JHK 2021

»Durch das Spiel zum Wissen«

Computerspielzeug als »real existierende Utopie« in der Deutschen Demokratischen Republik

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 87-101 | Metropol Verlag

Autor/in: Mario Bianchini

Die Deutsche Demokratische Republik zeigte sich die meiste Zeit ihres Bestehens über der Zukunft zugewandt. Die Bevölkerung des sozialistischen Staates erinnerte sich nur allzu gut an die Verfolgung der Kommunisten durch die Nationalsozialisten, an die Zerstörung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg oder an das Exil. Auch die Gegenwart war alles andere als tröstlich: Die Bürgerinnen und Bürger der DDR lebten im Schatten des reicheren Westens und kämpften oft damit, als die schwächere Hälfte wahrgenommen zu werden. Angesichts dessen entwarf die DDR eine Rhetorik, die zukünftige Größe voraussagte, die eine Linderung der Not und den endgültigen Sieg des Sozialismus durch ungebremsten technischen Fortschritt versprach. Technologie wurde zum Synonym für eine sozialistische Zukunft; die Investitionen in wissenschaftliche Bildung, Industrialisierung, Kybernetik und Informatik waren deshalb massiv. Diese Technologien, kombiniert mit der beschworenen Kraft der sozialistischen Jugend, waren darauf ausgerichtet, eine »wissenschaftlich-technische Revolution« (WTR) herbeizuführen, die die Menschheit für immer von der Routinearbeit befreien würde. Die sozialistische Technologie schien den führenden Genossinnen und Genossen geeignet, eine kommunistische Utopie zu schaffen.

Diese Vorstellungen waren jedoch von einer tiefen Kluft zwischen Versprechen und Realität gekennzeichnet. Die sowjetische Besatzungsmacht empfahl den Parteifunktionären, Technologien zu entwickeln, um den Mangel an natürlichen Ressourcen auszugleichen und ein Gegengewicht zur sowjetischen Demontage ostdeutscher Fabriken im Namen der Kriegsreparationen zu schaffen.[1] Dadurch waren die 1950er-Jahre von der Propaganda einer technologisch reichen Zukunft der DDR geprägt, die Überfluss auf der Grundlage von Atomenergie versprach.[2] Doch in den 1960er-Jahren wurde das Auseinanderdriften von Versprechen und Realität immer klarer. Verbraucherengpässe, Kohlekraftwerke und minderwertige Technologien verhinderten die Zukunftspläne der DDR bis zuletzt. Im Laufe der Jahrzehnte verlagerten sich die Schwerpunkte der WTR und förderten neue Diskrepanzen zwischen Zukunft und Gegenwart zutage. Diese Unterschiede wurden nach der Machtübergabe von Walter Ulbricht an Erich Honecker in den 1970er-Jahren noch deutlicher. Entschlossen, sich auf das Erreichen des Sozialismus zu konzentrieren, begann die utopische Rhetorik unter Honecker einen ambivalenten Charakter anzunehmen, indem sie die DDR als bestehende Utopie bezeichnete, gleichzeitig aber auch an ihr als Zukunftsvision festhielt. Das Leben in der DDR war also ein Balanceakt zwischen den Versprechen von einer besseren Zukunft und den Realitäten des Alltags.[3]

Dieser Artikel stellt dar, wie die Kluft zwischen den real existierenden Bedingungen und der utopischen Rhetorik überbrückt werden sollte. Insbesondere wird untersucht, wie in den späten 1960er- und 1970er-Jahren mit Computerspielzeug oder Spielzeug, das die Jugend an die Computerprogrammierung heranführen sollte, der Mangel an Computern für die breite Bevölkerung ausgeglichen und zugleich der DDR den Weg an die Spitze der Computertechnologie geebnet werden sollte. Computerspielzeug wird auch als ein Mikrokosmos des sich wandelnden Utopiebegriffs während des Machtübergangs von Walter Ulbricht zu Erich Honecker in den Blick genommen: Von aufsteigenden Visionen eines technologisch bedingten vollständigen Kommunismus unter der Schirmherrschaft des Neuen Ökonomischen Systems zu einer, wie ich es nenne, »real existierenden« Utopie, die behauptete, dass der real existierende Sozialismus bereits Gegenwart sei und dennoch erst in der Zukunft in der Lage wäre, eine bessere Welt zu schaffen.

Der Beitrag ist in vier Abschnitte untergliedert. Der erste Abschnitt befasst sich mit Inhalt und Wesen von Computerspielzeug und damit, wie sie den Geist der WTR bei den Spielenden wecken sollten. Dabei geht es nicht nur um die Artefakte selbst, sondern auch um die utopische Rhetorik, die sie umgab: Spielanleitungen, Verpackungen und Werbeanzeigen. Der zweite Abschnitt erläutert, was mit dem ostdeutschen technologischen Utopismus gemeint ist, der, aus meiner Sicht, ein Hauptantrieb der ostdeutschen Kultur war. Der dritte Abschnitt befasst sich mit dem Ende der 1960er-Jahre, des sogenannten utopischen Jahrzehnts, und untersucht den Charakterwandel der Utopie im Zuge des Konservatismus der Ära Honecker. Der Artikel schließt mit einer Kontextualisierung von ostdeutschem Computerspielzeug im Hinblick auf Spielideen und fasst zusammen, wie diese Computerspielzeuge einen Mikrokosmos der Dialektik zwischen staatlichen Versprechen und »real existierenden« Bedingungen bildeten.

 

 

Computerspielzeug und die sich verändernde Vorstellung von Utopie

 

Walter Benjamin schrieb in seiner Kulturgeschichte des Spielzeugs: »Ist doch das Kind kein Robinson, sind doch auch Kinder keine abgesonderte Gemeinschaft, sondern ein Teil des Volkes und der Klasse, aus der sie kommen. So gibt denn auch ihr Spielzeug nicht von einem autonomen Sonderleben Zeugnis, sondern ist stummer Zeichendialog zwischen ihm und dem Volk.«[4] Dies gilt insbesondere für pädagogisches Spielzeug, das versucht, das Kind nicht nur innerhalb der Geschlechter- und Klassenrollen, sondern auch innerhalb der kulturwissenschaftlichen Agenda zu verorten. Amy Ogata fasst diesen Effekt für die Vereinigten Staaten in der Ära des Kalten Krieges kurz und bündig zusammen: »Although seemingly innocent objects, many ›educational‹ toys – toys intended to teach physical skills or develop cognitive abilities – were embedded in changing ideas about early learning, postwar discussions about national image, and new research on the origins and social significance of creativity.«[5] Rebecca Onion führt diesen Gedanken weiter: »The history of the evolution of this extracurriculum shows how ideas about the nature of rational citizenship have mixed with changing concepts of the nature of education, the meaning of scientific practice, and the proper duties of childhood in creating children’s scientific popular culture.«[6] Kurz gesagt, man könnte auch Steven Gelber zustimmen, dass große Übereinstimmung darüber herrscht, dass Kinder im Spielen ihre gesellschaftliche Rolle kennenlernen und ausüben.[7]

Mithilfe von Computerspielzeug trat die DDR-Jugend in einen »stillen Dialog« mit dem eigenen Land und übte soziale Rollen ein, die sehr stark in einer sozialistischen technologisch-utopischen Gesellschaft verankert waren, auch wenn der Optimismus der 1960er-Jahre einem pragmatischeren Ansatz wich. Dieser Ansatz begleitete die Kinder bis ins junge Erwachsenenalter. Zum Beispiel versicherte Vom Sinn unseres Lebens, das letzte der von 1983 bis 1989 gedruckten Jugendweihe-Lehrbücher, den Heranwachsenden: »Viele Generationen vor uns schöpften Lebensmut, Hoffnung und Zuversicht aus Vorstellungen von einer besseren Zukunft. Solche Vorstellungen, ausgedrückt in Mythen, Märchen, Utopien und wissenschaftlichen Theorien, waren gewiß von recht unterschiedlicher Natur. Doch in der Konsequenz liefen sie meist und immer wieder auf eine Zukunftsvorstellung hinaus: auf die Idee des Kommunismus – einer Gesellschaftsordnung, in der alle Menschen gleich wohlhabend, gleichberechtigt, friedlich und brüderlich miteinander leben. Heute ist das Ideal des Kommunismus kein bloßer Traum mehr, sondern ein wissenschaftlich begründetes und realistisches Ziel revolutionärer Weltveränderung.«[8]

In diesem Verständnis musste die Jugend heranwachsen, um zu erkennen, dass der Kommunismus kein Traum war, sondern ein bereits in Gang gekommener Prozess, bei dem die Technologien des Ostblocks eine Schlüsselrolle spielten. So verschwand der Geist der Utopie beim Übergang von Ulbricht zu Honecker nicht, sondern wirkte in einer gemäßigteren Form weiter: Die DDR hielt an der utopischen Rhetorik der WTR in Bereichen wie Schule und Jugendweihe fest und konzentrierte sich strikt auf die technisch-naturwissenschaftliche Bildung und den Aufbau von Fertigkeiten, in der Hoffnung, schließlich die westlichen Technologien zu übertreffen. Das heißt, es wurde versucht, utopische Impulse zu beherrschen, indem man argumentierte, dass die DDR bereits eine existierende Utopie sei, eine, die in der Lage sei, gegenwärtige Wünsche zu erfüllen, anstatt einfach nur ein Versprechen auf Belohnung in einer unbestimmten Zukunft aufrechtzuerhalten.

Computer, und damit Computerspielzeug, spielten in der utopischen Rhetorik der letzten beiden Jahrzehnte der DDR eine sehr wichtige Rolle. Im Laufe der 1970er-Jahre versuchten ostdeutsche Parteifunktionäre, den Fokus von amorphen Konzepten der Kybernetik auf das utopische Potenzial des Computers zu verlagern.[9] Dazu musste der Staat jedoch sowohl Computer herstellen als auch die Benutzerinnen und Benutzer in ihrer Anwendung schulen. Staatliche Industriebetriebe wie der VEB Kombinat Robotron stellten zwar Computer her, doch hatten breite Teile der Bevölkerung darauf überhaupt keinen Zugriff. Die Herstellung war kostspielig, und da sie für die politische Utopie so zentral waren, wurde exakt gesteuert, was die Öffentlichkeit über die Computer wissen durfte. Ihre Verwendung war auf genehmigte Ausbildungsstätten beschränkt.[10] Wie schon häufig zuvor wurde der Jugend das Versprechen gegeben, aber auch zugleich von ihr selbst verlangt, die Zukunft des technologischen Sozialismus voranzutreiben. Allerdings war auch ihr der Zugang zu den Computern verwehrt, die sie zum Lernen brauchte. Daher benötigte der Staat etwas, womit er die Lücke zwischen Versprechen und Realität füllen konnte, etwas, um die Jugend auch ohne Zugang zu teuren Computern auszubilden.

Deshalb wurde das Unternehmen PIKO (Pionierkonstruktion) beauftragt, Computerspielzeug wie PIKO dat, PIKOtron und Kybernet herzustellen, um das Interesse an der Elektronik bzw. Informatik zu wecken und technische Fertigkeiten zu vermitteln. PIKO wurde 1962 als Volkseigener Betrieb gegründet[11] und stand für die soziale Vision von der sozialistischen Pionierorganisation, deren Motto das Ziel von Lernspielzeug in der DDR auf den Punkt bringt: »Durch das Spiel zum Wissen.«[12] PIKO-Produkte wiesen auch auf die Bedeutung des Übens von technischen Fähigkeiten hin. In der Bedienungsanleitung für das PIKOtron steht: »Der Raum für praktische Betätigung aber bleibt klein. Dem stärker Interessierten genügt das nicht. Seinen Bedürfnissen kommen Elektronik-Arbeitsgemeinschaften entgegen, in denen sich Gleichgesinnte zusammenfinden. Erfahrene Lehrer und Techniker leiten sie an.« [13] Unter dem wachsamen Auge der staatlichen Pionierorganisation bzw. der Gesellschaft für Sport und Technik konnte sichergestellt werden, dass junge Ingenieurinnen und Ingenieure ihre Entwürfe im Einklang mit den Vorstellungen des Staates erarbeiteten. 

PIKO dat (1969) und PIKOtron (1971) sind zwei Musterbeispiele für Lernmaschinen. Sie sollten die praktischen Fertigkeiten vermitteln, die die Heranwachsenden eines Tages im Dienste der technologischen Revolution der DDR würden einsetzen können. Das erste Computerspielzeugprodukt von PIKO, der PIKO dat, war eine kleine Plastikdose mit einer Lampenreihe an der Oberseite und verschiedenen Anschlusspunkten für Drähte. Benutzerinnen und Benutzer konnten den kleinen Computer programmieren, indem sie Drähte zwischen den Lampen und Knöpfen anordneten. Der PIKO dat war mit voreingestellten »Programmen« ausgestattet, die die Anwenderin oder der Anwender selbst zusammenstellen konnte. Dazu gehörten Quizfragen, Mathematikaufgaben und sogar ein einfaches »Computerhockey«-Spiel. Aber PIKO stellte auch Modelleisenbahnen her, daher war das anspruchsvollste Programm, das PIKO dat anbot, für die Synchronisation und Steuerung von PIKO-Zuggarnituren gedacht und fungierte als Stellwerk. Junge Modellbauer wurden gebeten, das Stellwerk entsprechend ihren Vorstellungen neu zu gestalten. Das PIKO-Stellwerk war nicht einfach nur ein Regler, sondern ein hervorragendes und praktisches Beispiel für die Verwendung der Booleschen Algebra.[14] Darüber hinaus konnten die Zugbewegungen durch den Kleinrechner gesteuert werden, wenn der Anwender den PIKO dat in PIKO-Modellbahnanlagen installierte. Zugbewegungen wurden in Logikprobleme umgewandelt. Zum Beispiel wurde die Frage, wann ein Zug fährt, umformuliert in: »Unter welchen Bedingungen ist eine Reise zu einem Bahnhof ungehindert möglich?« Wenn das Programm einen unbesetzten Bahnhof fand, schickte es einen Zug dorthin, und auf dem Display erschien »Zum Bahnhof!«. Auf diese Weise wollte PIKO das Spiel mit der Modelleisenbahn in etwas umgestalten, das der Computerprogrammierung ähnelte, und die Jugend so an eine technologische Zukunft heranführen. [[Abb_1-3_ PIKO dat: Verpackung, Zubehör und Lernmaschine]]

Es wurde viel Wert darauf gelegt, praktisches Computerwissen zu vermitteln. In einem Artikel der Berliner Zeitung mit dem Titel »Spielzeug-Computer Pikodat kann alles« interviewte Michael Müller den bei PIKO für Absatz und Bilanzierung zuständigen Wolfgang Stephan über seine Sicht auf das Gerät: »Der Spielzeug-Computer, der in Baukastenteilen geliefert wird, ist eine Kombination von Lernmaschine, Partner für Unterhaltungsspiele und Überwachungszentrum, z. B. für Modelleisenbahnen. Neben der ›spielenden‹ Vermittlung von Wissen regt Pikodat zum logischen Denken an, bietet den Kindern die Möglichkeit, eigene Ideen in die Praxis umzusetzen, und erläutert daneben die wichtigsten Grundlagen der Computertechnik«, so Wolfgang Stephan über die Ziele, die sich die Väter von PIKO dat gestellt hatten.[15]

Ein weiteres PIKO-Produkt, der Experimentierbaukasten PIKOtron, wurde ebenfalls als Lerngerät angeboten. Der PIKOtron wurde, ähnlich wie der PIKO dat vor ihm, auch durch die Neuanordnung von Drähten programmiert. Der PIKOtron ließ sich allerdings in ein kleines Radio oder einfach in ein Objekt für elektronische Experimente verwandeln. Als solches wurde der PIKOtron sowohl für Anfängerinnen und Anfänger als auch für angehende Expertinnen und Experten beworben. Junge Schülerinnen und Schüler sollten mit ihm die Grundlagen der Elektronik erlernen, während erfahrenere Kinder und Jugendliche auf dem bereits Gelernten aufbauen konnten. Im Gegensatz zu Dingen, die die Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer oder auf den Seiten von Lehrbüchern erfuhren, erlaubte der PIKOtron ihnen, das Gerät sogleich selbst zu programmieren, um dann sofort die Ergebnisse ihrer Experimente zu sehen. »Der Blinker blinkt tatsächlich, der lichtempfindliche Schalter läßt die Lampe leuchten, wenn es draußen dunkel geworden ist, und der kleine Rundfunkempfänger erfreut uns mit Musik, wenn – ja, wenn eben alles richtig zusammengesetzt wurde.«[16] Der PIKOtron fungierte als eine weiterentwickelte Version des PIKO dat. Mit ihm schufen die Benutzerinnen und Benutzer tatsächlich funktionsfähige Geräte, anstatt umständliche Quizmaschinen. Dank PIKOtron und PIKO dat konnten Schülerinnen und Schüler auch außerhalb des Klassenzimmers in ihrer Freizeit ihre Kompetenzen erweitern. [[Abb. 4_ Cover des PIKOtron-Anleitungsheftes]

Über die praktische Vermittlung von Fähigkeiten hinaus dienten diese Spielzeuge auch als Bühne für die praktische Vermittlung der Utopievorstellungen des Staates. Die Bedienungsanleitungen sowohl für den PIKO dat als auch für den PIKOtron erläuterten auf ihren Einführungsseiten die utopischen Möglichkeiten des Computers: »In einer Zeit, in der Flugzeuge mit Überschallgeschwindigkeit die Kontinente überqueren, in der sich Wissenschaft und Technik immer stürmischer entwickeln, rüstet sich der Mensch zum Griff nach den Sternen. Noch nie stand den Menschen eine solche Fülle von Erkenntnissen, Wissen und Erfahrungen zur Verfügung als in unserer Zeit. Um die ständig komplizierter werdenden Aufgaben in Wissenschaft und Technik zu lösen, muss auch der Mensch neue Hilfsmittel schaffen. Hilfsmittel, die es ihm ermöglichen, seine Gedanken von der Routinearbeit zu entlasten, um sie in den Dienst der schöpferischen Weiterentwicklung zu stellen. Ein solches Hilfsmittel ist der COMPUTER.«[17]

Der PIKOtron setzte diesen Trend fort und begann seine Anleitung wie folgt: »Die Elektronik gewinnt in unserem Leben immer mehr an Bedeutung. Sie erleichtert die Arbeit des Menschen, vervielfacht seine Produktivität, befreit ihn von vielen ermüdenden Routineleistungen und gestattet die Automatisierung der Produktionsprozesse. Elektronische Einrichtungen lenken den modernen Verkehr, und selbst im Haushalt kommen wir ohne elektronische Geräte nicht mehr aus. Das beweisen allein schon die vielen Millionen Rundfunk- und Fernsehempfänger. Je mehr die Elektronik unser tägliches Leben beeinflußt, um so mehr Menschen müssen in der Lage sein, sich ihrer nicht nur zu bedienen, sondern auch zu verstehen.«[18]

An der Sprache dieser Anleitungshefte lässt sich der Übergang vom aufstrebenden Utopismus der 1960er-Jahre zum »real existierenden« Utopismus der Honecker-Ära ablesen. Während das angestrebte Ziel des pädagogischen Spielens für beide Geräte galt (Spielen und der gleichzeitige Erwerb der technischen Kompetenz), klingt die pathetische Sprache des PIKO dat beim PIKOtron wesentlich pragmatischer, indem sich der Fokus von der Lösung der drängendsten Fragen in Wissenschaft und Technik hin zu mehr Radio und Fernsehen in den ostdeutschen Haushalten verschob. Doch das Ziel, den Menschen das Leben zu erleichtern, blieb in beiden Fällen immer noch ein Versprechen, eine scheinbar unausweichliche Notwendigkeit. Auch deshalb gehörte es zu den Pflichten der DDR-Jugend, die notwendigen technischen Fähigkeiten zu werben.  

Zwischen 1975 und 1985 produzierte PIKO ein weiteres Lernspielzeug: das programmierbare Computerauto PIKO Kybernet. Äußerlich erinnerte es an ein futuristisches Weltraumfahrzeug und wurde über eine zentrale »Steuerscheibe« gelenkt. Um den Wagen zu programmieren, fügte das Mädchen oder der Junge kleine farbige Steinchen auf der Steuerscheibe ein, um ein Programm für die Fahrtrichtungen des Wagens zu erstellen. Ein gelbes Steinchen wies das Auto an, nach links zu fahren, ein blaues geradeaus und kein Steinchen bedeutete rechts. Im Gegensatz zu PIKOtron und PIKO dat davor enthielt die Bedienungsanleitung des Kybernet keinerlei Einführungsseiten, um den Wert der Technologie für den Sozialismus zu erklären. Vielmehr beschrieb die Broschüre die genaue Verwendung des Geräts in vielen Sprachen, damit es exportiert werden konnte. Der Utopismus des Computerspielzeugs verbarg sich allein in der Gestaltung des Objekts: Die Frontscheibe des Kybernet zeigte die Abbildung eines Mannes, der aussah wie ein Kosmonaut in einem weißen Schutzanzug mit einem weißen Helm, auf dem in der Mitte ein Stern prangte. Er saß an einem großen futuristischen Computerterminal, das mithilfe einer zentralen Platte gesteuert wurde, die die eigentliche Steuerscheibe des Autos widerspiegeln sollte, die sich auf der Motorhaube des Wagens befand. Um ihn herum waren zahlreiche andere Computerterminals angeordnet. In dieser farbenfroh und kompliziert anmutenden Gestaltung sollte der Fahrer als multitaskingfähiges Beispiel des neuen sozialistischen Arbeiters gezeigt werden, wie es in der späteren ostdeutschen Rhetorik üblich war: mehr ein Meister der Maschinen als ein Routinearbeiter. So spiegelt auch der Kybernet den Wandel zu einem pragmatischeren Utopismus wider, in dem technologischer Fortschritt immer noch entscheidend für eine sozialistische Zukunft ist, jedoch bestimmt durch ein überlegtes Vorgehen in der Gegenwart. 

Alle diese Spielzeuge waren trotz der wechselnden Politik Ausdruck des technologischen Utopismus. Jedes von ihnen trug in Form und Inhalt die Vision von einer besseren Zukunft in sich und war zugleich eine Aufforderung an die Jugend der DDR, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen.

 

 

Technologischer Utopismus

 

Um den Einsatz eines jeden Spielzeuges in seinem zeitlichen Kontext besser zu verstehen, ist es notwendig, den technologischen Utopismus der DDR genauer zu untersuchen. Obwohl es nie vollständig verwirklicht werden konnte, hatte das Konzept einer sozialistischen technologischen Utopie Auswirkungen auf die reale Welt der DDR. Beispiele für kultur-technologischen Utopismus gibt es reichlich: Die evangelische Konfirmation und die katholische Firmung wurden durch die Jugendweihe ersetzt, in deren Rahmen die Jungen und Mädchen aufgefordert wurden, ihren Glauben an die Wissenschaft statt an Gott zu bekräftigen und technologische und historische Entwicklungen als eine Einheit zu betrachten.[19] Sportmannschaften wurden nach bedeutenden Industriebetrieben benannt. Die Athleten wurden mit Doping und aufwendig hergestellter Sportausrüstung zu Höchstleistungen getrieben, sodass die DDR die Wirksamkeit ihrer Technologien in internationalen Wettbewerben wie den Olympischen Spielen testen konnte.[20] Technisch-kulturelle Prestigeprojekte wie der Berliner Fernsehturm durchzogen die Städte. Die Bildung verlagerte den Schwerpunkt auf wissenschaftliche und technische Bereiche und sorgte dafür, dass Spielzeug, wie bereits gezeigt, utopische Ideale an die Jugend herantrug. Im Buchgeschenk zur Jugendweihe Vom Sinn unseres Lebens heißt es dazu: »(…) auch wenn wir nicht in Überfluss leben und uns manches immer wieder neu und schwer erarbeiten müssen, werden die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik wie das ganze materielle, kulturelle und geistige Potential zum Nutzen des Menschen eingesetzt, für seine wirkliche Befreiung von Not und Mühsal, für seine Bildung und Kultur, damit er die Natur und Gesellschaft immer umfassender beherrscht und seine Kenntnisse und Fähigkeiten für das Wohl und das Glück aller zu gebrauchen imstande ist«.[21] Während der Begriff »Utopie« in der zeitgenössischen Rhetorik selten explizit verwendet wurde, war der terminologische Stellvertreter, die WTR, allgegenwärtig und lauerte hinter jedem Anspruch auf künftige sozialistische Vormachtstellung. Das Konzept der WTR wurde erstmals 1954 von dem britischen Biologen John Desmond Bernal, der selbst ein Anhänger des Kommunismus war, in Science in History beschrieben. Er legt dar, wie technologischer Fortschritt dazu beitragen sollte, die sozialen Ordnungen auf der Welt auf den Kopf zu stellen, wie es einst die industriellen Revolutionen der Vergangenheit vermocht hatten.[22] Natürlich kam diesem Konzept in den staatssozialistischen Ländern eine ganz andere Bedeutung zu als in den kapitalistischen Ländern. Für viele Länder des Ostblocks wohnte der WTR das utopisch-technologische Potenzial zur Erreichung des Kommunismus nach Marx inne.[23]

Nur ein Jahr nach der Gründung der DDR im Oktober 1949 forderte das »Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung« eine Neugestaltung der Kultur der Nachkriegszeit zugunsten einer neuen ostdeutschen Nation, die Wissenschaft und Technik fördern solle. Solche Bemühungen standen in dem Bestreben, die Kultur in ihrer Gesamtheit zu mobilisieren. Zum Beispiel hieß es in dem Gesetz: »Es ist eine hohe Pflicht aller Schriftsteller und Dichter, an der Schaffung einer neuen Jugend- und Kinderliteratur mitzuwirken, die die demokratische Erziehung der heranwachsenden Generation fördert. Alle Gelehrten und Fachschriftsteller haben die hohe Aufgabe, durch Schaffung volkstümlicher, wissenschaftlicher und technischer Literatur der Jugend Kenntnisse in den Hauptfragen der modernen Naturwissenschaften und Technik zu vermitteln.«[24] Dies würde dann eine größere und breitere Beteiligung am technologischen Fortschritt ermöglichen: »Den Kindern der Arbeiter, Bauern, der werktätigen Intelligenz und der Handwerker sind die Tore zur Wissenschaft weit geöffnet worden. Ein Drittel aller Schüler der Oberschulen der Republik sind Kinder von Arbeitern, Bauern und Handwerkern, während im Jahre 1939 ihr Anteil nur 5 bis 7 % betrug. An den Hochschulen hat sich die Zahl der Studenten gegenüber der Vorkriegszeit verdoppelt.«[25]

Nach und nach wurden erste Erfolge sichtbar. Die WTR führte zu einer Polytechnisierung der Gesellschaft. Aus ihr sollten Ingenieurinnen und Ingenieure hervorgehen, denen sowohl technische Fähigkeiten als auch ein sozialistisches Bewusstsein zu eigen waren. Die Betonung der wissenschaftlich-technischen Ausbildung an den polytechnischen Schulen sollte diese Entwicklung vorantreiben. Dazu musste das Bildungswesen der DDR umgestaltet werden. Unter dem Dach der technologisch-sozialistischen Revolution wurden Schullehrpläne entworfen, die dafür sorgen sollten, dass künftig technische Fertigkeiten in Verbindung mit marxistischen sozialistischen Werten vermittelt würden.[26] So stand beispielsweise zu Beginn des »Gesetzes über das einheitliche sozialistische Bildungssystem« von 1965: »Die wichtigsten Ziele beim umfassenden Aufbau des Sozialismus bestehen darin, die technische Revolution zu meistern, die nationale Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik zu entwickeln, die Produktion und die Arbeitsproduktivität auf der Grundlage des höchsten Standes von Wissenschaft und Technik, vor allem in den führenden Zweigen und durch die Anwendung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft zu steigern.«[27] Im Schulgesetz gab es zahlreiche Beispiele, die die Bedeutung der technischen Revolution hervorhoben, die wiederum nur mithilfe aller Schülerinnen und Schüler und unter Beachtung in allen Fächern, ob Geschichte oder Physik, gelingen könne.[28] Der Staat erklärte auch die wissenschaftlichen Methoden zu den Leitprinzipien der Bildung im Allgemeinen: »Die Studenten sind zum selbständigen Denken und zur Beherrschung wissenschaftlicher Arbeitsmethoden zu erziehen, damit sie in ihrer beruflichen Tätigkeit nach neuen Erkenntnissen streben und ihr Wissen und Können ständig erhöhen.«[29] Dasselbe Gesetz betonte auch die Bedeutung der Geschlechterparität und der Integration von Frauen und Mädchen in die technische Arbeitswelt und erklärte: »Das Streben der Frauen und Mädchen nach höherer beruflicher Qualifikation ist durch vielfältige und differenzierte Formen und Methoden zu fördern. Sie sind zu Facharbeitern auszubilden und für den Einsatz in mittleren und leitenden Funktionen vorzubereiten. Der Ausbildung von Frauen und Mädchen für technische Berufe ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.«[30] Darüber hinaus veranlasste das Ministerium für Wissenschaft und Technik den Bau von Klubhäusern und Bibliotheken in Zusammenarbeit mit der Industrie, um eine enge Verknüpfung von Produktion und Freizeitgestaltung zu gewährleisten, während die Freie Deutsche Jugend oder die Gesellschaft für Sport und Technik die Jugend an wissenschaftliche sozialistische Werte heranführen sollte.[31] All dies gipfelte in der ab 1958 jährlich stattfindenden Messe der Meister von Morgen (MMM), bei der Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten Designs und Technologien präsentieren durften, die das Potenzial hatten, von der Konsumgüterindustrie aufgenommen zu werden.[32] [[Abb.5_»Messe der Meister von morgen« 1960: Kurt Hager wird von einem Mitglied der Arbeitsgemeinschaft »Junge Weltraumforscher« begrüßt; Abb.6_»Messe der Meister von morgen« 1988: Beratung einer Besucherin zur neuesten Informationstechnik]]

 

 

Aufstieg und Fall des utopischen Jahrzehnts

 

Selbstverständlich ist Utopie ein wandelbares, gesellschaftlich definiertes Konzept.[33] In der DDR änderte sich die Vorstellung von einer besseren Zukunft um 1970 im Zuge des Machtwechsels und der technologischen Entwicklung. In der frühen DDR wurde eine Zukunft propagiert, in der Atomenergie eine Schlüsselrolle spielen sollte.[34] Mit dem Start des Sputnik 1957 und dem anschließenden »Wettlauf ins All« konzentrierte sich der Technikutopismus auf die Raumfahrt und eine bessere Zukunft der Menschen inmitten der Sterne.[35] Doch als sich der Wettlauf zugunsten der Amerikaner entschieden hatte, fingen die Konzepte der Kybernetik und ihre Weiterentwicklung zum Computer an, die utopische Rhetorik des letzten Jahrzehnts des Sozialismus zu beherrschen.[36]

Das jeweilige Verständnis von Utopie prägte die Kultur der einzelnen Jahrzehnte in der Geschichte der DDR und diente als sozialer »Klebstoff«. Wie Oliver Sukrow bemerkte, trugen Zukunftsbilder in der DDR dazu bei, ein Gefühl der Stabilität in der Gegenwart aufzubauen. Martin Sabrow führte diesen Gedanken weiter aus und behauptete, dass Zukunftsbilder in den populären Medien als »Legitimationsquelle« wirkten.[37] Diese Ideen wurden in der Einleitung des Sammelbandes Das Kollektiv bin ich aufgegriffen. Utopie hat demnach eine doppelte Funktion: Einerseits diente die Utopie der Legitimierung der Gegenwart, indem der Staat behauptete, dass die Bevölkerung an der Schaffung einer perfekten Zukunft für die Gesamtheit seiner Bürgerinnen und Bürger arbeite. Andererseits diente das Sprechen über die zukünftige Nation dazu, Kritik abzuwehren, indem zugesichert wurde, dass die Probleme von heute morgen gelöst sein würden.[38] Auf diese Weise schuf die kollektive Hoffnung auf eine gemeinsam vereinbarte Zukunft, so vage sie auch definiert war, ein Gefühl, zusammen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten.

Von einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als »Utopisches Jahrzehnt« bezeichnet, waren die 1960er-Jahre von wirtschaftlichen Experimenten und neuen Zukunftsbildern geprägt.[39] Zu diesen Entwicklungen zählte vor allem das Neue Ökonomische System (NÖS), das versuchte, einen Teil der zentralisierten Macht der SED an eine neue Klasse von Technokraten jenseits der inneren Kreise der Partei zu übertragen.[40] Im Rahmen des NÖS arbeiteten Ingenieurinnen und Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zusammen, um die Mängel der Planwirtschaft zu überwinden, wie das Fehlen von öffentlichen Preisankündigungen oder die übermäßige Konzentration auf die Schwerindustrie.[41] Oliver Sukrow stellt zusammenfassend fest: »So glaubte man, nicht nur die Zukunft der Kultur in der DDR vorhersagen zu können, sondern auch rationelle Wege zu finden, um diese Zukunft schrittweise herbeiführen und mittels der Prognose einen normierenden Einfluss auf die Gegenwart nehmen zu können.«[42]

Anlässlich der 9. Tagung des Zentralkomitees der SED 1973 verkündigte Erich Honecker den Beginn des »real existierenden« Sozialismus in der DDR.[43] Unter Berufung auf die Welle internationaler Anerkennung der DDR durch die westliche Welt Anfang der 1970er-Jahre plädierte Honecker für einen fortgesetzten Glauben an die Verheißungen des Marxismus, warb aber dafür, dass diese angesichts der materiellen Realitäten des Sozialismus, so, wie er existierte, angepasst werden müssten.[44] Der »real existierende« Sozialismus würde die Kluft zwischen dem ideologischen Versprechen und der gelebten Alltagserfahrung überbrücken. Das Ergebnis war ein Utopiebegriff von dialektischer Anziehungskraft: Einerseits betonte die ostdeutsche Rhetorik die absolute Notwendigkeit, in Zukunft eine Welt der sozialistischen Technologie aufzubauen, während andererseits die kommunistische Propaganda die Auffassung vertrat, eine solche Welt sei im Osten bereits verwirklicht. Die »real existierende« Utopie war das gelebte Dazwischen, der Versuch, den Begriff der Zukunft mit den materiellen Realitäten des gegenwärtigen Augenblicks zu bewältigen. Aus meiner Sicht ist der Begriff der Utopie auch über die 1960er-Jahre hinaus in der DDR präsent gewesen, er hat einfach nur seine Form verändert. Was unter Honecker blieb, war ein gelenktes, sorgfältiger kontrolliertes und pragmatischeres Konzept der Utopie.

Der Wechsel von Ulbricht auf Honecker, die Abschaffung des NÖS sowie die Rückkehr zu einer strikten Parteilinie ab den 1970er-Jahren hat viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler veranlasst, das Ende der Utopie zu erklären. Wenn diese Experimente implizit oder explizit als gescheitert gelten würden, wie könnte dann ein Konzept der zukünftigen Utopie weiter bestehen? Hierzu erklärte Martin Sabrow: »Zukunftsverlust und Fortschrittsverlust spiegeln die Aushöhlung eines auf das Neue gerichteten Zeitverständnisses in der politischen Kultur des SED-Staats, dessen ursprüngliche Mobilisierungskraft sich am Ende gegen diesen Staat selbst richtete und ihn als eine erstarrte Welt ohne Zukunft demaskierte.«[45] Wenn aber, wie oben dargelegt, die Utopie sowohl als Legitimationsquelle als auch als kultureller Emulgator für den ostdeutschen Staat diente, wie hat dieser Staat dann über die 1960er-Jahre hinaus existieren können? Wie konnte dieser Staat »ohne Zukunft« tatsächlich in die Zukunft hinein existieren?

Mit der Aufforderung Honeckers an seine Bürgerinnen und Bürger, den Sozialismus so zu akzeptieren, wie er war, war auch die implizite Aufforderung verbunden, die DDR als eine zumindest teilweise bereits existierende Utopie zu sehen. Dies schloss Gedanken über zukünftige Verbesserungen nicht aus, sondern bedeutete vielmehr, dass solche Verbesserungen das System in seiner jetzigen Form weiterentwickeln würden, anstatt seinen grundlegenden Charakter zu verändern. Genau diesen Prozess beschreibt der Historiker Eli Rubin in seinem Buch Amnesiopolis. Die Bauprojekte der 1970er-Jahre in Ostdeutschland wurden, so Rubin, von den gleichen hohen utopischen Idealen der 1960er-Jahre bestimmt, seien aber auf die materiellen Realitäten der damaligen Zeit ausgerichtet gewesen. [46]

Dieser »real existierende« Utopismus wird besonders in dem zwischen 1975 und 1983 verwendeten Buch zur Jugendweihe, Der Sozialismus – deine Welt, deutlich. Dort findet sich ein Artikel von Gerd Irrlitz mit dem Titel »Uralte Sehnsucht der Menschheit«. Irrlitz zufolge war der älteste Wunsch der Menschheit nicht etwa etwas so Grundsätzliches wie magische Unsterblichkeit, sondern vielmehr eine technologische Utopie: der vollkommene Staat, Freiheit von Mangel, Befreiung der Menschheit von den Fesseln des mühseligen Daseins. Irrlitz zeichnet die sozialistisch-utopistischen Träumer von einst nach, indem er ausgehend von Thomas Morus, Karl Marx, Robert Owen, Francis Bacon, Henri de Saint-Simon und Charles Fourier Linien zu ihrem logischen Endpunkt zieht: der Deutschen Demokratischen Republik.[47]

Als selbst ernannte Erbin alter utopischer Ideen geriet die DDR in die Falle, sich selbst zum bestehenden logischen Endpunkt der Morusʼschen Utopie zu erklären, aber auch eine technologische Zukunft zur Lösung der Probleme ihrer Zeit konstruieren zu müssen. Diese Dialektik der Utopie, der Sog, eine bessere Zukunft herbeiführen zu wollen und gleichzeitig zu behaupten, Ostdeutschland sei bereits eine Art Utopie, wurde auch auf die vorgestellten Computerspielzeuge übertragen. Je größer der Abstand zum utopischen Jahrzehnt, desto mehr wich die Rhetorik, die die Produktion der Spielzeuge umgab, einer funktionalen Vermittlung von Fähigkeiten, die für das Funktionieren des Landes als notwendig erachtet wurden. Wie der PIKO Kybernet zeigt, wurde die Notwendigkeit dieser Fähigkeiten für den Aufbau einer Zukunft ohne Not und Plackerei mehr angedeutet als ausgesprochen.

 

 

Der Computer als Konsummedium

 

Als Honecker die politische Aufmerksamkeit auf die Konsumgüterindustrie konzentrierte, verlagerte sich auch die Verantwortung für die Ausbildung der Jugend am Computer auf ein Konsumprodukt. Denn es zeigte sich, dass die Computer-Massenproduktion offenbar keine großen Scharen von technologisch ausgebildeten jungen Fachkräften hervorbringen würde. Das soll nicht heißen, dass Spielzeug davor kein Konsumgut war, aber mit einem stärkeren Augenmerk auf diese Güter würde die Bedeutung solcher Spielzeuge weiter wachsen. Mit dem Aufkommen des »real existierenden« Sozialismus würde die Ära Honecker eine konsumsozialistische Utopie, eine Fortsetzung der Planwirtschaft mit einer umfangreichen Produktion von Konsumgütern.[48]

Diese Verschiebung stand in Einklang mit Honeckers Ziel, einen konsumorientierten Sozialismus zu schaffen, der die Menschen im gegenwärtigen Moment glücklich machen würde, ohne jedoch den sozialen Zusammenhalt aufzugeben, den die Vorstellung von einer gemeinsam erschaffenen Zukunft bot. Auf diese Weise bot Computerspielzeug die Möglichkeit, die Utopie auch den Jüngsten nahezubringen, in der Hoffnung, dass sie diese in der Zukunft verwirklichen würden.

Wie gezeigt, verwendete der Elektronikspielzeughersteller PIKO auf seinen Verpackungen und in den Anleitungsheften eine teils pathetische utopische Rhetorik. Computerspielzeug galt als ideales Medium, in dem alle Elemente für den Aufbau der Zukunft vereint waren: die Vermittlung technischer Fähigkeiten, die Vermittlung sozialistischer Werte und das Streben nach einem Gerät, das darauf ausgerichtet war, die Menschheit von den täglichen Mühen der Routinearbeit zu erlösen. Der neue Utopismus unter Honecker wurde stärker in den »real existierenden« Sozialismus eingebunden, für den er stand. Dieser Übergang zur Orientierung auf die Verbraucherinnen und Verbraucher war nicht nur ein auf die DDR beschränktes Phänomen – in Rumänien beispielsweise spiegelte das Brettspiel »Bunul Gospodar« explizit die Entwicklung des Konsumsozialismus in der Praxis wider, indem die Spielerinnen und Spieler den Warenaustausch nachspielten.[49] In der DDR setzte sich mit dem PIKO-Computerspielzeug eine lange Linie technisch-utopischen Denkens fort, die die Kultur und Bildung bestimmte.

Karl Böhm und Rolf Dörge zeichnen in Unsere Welt von Morgen Bilder eines zukünftigen kommunistischen Paradieses, in dem die Nahrungsmittel zentralisiert produziert und automatisch an die Haushalte verteilt würden und die Menschen in Luxus in sauberen, glänzenden Städten lebten, die durch blitzschnelle Verkehrsmittel miteinander verbunden wären.[50] Die Gemälde des in die DDR übergesiedelten spanischen Malers Josep Renau schmückten die Gebäude und Museen der DDR und stellten eine Menschheit dar, die mithilfe der Technik die Natur beherrscht.[51] Die theoretischen Großhügelhäuser des Architekten Josef Kaiser sollten eine von Verkehrs- und Lärmbelastungen befreite, für Grün und Tageslicht offene Stadt schaffen.[52] Aber in erster Linie ging es bei allen WTR-Imaginationen um ein Konzept, das für Marxʼ Versprechen vom Kommunismus grundlegend war: die Beseitigung von Routinearbeit und menschlichen Strapazen.[53] Während sich das Vehikel, das zu dieser Eliminierung beitragen sollte, im Laufe der Zeit änderte, schien es, dass das Versprechen des Computers das größte Potenzial in sich barg, die Menschheit tatsächlich von der Arbeit zu befreien.

Wir leben heute in einer Welt, in der Computer im Überfluss vorhanden sind, aber menschliche Strapazen weiter bestehen. Vielleicht könnte nur eine kommunistische Struktur, die dem Computer zugrunde liegt, die menschliche Mühsal vollständig beseitigen – oder vielleicht war der Computer selbst immer ein utopisches Projekt.

 


* Mein besonderer Dank gilt Sabine Stach und Juliane Brauer für die Unterstützung und Bearbeitung früherer Versionen dieses Aufsatzes.

[1] Hartmut Berghoff/Uta A. Balbier: From Centrally Planned Economy to Capitalist Avant-Garde?: The Creation, Collapse, and Transformation of a Socialist Economy, S. 3–16 sowie Burghard Ciesla: Winner Takes All. The Soviet Union and the Beginning of Central Planning in Eastern Germany, 1945–1949, S. 53–77, beide in: Hartmut Berghoff/Uta A. Balbier (Hg.): The East German Economy, 1945–2010. Falling Behind or Catching Up?, Cambridge 2014.

[2] Karl Böhm/Rolf Dörge: Unsere Welt von Morgen, Berlin 1959; dies.: Gigant Atom, Berlin 1957; dies.: Auf dem Weg zu fernen Welten, Berlin 1958.

[3] Näheres zum ostdeutschen Utopismus, seinen Ursprüngen und Entwicklungen siehe bei Martin Sabrow: Zukunftspathos als Legitimationsressource. Zu Charakter und Wandel des Fortschrittsparadigmas in der DDR, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hg.): Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel: DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 165–184; Oliver Sukrow: Arbeit, Wohnen, Computer. Zur Utopie in der bildenden Kunst und Architektur der DDR in den 1960er Jahren, Heidelberg 2018; Franziska Becker/Ina Merkel/Simone Tippach-Schneider (Hg.): Das Kollektiv bin ich. Utopie und Alltag in der DDR, Köln 2000; Eli Rubin: Synthetic Socialism. Plastics and Dictatorship in the German Democratic Republic, Chapel Hill 2008; Slava Gerovitch: Soviet Space Mythologies. Public Images, Private Memories, and the Making of a Cultural Identity, Pittsburgh 2015.

[4] Hella Tiedemann-Bartels (Hg.): Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt a. M. 1972.

[5] Amy Fumiko Ogata: Designing the Creative Child. Playthings and Places in Midcentury America, Minneapolis 2013, S. 35.

[6] Rebecca Onion: Innocent Experiments. Childhood and the Culture of Popular Science in the United States, Chapel Hill 2016, S. 4.

[7] Steven M. Gelber: Hobbies: Leisure and the Culture of Work in America, New York 1999, S. 13.

[8] Lothar Oppermann (Hg.): Vom Sinn unseres Lebens, Berlin 1983, S. 194.

[9] Peter Solomon: Die Geschichte der Mikroelektronik-Halbleiterindustrie in der DDR, Dessau 2003, S. 13.

[10] Friedrich Naumann: Vom Tastenfeld zum Mikrochip. Computerindustrie und Informatik im »Schrittmaß« des Sozialismus, in: Dieter Hoffmann/Kristie Macrakis (Hg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997, S. 269.

[11] Der Spieltrieb im Mann und die Eisenbahn, Berliner Zeitung vom 25. Dezember 1956, S. 5.

[12] Durch das Spiel zum Wissen, Neue Zeit vom 7. September 1969, S. 8. 

[13] PIKOtron Bedienungsanleitung, S. 2.

[14] Eine Kategorie der Algebra, in der die Werte der Variablen auf »wahr« oder »falsch« gesetzt werden und normalerweise als 0 oder 1 gerendert werden. 

[15] Michael Müller: Spielzeug-Computer Pikodat kann alles: Lehrreiche Neuentwicklung aus Sonneberg für Kinder, Berliner Zeitung vom 7. September 1969, S. 4.

[16] PIKOtron Bedienungsanleitung, S. 2. 

[17] PIKO dat Bedienungsanleitung, S. 5. Hervorhebung im Original.

[18] PIKOtron Bedienungsanleitung, S. 2. 

[19] Siehe die Eröffnungsrede in: Peter Schamoni: Jugendweihe 1964/65 – Vorbereitungsstunde im Dresdner Zwinger. Schamoni Film und Medien GmbH, Dresden 1964. In der Rede ist die Existenz Ostdeutschlands das aus der deutschen Geschichte resultierende logische Ergebnis, auch darauf ausgerichtet, eine wunderbare technologische Zukunft herbeizuführen.

[20] Mehr über den Zusammenhang zwischen Sport und technologischer Utopie findet sich in meinem eigenen, demnächst erscheinenden Dissertationsprojekt (»Real-Existing« Utopia: The Creation of East German Technological Utopianism, 1949–1989, vorauss. Erscheinungstermin Mai 2021) und in Thomas Großbölting (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009.

[21] Oppermann: Vom Sinn unseres Lebens (Anm. 8), S. 11 f.

[22] John Desmond Bernal: Science in History, Bd. 1–4, Cambridge, Mass. 1969.

[23] Das heißt nicht, dass das Konzept in jedem sozialistischen Land dasselbe bedeutete. Im Gegenteil, jedes der Blockländer war ein eigenes, einzigartiges Gebilde mit eigenen Wünschen, Besonderheiten, Unzulänglichkeiten und Träumen, die dazu führten, dass sich die einzelnen WTR-Konzepte voneinander unterschieden. Hier ist nicht der Ort, um auf diese Unterschiede weiter einzugehen.

[24] Zukunft der Jugend rechtlich gesichert: Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung, Berliner Zeitung vom 11. Februar 1950, S. 3.

[25] Ebd.

[26] Harald Rockstuhl: Schulgesetz der DDR 1965–1991/1992. Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem der DDR vom 25. Februar 1965, Bad Langensalza 2013.

[27] Ebd., S. 13.

[28] Ebd.

[29] Ebd., S. 82 f.

[30] Ebd., S. 101.

[31] Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im Folgenden: SAPMO-BArch), DF 4/40243, Bl. 11 f. und Ulrich Berger (Hg.): Frust und Freude. Die zwei Gesichter der Gesellschaft für Sport und Technik, Schkeuditz 2002.

[32] MMM diesmal schon ab April, Berliner Zeitung vom 17. März 1967, S. 4.

[33] Zum Konzept der Utopie im Allgemeinen: Fredric Jameson: Archaeologies of the Future. The Desire Called Utopia and Other Science Fictions, London 2007; Zygmunt Bauman: Socialism. The Active Utopia, Abingdon 2010; Michael D. Gordin/Helen Tilley/Gyan Prakash (Hg.): Utopia/Dystopia. Conditions of Historical Possibility, Princeton 2010; Ursula K. Le Guins Essays in: Thomas More. Utopia, eingeleitet von China Miéville, Essays Ursula K. Le Guin, London 2016.

[34] Böhm/Dörge: Unsere Welt von Morgen (Anm. 2).

[35] Alfred Kosing: Weltall Erde Mensch, Berlin 1971.

[36] Georg Klaus: Kybernetik und Gesellschaft, Berlin 1964.

[37] Sukrow: Arbeit, Wohnen, Computer (Anm. 3), S. 38.

[38] Franziska Becker/Ina Merkel: Einleitung, in: Becker/Merkel/Tippach-Schneider: Das Kollektiv bin ich (Anm. 3).

[39] Sabrow: Zukunftspathos als Legitimationsressource (Anm. 3), S. 94.

[40] Mario Bianchini: Theoretical Soldiers. German Economists in the Cold War, in: German Studies Review 43 (2020), H. 1, S. 41–58.

[41] André Steiner: The Plans That Failed. An Economic History of the GDR, New York 2010.

[42] Sukrow: Arbeit, Wohnen, Computer (Anm. 3), S. 94.

[43] Bericht des Politbüros an die 9. Tagung des ZK vom 28. bis 29. Mai 1973, SAPMO-BArch, DY 30/2085, Bl. 8.

[44] Ebd.

[45] Sabrow: Zukunftspathos als Legitimationsressource (Anm. 3), S. 184.

[46] Eli Rubin: Amnesiopolis. Modernity, Space and Memory in East Germany, Oxford 2016, S. 70.

[47] Gerd Irrlitz: Uralte Sehnsucht der Menschheit, in: Heinrich Gemkow (Hg.): Der Sozialismus – Deine Welt, Berlin 1975, S. 35–40.

[48] Walter Ulbricht: Vorwort, in: ZK der SED (Hg.): Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Berlin 1969, S. 5–17.

[49] Siehe Beitrag von Maren Röger in diesem Band.

[50] Böhm/Dörge: Unsere Welt von Morgen (Anm. 2). Zu weiteren Bildern von der Zukunft Ostdeutschlands, jedoch in anderen Formen, siehe die Beiträge von Maren Röger und Juliane Brauer in diesem Band.

[51] Zum Beispiel Josep Renaus Wandbilder »Der Marsch der Jugend in die Zukunft« oder auch »Der zukünftige Arbeiter im Sozialismus«.

[52] Sukrow: Arbeit. Wohnen. Computer (Anm. 3), S. 279.

[53] Böhm/Dörge: Unsere Welt von Morgen (Anm. 2), S. 52.

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