfassenden Umbau der Planwirtschaft im Sinne der »Big Bang«-Theorie aus und unterstützte damit die politischen Kräfte um den Ökonomen Wu Jinglian. [41]  

            Doch die Meinungen in China waren nach wie vor geteilt. Kornai und sein chinesischer Unterstützer Wu Jinglian gerieten unter Beschuss und mussten sich gegen den Vorwurf wehren, sie schenkten der Preisreform zu viel Aufmerksamkeit und übersähen dabei die Wichtigkeit der Unternehmensreform. In dieser Situation beschloss die Staatliche Kommission für Systemreform, erneut eine Delegation nach Ungarn und Jugoslawien zu schicken. Unter Leitung des Vizedirektors Gao Shangquan[42] wurden vor allem Vertreter der jüngsten Generation post-maoistisch ausgebildeter Ökonomen eingeladen, an der Reise teilzunehmen. Bei der Festlegung der Themen wurde deutlich, dass hinsichtlich der »Big Bang«-Theorie offenbar kein Konsens auf der Bashan-Konferenz hatte erzielt werden können. Die jetzige Reise sollte deshalb hauptsächlich dazu dienen, die Problemkonstellation der Gleichzeitigkeit von Elementen des alten und neuen Systems tiefer zu durchdringen und zu überprüfen, inwieweit die schrittweise Umgestaltung des planwirtschaftlichen Systems nicht aufgrund der ihr inhärenten Widersprüchlichkeit zum Untergang verdammt sei. 

            Im Mai/Juni 1986 machte sich erneut eine chinesische Delegation auf den Weg. Sie stellte den Kontakt zu führenden Mitgliedern von Partei, Staat und Wissenschaft in Ungarn und Jugoslawien her und dokumentierte die Gespräche ausführlich. Nach ihrer Rückkehr verfassten unterschiedliche Teilnehmer insgesamt zehn Berichte über verschiedene Aspekte der Reise. Im Hauptbericht des Delegationsleiters wurde insbesondere hervorgehoben, dass der Reformprozess als schwierig begriffen werden müsse und man auf Rückschläge vorbereitet sein solle. Dennoch sei die Reform die einzige Lösungsmöglichkeit, die den Bestand des Systems garantieren könne. Dabei dürfe man nicht übersehen, dass im Bereich der Mikroökonomie wichtige Fragen zur Entscheidung anstünden. Diese beträfen insbesondere das Entlohnungssystem und die Probleme, die von ständigen Lohnerhöhungen und dem unablässig wachsenden Konsumbedürfnis ausgingen. Die Gefahr der Inflation sei nicht zu unterschätzen. Während die Ökonomie im Zentrum der Reformtätigkeit stehen müsse, gelte es, auch im Bereich der Politik Reformen vorzunehmen.[43]

            Alle Berichte wurden Zhao Ziyang vorgelegt. In einem Gespräch mit einer hochrangigen ungarischen Delegation, die wenig später nach China kam, äußerte er sich, als fasse er seine Lektüre zusammen: »Wir erachten die Reformerfahrungen in Ungarn als besonders wichtig. […] Ihre Erfahrungen sind für uns sehr hilfreich […] Ungarn und Jugoslawien sind die Avantgarde und Initiatoren der Reform in sozialistischen Ländern. Der Erfolg spiegelt den Kern der Erfahrungen dieser Länder wider, und die Lehren, die sie aus den Schwierigkeiten, mit denen sie sich konfrontiert sahen, gezogen haben, sind der gemeinsame Reichtum der sozialistischen Länder. Egal, ob es sich um Erfahrungen von Erfolg oder Misserfolg handelt, jegliche Erfahrung ist etwas, was sich andere Länder anschauen sollten. Die Reform der sozialistischen Länder ist ein Experiment, für das es keine historischen Beispiele gibt. Dafür nicht einen gewissen Preis zahlen zu müssen ist unmöglich.«[44] Ein Mitglied der Delegation, Zhang Shaojie,[45] äußerte später, dass die Reise nach Ungarn und Jugoslawien unter den gegebenen Umständen des Jahres 1986 eine erhebliche Bedeutung für die Entscheidungen der Partei- und Staatsführung gehabt habe: »Der größte Beitrag der diesmaligen Untersuchung bestand darin, dass sie die Führer unseres Landes davon abhielt, drei Reformen im Bereich von Preisen, Steuern und Fiskalpolitik gleichzeitig durchzuführen. Damit wurde in China eine mögliche Instabilität vermieden, die durch die ›Schocktherapie‹ nach [Jeffrey] Sachs hätte hervorgerufen werden können.«[46] Kornais Aufruf zur Vorsicht hatte demzufolge so einen großen Eindruck hinterlassen, dass er die chinesische Führung von der Notwendigkeit überzeugte, sich die Situation in Ungarn noch einmal genau anzusehen und die Argumente für und gegen eine »schock-therapeutische« Vorgehensweise im Sinne der »Big Bang«-Theorie zu überprüfen. Milton Friedman, der China in jener Zeit mehrfach bereiste, war bekannt für seine Empfehlung, sich mit einem Schlag von der Planwirtschaft zu befreien,[47] und viele chinesische Ökonomen der damaligen Zeit, insbesondere die junge Generation, hatten große Sympathie für den Neoliberalismus, weshalb sie eher zu Friedman als zu Kornai neigten. In China war de facto ein Weg der schrittweisen Reform gewählt worden, aber innerhalb dieser graduellen Vorgehensweise galt es zu entscheiden, mit welcher Härte grundlegende Maßnahmen wie die Preisreform durchzusetzen seien. Die chinesischen Vertreter der Schock-Therapie traten für die gleichzeitige und radikale Umgestaltung des Preis- und Steuersystems ein und wollten die Fiskalpolitik auf eine neue Grundlage stellen. Sie hatten von Kornai gelernt, dass diese drei neuralgischen Punkte des stalinistischen Systems – das Preis- und Steuersystem sowie die Fiskalpolitik – einer grundlegenden Reform bedurften, damit eine Befreiung aus den Fesseln des alten Systems gelingen könne. So sehr dies der Logik jener Analyse entsprach, die Kornai vorgelegt hatte, sie musste auf ihre politischen Implikationen hin durchdacht werden. Dies sollte offenbar die erneute Reise nach Ungarn bewirken. Die stürmischen Jungökonomen der damaligen Zeit mögen mit einer Weichenstellung in Richtung Vorsicht und Umsicht nicht zufrieden gewesen sein. Doch die Politiker kalkulierten die politischen Risiken und votierten gegen die Schock-Therapie. Damit entschieden sie sich gegen Ratschläge, die ihnen vor dem Hintergrund westlicher Wirtschaftswissenschaft unterbreitet worden waren, und für Ratschläge, die sie vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Ungarn erhalten hatten. 

            Noch bevor der 13. Parteitag der KPCh Ende Oktober 1987 stattfand, machte sich Zhao Ziyang selbst auf die Reise nach Osteuropa. In der Zeit zwischen dem 4. und dem 21. Juni 1987 besuchte er als designierter Parteivorsitzender und Premierminister Polen, die DDR, die Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien. In den Gesprächen einigte man sich darauf, dass die sozialistischen Länder das Recht hätten, sich einen jeweils ihren besonderen Bedingungen entsprechenden Weg für den Aufbau des Sozialismus zu suchen. Zwei Jahre später sollte sich zeigen, dass der Sozialismus in Osteuropa keine Überlebenschance mehr hatte. Der unterschiedliche Weg bei seinem Aufbau hatte in allen Ländern dasselbe Resultat. Auch in China sah es nach der Entmachtung Zhao Ziyangs im Zuge der Niederschlagung der Studentenbewegung am 4. Juni 1989 zunächst danach aus, dass der Reformsozialismus an seine Grenzen gelangt sei. Erst 1992 läutete Deng Xiaoping eine weitere Runde von Reform und Öffnung ein, bereitete damit die Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation WTO vor und ermöglichte viele Reformschritte, die in den 1980er-Jahren noch nicht verwirklicht werden konnten.

IV. Schlussfolgerungen

Die Tatsache, dass der Sozialismus in Osteuropa mit Ende des Kalten Kriegs 1989 zusammengebrochen ist, hat dazu beigetragen, dass der rege Austausch zwischen China, Jugoslawien und Ungarn sowie einzelnen Wissenschaftlern aus diesen Ländern und der Tschechoslowakei weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Weder die Wissenschaft in den nicht beteiligten Regionen, insbesondere Westeuropa und den USA, hat sich diesem Thema gewidmet noch die Forschung in der VR China. Die einzige Ausnahme bildet wohl das Buch von Julian Gewirtz, der seine Darstellung des Austauschs zwischen China und Ökonomen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs interessanterweise als einen Dialog mit »unlikely partners« beschreibt. Als einziger Autor aus Osteuropa, der sich diesem Thema widmet, ist Péter Vámos bekannt. Er hat seine Studien über den Einfluss Osteuropas auf den Reformprozess in China auf der Grundlage von Archiven in den beteiligten Ländern erstellt und in der VR China veröffentlicht.[48] Vámos verweist dabei auf direkte und indirekte Einflüsse Ungarns auf den Prozess von Reform und Öffnung. Wir gehen hier noch einen Schritt weiter und argumentieren, dass die Zusammenarbeit mit Politikern und Wissenschaftlern aus Osteuropa nur allzu sinnvoll und natürlich gewesen ist. Gesprächspartner aus Osteuropa, die im Austausch mit der VR China standen, verfügten genau über das Reservoir an Wissen und Erfahrungen, das in jener Phase der Ungewissheit und Unerfahrenheit in der VR China von besonderer Wichtigkeit war. Dabei darf nicht vergessen werden, dass allen Konflikten innerhalb der kommunistischen Weltbewegung zum Trotz der Austausch unter »Genossen« mit großer Wahrscheinlichkeit doch wesentlich vertrauter war als der mit Vertretern des kapitalistischen Auslands. Die Illusionen über das Reformprojekt in China waren in den 1980er- und besonders in den 1990er-Jahren groß. Viele Beobachter sahen China auf einem Weg nach Westen. Unter diesen Bedingungen genau zu untersuchen, inwiefern sich die Reformer in China auf Osteuropa gestützt haben, wie wir es hier getan haben, passte nicht in das Gesamtbild.

            Dass dieser Fragestellung auch in der chinesischen Forschungslandschaft kaum Platz eingeräumt wird, ist zunächst durch das Tabu begründet, dem die Forschung über die Zeit zwischen 1978 und 1992 aufgrund der Ereignisse auf dem Tianʼanmen-Platz 1989 unterliegt. Es ist aber auch darauf zurückzuführen, dass die weitere Entwicklung von Reform und Öffnung nach Deng Xiaopings Reise in den Süden (1992) als logische Konsequenz des Regimewechsels in den Ländern Osteuropas nur noch die Kooperation mit dem sogenannten Westen möglich machte. In einer Situation, in der die Reformer in der KPCh die Transformation der Wirtschaft weiter vorantreiben wollten, sich mit einer Phase der Zusammenarbeit auseinanderzusetzen, die für die eine Seite in der Niederlage und für die andere in der blutigen Auseinandersetzung auf dem Tianʼanmen-Platz 1989 endete, erscheint nicht naheliegend. Hinzu kommt, dass der Öffnung nach Westen seit jeher eine größere Bedeutung zugemessen wurde, weil sowohl die Investoren als auch die Exportmärkte in der sogenannten westlichen Welt angesiedelt waren. Der Dialog mit Osteuropa, so wie er in diesem Artikel dargestellt wurde, war deshalb selten Gegenstand öffentlicher Erörterung. Vielleicht sollten die Partner im Osten den Geldgebern im Westen auch nicht offenbart werden. Die Logik von Reform und Öffnung wurde im Westen auch als »pragmatisch« angesehen, weil die chinesischen Eliten ihre Intentionen nicht offenlegen wollten oder konnten. Die vorliegende Studie zeigt, dass durch die Nichtbeachtung des Dialogs mit Osteuropa ein wichtiger Zugang zur Logik von Reform und Öffnung versperrt bleibt und das Verständnis des Transformationsprozesses in der VR China in eine Falle tappt, die nicht ganz zufällig auf uns wartet: die Falle von der Einzigartigkeit und Besonderheit des Weges, den die KPCh im Jahr 1978 eingeschlagen hat. Durch das Diktum von der Einzigartigkeit wird der Reformprozess als eine chinesische Erfindung dargestellt und zugleich in seiner Intentionalität verschleiert. Er reduziert sich aber nicht auf das berühmte Diktum Deng Xiaopings vom Pragmatismus des »Sich-von-Stein-zu-Stein-über-den-Fluss-Tastens«. Unsere Untersuchungen machen deutlich, dass die KPCh mit ihrem Beschluss über Reform und Öffnung nicht nur in der Kontinuität eigener Reformversuche von Anfang der 1960er-Jahre steht (das wurde hier nur angedeutet, von anderen aber intensiv erforscht),[49] sondern auch in der Tradition des Reformkommunismus in Osteuropa und der Sowjetunion,[50] an die der reformorientierte Teil der chinesischen Elite bewusst anknüpfte. 

            40 Jahre nach dem Beschluss des 3. Plenums des 11. ZK der KPCh stehen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in der VR China wieder wie einst Osteuropa in den 1970er- und 1980er-Jahren vor der Frage, ob das hybride Wirtschaftssystem, das China in den letzten Jahren reich und stark gemacht hat, nachhaltig sein kann. Insbesondere stellt sich die Frage, ob es in der Lage ist, die sozialen Verwerfungen, die weit verbreitete Korruption und die verheerenden ökologischen Folgen des Wachstums in den Griff zu bekommen. Ihre Reformbereitschaft haben Jugoslawien und Ungarn nicht vor dem Regimewechsel bewahrt. Die jeweiligen kommunistischen bzw. Arbeiterparteien haben ihre Monopolstellung im politischen System eingebüßt und ihre Bedeutung im post-kommunistischen System von Wirtschaft und Gesellschaft weitestgehend verloren. Die Wirtschaftsreformen haben es nicht vermocht, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Verbindung von Sozialismus und Kapitalismus Wohlstand und Sicherheit zugleich bedeutet. Sie hat dem System ihre Loyalität aufgekündigt. 

            Die Politik von Reform und Öffnung, das zeigt die vorliegende Studie, hat in China wie in Osteuropa viel Gegenwind erfahren. Heute ist es nicht der Konservativismus von Teilen der chinesischen Elite, der den Gegenwind erzeugt, sondern die Angst vor einem drohenden Vertrauensverlust innerhalb der Bevölkerung, ausgelöst durch die oben angesprochenen Probleme, mit denen sich Wirtschaft und Gesellschaft in der VR China konfrontiert sehen. Obwohl die Transformation nun schon 40 Jahre andauert, sind die Herausforderungen und Ungewissheiten, die zu bewältigen sind, nicht kleiner geworden. 

 

 


 

[1] János Kornai, Włodzimierz Brus und Ota Šik sind drei osteuropäische Wirtschaftswissenschaftler, die das stalinistische System der Planwirtschaft einer tiefgehenden Analyse unterzogen und Reformvorschläge entwickelt haben. Sie werden im Weiteren noch ausführlicher vorgestellt.

[2] Hua Guofeng (1921–2008), seit 1938 Mitglied der KPCh und nach Gründung der VR China überwiegend in der Provinz Hunan tätig. Seit 1969 Mitglied des ZK der KPCh, seit 1971 in der Zentrale, 1976 zunächst Premierminister (bis 1980), ab September 1976 bis zu seiner Entmachtung 1981 Parteivorsitzender.

[3] N.N.: Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung, Berlin 1973.

[4] Die Polemik richtete sich eigentlich gegen Chruščëv, der sich u. a. bei Tito wegen Stalins harscher Kritik an ihm entschuldigt hatte.

[5] Zhou Fang berichtet, es habe seit dem Bruch mit der Sowjetunion immer wieder Versuche von chinesischer Seite gegeben, die Kontakte zu Jugoslawien zu verbessern. Dafür war nach seiner Einschätzung die internationale Rolle Jugoslawiens entscheidend, die Reformen des Sozialismus wurden nach wie vor abgelehnt. In diesem Sinne versuchten auch die USA noch vor Beginn der Pingpong-Diplomatie, mithilfe Jugoslawiens einen Kontakt zur chinesischen Regierung herzustellen, jedoch ohne eine Reaktion seitens Jugoslawiens. Siehe Janos Cavoski: Between ideology and geopolitics: Sino-Yugoslav relations and the wider Cold War, 1950s–1970s, in: Huang Lifu/Wang Junyi (i. e. Péter Vámos)/Li Rui (Hg.): Xin shiliao. xin faxian. Zhongguo yu sudong guanxi [Neue Quellen, neue Funde: Die Beziehungen zwischen China, der Sowjetunion und Osteuropa], Peking 2014, S. 392 und S. 397–399.

[6] Li Yimang (1903–1990), seit 1925 Mitglied der KPCh, nach Gründung der VR China im diplomatischen Dienst tätig und seit dem 3. Plenum des 11. ZK stellv. Vorsitzender der Disziplinarkommission. Ab dem 12. Parteitag der KPCh Mitglied der aus verdienten Genossen zusammengesetzten Beraterkommission beim ZK der KPCh.

[7] Siehe dazu den Bericht von Su Shaozhi in der Zeitschrift: Jingjixue dongtai (1978), H. 1, S. 9–25.

[8] Zit. nach: Li Zhenghua: 1978 nian guowuyuan xuwuhui yanjiu [Forschungen zur Arbeitssitzung des Staatsrats zu Theoriefragen im Jahr 1978], in: Dangdai zhongguoshi yanjiu 17 (März 2010), H. 2, S. 7. 

 

[9] Siehe Zhu Liang: Tietuo yu Hua Guofeng hufang: Dui gaige kaifang dailai qidi de waishi huodong [Die gegenseitigen Besuche von Tito und Hua Guofeng: Außenpolitische Aktivitäten, die Reform und Öffnung beförderten], in: Yanhuang chunqiu (2008), H. 8, S. 8–10.

[10] Sun Yefang (1908–1983), seit 1924 Mitglied der KPCh. Journalist, marxistischer Theoretiker und Ökonom und nach Gründung der VR China überwiegend in Schanghai und in der Zentrale als stellvertretender Direktor des Staatlichen Planungsbüros sowie als Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts an der Akademie der Wissenschaften tätig.

[11] Siehe Deng Jiarong: Sun Yefang zhuan [Biographie Su Yefangs], Taiyuan 1998, S. 299.

[12] Siehe Sun Yefang: Sun Yefang xuanji [Ausgewählte Werke Sun Yefangs], Taiyuan 1984, S. 540–547.

[13] Edvard Kardelj (1910–1979), seit den 1930er-Jahren slowenisches Mitglied der Kommunistischen Partei Jugoslawiens und seit 1940 Mitglied des Politbüros. Von 1948–1953 war er Außenminister Jugoslawiens und von 1963–1967 Parlamentspräsident.

[14] Siehe Robert F. Miller: Theoretical and ideological issues in socialist systems: Some Yugoslav and Soviet examples, in: Soviet Studies XLI (Juli 1989), H. 3, S. 338–361.

[15] Siehe Vladimir V. Kursin: An Overview of East European Reformism, in: Soviet Studies XXVIII (Juli 1976), H. 3, S. 338–361.

[16] Siehe Jean-Charles Asselain: Planning and Profits in Socialist Economies, London 1984, S. 123–143.

[17] Milovan Djilas (1911–1995), aus Montenegro stammend, seit 1932 Mitglied der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, 1938 Mitglied des ZK, 1940 Mitglied des Politbüros, ab 1953 Mitglied des Bundes-Exekutivrates Jugoslawiens. Nach der Veröffentlichung einer Reihe von Artikeln kam es 1954 zum Bruch mit Tito. Es folgte Djilasʼ Ausschluss aus der Partei. Er war bekannt als kritischer Analyst des sozialistischen Systems und der soziologischen Analyse der Parteikader als »neue Klasse«.

[18] Włodzimierz Brus (1921–2007), ausgebildet in der Sowjetunion, nach dem Zweiten Weltkrieg beim ZK der Polnischen Arbeiterpartei für Propaganda zuständig, ab 1955 als Berater für ökonomische Reformen unter Gomulka tätig. 1961 erfolgte die Veröffentlichung seiner Kritik am stalinistischen System als Buch mit dem Titel »Generelle Probleme des sozialistischen Systems«. 1968 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und reiste 1972 nach Großbritannien aus, wo er an mehreren Universitäten tätig war.

[19] Dong Fureng (1927–2004), von 1959–1976 als Ökonom am Wirtschaftsforschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften, ab 1978 stellvertretender Direktor des Instituts, ab 1985 dessen Direktor. Von 1982–1985 war Dong Direktor der Graduiertenschule der Akademie der Wissenschaften, von 1983–1996 Delegierter auf dem Nationalen Volkskongress und ab 1998 Mitglied der Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes.

[20] Bo Yibo (1908–2007), seit 1925 Mitglied der KPCh und nach Gründung der VR China stellvertretender Finanzminister. Er galt bereits in den frühen 1960er-Jahren als Kritiker überspitzter Wirtschaftspolitik und Reformer. Ab 1979 war er stellvertretender Premierminister, ab 1982 stellvertretender Vorsitzender des ZK der KPCh und ab 1988 für den Bereich Parteigeschichtsschreibung zuständig.

[21] Wan Li (1916–2015), seit 1936 Mitglied der KPCh. Seit 1958 war er Vizebürgermeister Pekings, ab 1980 Mitglied des ZK der KPCh, 1982 Vizepremierminister und Mitglied des Politbüros und von 1988–1993 Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses. 

[22] Ota Šik (1919–2004), seit 1940 Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Ab 1961 war er Direktor des Ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, ab 1962 Mitglied des Zentralkomitees und ab 1964 Leiter der Partei- und Staatskommission für Wirtschaftsreform. Nach der sowjetischen Intervention wurde Šik 1968 aller Ämter enthoben und emigrierte in die Schweiz, wo er als Professor an der Hochschule St. Gallen tätig war.

[23] Liu Guoguang (*1923) war von 1955–1980 Direktor des Forschungsbüros bei der Akademie der Wissenschaften, 1980 stellvertretender Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts an der Akademie für Sozialwissenschaften, ab 1982 Mitglied des ZK und Vizepräsident der Akademie für Sozialwissenschaften und von 1993–1998 Mitglied des Nationalen Volkskongresses.

[24] Siehe Asselain: Planning and Profits in Socialist Economies (Anm. 16), Kapitel 7.

[25] Siehe Péter Vámos: China and Eastern Europe in the 1980s: A Hungarian Perspective, CWIHP e-Dossier no. 69 (2016), siehe: www.wilsoncenter.org/publication/china-and-eastern-europe-the-1980s-hungarian-perspective (ges. am 26.10.2018). Ebenso Martin Banse: Die Analyse der Transformation der ungarischen Wirtschaft, Berlin 1996, S. 17 f.

[26] Yu Guangyuan (1915–2013) war Ökonom und Vertreter einer reformorientierten Wirtschaftswissenschaft und seit 1937 Mitglied der KPCh. Ab 1979 war er Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus an der Akademie für Sozialwissenschaften. 

[27] Su Shaozhi (*1923) gilt als reformorientierter Spezialist für politische Ökonomie. Nach 1949 war er an der Fudan Universität in Schanghai und von 1963–1979 als Ressortleiter für Theorie bei der Pekinger Volkszeitung tätig. Ab 1979 war er im Institut für Marxismus-Leninismus und Mao-Zedong-Ideen an der Akademie für Sozialwissenschaften, ab 1982 als dessen Direktor tätig. Nach der Niederschlagung der Studentenbewegung im Juni 1989 emigrierte er in die USA und publiziert von dort zahlreiche Texte, in denen er das Regime in der VR China als faschistisch geißelt.

[28] János Kornai (*1928) ist ein reformorientierter Wirtschaftswissenschaftler aus Ungarn, der in Budapest ausgebildet wurde und 1956 am Institut für Wirtschaftswissenschaften an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften promovierte. Seit den 1960er-Jahren war er an verschiedenen Universitäten außerhalb des sozialistischen Lagers als Gastdozent tätig und lehrte gleichzeitig von 1967–1993 als Professor an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Von 1986–2002 war er als Professor an der Harvard University und zuletzt auch als Professor an der Central European University in Budapest tätig.

[29] Siehe Hans-Jürgen Wagener: Economic Thought in Communist and Post-Communist Europe, London 1998, S. 116.

[30] Rezsö Nyers (1923–2018), ab 1920 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Ungarns und mit deren Zwangsvereinigung ab 1948 Mitglied der Kommunistischen Partei. Von 1968–1973 trieb er unter Generalsekretär János Kádár die Wirtschaftsreformen voran. 1989 wurde er Präsident der wieder gegründeten Sozialdemokratischen Partei Ungarns.

[31] Laut Péter Vámos findet sich in den ungarischen Archiven kein Hinweis auf eine derartige Einflussnahme. Die Darstellung hier folgt chinesischsprachigen Materialien.

[32] Edwin R. Lim (*1941), in Princeton und Harvard ausgebildet, war seit 1970 Mitarbeiter der Weltbank: von 1976–1985 als Senior Economist für die Region China/Ostasien, zuletzt bis 2002 als Country Director für Indien/Südasien tätig.

[33] Leroy Jones (Lebensdaten nicht bekannt) ist Professor für Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Entwicklungsökonomie an der Boston University und ist außerdem weltweit vielfach als Berater der Weltbank und der Asian Development Bank tätig.

[34] Aleksander Bajt (1921–2000) war ein aus Slowenien stammender Ökonom, der insbesondere durch seine Arbeiten zur Problematik der Hyperinflation in Jugoslawien bekannt geworden ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er in verschiedenen Regierungsinstitutionen Jugoslawiens, ab 1951 hauptsächlich auch als international bekannter Wissenschaftler tätig.

[35] Xue Muqiao (1904–2005) war ein reformorientierter Ökonom und in China bekannt für seine These, dass der Wert einer Währung sich an ihrem Umlauf misst. Xue war seit 1927 Mitglied der KPCh und als Spezialist für Geldwirtschaft in verschiedenen Forschungsinstitutionen und für die chinesische Regierung tätig. 1979 wurde er Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts an der Akademie für Sozialwissenschaften.

[36] Ma Hong (1920–2007), reformorientierter Ökonom, war seit 1936 Mitglied der KPCh. Nach 1949 war er als Industrieökonom tätig und wurde 1978 mit der Gründung des Instituts für Industrieökonomie an der Akademie für Sozialwissenschaften beauftragt und danach als dessen Direktor tätig. 1979 wurde er Vizepräsident der Akademie für Sozialwissenschaften, war ab 1982 im Staatsrat tätig und ab 1985 Direktor des für die Reform wichtigen Zentrums für Entwicklungsforschung (Fazhan yanjiu zhongxin). Ab dem 12. Parteitag der KPCh war Ma alternierendes ZK-Mitglied und Delegierter auf dem Nationalen Volkskongress.

[37] An Zhiwen (1919–2017) war ein reformorientierter Ökonom und zuletzt stellvertretender Direktor der Kommission zur Restrukturierung des ökonomischen Systems (kurz: Tigaiwei).

[38] Wu Jinglian (*1930), reformorientierter Ökonom, seit 1952 Mitglied der KPCh. Seit 1954 war Wu am Wirtschaftsforschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften und seit 1984 ebendort als Professor für Ökonomie tätig. Daneben übernahm er verschiedene Gastprofessuren in den USA und Großbritannien.

[39] Siehe Julian Gewirtz: Unlikely Partners. Chinese Reformers, Western Economists, and the Making of Global China, Cambridge/MA 2017, Kapitel 6.

[40] Siehe Ke’ernai (i. e. Kornai): Sixiang de liliang [Die Kraft des Gedankens], Hongkong 2006, S. 423.

[41] Gewirtz vertritt in seinem Buch die Auffassung, dass sich Kornai nicht für die »Big Bang«-Theorie eingesetzt habe. Er stützt sich dabei auf ein Interview mit Kornai. Siehe Gewirtz: Unlikely Partners (Anm. 39), Kapitel 6. Siehe hierzu auch Isabella Webers Rezension zu Gewirtz in: The China Quarterly 237 (März 2019), S. 257–259. Weber widerspricht der Darstellung von Gewirtz.

[42] Gao Shangquan (*1929), reformorientierter Ökonom, ist seit 1952 in verschiedenen Ministerien in Peking im Bereich Wirtschaftspolitik und an verschiedenen Universitäten als Spezialist für Makroökonomie tätig. Seit 1982 ist er als Forscher bei der Kommission zur Restrukturierung des ökonomischen Systems (kurz: Tigaiwei).

[43] Siehe hierzu den Beitrag von Gao Liang/Ma Kai: Xiongyali, Nansilafu jiage gaige de qishi [Empfehlungen aus der Preisreform in Ungarn und Jugoslawien], in: Zhongguo jingji tizhi gaige yanjiusuo [Chinesisches Institut zur Restrukturierung des ökonomischen Systems] (Hg.): Jiannan de tansuo: Xiongyali, Nansilafu gaige de kaocha [Eine schwierige Suche: Feldforschungen zur Reform in Ungarn und Jugoslawien], Peking 1987, S. 31–57.

[44] In demselben Band erschien der Beitrag von Gao Shangquan: Xiongyali, Nansilafu jingji tizhi gaige gei women de qishi [Was wir aus der Reform des Systems in Ungarn und Jugoslawien gelernt haben], Peking 1987, S. 1.

[45] Zhang Shaojie (1953–2011), reformorientierter Ökonom, war von 1978–1992 an der Nanjing Universität, von 1982–1985 am Wirtschaftsforschungsinstitut der Akademie für Sozialwissenschaften und zuletzt als Direktor der Abteilung für Mikroökonomie am Institut für Strukturreformen tätig.

[46] Zit. nach S. 261 der chinesischen Ausgabe von Catherine Keyser: Professionalizing Research in Post-Mao China – The System Reform Institute and Policy Making, Armonk/N.Y. 2003.

[47] Siehe Gewirtz: Unlikely Partners (Anm. 39), S. 83–87, 229 f., 257 f.

[48] Péter Vámos: The framework of Sino-Hungarian relations in the second half of the Cold War, in: Huang/Wang/Li (Hg.): Xin shiliao (Anm. 5), S. 235–254.

[49] Siehe z. B. Dali Yang: Economic Transformation and State Rebuilding in China. Cambridge/MA 2004.

[50] Alle Reformversuche, die innerhalb des sozialistischen Systems formuliert wurden, gingen auf die Neue Ökonomische Politik (NÖP) Lenins zurück. Diese war in China bekannt. Darüber hinaus setzte man sich in der VR China mit den Reformansätzen auseinander, die Evsej Grigor’evič Liberman (1897–1981) 1962 formuliert und damit die Grundlage für entsprechende Reformen in der Sowjetunion im Jahr 1965 geschaffen hatte.

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