JHK 2020

Vorwort: Chinas Reform und Öffnung im globalen Kontext

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 1-14 | Metropol Verlag

Autor/in: Felix Wemheuer

»It’s the economy, stupid.«
Interner Slogan des Wahlkampfteams von Bill Clinton aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf 1992

»Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das allerwichtigste, das ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung. Der Kapitalismus hat eine Arbeitsproduktivität geschaffen, wie sie unter dem Feudalismus unbekannt war. Der Kapitalismus kann endgültig besiegt werden und wird dadurch endgültig besiegt werden, dass der Sozialismus eine neue, weit höhere Arbeitsproduktivität schafft.«[1]
W. I. Lenin

 

Im Jahr 2019 wurde nicht nur der 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer gefeiert. In Peking beging die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China mit der größten Militärparade in der Geschichte des Landes. Dieser Staat, den Mao Zedong am 1. Oktober 1949 ausgerufen hatte, existiert heute länger als die Sowjetunion, die 1922 gegründet und 1991 aufgelöst wurde. Das populäre Narrativ, dass im Zuge der »friedlichen Revolutionen« von 1989 der Staatssozialismus endgültig zusammengebrochen sei, sollte überdacht werden. Regimewechsel gab es im Zuge der Umwälzungen nur in Europa und der Sowjetunion. In Asien haben sich die kommunistischen Parteien in China, Vietnam, Laos und Nordkorea bis zum heutigen Tag an der Macht behaupten können.[2] Das trifft auch für Kuba zu. Der Volksrepublik China gelang es sogar, nach 1989 zu einer globalen Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Weniger ihr politisches System als mögliche Alternative, sondern die Erfolge bei der technologischen Aufholjagd werden im Westen in den letzten Jahren von Medien und Politik zunehmend als Bedrohung für die eigene wirtschaftliche Vormachtstellung wahrgenommen.

Die Regimewechsel im sowjetischen Lager um 1989 hatten nicht nur die westlichen politischen Eliten überrascht, sondern auch die akademischen Expertinnen und Experten. Nur wenige hatten den Zusammenbruch des Staatsozialismus prognostiziert. In den 1990er-Jahren versuchten daher viele westliche Forscherinnen und Forscher, den Kollaps kommunistischer Herrschaft in Osteuropa zu erklären. Auch die Entwicklung in China wurde im Zuge des damaligen Trends des Zusammenbruchs sowie »Endes der Geschichte« (Francis Fukuyama) durch den weltweiten Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft betrachtet. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagten sogar den Zeitpunkt für einen kommenden Regimewechsel in China innerhalb weniger Jahre voraus.[3] Als sich spätestens Ende der 1990er-Jahre die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Herrschaft der KPCh als Illusion herausgestellt hatte, musste schließlich die Überlebensfähigkeit der kommunistischen Einparteienherrschaft in China und anderen asiatischen Staaten erklärt werden.[4] Die Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickelten Begriffe für die Eigenschaften der politischen Systeme Chinas und Vietnams, wie z. B. »autoritäre Responsivität« bzw. »Elastizität« oder »lernfähiger Leninismus«.[5] Gemeint war damit, dass die kommunistischen Parteien, auch ohne Feedback-Mechanismen wie freie Wahlen oder unabhängige Presse, in der Lage seien, auf gesellschaftliche Entwicklungen und Proteste zu reagieren, um ihre Regierungsprogramme den neusten Herausforderungen anzupassen.

Die Entwicklung Chinas nach der Machtübernahme von Xi Jinping 2013 hat dieses Paradigma wiederum infrage gestellt. Die Herrschaft der KPCh wirkt unter Xi weniger »elastisch«, weil die Partei wieder stärker alle Bereiche der Gesellschaft einer direkten Kontrolle unterwerfen will. Die massenhafte Inhaftierung von Angehörigen der ethnischen Minderheit der Uiguren in Umerziehungslagern oder die starke Einschränkung der Freiräume für politische und akademische Diskussionen sind Beispiele für einen Grad an staatlichen Repressionen, wie es ihn seit 1989 nicht gegeben hat. Diese Entwicklung findet vor dem Hintergrund eines abnehmenden Wirtschaftswachstums in China und einer globalen Krise der liberalen Demokratie statt. Einige westliche Expertinnen und Experten haben in diesem Zusammenhang wieder dem baldigen Zusammenbruch der Herrschaft der KPCh das Wort geredet.[6] Dabei handelt es sich jedoch um eine Minderheit unter den China-Forscherinnen und -Forschern.

 

Das wundersame Überleben der kommunistischen Parteiherrschaft in Asien und Kuba

Anfang der 1990er-Jahre wurden die untergegangenen sozialistischen Systeme gerne als »Misswirtschaft«, »Mangelwirtschaft«, »marode« oder »pleite« bezeichnet. Chinas und Vietnams Volkswirtschaften verzeichneten jedoch in den folgenden Jahrzehnten beeindruckende Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts. Auch 2019 sind sie im globalen Vergleich immer noch hoch. Die Wirtschaftssysteme beider Länder haben sich weit von dem Modell des sowjetischen Staatssozialismus mit zentraler Planwirtschaft, verstaatlichter Industrie, kollektivierter Landwirtschaft und staatlichem Außenhandelsmonopol entfernt. Im Zuge der Reformen ließen die Regierungen die Entstehung eines großen privaten Sektors zu. Sie förderten eine Öffnung für internationales Kapital, zunächst in Sonderwirtschaftszonen und dann im ganzen Land. Die Landwirtschaft wurde dekollektiviert und der Boden den Bauernfamilien zur Nutzung übergeben. Es gibt jedoch weiterhin kein Privateigentum an Grund und Boden in China und Vietnam. Zwar spielt der öffentliche Sektor in der Industrie in diesen »sozialistischen Marktwirtschaften« noch eine Rolle, er muss sich aber auf Märkten behaupten. Die Parteiführungen nahmen die Entstehung großer sozialer und regionaler Ungleichheiten in Kauf. Das Bildungs- und Gesundheitssystem wurde teilweise kommerzialisiert und fordert eine hohe Eigenbeteiligung der Bürger.[7]

Am Führungsanspruch der leninistisch strukturierten Kaderpartei wurde hingegen festgehalten. Auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft versuchen Parteikomitees ihn umzusetzen. Zumindest formal wurde der Marxismus-Leninismus als Leitideologie der Partei nie aufgegeben. Dieses System zu klassifizieren, fällt nicht leicht, da die Kombination von Marktkonkurrenz und Nomenklatura weder in westlichen noch östlichen Lehrbüchern für Volkswirtschaft als erfolgreiches Modell vorkommt. Kritische Bezeichnungen für Chinas und Vietnams Gesellschaften variieren zwischen »Staatskapitalismus«, »bürokratischer Kapitalismus«, »staatlich durchdrungener Kapitalismus« oder auch »Markt-Leninismus«.[8]

Kuba und Nordkorea haben sich in geringerem Ausmaß vom klassischen sowjetischen Wirtschaftsmodell entfernt als China. Reformen zur Zulassung von privatem Handel, die Monetarisierung der Wirtschaft durch Abbau des Rationierungssystems von Gütern oder die Anziehung von ausländischem Kapital in Sonderwirtschaftszonen wurden eingeleitet. Diese Reformprozesse erlebten in den letzten 20 Jahren immer wieder ein Vor und Zurück.[9] Die beiden Regime überlebten auch ohne große Erfolge bei der Wirtschaftsentwicklung den Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa, im Fall von Nordkorea sogar trotz einer schweren Hungersnot zwischen 1994 und 1998. Während in dem Land immer noch ein diktatorischer und äußerst repressiver Staatsapparat mit einem System von Zwangsarbeitslagern existiert, kam es in Kuba unter der Regierung von Raúl Castro nach 2008 zu einer vorsichtigen politischen und kulturellen Öffnung. Jedoch wurde das US-Wirtschaftsembargo gegenüber Kuba, das seit 1960 besteht, unter Präsident Donald Trump wieder verschärft. Auch aus diesem Grund ist es fraglich, ob eine Öffnung für internationales Kapital im chinesischen Stil für die kubanische Führung überhaupt eine realistische Option ist.

Nicht zu Unrecht wird der wirtschaftliche Erfolg der chinesischen Reform und Öffnung (gaige kaifang) von 1978 als Grund dafür genannt, dass sich die KPCh an der Macht halten konnte. Sicher spielte auch die blutige Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 eine wichtige Rolle. Diese Maßnahme allein hätte die KPCh jedoch nicht bis in die Gegenwart retten können. Im Zuge der Wirtschaftsreformen wurden Hunderte Millionen von Menschen auf dem Land aus der Armut befreit und es entstanden eine breite urbane Mittelschicht sowie Superreiche. Die rasante Steigerung des Konsums dieser Schichten verändert mittlerweile weltweit ganze Landschaften, wie z. B. die Expansion des Soja-Anbaus für chinesische Schweine in Südamerika und Afrika zeigt.

Natürlich profitierten nicht alle von den Umwälzungen nach 1978. China gehört weltweit zu den Ländern mit der größten Ungleichheit bei den Einkommen.[10] Vor allem die ältere Generation der Arbeiter in der Staatsindustrie erlebte Ende der 1990er-Jahre im Zuge der Privatisierung und damit einhergehenden Entlassungswelle eine soziale Degradierung. In ihren Augen wurde der sozialistische »Gesellschaftsvertrag«, der soziale Sicherheit im Austausch für Loyalität zum Staat versprach, gebrochen.[11] Durch die atemberaubende Urbanisierung und den damit einhergehenden Verlust von Agrarland wurden viele Bauern landlos. Proteste, Streiks und lokale Aufstände sind keine Seltenheit. Sie konnten jedoch nach 1989 die Alleinherrschaft der KPCh zu keinem Zeitpunkt ernsthaft gefährden.

Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, warum sich die kommunistischen Parteien in der Sowjetunion und Osteuropa in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre nicht stärker an dem chinesischen Modell orientierten bzw. ob dies überhaupt möglich gewesen wäre. Die chinesische Führung verfolgte und analysierte jedenfalls die Entwicklungen im sowjetisch geführten Block immer sehr genau.[12] Nach Maos Tod 1976 näherte sich die Volksrepublik zunächst Jugoslawien an, um von dessen Modell des »Marktsozialismus« zu lernen. Nach der Entschärfung des sino-sowjetischen Konfliktes Anfang der 1980er-Jahre wurden die Regierenden in Osteuropa wieder zu »Bruderparteien« der KPCh.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2020 präsentiert Beiträge einer Konferenz der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur von November 2019.[13] Es geht den Fragen nach, welche globalen Auswirkungen die chinesische Reform- und Öffnungspolitik auf die anderen staatssozialistischen Länder hatte bzw. was China selbst von den Wirtschaftsreformen in Osteuropa und der Sowjetunion lernte. Analysiert werden auch transnationale Transfers von Ideen sowie der Austausch von Experten und neue wirtschaftliche Verflechtungen. Einzelstudien zu Reformen in staatssozialistischen Ländern ergänzen die Untersuchungen.

 

Forschungsstand zu Wirtschaftsreformen in sozialistischen Ländern im Vergleich

China war nicht das erste Land, das Wirtschaftsreformen in Richtung »Marktsozialismus« unternahm. Als Vorreiter in Osteuropa galt seit Mitte der 1950er-Jahre Jugoslawien und seit 1968 auch Ungarn. Ebenso versuchten die Sowjetunion, die DDR, die ČSSR und Polen in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, das System der Planwirtschaft durch Marktmechanismen zu ergänzen. Die Entwicklung war allerdings »Reformzyklen« bzw. »Wellen« unterworfen, während derer die Parteiführungen ihre Versuche auch mehrfach abbrachen (siehe Beitrag von Felix Wemheuer in diesem Band).[14] Die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die sowjetische Invasion im Herbst 1968 leitete das Ende dieses Reformzyklus in den meisten Ländern ein.

In der Forschung gibt es bisher viele Fallstudien zu den Wirtschaftsreformen in staatssozialistischen Ländern sowie Vergleiche zwischen Einzelfällen.[15] In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde zunächst debattiert, ob eine Reform der Planwirtschaft oder gar die Einführung eines »Marktsozialismus« überhaupt möglich sind. Vertreter des »dritten Weges« hofften, dass sich der Osten durch Demokratisierung und Verbindung von Plan und Markt dem Westen durch eine dortige Sozialisierung der Schlüsselindustrien annähern könne. [16] Liberale Ökonomen beharrten hingegen auf der Position, dass Markt und Plan nicht vereinbar seien. Nur ein auf Privateigentum gegründetes Unternehmertum könne sich wirtschaftlich rational verhalten. Erst die Konkurrenz von Waren auf dem Markt führe zur Bildung von wirtschaftlichen Preisen.[17]

Bis heute wird der ungarische Ökonom János Kornai in der Forschung zur ökonomischen Entwicklung des Staatssozialismus häufig zitiert. Kornai setzte sich seit den 1950er-Jahren kritisch mit dem klassischen System der Planwirtschaft auseinander. Schließlich wurde er in den 1980er-Jahren zu einem der einflussreichsten Kritiker der »Mangelwirtschaft«, zunächst im Westen und schließlich auch im Osten. Gegen den »Marktsozialismus« argumentiert er, dass das hybride System inkohärent sei und die Probleme des klassischen Systems der Planwirtschaft nicht lösen könne. Reformen wie in Ungarn (1968–1973) würden die zentrale Steuerung der Wirtschaft aufgeben, ohne die Kontrolle von oben durch einen echten Marktmechanismus ersetzen zu können. Auch die Probleme des »weichen Budgets« der Betriebe und des ständigen Nachverhandelns mit den staatlichen Behörden seien nicht gelöst, da die Regierung weiterhin keine Konkurse zulasse. Darüber hinaus verhielten sich die Manager, trotz neuer Kompetenzen und materieller Anreize, mehr wie Angehörige der staatlichen Bürokratie als wie Unternehmer. Ein paternalistisches Verhältnis zur Belegschaft ließe sie vor Entlassungen und der Durchsetzung einer härteren Arbeitsdisziplin zurückschrecken.[18] Kornai übernahm schließlich die Position der liberalen Ökonomen, dass nur eine vollständige Privatisierung zu einer effizienten Marktwirtschaft führen könne.[19]

Mit dem Ende des Staatsozialismus in Osteuropa schienen nicht nur das klassische Modell der sowjetischen Planwirtschaft, sondern auch die Reformversuche Ungarns und Jugoslawiens in Richtung »Marktsozialismus« durch die Praxis diskreditiert. Die meisten politischen Eliten in West und Ost sahen in den 1990er-Jahren keine Alternative zum Kapitalismus. Im Rahmen der Transformationsforschung, die nach den Regimewechseln populär wurde, führten Forscher einige Ländervergleiche durch. [20] Zunächst dominierten die Paradigmen »vom Plan zum Markt« sowie »von der Diktatur zur Demokratie«. Erklärungsbedürftig erschien, warum sich diese Paradigmen in Osteuropa und Russland zu erfüllen schienen, in China aber nicht. Andere Fragestellungen waren z. B., warum Wirtschaftsreformen in China den Regimewechsel abwenden konnten, in Ländern wie Ungarn und Jugoslawien aber nicht.[21] Vor allem die Wirtschaftswissenschaftler diskutierten die Vor- und Nachteile einer graduellen Reform der Wirtschaft versus eines »Big Bang«, sprich einer »Schocktherapie«, die Preiskontrollen und Staatsbetriebe auf einen Schlag auflösen und eine allumfassende Privatisierung der Wirtschaft einleiten sollte.[22] In Russland führte die »Schocktherapie« der frühen El'cin-Ära in den 1990er-Jahren nicht zu einer Marktwirtschaft wie sie in Harvard und Chicago in den Lehrbüchern stand. Es kam zu einem rasanten wirtschaftlichen Absturz. 1992 verzeichnete Russland nach Angaben der Weltbank ein negatives Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von über 14 Prozent. Erst 1997 wurde wieder ein schwacher positiver Anstieg vermeldet.[23] Anstatt eines »fairen Wettbewerbs«, konnten Oligarchen, in der Regel ehemalige Parteikader oder Manager von Staatsbetrieben sowie ihre Familienangehörigen, in wenigen Jahren riesige Vermögen anhäufen.

Vor diesem Hintergrund wurde China als Modell einer erfolgreichen graduellen Transformation gesehen. Das Wirtschaftswachstum kam nicht nur bei korrupten Kadern an, sondern auch bei der breiten Masse der Bevölkerung. Nicht wenige westliche Ökonomen gingen in den 1990er-Jahren jedoch davon aus, dass über kurz oder lang das »dysfunktionale politische System« der Volksrepublik den Erfolg der Wirtschaftsreformen zunichtemachen könne.[24] Dem Modell wurden einige Erfolge bescheinigt, es wurde aber nicht als nachhaltig angesehen. Kornai, der dem »Marktsozialismus« keine Chance eingeräumt hatte, sah sich gezwungen, angesichts des beeindruckenden Wirtschaftswachstums von China und Vietnam noch einmal Stellung zu beziehen. Er gab an, sich nicht über das Label »Sozialismus« streiten zu wollen, argumentierte aber, dass sich die beiden Länder grundlegend vom Osteuropa der 1980er-Jahre unterscheiden würden. Der Abbau von staatlichen Sozialleistungen sowie die Förderung eines wettbewerbsfähigen Privatsektors zeigten, dass sich China und Vietnam mehr in Richtung eines Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts oder eines lateinamerikanischen Modells mit großen sozialen Ungleichheiten entwickeln würden. Das war nicht als vernichtende Kritik gemeint, da Kornai kein Anhänger einer sozialdemokratischen Variante des Kapitalismus ist.[25]

Erst im letzten Jahrzehnt hat die Forschung sich stärker mit transnationalen Verbindungen und globalen Rahmenbedingungen der Wirtschaftsreformen befasst. Die Grundlage dafür waren zum einem die Öffnung und Erschließung der Archive in Russland und Osteuropa. Zum anderen entstand ein Trend, die Erforschung des Kommunismus und des Kalten Krieges stärker im Rahmen von Globalgeschichte zu betreiben.[26] Auch die transnationale wirtschaftliche Verflechtung sowie die Integration der staatssozialistischen Länder in den Weltmarkt erhalten nun mehr Aufmerksamkeit als in der Vergangenheit.[27] James Mark und seine Co-Autoren kritisieren das einflussreiche Narrativ, dass die Welt »hinter dem Eisernen Vorhang« vor 1989 isoliert gewesen sei. Sie widersprechen der Auffassung, dass die Globalisierung nur im Westen stattgefunden hat und erst nach dem Fall der Berliner Mauer den Osten erfasst habe.[28] Die neuere Forschung zeigt, wie stark auch die staatssozialistischen Länder in Prozesse der Globalisierung von Wirtschaft, Finanzmärkten, Ideen, Kommunikation oder Migration eingebunden waren, besonders seit den »langen 1970er-Jahren«, in denen es zu einem starken Anwachsen von globalen Verflechtungen kam.[29] Preisschwankungen auf dem Weltmarkt wie die Ölpreiskrisen von 1973 und 1979 hatten auch starke Auswirkungen auf die staatssozialistischen Länder. Im Rahmen der Entspannungspolitik der frühen 1970er-Jahre stieg auch das Handelsvolumen zwischen Ost und West. Einige sozialistische Staaten in Osteuropa trieben mehr Handel mit Ländern des kapitalistischen Lagers als mit ihren »Brüdern«.

Die These von der Integration des Staatssozialismus in die kapitalistische Weltwirtschaftsordnung ist allerdings nicht ganz neu. Schon in den 1960er-Jahren machten Maoisten und Stalinisten diese Entwicklung dem »modernen Revisionismus« zum Vorwurf. Auch Vertreter der Weltsystemtheorie argumentierten, dass der kapitalistische Weltmarkt und seine globale Arbeitsteilung so wirkungsmächtig seien, dass es kein Außerhalb mehr geben könne.[30]

Die neuere Forschung betont auch, dass die sozialistischen Länder in den internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen eine wichtige Rolle spielten. In der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Globalen Süden, damals »Dritte Welt« genannt, konkurrierten nicht nur die USA und die Sowjetunion, sondern auch verschiedene sozialistische Modelle wie diejenigen Chinas, Kubas oder Jugoslawiens. Auch Staaten wie Polen, die ČSSR oder Rumänien waren in der »Dritten Welt« sehr aktiv. Diese Geschichte wird unter dem Stichwort der »Ost-Süd«- bzw. »Süd-Süd«-Beziehungen neu geschrieben. So kann der Kalte Krieg nicht mehr nur durch das Paradigma des Ost-West-Konfliktes gesehen werden.[31]

Neuere Studien haben ebenfalls die Bedeutung des transnationalen und globalen Ideentransfers hervorgehoben.[32] Johanna Bockman argumentiert, dass jugoslawische und ungarische Ökonomen in den 1950er- und 1960er-Jahren im Wissenschaftsaustausch mit dem Westen standen. Einige entwickelten neoklassische, d. h. liberale Theorien weiter, um Marktelemente in ihren Ländern einzuführen. Sie mussten nach den Regimewechseln 1989 nicht erst von den westlichen Beratern überzeugt werden, dass nur eine Marktwirtschaft effizient sei. Ihrer Meinung nach hatte die »neoliberale« Wende der 1980er- und 1990er-Jahre auch im Osten ihre Ursprünge.[33] Julian Gewirtz zeigt die transnationalen Verbindungen der Ideengeschichte der chinesischen Reform und Öffnung. Osteuropäische Ökonomen wie Ota Šik, János Kornai und Włodzimierz Brus, die damals im Westen lehrten, sowie Experten der Weltbank hatten laut Gewirtz großen Einfluss auf die chinesischen Debatten in den 1980er-Jahren. Bei Besuchen in der Volksrepublik diskutierten sie mit ihren chinesischen Kollegen die Reformagenda. Auch die damalige Parteiführung um Zhao Ziyang war diesem Austausch gegenüber aufgeschlossen (siehe dazu auch den Beitrag von Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Liu Hong in diesem Band).[34] Die offizielle Darstellung in der Volksrepublik China präsentiert Reform und Öffnung hingegen als eine nationale Erfolgsgeschichte der KPCh. Nur wenige Publikationen nehmen eine globalgeschichtliche Perspektive ein oder erwähnen überhaupt die Einflüsse von Ungarn und Jugoslawien.[35]

Die neuere Forschung zur Sowjetunion betont, dass der Erfolg der chinesischen Reformen durchaus einen Einfluss auf die Agenda von Gorbačёv gehabt habe. Allerdings hätten mächtige bürokratische Lobbygruppen Schritte in Richtung Liberalisierung von Landpacht und Außenhandel sowie die Reduzierung von Subventionen in Verbindung mit mehr Wettbewerb blockiert.[36] Der Einfluss der Entwicklung in China auf den sowjetisch geführten Block ist bisher noch wenig untersucht. Eine umfassende Geschichte des Ideentransfers der Wirtschaftsreformen steht bisher noch aus.

 

Die Beiträge des Bandes

Vor dem Hintergrund des wachsenden globalgeschichtlichen Interesses versucht das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2020, die Wirtschaftsreformen in China und Osteuropa in internationalen und transnationalen Zusammenhängen zu verstehen.

Die chinesische Reform und Öffnung und globale Lernprozesse

Der erste Teil des Bandes befasst sich mit der chinesischen Reform und Öffnung und globalen Lernprozessen. Der Beitrag von Felix Wemheuer gibt einen allgemeinen vergleichenden Überblick zu den Entwicklungen in China und den Reformzyklen in Osteuropa seit den 1960er-Jahren. Dabei vertritt Wemheuer die These, dass es in den 1980er-Jahren zwar Parallelen zum »Marktsozialismus« in Osteuropa gab, die chinesische Führung mit der Privatisierung der Staatsindustrie und Abschaffung des urbanen sozialistischen Wohlfahrtstaates jedoch in den 1990er-Jahren darüber hinausging. Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Liu Hong zeigen in ihrem ideengeschichtlichen Beitrag, dass der Austausch mit den reform-kommunistischen Strömungen in Osteuropa, besonders in Jugoslawien und Ungarn, für die chinesischen Reformer und Ökonomen zwischen 1977 und 1987 wichtig war, um die eigene Agenda zu formulieren. Mit einem positiven Bezug auf Jugoslawien wurde z. B. die Einführung einer »sozialistischen Warenproduktion« sowie von Marktelementen legitimiert – ein direkter Bezug auf liberale westliche Wirtschaftstheorien war zu diesem Zeitpunkt noch ein politisches Tabu. Durch die Orientierung an den Reformen in Osteuropa war der chinesische Prozess mehr als nur ein »sich von Stein zu Stein über den Fluss Tasten« wie Deng Xiaoping es formuliert hatte. Isabella M. Weber argumentiert in ihrem Beitrag, dass der Mythos um das westdeutsche »Wirtschaftswunder« der Nachkriegszeit in den Diskussionen der chinesischen Reformer der 1980er-Jahre um die Preisreform eine wichtige Rolle spielte. Demnach hatte der damalige Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit einem Schlag die Preisregulierungen der Kriegswirtschaft abgeschafft und damit das »Wirtschaftswunder« der Bundesrepublik ausgelöst. Die chinesischen Befürworter einer »Schocktherapie« durch Freigabe der Preise bezogen sich auf dieses Beispiel. Anhänger einer graduellen Preisreform argumentierten hingegen, dass der westdeutsche Fall nicht auf China übertragbar sei. Die vorschnelle Freigabe der Preise und die damit befürchtete hohe Inflation könnten die soziale und politische Stabilität gefährden. Carsten Schäfer unterstreicht in seinem Beitrag die wichtige Rolle der »Auslandschinesen« bezogen auf Chinas wirtschaftlichen Aufschwung nach 1978. Zunächst ließ die chinesische Regierung zu, dass alte verwandtschaftliche Netzwerke nach Übersee wiederhergestellt wurden, damit Rücküberweisungen und Spenden nach China flossen. Vor Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 spielten »Auslandschinesen« eine zentrale Rolle bei »ausländischen« Direktinvestitionen ins Reich der Mitte. In den letzten zwei Jahrzehnten versucht die chinesische Regierung verstärkt, »Auslandschinesen« als »Humankapital« für die Rückkehr bzw. Übersiedlung nach China zu gewinnen. Schäfer argumentiert, dass vermittelt durch die »Auslandchinesen« auch der Erfolg des ausländischen Kapitalismus zu Chinas Boom beitragen habe.

Evgenij Kandilarov diskutiert in seinem Beitrag die Auswirkungen der chinesischen Reform und Öffnung auf Bulgarien. Auch dort hatte die Parteiführung unter Todor Živkov in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre Wirtschaftsreformen eingeleitet, die auf eine Dezentralisierung und mehr Wettbewerb zwischen den Unternehmen ausgerichtet waren. Živkov geriet in einen Konflikt mit der sowjetischen Führung um Gorbačёv, weil er Wirtschaftsreformen ohne eine Schwächung der Führungsrolle der Partei verfolgte. Damit stand er dem chinesischen Weg näher als der Reformagenda der UdSSR. Die Spielräume von China zu lernen waren allerdings für ein kleines Land wie Bulgarien begrenzt, das unter dem starken Einfluss der Sowjetunion stand. Der Beitrag von Florian Peters analysiert die wirtschaftlichen Reformanläufe im Polen der 1980er-Jahre, zu denen die Militärregierung unter General Wojciech Jaruzelski vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise und eines drohenden Staatsbankrotts gezwungen war. Peters zeigt, wie zunächst das entstehende Kleinunternehmertum von der Regierung widerwillig geduldet und schließlich als Vorbild für Selbstverantwortung in den Medien propagiert wurde. Die Wirtschaftsreformen in Richtung »Marktsozialismus« konnten jedoch keine Trendwende erzeugen. In der Folge wurden in Partei und Gesellschaft die Kräfte stärker, die mit einem »sozialistischen Thatcherismus« eine radikale Privatisierung von oben durchführen wollten. Die Maßnahmen wurden nach dem Regimewechsel eingeleitet. Dieser Beitrag verdeutlicht, dass man »1989« nicht nur als Bruch sehen kann, sondern auch die Kontinuitäten verstehen muss.

Das chinesische Modell im Globalen Süden

Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit der Rolle des chinesischen Modells im Globalen Süden. Während der Mao-Ära (1949–1976) spielte die Volksrepublik China eine aktive Rolle im Prozess der Dekolonisierung Afrikas und Asiens. Das Land sah sich als Vorbild für nationale und soziale Befreiungsbewegungen. Gleichzeitig versuchte die Volksrepublik, die jungen unabhängigen afrikanischen Staaten als Verbündete zu gewinnen, um den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat von der Republik China, also Taiwan, zu übernehmen. Das gelang schließlich 1971. Damit wurde der globale Status der Volksrepublik China enorm aufgewertet.

Eric Burton zeigt in seinem Beitrag, dass das maoistische China in den 1960er-Jahren im Fall von Tansania nach der Unabhängigkeit unter Präsident Julius Nyerere ein wichtiger Bezugspunkt für einen autarken Entwicklungsweg sowie eine antiimperialistische Agenda war. Tansania kopierte das chinesische Modell jedoch nicht, sondern versuchte einen »Afrikanischen Sozialismus« aufzubauen. Außerdem musste China bei Entwicklungshilfeprojekten mit der DDR konkurrieren. Nach den Regimewechseln in Osteuropa gelang es in Tansania der Partei der Revolution (CCM), ihre Macht auch in einem Mehrparteiensystem zu behaupten. Burton weist nach, dass die chinesische Reform- und Öffnungspolitik in der Folge zu einem wichtigen Bezugspunkt für die Abkehr von »Afrikanischem Sozialismus« und wirtschaftlicher Liberalisierung wurde. Martin K. Dimitrov vergleicht in seinem Beitrag die Wirtschaftsreformen in China und Kuba. Er argumentiert, dass die Entscheidungen darüber, Veränderungen einzuleiten nicht nur auf wirtschaftliche Notwendigkeiten zurückzuführen seien. In China sei es vor allem eine politische Entscheidung gewesen, die die neue Führung erst nach Maos Tod 1976 habe treffen können. In Kuba nahmen Wirtschaftsreformen erst nach nach 2006, also nach dem Ableben Fidel Castros, Fahrt auf. Der spätere und langsamere Reformprozess Kubas könne im Vergleich zu China auch damit erklärt werden, dass das Scheitern der Reformen Gorbačёvs und die Auflösung der Sowjetunion in Kuba zunächst die Reformgegner gestärkt hätten. Die Beiträge von Burton und Dimitrov zeigen, dass China auch heute für Regierungen im Globalen Süden noch ein wichtiger Bezugspunkt ist, wenn ausgehandelt wird, wie weit wirtschaftliche Reformen gehen sollen.

Rote Globalisierung? Transnationale Handelsbeziehungen und Wirtschaftsreformen

Der dritte Teil des Bandes behandelt globale ökonomische Verflechtungen der staatssozialistischen Länder seit den 1960er-Jahren. Philippe Lionnet zeigt in seinem Beitrag, dass die Volksrepublik China schon in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre sichtlich bemüht war, den Außenhandel mit kapitalistischen Staaten zu intensivieren. Dabei ging es auch um Technologietransfer aus dem Westen für industrielle Großprojekte. Allerdings führten ein Außenhandelsdefizit sowie die steigende Staatsverschuldung dazu, dass das Tempo der Öffnung zunächst wieder verlangsamt wurde. Insgesamt betrachtet bereiteten die »Scharnierjahre« (1974/1975) jedoch den Weg für die spätere Reform- und Öffnung. Péter Vámos argumentiert in seinem Beitrag, dass die Handelsbeziehungen zwischen Ungarn und der Volksrepublik China stark von der jeweiligen Haltung der Sowjetunion geprägt waren. Nach dem sino-sowjetischen Bruch 1961 bis 1978 befürchtete die Sowjetunion, nicht ganz zu Unrecht, dass China in Osteuropa versuche, einen Keil zwischen Moskau und seine verbündeten Staaten zu treiben. Erst als China von diesem Ziel glaubwürdig Abstand nahm und die sowjetischen Bedenken nachließen, intensivierten sich die Handelsbeziehungen zwischen der Volksrepublik und Ungarn wieder deutlich. Allerdings blieb das Handelsvolumen auch in den 1980er-Jahren hinter den Erwartungen zurück, da der ungarische Markt nach Meinung der chinesischen Seite wenige Produkte bot, die das Land für sein Modernisierungsprogramm benötigte.

Oscar Sanchez-Sibony stellt in seinem Beitrag die provokante These auf, dass die Sowjetunion ein wichtiger Akteur bei der Auflösung der globalen Finanzarchitektur nach dem Zweiten Weltkrieg war, die auf dem System von Bretton Woods basierte. Führende westliche Staaten hatten sich mit diesem System darauf geeinigt, den US-Dollar als Ankerwährung, seine Goldbindung und feste Wechselkurse festzulegen. Als im Rahmen der Entspannungspolitik seit den späten 1960er-Jahren der sowjetische Erdölhandel mit westlichen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland und Österreich zunahm, war es die sowjetische Seite, die für den Handel mit flexiblen Wechselkursen eintrat. Das ist eine weitere Unterstützung der These, dass die staatssozialistischen Länder in der Globalisierung, in diesem Fall der Liberalisierung der Finanzmärkte, eine Rolle spielten. Felix Herrmann untersucht, wie das sozialistische Lager in Osteuropa in Form des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) seit den 1960er-Jahren versuchte, eine gemeinsame Computerindustrie aufzubauen. Den USA war es durch das Wirtschaftsembargo weitgehend gelungen, den sozialistischen Staaten den Zugriff auf wichtige Technologiekomponenten zu verwehren. Die Entwicklung einer eigenen Computertechnologie machte im sozialistischen Lager zwar einige Fortschritte, jedoch wurde das gemeinsame Projekt durch die verschiedenen nationalstaatlichen Interessen sowie Alleingänge torpediert. Der technische Rückstand gegenüber den USA und ihren Verbündeten konnte nicht aufgeholt werden. Maximilian Graf befasst sich in seinem Beitrag mit der Herausforderung des Erfolges der europäischen Integration in Form der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den »langen 1970er-Jahren« und ihrer Bedeutung für die DDR. Sie erkannte die EWG lange nicht an und kritisierte sie öffentlich als »imperialistisches Projekt«. Trotz ihres Sonderstatus als »innerdeutscher« Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland war die DDR nicht »heimliches« Mitglied der EWG. Innerhalb der Parteiführung wurde jedoch darüber diskutiert, warum die transnationale Zusammenarbeit in der EWG besser funktioniere als im sozialistischen Lager. Erst nachdem die Sowjetunion offizielle Beziehungen zur EWG aufgenommen hatte, folgte 1988 die DDR.

Themen wie internationaler Freihandel und Wirtschaftsembargo im Zeitalter des Kalten Krieges scheinen heute einen aktuellen Bezug zu haben. Gegenwärtig führt die Trump-Administration einen Handelskrieg gegen China. Die Situation unterscheidet sich grundlegend vom Kräfteverhältnis zwischen den kapitalistischen Zentren und Osteuropa in den 1980er-Jahren. Die USA haben heute gegenüber der Volksrepublik China ein gigantisches Handelsdefizit angehäuft. Außerdem ist China der zweitgrößte ausländische Besitzer von US-Staatsanleihen. Ein erklärtes Ziel der US-Regierung ist es, chinesische Unternehmen von wichtigen Komponenten der Chip- und Computertechnologie abzuschneiden, die diese momentan noch nicht selbst herstellen können. Die amerikanische Regierung ist vom Freihandel abgerückt, weil einflussreiche Teile der politischen Eliten glauben, dass das System des Welthandels, das nach 1991 errichtet wurde, den weiteren Aufstieg Chinas und damit den Abstieg der USA beschleunigen wird.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Kalte Krieg überhaupt zu Ende gegangen ist. Gerade der Fall Chinas bestätigt die Überlegung, dass »1989« zwar eine wichtige Zäsur war, aber auch Kontinuitäten von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart betrachtet werden sollten. Eine zu starke Einteilung der Geschichte in vor und nach 1989 würde sowohl das Verständnis der Transformation in Osteuropa als auch der Volksrepublik China erschweren. In den letzten Jahren hat sich die Arbeitsteilung zwischen Historikern, als Experten der Vorgeschichte der Regimewechsel, und Politikwissenschaftlern und Ökonomen als Experten der Transformation der 1990er-Jahre zumindest abgeschwächt. Auch die deutschsprachige Zeitgeschichte hat begonnen, die 1990er-Jahre in ihre Forschung einzubeziehen.[37] Die Neuschreibung der Geschichte Chinas seit den 1980er-Jahren durch die Historiker steht hingegen noch aus.

Diese Jahrbuchausgabe will den historischen Blick auf die Wirtschaftsreformen lenken und sie aus dem Korsett der nationalen Geschichten befreien, um so globale Verknüpfungen freizulegen. Das Scheitern des Staatssozialismus in Osteuropa und der Aufstieg Chinas zur neuen Weltmacht sind ohne eine globalgeschichtliche Erforschung der Wirtschaftsreformen jedenfalls nicht zu verstehen.

 

Ich danke Dr. Tobias Rupprecht (Universität Exeter) und Dr. Ulrich Mählert für ein kritisches Feedback zu dieser Einleitung. Birte Meyer möchte ich für die redaktionelle Arbeit an dieser Jahrbuchausgabe herzlich danken sowie der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur für die Finanzierung der dem Band vorausgegangenen Konferenz.

 


 

[1] Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED (Hg.): W. I. Lenin, Werke, Bd. 29, Berlin 1959, S. 416.

[2] Ausnahmen stellen die Mongolei und Kambodscha dar. Vor der Auflösung der UdSSR 1991 handelte es sich bei der Mongolei um einen sowjetischen »Satellitenstaat« und in Kambodscha um ein Regime, das die vietnamesischen Besatzungstruppen 1979 installiert hatten. Kambodscha ist heute eine konstitutionelle Monarchie und die Mongolei besitzt ein Mehrparteiensystem.

[3] Siehe z. B. Gordon G. Chang: The Coming Collapse of China, New York 2001.

[4] Eine Übersicht bietet Martin Dimitrov (Hg.): Why Communism did not Collapse: Understanding Authoritarian Regime Resilience in Asia and Europe, Cambridge 2013.

[5] Andrew J. Nathan: Authoritarian Resilience, in: Journal of Democracy 14 (2003), H. 1, S. 6–17; Nguyen Hai Hong: Resilience of the Communist Party of Vietnam’s Authoritarian Regime since Doi Moi, in: Journal of Current Southeast Asian Affairs 35 (2016), H. 2, S. 31–55.

[6] Z. B. Joseph Fewsmith: What if Xi Jinping Fails and Party Control Collapses?, in: Sebastian Heilmann/Matthias Stepan (Hg.): China’s Core Executive: Leadership Styles, Structures and Processes under Xi Jinping, MERICS Paper on China, Berlin 2016, www.merics.org/sites/default/files/2017-09/MPOC_ChinasCoreExecutive.pdf (ges. am 18. 11. 2019).

[7] Jonathan D. London: Welfare and Inequality in Marketizing East Asia, London 2018, S. 367.

[8] Siehe z. B. Tobias ten Brink: Chinesischer Kapitalismus: Entstehung, Verlauf, Paradoxien, Frankfurt a. M. 2013, S. 312–314; Felix Wemheuer: Chinas große Umwälzung: Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem, Köln 2019, S. 219–220; London: Welfare and Inequality (Anm. 7), S. 331 f.

[9] Für eine Bewertung siehe Rüdiger Frank: Die Wirtschaft Nordkoreas: Status und Potenzial, Reformen und Gegenreformen, in: Eun-Jeung Lee/Hannes B. Mosler (Hg.): Länderbericht Korea, Bonn 2015, S. 551–573; Balázs Szalontai/Changyong Choi: China’s Controversial Role in North Koreaʼs Economic Transformation: The Dilemmas of Dependency, in: Asian Survey 53 (2013), H. 2, S. 269–291; Carmelo Mesa-Lago/Jorge Pérez-López: Cuba under Raúl Castro: Assessing the Reforms, Boulder, CO 2013.

[10] Mit dem Gini-Koeffizienten gemessen, war z. B. 2013 die Ungleichheit bei Einkommen in China größer als in den USA und Indien, »Inequality. Gini out of the bottle«, in: The Economist vom 26. Januar 2013; cdn.static-economist.com/sites/default/files/imagecache/640-width/images/print-edition/20130126_CNC828.png (ges. am 3. 9. 2017).

[11] Ching Kwan Lee: Against the Law: Labor Protests in China’s Rustbelt and Sunbelt, Berkeley 2007, S. 10–12.

[12] Siehe z. B. Thomas Bernstein/Li Hua-Yu (Hg.): China Learns from the Soviet Union, 1949–Present, Lanham 2010; Jeanne L. Wilson: ›The Polish Lesson‹: China and Poland 1980–1990, in: Studies in Comparative Communism 23 (1990), H. 3/4, S. 259–279.

[13] Konferenz unter dem Titel »›It’s the economy, stupid!‹ Oder: Von China lernen, heißt siegen lernen? Wie die kommunistischen Staaten ab den 1970er-Jahren auf ökonomische und gesellschaftliche Herausforderungen reagierten« vom 22. bis 24. November 2018 in Berlin.

[14] Wlodzimierz Brus: Geschichte der Wirtschaftspolitik in Osteuropa, Köln 1986, S. 279–287; Wladyslaw Jermakowicz/Jane Thompson Follis: Reform Cycles in Eastern Europe, 1944–1987: A Comparative Analysis from a Sample of Czechoslovakia, Poland, and the Soviet Union, Berlin 1988.

[15] Die Einzelstudien werden hier nicht aufgeführt. Für vergleichende Forschung siehe z. B. Jan Adam: Economic Reforms in the Soviet Union and Eastern Europe since the 1960s, London 1989; Anita Chan/Benedict J. Tria Kerkvliet/Jonathan Unger (Hg.): Transforming Asian Socialism: China and Vietnam Compared, Boulder, CO 1999; Christoph Boyer (Hg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen: Tschechoslowakei und DDR im Vergleich, Frankfurt a. M. 2006; Christoph Boyer (Hg.): Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen: Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich, Frankfurt a. M. 2007; Joachim Becker/Rudy Weissenbacher (Hg.): Sozialismen: Entwicklungsmodelle von Lenin bis Nyerere, Wien 2009; Rüdiger Frank/Sabine Burghart (Hg.): Driving Forces of Socialist Transformation: North Korea and the Experience of Europe and East Asia, Wien 2009; Anita Chan (Hg.): Chinese Workers in Comparative Perspectives Labor in China and Vietnam, Ithaca 2015; Balazs Szalontai/Changyong Choi: The Prospects of Economic Reform in North Korea: Comparisons with China, Vietnam and Yugoslavia, in: Europe-Asia Studies 64 (2012), H. 2, S. 227–246.

[16] Übersicht über die Debatte: Alec Nove/Ian D. Thater (Hg.): Markets and Socialism, Brookfield 1994.

[17] Schon in der sogenannten Kalkulationsdebatte der Zwischenkriegszeit brachte der österreichische Ökonom Ludwig von Mises dieses Argument vor, Ludwig von Mises: Die Gemeinwirtschaft: Untersuchungen über den Sozialismus, 2. Aufl., Jena 1932, S. 93–96. Die finale Krise des Staatssozialismus in Osteuropa bestätigte für liberale Ökonomen empirisch die Richtigkeit der Thesen von Misesʼ.

[18] János Kornai: The Socialist System: The Political Economy of Communism, Princeton 1992, S. 226 f., 466–468, 470.

[19] Ebd., S. 500.

[20] Z. B. Kathryn Stoner/Michael McFaul (Hg.): Transitions to Democracy: A Comparative Perspective, Baltimore 2013.

[21] Andrew G. Walder (Hg.): The Waning of the Communist State: Economic Origins of Political Decline in China and Hungary, Berkeley 1995; Tong Yangqi: Transitions from State Socialism: Economic and Political Change in Hungary and China, Lanham 1997.

[22] Übersicht über die Debatte: Doris Fischer: Comparing Transitions: Insights from the Economic Transition Processes in Former Socialist Countries for Sustainability Transitions, in: Osteuropa-Wirtschaft 55 (2010), H. 4, S. 289–310.

[23] GDP growth (annual %), Russian Federation data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG (ges. am 2. 12. 2019). Für einen Vergleich beider Länder siehe Peter Noland: China’s Rise, Russia’s Fall: Politics, Economics and Planning in the Transition from Stalinism, London 1995.

[24] Barry Naughton: Growing out of the Plan: Chinese Economic Reform, 1978–1993, Cambridge 1995, S. 310.

[25] Janos Kornai: Socialism and Markets: Conceptual Clarification, in: ders./Qian Yingyi (Hg.): Market and Socialism: In the Light of the Experiences of China and Vietnam, New York 2009, S. 22.

[26] Siehe z. B. das »Cold War International History Projekt« des Wilson Center, www.wilsoncenter.org/publication-series/cwihp-working-paper-series (ges. am 5. 11. 2019); Bernd Greiner: Kalter Krieg und ›Cold War Studies‹, Docupedia-Zeitgeschichte (2010), zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/deliver/index/docId/601/file/docupedia_greiner_cold_war_studies_v1_de_2010.pdf (ges. am 8. 4. 2018); die Buchreihe »Studien zum Kalten Krieg« der Hamburger Edition.

[27] Oscar Sanchez-Sibony: Red Globalization: The Political Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev, Cambridge 2014; Uwe Müller/Dagmara Jajesniak-Quast (Hg.): Comecon revisited. Integration in the Eastern Bloc and Entanglements with the Global Economy, in: Comparativ 5 (2017), H. 6.

[28] James Mark/Bogdan C. Iacob/Tobias Rupprecht/Ljubica Spaskovska: 1989: A Global History of Eastern Europa, Cambridge 2019, S. 9 f.

[29] Siehe z. B. Niall Ferguson/Charles S. Maier/Erez Manela/Daniel Sargent (Hg.): The Shock of the Global: the 1970s in Perspective, Cambridge, MA 2011; Johanna Bockman: Socialist Globalization against Capitalist Neocolonialism: The Economic Ideas behind the New International Economic Order, in: Humanity 6 (2015), H. 1, S. 109–128; Besnik Pula: Globalization under and after Socialism: The Evolution of Transnational Capital in Central and Eastern Europe, Stanford, CA 2018; James Mark/Artemy Kalinovsky/Steffi Marung (Hg.): Alternative Globalizations: Eastern Europe and the Postcolonial World, Bloomington, i. E.

[30] Siehe z. B. Willi Dickhut: Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, Stuttgart 1971; André Gunder Frank: Long Live Transideological Enterprise! The Socialist Economies in the Capitalist International Division of Labor, in: Review (Fernand Braudel Center) 1 (1977), H. 1, S. 91–140.

[31] Siehe z. B. Odd Arne Westad: The Global Cold War: Third World Interventions and the Making of our Times, Cambridge 2012; Lorenz Lüthi (Hg.): The Regional Cold Wars in Europe, East Asia, and the Middle East: Crucial Periods and Turning Points, Stanford 2015; Eric Burton (Hg.): Socialisms in Development (special issue), Journal für Entwicklungspolitik XXXIII (2017), H. 3; Jeremy Friedman: Shadow Cold War: The Sino-Soviet Competition for the Third World, Chapel Hill 2018; Bogdan C. Iacob: Sozialistische Transfers im Gesundheitswesen in Afrika in den 1970er-Jahren: Geografische Verschiebung und Wertewandel, in: Ulrich Mählert u. a. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2019, Berlin 2019, S. 139–159. Albert Manke/Katerina Brezinová (Hg.): Kleinstaaten und sekundäre Akteure im Kalten Krieg: Politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle Wechselbeziehungen zwischen Europa und Lateinamerika, Bielefeld 2016.

[32] Z. B. Hannes Lachmann: Die »Ungarische Revolution« und der »Prager Frühling«: Eine Verflechtungsgeschichte zweier Reformbewegungen zwischen 1956 und 1968 (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, Bd. 49), Essen 2017.

[33] Johanna Bockman: Markets in the Name of Socialism: The Left-Wing Origins of Neoliberalism, Stanford 2011, Kapitel 3 und 4.

[34] Julian Gewirtz: Unlikely Partners: Chinese Reformers, Western Economists, and the Making of Global China, Cambridge, MA 2017; für eine kritische Besprechung siehe Isabella M. Weber, in: The China Quarterly (2019), H. 237, S. 257–259.

[35] Solche Ausnahmen sind z. B. Guo Chunsheng: Shehuizhuyi gexin: Cong diqu dao quanqiu de kuozhan (1978–2016) [Innovationen des Sozialismus: Vom Lokalen zur globalen Verbreitung (1978–2016)], Beijing 2018; Xiao Donglian: Zhonghua renmin gongheguo shi: Lishi de zhuangui: Cong boluan fanzheng dao gaige kaifang (1979–1981) [Die Geschichte der Volksrepublik China: Wendepunkt der Geschichte: Von der Ordnung des Chaos zu Reform und Öffnung (1979–1981)], Bd. 10, Hongkong 2008, S. 793–798.

[36] Chris Miller: The Struggle to Save the Soviet Economy: Mikhail Gorbachev and the Collapse of the USSR, Chapel Hill 2016, S. 178–180.

[37] Eine einflussreiche Studie ist z. B. Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent – Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt a. M. 2014.

Inhalt – JHK 2020

Copyright:

Eventuell enthaltenes Bildmaterial kann aus urheberrechtlichen Gründen in der Online-Ausgabe des JHK nicht angezeigt werden. Ob dieser Beitrag Bilder enthält, entnehmen Sie bitte dem PDF-Dokument.

Kurzbiografie