JHK 2021

Kartonierte Möglichkeitsräume

Welten und Grenzen sozialistischer Brettspiele

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 103-121 | Metropol Verlag

Autor/in: Maren Röger

Regelgeleitete Spiele auf dem Brett lassen sich über Jahrhunderte, die mit simpleren Vorläufern auf dem Boden sogar über Jahrtausende zurückverfolgen. Manche der Spielprinzipien, etwa »Pachisi«, gehören somit zu den Begleitern der Menschheit über Kontinente, Epochen und entsprechend alle politischen Zäsuren hinweg.[1] Trotz dieser unbezweifelbaren anthropologischen Konstante von Spielen und des Spielens selbst, wie sie in Theorien des »Homo ludens« vorgetragen wurde, transportieren zahlreiche Brettspiele zeitgebundene Weltbilder und Wertvorstellungen in ihrem Regelwerk und ihrer narrativen Anlage. Brettspiele sind Erzählungen von Gesellschaft, mal wiedergebend, mal mit utopischem oder dystopischem Charakter. Besonders deutlich wird dies an menschenverachtenden Spielen, wie sie in rassistischen Regimes oder Subkulturen entworfen wurden,[2] aber auch (Brett-)Spiele in demokratisch-liberalen Kulturen vermitteln Normen, etwa heteronormative und kleinbürgerliche Familienideale.[3] In ihrem Quellenwert wurden Brettspiele von der Geschichtswissenschaft erst kürzlich entdeckt, obwohl das Spielen von Brettspielen im Familien- und Freundeskreis eine weitverbreitete Praktik war und ist. [4] Angela Schwarz hat am Beispiel von Computerspielen zur ostmitteleuropäischen Geschichte mit Recht auf die unterschiedliche Intensität der Mediennutzung hingewiesen: Während Fernsehdokumentationen oder Spielfilme vielleicht ein-, zwei- oder dreimal angesehen, Romane und Comics ähnlich häufig zur Hand genommen werden, ist anzunehmen, dass zumindest abwechslungsreiche Computerspiele deutlich öfter gespielt werden. Gleiches gilt für Brettspiele, die gerade in Familien- und Freundeskreisen dem gemeinsamen Zeitvertreib dienen. Im Gegensatz zu anderen Erzählungen von Welt – wie in Film oder Buch – werden Brettspiele wiederholt konsumiert, ihr (deutlich verdichteter) narrativer Gehalt aber eher wenig reflektiert.[5]

Der vorliegende Aufsatz stellt Brettspiele(n) in den staatssozialistischen Ländern nach 1945 in den Fokus, was in zweierlei Hinsicht interessant ist. Zum einen gehörte es in ein Handlungsfeld pädagogischer Praktiken, denen in den Staatssozialismen insofern gesteigerte Aufmerksamkeit zukam, als nach 1945 nicht weniger als der »neue Mensch« erschaffen werden sollte. [6] Zum anderen kann das Brettspiel, wie ausgeführt, als narrative Kurzform gelesen werden, die eine Erzählung von Gesellschaft lieferte und die analog zu anderen Erzählungen in den Staatssozialismen eingehegt wurde – zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß.[7] Der Aufsatz fragt, welche Welten Brettspiele in ausgewählten staatssozialistischen Ländern nach 1945 eröffneten und welche Grenzen sie zogen. Brettspiele werden dabei als kartonierte Möglichkeitsräume verstanden, in denen »Gesetze des realen Alltags vereinfacht« werden und ein »Probehandeln« stattfinden kann.[8] Welche Räume waren im geografischen Sinne in den Spielen des Staatssozialismus überhaupt durch die Spielfiguren begehbar, welche realen Territorien unerreichbar, welche fiktiven Räume wiederum eröffneten die Spiele? Und genereller: Welche Themen und Gedanken, etwa hinsichtlich des Wirtschaftens, waren wann wie spielbar?

Im Fokus stehen staatlich zugelassene Brettspiele, die an einigen Stellen mit dissidentischen Erzeugnissen und/oder dem Spielen von Westimporten kontrastiert werden.[9] In einem ersten Schritt werden die Produktionsbedingungen in den Ländern, sofern bekannt, ausgeleuchtet, um weiter die archivalische Überlieferung zu kommentieren. In einem zweiten Schritt werde ich Brettspiele mit folgenden drei Inhalten fokussieren: erstens Reisespiele, in denen der Raum/die Grenze direkter Spielinhalt ist, anschließend Kriegsspiele und zum Abschluss Wirtschaftsspiele, in denen es um Handlungsräume geht. Aufgrund der Überlieferungssituation liegt der empirische Schwerpunkt auf der DDR, andere Beispiele stammen aus der Volksrepublik Polen und der UdSSR, vereinzelt gibt es Hinweise aus Rumänien und der Tschechoslowakei. Während die terrestrischen und extraterrestrischen Reisespiele seit den 1950er-Jahren vorliegen, konzentriert sich der Absatz zu den Wirtschaftsspielen auf die 1980er-Jahre.

 

 

Spieleproduktion, Spielemarkt und Spielearchivierung

 

Die Spieleproduktion hat sich in den meisten Staaten nach 1945 verändert. Drei grundlegende Charakteristika sind dabei zu vermerken: Erstens kam es zu Verstaatlichungen bestehender Verlage, wie am Beispiel der DDR gut nachzuvollziehen ist. [10] Ab Anfang der 1970er-Jahre waren keine Privatfirmen mehr an der Spieleherstellung beteiligt.[11] Unter den volkseigenen Betrieben gehörte Spika, das Spielewerk Karl-Marx-Stadt, zu den bekanntesten und stellte über Jahrzehnte Gesellschaftsspiele für den heimischen und den Exportmarkt her.[12] Für die seit den 1970er-Jahren beliebten Elektrospielzeuge war der VEB Spielzeug-Elektrik Meiningen zuständig. In der Sowjetunion gehörte Malysh zu den bekannteren Verlagen, in Rumänien CentroCoop. Gemeinsam ist den Firmen, deren Geschichte größtenteils noch zu schreiben ist, dass sie Teil der Konsumgüterindustrie waren.

Zweitens waren in den transformierten oder neu geschaffenen Spieleverlagen häufig Autoren- oder Projektantenkollektive am Werk, in Polen etwa die Versuchsanstalt für Spielwarenherstellung in Łomianki (Zakład doświadczalny Przemysłu Zabawkarskiego w Łominankach).[13] Das Autorenkollektiv im VEB Kombinat Pakuwa (Papier- und Kulturwaren), Leipzig, das zahlreiche Brettspiele produzierte, nannte sich »Spielzeit«. Freie Spieleautorinnen und -autoren, die von außen Ideen einbrachten, hatten kaum eine Chance auf Realisierung ihrer Vorschläge durch die staatlichen Betriebe.[14] Zu namentlichen Nennungen kam es bis zum Zusammenbruch der Staatssozialismen nicht – einige sowjetische Spiele scheinen eine Ausnahme zu bilden. Jedoch mussten sich Spieleautorinnen und -autoren die Nennung ihrer Autorenschaft auch in anderen Ländern erst erstreiten. In der Bundesrepublik kam es 1988 am Rande der Nürnberger Spielemesse zur »Bierdeckel-Proklamation«, bei der über ein Dutzend Autorinnen und Autoren unterzeichnete, kein Spiel mehr an einen Verlag zu geben, wenn der eigene Name nicht später auf der Schachtel stehe.[15]

Jene Unsichtbarkeit der Urheberinnen und Urheber ist einer der Gründe, weshalb potenzielle Beschränkungen ihrer Narrationen kaum zur Kenntnis der breiteren Öffentlichkeit gelangen konnten. Waren andere Kulturschaffende, einzelne Schriftstellerinnen oder Schriftsteller, Musikerinnen oder Musiker und Schauspielerinnen oder Schauspieler in Einzelfällen durch ihre Popularität und übernationale Bekanntheit vor Beschneidungen durch die Staatsgewalt geschützt, blieben die kreativen Köpfe in der Spielwarenbranche unbekannt. Sie waren mehr Kreativarbeiter als Künstler.

Drittens lassen sich bezüglich der Inhalte Muster ausmachen, die nicht zuletzt im Vergleich zu den Spieleentwicklungen anderer Länder deutlich werden. So blieb der Brettspielmarkt der staatssozialistischen Länder auf Kinderspiele fokussiert. 80 Prozent der Gesellschaftsspiele in der DDR seien Kinderspiele gewesen.[16] Vergleichbare Zahlen liegen für andere Länder nicht vor, doch zeigen kursorische Blicke in Spielanleitungen, dass häufig Kinder und Heranwachsende adressiert wurden. Im Westen entstand hingegen spätestens in den 1960er-Jahren ein Markt für Erwachsenenspiele. Ein Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren die USA, wo Simulation Games Teil des universitären Curriculums in den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fächern waren und zudem vom Militär für strategische Überlegungen genutzt wurden. Gleichzeitig wurde Brettspielen eine gesellschaftliche Aufwertung zuteil, indem Spielerezensionen in Tageszeitungen erschienen und sich ein Kritikersystem mit Preisen entwickelte – eine deutliche Spiegelung der Marktentwicklung und gleichzeitig der Professionalisierung des Spielediskurses. Hierbei hatte die Bundesrepublik im internationalen Vergleich eine hervorgehobene Stellung. Bereits seit den 1950er-Jahren versuchten hier Spieleverlage unter dem Label »Familienspiele« auch die erwachsene Klientel zunehmend einzubinden.[17]

Der Fokus auf Kinderspiele resultierte in zahlreichen Erziehungsspielen, die die Aneignung von Regeln im Straßenverkehr und Haushalt befördern sollten (und wie es sie auch in den demokratisch-kapitalistischen Ländern gab),[18] und Wissensspielen, die mitunter explizit ideologische Inhalte transportierten (»Auf den Spuren Lenins«, ein Kartenspiel; »Spiel des Jahres. Elektrisches Frage- und Antwortspiel«, das die Geschichte der DDR und ihrer Massenorganisationen abfragte).[19] Bei Wissensspielen, aber auch bei anderen Themen, wurden munter Spielideen kopiert.[20] Andere Ideen, etwa Spiele, die mit Elektroverkabelung arbeiteten, kamen zeitgleich heraus. Generell ist die Frage nach dem Urheberrecht bei Spielen bis heute eine Herausforderung, da Spielmechaniken sich ähneln und die Narration oft so verkürzt ist, dass die geistige Eigenleistung schwer zu bestimmen ist.[21] Von den osteuropäischen Ländern haben nach bisherigem Forschungsstand vor allem die russische Sowjetrepublik und die DDR zusätzlich für den Export produziert, wobei Spiele von Spika auch europaweit vertrieben wurden.[22] Nach Ungarn scheinen zudem – außer ostdeutschen und sowjetischen Produkten – auch tschechoslowakische Spiele importiert worden zu sein.[23] [[Abb. 1: Deckel des Spiels »Stadtrallye«, das in zahlreiche Länder exportiert wurde]]

Häufig werden die Brettspiele des Staatssozialismus als wenig innovativ beschrieben. So argumentierte Peter Lemcke, dass Innovationen auf dem Spielemarkt ausgebremst wurden, indem unerwünschte Spiele zwischen den Instanzen zerredet wurden.[24] So manches Konzept lag jahrelang im Schreibtisch, wie das von Michael Sohre, der ein Mittelalter-Spiel entworfen hatte, das kein staatseigener Betrieb in der DDR umsetzen wollte.[25] Den Mangel, den Zeitzeugeninnen und Zeitzeugen insgesamt für den Brettspielsektor beschreiben,[26] konkretisierte ein polnischer Interviewter, der über seinen Vater Zugang zu westlichen Brettspielen hatte, als Mangel an narrativen Brettspielen. In der Volksrepublik Polen habe es natürlich Spiele gegeben, etwa »Chińczyk«, in Deutschland als »Mensch ärgere Dich nicht« bekannt, oder »Gęś«, ein Start-Ziel-Spiel, das anderswo als »Gänsespiel« bekannt ist, doch sie hätten nicht so komplett neue Welten eröffnet wie Spiele aus dem Westen, die sein Vater Lech Pijanowski importierte. Pijanowski senior gehörte zu den zentralen Popularisatoren von Brettspielen im staatssozialistischen Polen, die er sowohl in einem viel beachteten Buch vorstellte[27] als auch in der Kindersendung Ekran z bratkiem im polnischen Fernsehen präsentierte.[28] Seine Reisen führten ihn häufig ins europäische Ausland, von wo er zahlreiche Spiele mitbrachte. Vor allem sein Sohn Wojciech Pijanowski und dessen Freunde kamen seit den 1960er-Jahren so in den Spielgenuss zahlreicher Westspiele, von denen der Junior »Risiko« und »Cluedo« (1957 und 1948/49 zum ersten Mal erschienen) besonders hervorhob. Das Fiktionale, Bunte habe es so in den heimischen Spielen nicht gegeben, es hätten sich damit Welten eröffnet, in denen man habe versinken können.[29]

Infolge der Umbrüche zwischen 1989 und 1991 überlebten die meisten Spieleproduzenten die Transformation nicht. Ihre dezentralen Archivunterlagen verschwanden,[30] ebenso ihre Produkte – Letzteres als direktes Resultat der Tatsache, dass Spiele, weder Brett- noch Computerspiele, in keinem Land als Kulturgut klassifiziert werden. Die Überlieferung von Brettspielen ist allein in Deutschland so umfangreich, da mit dem Deutschen Spielearchiv in Nürnberg und dem SPIELEmuseum in Chemnitz Einrichtungen bestehen, die sich der Archivierung verschrieben haben. Das ist auch damit zu erklären, dass das Spiel in Deutschland eine »Ausnahmestellung« hat, erscheinen doch in keinem Land der Welt jährlich so viele neue Spiele.[31] Die Überlieferung der anderen Spiele ist der Fankultur zu verdanken, die beim Thema Spielen nicht nur, aber häufig aus der Kindheitsnostalgie gespeist wird, die teilweise eine »Ostalgie« ist.[32] Zu nennen sind Homepages wie boardgamegeek.com, die es auch in einer rumänischen Fassung gibt und auf der Liebhaber historische Spiele nicht nur beschreiben, sondern auch Fotografien von Spielanleitung, Spielfeld und Karten hochladen, sodass diese Brettspiele rekonstruierbar sind. Im russischsprachigen Raum sind einschlägige Seiten gamer.ru oder boardgamer.ru. Hilfreich sind auch Kleinanzeigenportale, auf denen sich ablesen lässt, dass im Privatbesitz verbliebene Spiele aus der sozialistischen Periode, die die Wegwerfwelle überdauerten, durchaus Preise von Raritäten erzielen können.

 

 

Reisespiele: Terrestrische Begrenzungen

 

Reisespiele gehören zum Standardrepertoire von Verlagen, die bildungsbürgerliche Interessen der Käuferschaft bedienen.[33] Spielerisch können geografische Bezugsräume erlernt und die (Um-)Welt insgesamt erschlossen werden. Die Spielverlage der staatssozialistischen Länder, ausgestattet mit einem besonderen Bildungsauftrag für Kinder, verlegten über Jahrzehnte Brettspiele, die die Spielfiguren durch Regionen, Länder, Kontinente und die ganze Welt reisen ließen – jedoch nicht jederzeit in jede Richtung gleichermaßen. Besonders bei der Brettspielproduktion der DDR fallen zwei Tendenzen auf. Zum einen wurden die Spielräume zusehends einseitiger. Im Jahr 1950 publizierte der DDR-Heimverlag Ludwig noch eine »Europa Rundreise«, die ebenso durch den Westen des Kontinents führte wie durch seinen Norden, Süden und Osten.[34] Start- und Zielpunkt ist Berlin, das es als Erstes mit dem Auto zu erreichen gilt. Die ansteuerbaren Städte werden über kulinarische Spezialitäten eingeführt, deren Konsum den Fahrer am Weiterkommen hindern (»Paprika-Gulasch und Ungarwein nebeln den Fahrer tüchtig ein«, »Bordeauxwein, der will getrunken und verstanden werden«), oder über Sehenswürdigkeiten, wie die Musik im Wiener Prater oder die Reeperbahn in Hamburg. Die Zuschreibungen sind stereotyp. Dass das Spiel im sozialistischen Deutschland produziert wurde, lässt sich nur am Zwischenstopp Stalingrad ablesen, der 1954 in die Neuauflage integriert wurde. Dort sollte aber nicht etwa des Gedenkens an den deutschen Militarismus wegen angehalten werden, sondern um ernsthaft die dortigen Traktoren-Werke zu besichtigen. Spirituosen wurden dort nicht getrunken.[35] [[Abb. 2: Spielbrett der »Europa Rundreise«, 1954]]

Doch spätestens mit der herbeigeführten Abriegelung der Warschauer-Pakt-Staaten 1961 konnten auch die Spielfiguren nicht mehr in den Westen übersetzen. Wo westdeutsche Spielsteine auf der bekannten »Deutschlandreise« des Ravensburger Verlags nicht einmal Grenzkontrollen auf ihrem Weg in das Territorium der DDR begegneten,[36] bot sich den Spielsteinen der DDR nun gar keine Möglichkeit zum Betreten des Westens mehr. Denn die weiteren Spiele der DDR, die größere Räume zur spielerischen Identifikation anboten, galten der UdSSR und den anderen Staaten des Warschauer Paktes. Mit der Lufthansa konnte 1955 nach Prag und Budapest geflogen und mit dem Zug durch die UdSSR gefahren werden (»Mit der Ukraina durch die UdSSR« [1957]).[37] Es waren Reisen der Freundschaft, benannt als »Eine Reise durchs Freundesland« (1954) oder »Drushba-Reise« (1977),[38] deren Ziel es war, die »Freundschaft mit der Sowjetunion und mit allen anderen sozialistischen Staaten« zu besiegeln.[39] Als Beilage zu Frösi, der Kinderzeitschrift für Thälmann-Pioniere, dienten diese Spiele der Bildung und ideologisch-affirmativen Bindung an die Sowjetunion und den Warschauer Pakt. Ein Kartenspiel, das Quartett »Kennst Du die Sowjetunion?« (1968), erklärte direkt, warum sich allgemeine Reiselust auf die Sowjetunion beziehen sollte: »Fremde Länder und Völker kennenzulernen, ist der Wunschtraum vieler Menschen. (…) Wir laden Euch ein zu solch einer Fahrt. Zu einer Fahrt in das Land Lenins, in das Land, das als erstes den Sozialismus aufbaute und gegenwärtig den Kommunismus errichtet, das als erstes seine Sendboten in das Weltall schickte. Reisen wir gemeinsam in die Sowjetunion, in das größte und fortschrittlichste Land der Erde. (…) Wir wollen sie und ihr Land kennenlernen, wollen uns in den 15 brüderlich verbundenen Republiken der Sowjetunion umsehen und uns von den großen Erfolgen überzeugen. Unsere Deutsche Demokratische Republik ist in untrennbarer Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion verbunden, deshalb kommen wir als Freunde zu ihnen. Gemeinsam mit ihnen kämpfen wir für die Sicherung des Friedens und für die weitere Entwicklung und Festigung des Sozialismus und Kommunismus in unseren Ländern.«[40]

Mit dem Aufkommen der Reisebeschränkungen, so Rudolf Rühle, wurde in der DDR zuerst die Produktion von Reisespielen zurückgefahren und dann auf die erlaubten Länder im Ostblock kanalisiert.[41] Ergänzend wurden Reisespiele entworfen, die zu fiktiven Orten führten, etwa zur »Möweninsel« im Start-Ziel-Spiel »Kurs Süd-Ost«.[42]

»Der Westen«, um auf diese pauschale Formulierung zurückzugreifen, ist in den Reisespielen nicht mehr erfahrbar – damit spiegeln sie die tatsächliche Schließung der Handlungsräume der Bürgerinnen und Bürger wider, denn potenzielles Probehandeln am Spielbrett konnte und sollte nicht in reales Handeln umgesetzt werden. Inwiefern die DDR-Reisespiele im Vergleich zu anderen staatssozialistischen Ländern mit liberaleren Reiseregelungen engere Grenzen zogen, ist aufgrund der Archivlage nicht abschließend zu beantworten. Bildungsbürgerliche Weltreisen auf dem Karton scheinen in zahlreichen Ländern weiterhin möglich gewesen zu sein, etwa mit einem polnischen Handelsschulschiff um die Welt zu fahren (»Darem Pomorza dookoła swiata« [Mit der Dar Pomorza um die Welt], 1975), wobei die erste Station nach dem Heimathafen Gdynia klar Leningrad sein musste.[43] Oder in der (späten) Sowjetunion eine »Weltreise« mit simplem Spielprinzip, veröffentlicht in dem Journal Vesëlye kartinki.[44] Europareisen inklusive des Westens sind nicht überliefert. Dass »der Westen« gar das Ziel bildete, ist nur von einem überlieferten Spiel bekannt – und das stammte aus dem dissidentischen Milieu. Der bekannte tschechische Sänger, Liedermacher und Komiker Ivan Mládek hatte 1982 ein Spiel namens »Soudruhu, nezlob se!« (Genosse, ärgere dich nicht!), erfunden, das nach einigen Jahren rein privaten Gebrauchs 1987 eine größere Verbreitung erreichte, als es von Bekannten im Selbstverlag herausgegeben wurde.[45] In dem Spiel war »der Westen« das Zielfeld. Gelang die Flucht, hatte man gewonnen – ein gänzlich anderes »Spiel des Lebens« als das im Westen reüssierte. Das tschechoslowakische Spiel bildete damit auch die ernste Erfahrungsgeschichte der Diktatur ab, indem im Umkehrschluss die Todesgefahr bei der Flucht in den Westen angesprochen wurde.[46] [[Abb. 3: Spielbrett »Kreuz und quer durch den grünen Harz«, 1956]]

Auffällig an den DDR-Spielen ist aber, zweitens, die große Zahl an Spielen, die die kleinräumige Heimat zum Thema machten. »Eine Reise durch Sachsen« (1955) und »Kreuz und quer durch den grünen Harz« (1956) lauten nur zwei der frühen Titel, die die regionalen Naturschönheiten und Kulturleistungen priesen. Ähnliche Spiele der frühen 1950er-Jahre im Kontext der Pionierorganisationen hat Juliane Brauer als spezifischen Patriotismus im Kontext der deutsch-deutschen Entwicklungen gedeutet, der in den 1950er-Jahren noch »mit dem Versprechen auf einen zukünftigen gesamtdeutschen sozialistischen Staat« einhergegangen sei.[47] Die Brettspiele dienten ebenso der patriotischen Erziehung, wobei auffällt, dass der kleinräumige Zugriff bestehen blieb, selbst als die Hoffnung auf einen gesamtdeutschen sozialistischen Staat schon längst begraben werden musste.

            Es lässt sich zumindest spekulieren, ob die Reisespiele durch die kleinräumige Heimat die Präsentation eines dezimierten Territoriums vermeiden wollten. Während in der BRD die Karten auf den Spielbrettern lange »anspruchsvoll« blieben, sprich das Territorium der DDR einfach weiterhin einverleibten, scheinen die kleinräumigen Heimatspiele der DDR dies umgangen zu haben.[48] In anderen Ländern lässt sich dieses Phänomen der kleinräumigen Spielbretter nicht beobachten. Die Reisespiele der russischen Sowjetrepublik führten mit dem Flugzeug (»Putešestvie na samolëte « [Reise mit dem Flugzeug], 1956) durchs Land oder hatten die »Heldenstädte« des Landes zum Ziel (»Putešestvie k gorodam-gerojam« [Reise zu den Heldenstädten], 1981). [49]

Auch in den Ländern, die Territorialverluste oder -verschiebungen hinnehmen mussten, war dies nicht der Fall, wobei für diesen Beitrag allerdings nur Spiele aus späteren Jahrzehnten vorlagen. In Rumänien publizierte der beliebte Spieleverlag CentroCoop im Jahr 1984 mit »Turism« ein Start-Ziel-Spiel, bei dem das Land bereist werden konnte. Die im und infolge des Zweiten Weltkrieges erlittenen Territorialverluste waren in dem Spiel kein Thema. Auch aus Polen sind zum momentanen Zeitpunkt keine Spiele bekannt, die den verschobenen Raum des Nationalen entweder speziell ausdeuteten oder vermieden. Per Anhalter konnte etwa 1981 durch ganz Polen gefahren werden.[50]

Zum Verständnis der kleinräumigen Reisespiele der DDR ist es zudem wichtig, zu betonen, dass die Spielbretter in ihren Illustrationen deutlich den Arbeiter- und Bauernstaat mit seinen Werktätigen in Szene setzten.[51] Weiterhin führten die Spielanleitungen die Errungenschaften des Sozialismus vor Augen: Von der »gewaltige[n] Aufbauarbeit«, »vom Fleiß und vom Friedenswillen der Menschen unserer DDR« ist in manchen Erläuterungen ebenso zu lesen,[52] wie davon, dass die »Befreiung des Bauernstandes (…) in unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat Wirklichkeit« wurde.[53]

 

 

Extraterrestrische Weiten und die polytechnische Erziehung

 

Je enger die Grenzen, die die sozialistischen Spielbretter seit den 1960er-Jahren auf dem europäischen Kontinent zogen, desto weiter wurden die kartonierten Bewegungsräume ins Extraterrestrische, um dessen Entdeckung und Erschließung sich die politischen Blöcke einen rasanten Wettbewerb lieferten. Von den ersten sowjetischen Erfolgen in der Raumfahrt bis zum Zusammenbruch des Warschauer Paktes gab es in allen Staaten mehrere Spiele, auf deren kartonierten Spielfeldern junge Kosmonauten – Kosmonautinnen wurden weder extra angesprochen noch je visualisiert – Abenteuer in den Weiten des Weltraums erleben konnten.[54] 1958, also ein Jahr nach dem Sputnik-Erfolg, triumphierte die DDR und brachte das Brettspiel »Mit den Sputniks um die Erde« heraus,[55] 1963 verkündete ein Spiel die Ambitionen: »Ziel Mars«.[56] [[Abb. 4 und 5: Spielbrett und Verpackungsdeckel von »Ziel Mars«, 1963]]

Eines der verbreitetsten Spiele in der Sowjetunion war »V Kosmos« (In den Kosmos), das nach der Erstausgabe 1965 mehrere Folgeausgaben erhielt.  Die Ausstattung des liebevoll illustrierten Spiels – von dem interessanterweise sowohl der Autor als auch der Illustrator bekannt sind[57] – zeigt deutlich, dass die Weltraumspiele im Kontext der polytechnischen Erziehung in den staatssozialistischen Ländern gesehen werden müssen: Das für das Mittelschulalter gedachte Spiel enthielt außer den Spielregeln noch ein »Buch der Planeten« und ein »Technisches Handbuch«, in das sich die Spielenden vertiefen sollten.[58] Auch das 1981 verlegte Brettspiel »Priključenija na Lune« (Abenteuer auf dem Mond, Malysh), das sich an Kinder zwischen 9 und 13 Jahren richtete, sollte über Geologie belehren und die zukünftigen Kosmonauten vorbereiten. Andere Weltraumspiele verlangten weitgehende Rechenoperationen, um voranzukommen – die Polytechnisierung war also schon ins Spielprinzip eingeschrieben.[59] Auf der Schachtel von »Abenteuer auf dem Mond« wurde visuell das Ziel des Raumfahrtprogramms formuliert: Die Verpackung des Brettspiels zeigte eine bemannte Mission – etwas, was den Sowjets im Gegensatz zu den US-Amerikanern bekanntlich nicht gelingen sollte.[60] Bezeichnenderweise war die Konkurrenzsituation zwischen den Blöcken in der Raumfahrt – auf Englisch eingängig als space race benannt – in den staatssozialistischen Brettspielen nicht ausspielbar.[61] Üblicherweise konkurrierten Kosmonauten einzeln oder in Mannschaften um das Erreichen des Ziels.[62] In die Raumfahrerschuhe der anderen Seite, in jene der USA, konnte in keinem staatssozialistischen Spiel geschlüpft werden. Hier blieben die Bewegungsradien begrenzt. Die Spiele dienten vielmehr der Darstellung der Errungenschaften der sowjetischen Raumfahrtechnologien, sodass Spielanleitungen häufig in den ersten Sätzen deren Erfolge hervorhoben.[63] Beispielhaft kann die Anleitung von »Ziel Mars« genannt werden, in der es hieß: »Mit dem Start des ersten Sputnik am 4. Oktober 1957 begann die Erforschung des Weltalls. (…) Ein Bürger der Sowjetunion, Major Juri Gagarin, umkreiste als erster in einem Raumschiff die Erde und kehrte wohlbehalten zurück. (…) Mit dem großartigen Gruppenflug der Raumschiffe Wostok 3 und Wostok 4, bei dem die Kosmonauten Adrian Nikolajew und Pawel Popowitsch mehrere Tage lang die Erde umkreisten, wurde der endgültige Beweis erbracht, daß der Mensch in der Lage ist, unsere Erde zu verlassen, um den Weg zu fernen Planeten zu finden. – Blicken wir zuversichtlich in die Zukunft.«[64]

Für die Selbstdarstellung der eigenen Technologie und des eigenen politischen Systems spielten die Brettspiele mit Raumfahrtthemen eine wichtige Rolle – so auch das Resümee von Ferenc Hammer mit Blick auf derlei Brettspiele im sozialistischen Ungarn.[65] Zeitgleich sollten sie zur technischen Bildung motivieren, damit die jugendlichen Spielenden später selbst in die Weiten des Weltalls aufbrechen könnten. So gehörten Brettspiele mit Raumfahrthematik in ein Medienset der Polytechnisierung.

 

 

Krieg spielen am Brett

 

Bei den Weltallspielen der DDR und der UdSSR gab es keine blockübergreifend kompetitiven Spielbretter. Ebenso wenig war die militärische Auseinandersetzung zwischen den Staaten des Warschauer Paktes und der NATO im östlichen Europa auf dem Brett spielbar. Insgesamt waren im Brettspiel Kriegsthematiken trotz des hohen Stellenwertes des Militärischen in vielen sozialistischen Staaten nicht vorhanden. So bildete zwar die »Wehrerziehung« in zahlreichen Ländern des »Ostblocks« einen Teil des Unterrichts bzw. der angeleiteten Freizeit in den Pionierorganisationen,[66] und auch Kriegsspielzeug war verbreitet, wenngleich – so konstatierte zumindest Matthias Rogg für die DDR – in der Öffentlichkeit nicht dafür geworben wurde.[67] Doch scheint es hier feine Unterschiede hinsichtlich der Spielmechaniken gegeben zu haben: Das Spiel mit den Miniatur-Soldaten und -Panzern der eigenen Armeen diente der positiven Bindung an das wehrhafte sozialistische Vaterland, sodass Brettspiele der DDR der Nationalen Volksarmee mit Titeln wie »Auf Friedenswacht« (1959) huldigten, Bastelbögen »Manöverspiele« ermöglichten, Puzzles die NVA erstehen ließen oder Lehrquartette nahelegten, »Der Friede muss bewaffnet sein« (1980).[68] Doch es widersprach dem kultivierten Selbstbild der sozialistischen Staaten als Wahrer von Völkerverständigung und Frieden, die militärische Eskalation mit den USA im Kalten Krieg zum spielerischen Vergnügen zuzulassen.[69] In Polen verdammten Zeitungen das Brettspiel »Risiko«, dessen Ziel es war, die Welt zu erobern, wegen vermeintlicher kriegsverherrlichender Anspielungen auf einen Dritten Weltkrieg.[70]

Inwiefern andere militärische Auseinandersetzungen auf den kleinen Pappbrettern nachvollzogen werden durften, differierte in den Ländern. Gab es in den späten 1920er- und 1930er-Jahren noch sowjetische Spiele, in denen zumeist die militärischen Errungenschaften der Bolschewiki inszeniert worden waren,[71] erschienen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges höchstens noch solche mit historischem Bezug – etwa auf den Russlandfeldzug Napoleons von 1812.[72] Für die DDR listet das Spielelexikon kein einziges Spiel mit Bezug zum Zweiten Weltkrieg auf, auch in Polen – wo Überfall und Besatzung zentral für das Selbstverständnis auch in staatssozialistischer Zeit waren[73] – blieben beliebte Brettspiele wie »Bitwa Morska« (Seeschlacht) ohne konkreten historischen Ort.[74] Das Strategiespiel der Handwerksgenossenschaft Warschau-Zentrum (Spóldzielna Rzemieślnicza Centrum Warszawa) war, wie die mehrsprachige Beschriftung auf Russisch, Englisch und Französisch zeigt, auch für den Export bestimmt, was sicherlich ein Grund für die Enthistorisierung gewesen sein mag.

Auch in anderen überlieferten Kriegsbrettspielen bleibt der Feind stets fiktiv, wenngleich natürlich häufig schon für die Kleinsten klar war, wer gemeint war, und ihr Charakter – ähnlich wie der der Wehrerziehung – ein trainierender, vorbereitender war. So etwa bei den sowjetischen Spielen »Junarmejcy« (Junge Armisten, 1975)[75] oder »Razvedčik i dozor« (Der Späher und die Patrouille), bei dem die Spielenden in die Rolle eines Spähers oder des Patrouillengängers schlüpfen müssen. Implizit bereiten sie die Spielenden auf mögliche Angriffe vor und darauf, strategisch zu denken und zu handeln. Beide Brettspiele gehören in den Kontext des für die sowjetische Pionier- und Jugendkultur zentralen Spiels »Zarnitsa«, das Alexandra Evdokimova in diesem Band detailliert beschreibt. Die Eskalation des Kalten Krieges war nicht zum Vergnügen spielbar, sondern nur als Lehrstück.

In vielen der sowjetischen Satellitenstaaten dürfte hinzugekommen sein, dass die Rote Armee und das militärische Bündnis mit der Sowjetunion – allerspätestens nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 – nicht unumstritten waren, sich der Warschauer Pakt in einer bipolaren Konfliktsimulation folglich nicht direkt als das »Eigene« erkennen ließ.

 

 

Wirtschaftsspiele: Von der Erziehung zum vernünftigen Menschen bis zur Vorbereitung auf die freie Marktwirtschaft

 

Alle staatssozialistischen Länder – ebenso wie die im Westen − kannten Erziehungsspiele, die Kinder zum umsichtigen Verhalten im Straßenverkehr und mit Gefahrenquellen im Haushalt anhalten sollten. Der Umgang mit Geld wurde dabei – nach bisherigem Erkenntnisstand – nicht gelehrt. In den frühen Jahrzehnten des Staatssozialismus, als die Transformation des Systems in vollem Gange war, führten die kartonierten Möglichkeitsräume höchstens in die Kollektivierung. Ferenc Hammer führt für das sozialistische Ungarn ein Start-Ziel-Spiel aus dem Jahr 1950 an, das den Bauern die Mitgliedschaft im Kollektiv als irdisches Paradies illustrierte. Zielgruppe des von einem lokalen Parteifunktionär verlegten Spiels sei die mittlere Bauernschaft gewesen, der die Kollektivierung schmackhaft gemacht werden sollte.[76] Zeitgleich kam ein Kinderspiel auf den Markt, das die Teilhabe an einer planwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung positiv besetzte. »Erfülle den Plan!« lautete dessen Titel.[77]

Erst in den 1980er-Jahren ließ sich ein Wandel erkennen, der unterschiedliche Ausprägungen hatte. Das rumänische Spiel »Bunul Gospodar« (Der gute Hauswirtschafter) steht beispielhaft für einen Wandel hin zum Konsumsozialismus. 1980 im Ceauşescu-Rumänien herausgegeben, wirkt das Spiel wie eine Version von »Monopoly«. Im Gegensatz zur Originalversion, die Anfang des 20. Jahrhunderts ursprünglich als kapitalismuskritisches Spiel entstand, später aber rasch und grundlegend zu dem kapitalistischen Spiel schlechthin umgedeutet wurde, in dem es um das Anhäufen von Immobilienvermögen geht, ist das Ziel des rumänischen Spiels, sich eine Eigentumswohnung kaufen zu können und diese mit Möbeln und basalen Haushaltsgütern wie Staubsauger, Kühlschrank etc. auszustatten.[78] Das Spiel drückt inhaltlich die Entwicklung zum Konsumsozialismus aus, der in einigen Ländern des »Ostblocks« in jenen Jahren mit dem Ziel konzipiert wurde, attraktiv für die Bevölkerung zu bleiben, die den Vergleich zum Westen suchte.[79] Es enthält zahlreiche Referenzen auf die sozialistische Lebenswelt, indem etwa Prämien für gute Arbeitsleistungen ausgeschüttet werden. Nicht zufällig wurde der Sozialismus sogar schon im Spielprinzip umgesetzt: Während sich die Spielenden im amerikanischen Original auf den Feldern entscheiden können, was sie tun, bleibt den rumänischen Spielenden jeweils nur eine vorgeschriebene Aktion. Laut Spielanleitung war das Ziel, »beim Schüler einen wirtschaftlichen Geist zu entwickeln«, der als ein Bestandteil eines erfolgreichen – lies: vernünftigen Lebens – gepriesen wurde.[80]

Im Nachbarland Ungarn existierten vergleichbare Spiele, in denen die Spielerinnen und Spieler Konsumgüter erspielen konnten.[81] Bereits an den Namen der rumänischen und ungarischen Spiele , »Bunul Gospodar« bzw.»Gazdálkodj okosan!« (Wirtschafte vernünftig!), lässt sich ablesen, dass Konsum auf den kartonierten Brettern nur innerhalb gewisser Grenzen ablaufen durfte. Das potenziell Überschäumende des Spiels, wie es die Spieltheorie beschreibt, oder das potenziell Bacchantische des Konsums, wie es ein entfesselter Kapitalismus feiert, waren nicht vorhanden.

Das Thema »Monopoly« also das kapitalistische Spiel per se – ist im Staatssozialismus insgesamt von Legenden umrankt. Bekannt ist aber, dass in der DDR Exemplare an der Grenze und in Ungarn ab Ende der 1940er-Jahre aus den Regalen der Spielwarengeschäfte konfisziert wurden.[82] In Polen wiederum kann die Beschreibung und Abbildung von »Monopoly« in einem 1969 erschienenen populärkulturellen Überblick zu historischen und zeitgenössischen Brettspielen ambivalent gedeutet werden. Der polnische Spieleautor Lech Pijanowski verurteilte das Spiel scharf, da es zu Egoismus und Mitleidlosigkeit erziehe und ein »Bündel an Charaktereigenschaften« fördere, »das sich zu einem gelungenen Porträt eines Bankiers in der heldenhaften Epoche des Kapitalismus fügt, der völlig frei von Skrupeln ist«. Zugleich beschrieb Pijanowski aber exakt das Spielprinzip – das natürlich insofern nicht unbekannt war, als es in der Zwischenkriegszeit schon eine polnische Ausgabe gegeben hatte – und ermöglichte mithilfe eines Fotos von Spielbrett und Spielfiguren den Nachbau eines Exemplars.[83] In den 1980er-Jahren gab es dann eigene, polnische »Monopoly«-Versionen. Eine nationale Adaption namens »Fortuna« (1984) war im historischen Warschau zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesiedelt und erhielt von der Jugendzeitschrift Świat Młodych den Preis »Spiel des Jahres«.[84] Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens konnten nun – zurückverlagert in die Geschichte – ausgespielt werden. Doch musste dieser Handlungsraum verbal eingehegt werden, indem die einleitenden Sätze der Spielanleitung betonen, dass das Spiel nichts mit Glücksspiel zu tun habe (»Nie ma ona nic wspόlnego z hazardem«), was im staatssozialistischen Polen ebenso wie in den anderen staatssozialistischen Ländern strikt untersagt war, und weiter, dass das Spiel sich im fiktionalen Raum bewege und das Geld im Spiel nur herkömmliches Zubehör sei (»Poruszamy się w świecie fikcji, operujemy omownymi pieniędznymi, ktόre spełniają jedynie rolę rekwizytόw«). Offenbar antizipierte der Verlag den Vorwurf, mit dem Spiel würde der Fetischisierung von Geld Vorschub geleistet. Danach folgte ein klassisches »Monopoly«, nur eben im Warschau zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielend, das als pulsierende Stadt beschrieben wurde.[85] [[Abb. 6: Spielbrett, Spielgeld, Karten und Würfel des Spiels »Fortuna«, 1984]]

Bereits ein Jahr zuvor kam mit »Eurobusiness« ein »Monopoly«-Klon heraus, der in vielerlei Hinsicht bemerkenswert war. Die Spielanleitung verzichtete auf ideologische Einhegungen, wie es bei »Fortuna« der Fall war, vielmehr wurde bereits auf dem Verpackungsdeckel versprochen: »Und du wirst Millionär.« Realisieren durften die Spielerinnen und Spieler ihre Fantasien von Reichtum im westeuropäischen Wirtschaftsraum.[86] »Eurobusiness« eröffnete folglich und in bemerkenswerter Weise den kapitalistischen und westeuropäischen Handlungsraum auf einmal. Zugetraut wurde diese Entgrenzung aber nur (Fast-)Erwachsenen: Ein Produktionsstempel in der Spielverpackung von 1983 weist es als Gesellschaftsspiel ab 16 Jahren aus.[87] Nur bereits ideologisch gefestigte Personen sollten folglich jenen kartonierten Möglichkeitsraum des westeuropäischen Kapitalismus betreten dürfen. Dies und die Tatsache, dass das ein Jahr später erscheinende und sich an Kinder richtende »Fortuna« sich vom Kapitalismus distanzierte, verweist darauf, dass Spielen für Kinder in den staatssozialistischen Ländern eine besondere Rolle auf dem Weg der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit zukam. Das Kinder- und Jugendlichenspiel »Fortuna« brauchte engere Grenzen als das Erwachsenenspiel »Eurobusiness«, wobei das Spiel die Grenzen der kartonierten Möglichkeitsräume der Staatssozialismen am konsequentesten sprengte. An den polnischen »Monopoly«-Varianten der 1980er-Jahre lässt sich ein Diskurswandel ablesen, aber es sollte auch an die nationalen Spezifika in den Staatssozialismen erinnert werden: So gab es in der polnischen Volksrepublik über die Jahrzehnte eine kleine, aber funktionierende Privatwirtschaft.[88]

Der Nachfolgeverlag des damaligen Herausgebers Labo, heute Labo Market, vertreibt »Eurobusiness« im Übrigen bis heute.[89] In den Kommentarspalten zu Unboxing-Videos auf Youtube wird »Eurobusiness« deshalb als generationenübergreifende polnische Erfahrung beschrieben, und von manchen – ironischerweise angesichts des kapitalistischen Spielprinzips − als nostalgisches Produkt in Erinnerung an die Zeiten der Volksrepublik.[90]

In dieser Phase der 1980er-Jahre gab es selbst in der UdSSR »Monopoly«. Dass der Spielehersteller Parker eine russischsprachige Version erstellt habe und sich eine sowjetische Handelsorganisation um eine Importgenehmigung bemühe, war 1988 mehreren westdeutschen Zeitungen eine Meldung wert.[91] Mit »NEP« kam 1989 ein »Monopoly«-Klon auf den Markt. Das von der Spielekooperative Herbst herausgegebene Spiel thematisierte die Neue Ökonomische Politik der 1920er-Jahre – ähnlich wie im polnischen Fall wurde also das Spielprinzip historisiert. In der Periode der Perestroika entstanden aber auch kapitalistische Lernspiele wie die Wirtschaftssimulation »Conversion«, in der Fabriken, Fahrzeuge und Rohstoffe erworben und im In- und Ausland gehandelt werden können.[92] Obschon Stefan Wolle für die DDR konstatiert, dass ein offizielles, sozialistisches »Monopoly« undenkbar gewesen wäre,[93] zeigt sich vielmehr, wie zum Ende der 1980er-Jahre in den meisten Ländern solche Gewissheiten erodierten. Die Marktwirtschaft war denkbar, umsetzbar und nun auch spielbar geworden.

 

 

Fazit

 

In vielerlei Hinsicht waren die »Grenzen des Spielbaren« in zahlreichen staatssozialistischen Ländern eng gezogen. Die Einschränkung der Reisefreiheit verlagerte Spielbretter in die bereisbaren Territorien des Warschauer Paktes oder des eigenen Nationalstaates, zudem galten in der DDR auffällig viele Immersionsoptionen der kleinräumigen Heimat. Der Raum der Zukunftsutopien war im Extraterrestrischen – hierhin durften Spielende fahren und träumen, wenngleich der große Konkurrent im space race, die USA, eigentümlich abwesend und nie spielbar war. Insgesamt stellten die Gesellschaftsspiele, die in geringerer Anzahl als im kapitalistischen Westen produziert wurden, die eigenen Verdienste der Staatssozialismen in den Vordergrund, anstatt Wettbewerb und Vergleich zu suchen. Erst in den 1980er-Jahren erweiterten sich diese gezogenen Grenzen, als marktwirtschaftliche Spiele nach dem »Monopoly«-Prinzip in verschiedenen Ländern auf den Markt kamen. Spiele offenbarten also die Erosion des Staatssozialismus.

 


[1] Der Longseller »Mensch ärgere Dich nicht« ist eines der prominentesten Beispiele: In Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt, variiert es das indische Spiel »Pachisi«, das sich bis ins vierte Jahrhundert zurückdatieren lässt.

[2] So wurde das »Pogromly«-Spiel der nationalistischen Terrororganisation NSU in den Medien breit besprochen. Siehe auch Tom Sundermann: Monopoly mit Auschwitz-Feld, 18. Februar 2014, in: blog.zeit.de/nsu-prozess-blog/2014/02/18/monopoly-mit-auschwitz-feld-2/ (ges. am 25. Mai 2020); Björn Hengst: Ein menschenverachtendes Spiel, 28. Januar 2014, in: www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-nebenklaeger-stellen-beweisantrag-zu-pogromly-a-946072.html (ges. am 25. Mai 2020).

[3] Siehe etwa »Spiel des Lebens« [The Game of Life], MP-Spiele, 1960.

[4] Siehe Florian Greiner/Maren Röger: Den Kalten Krieg spielen. Brett- und Computerspiele in der Systemkonfrontation, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 16 (2019), H. 1, in: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2019/5679, Druckausgabe: S. 46–73, hier S. 5 f. Passagen aus dem genannten Aufsatz werden hier aufgegriffen.

[5] Angela Schwarz: »Niedźwiedzie, które jeżdżą na rowerach jednokołowych«? Historia i jej funkcje w grach komputerowych o XX-wiecznych dziejach Europy środkowo-wschodniej [»Bären, die mit dem Einrad fahren«? Geschichte und ihre Funktionen in Computerspielen über Mittel- und Osteuropa im 20. Jahrhundert], in: Miloš Řezník u. a. (Hg.): Historia w kulturze ponowoczesnej. Koncepcje – metody – perspektywy badawcze [Geschichte in der postmodernen Kultur. Konzepte – Methoden – Forschungsperspektiven], Kraków 2017, S. 165–190, hier S. 189.

[6] Bei Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956, München 2013, S. 417. Zu den pädagogischen Prämissen siehe die Beiträge von Alexandra Evdokimova und Juliane Brauer in diesem Band.

[7] Siehe übergeordnet zur Zensur Ivo Bock (Hg.): Scharf überwachte Kommunikation. Zensursysteme in Ost(mittel)europa (1960er–1980er Jahre), Berlin u. a. 2011. Von der Forschung wurden Brettspiele in den staatssozialistischen Ländern bislang kaum beachtet. Siehe zum Forschungsstand die Einleitung in diesem Band.

[8] Max J. Kobbert: Kulturgut Spiel, Münster 2010, S. 99 u. S. 111.

[9] Siehe dazu in diesem Band auch die Beiträge von Nikita Lomakin, Martin Thiele-Schwez sowie Jaroslav Švelch.

[10] Siehe zur DDR-Spieleproduktion das einschlägige Lexikon von Rudolf Rühle: Lexikon. Die deutsche Spieleproduktion in der SBZ und der DDR. »Mit der Wende kam das Ende«, Chemnitz 2014. Für andere Länder gibt es nichts ähnlich Grundlegendes wie das DDR-Spielelexikon.

[11] Siehe J. Peter Lemcke: Spiele in der SBZ und der DDR oder Sind Spiele gefährlich? in: Arbeitskreis Bild Druck Papier (Hg.): Tagungsband 10, Dresden 2005, S. 103–110, hier S. 105.

[12] O.V.: Spika – Spiele und Kartonagen aus Chemnitz, in: Spielzeugmarkt (1991), H. 2, S. 160. Siehe zu den unterschiedlichen Institutionen: Unsere Geschichte, in: https://spika-verlag.de/unsere-geschichte (ges. am 24. Mai 2020).

[13] Siehe dazu den Beitrag von Daniel Böhme in diesem Band.

[14] Siehe Volker Weitzel: Der Ritter aus Potsdam, in: Spielbox (1992), H. 1, S. 41.

[15] Historischer Rückblick, in: https://www.spieleautorenzunft.de/historischer-ruckblick.html (ges. am 24. Mai 2020).

[16] Siehe Cynthia Schönfeld: Spiele und Spieleherstellung in der DDR, in: Michael Geithner/Martin Thiele (Hg.): Nachgemacht. Spielekopien aus der DDR, Berlin 2013, S. 55–58, hier S. 56.

[17] Siehe zur Entwicklung des Erwachsenenspielmarktes Bernward Thole: »Dem Homo Ludens eine Gasse«, in: Geithner/Thiele: Nachgemacht (Anm. 16), S. 107–111. Siehe zur »Ausnahmestellung« Kobbert: Kulturgut (Anm. 8), S. 95. In keinem Land der Welt erscheinen laut Kobbert jährlich so viele neue Spiele wie in Deutschland.

[18] Siehe beispielhaft »Gib Acht!«, VEB Plasticart, 1970, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 6132. 

[19] Auf den Spuren Lenins. DDR-Lehrquartett mit Anleitung, VEB Altenburger 1969; Das Spiel des Jahres. Elektrisches Frage- und Antwortspiel, VEB Spielzeug Elektrik Meiningen, 1983, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 6907.

[20] Siehe den Beitrag von Christin Lumme in diesem Band.

[21] Björn Hayer: Urheberrecht für Brettspiele. Menschen, ärgert euch!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. April 2013, in: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/urheberrecht-fuer-brettspiele-menschen-aergert-euch-12158297.html (ges. am 24. Mai 2020).

[22] Das Blumen-Merkfix war auf Dänisch, Finnisch, Niederländisch, Englisch, Französisch und Spanisch beschriftet. Siehe Blumen-Merkfix, Spielewerk Karl-Marx-Stadt, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 5779. Auch die »Stadtrallye« von Spika wurde offenbar in mehrere nord- und westeuropäische Staaten exportiert. »Stadtrallye«, Spielewerk Karl-Marx-Stadt, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 15741. – Wojciech Pijanowski erinnerte sich an Sowjetimporte in Polen in seiner Kindheit. Siehe Interview mit Wojciech Pijanowski, geführt von Jakub Gałęziowski, Warschau im Dezember 2017. Audiodatei im Privatarchiv M. R. Ich danke Jakub Gałęziowski für seine Zuarbeit.

[23] Angabe nach Ferenc Hammer: Táblás játékok és más elképzelt valóságok az 1950-70-es években Magyarországon [Brettspiele und andere imaginäre Realitäten in Ungarn in den 1950er- bis 1970er-Jahren], in: Ferenc Hammer: Nem kellett élt vasalni a farmerbe. Mindennapi élet a szocializmusban [In Jeans gab es keine Kante zum Bügeln. Alltag im Sozialismus], Budapest 2013, S. 31–55, hier S. 42.

[24] Siehe Lemcke: Spiele (Anm. 11), S. 109.

[25] Siehe Aussage von Michael Sohre zu seinem Mittelalter-Spiel in Volker Weitzel: Der Ritter aus Potsdam, in: Spielbox (1992), H. 1, S. 41.

[26] Siehe dazu den Beitrag von Martin Thiele-Schwez in diesem Band.

[27] Siehe Lech Pijanowski: Przewodnik gier [Spieleführer], Warschau 1972; ders.: Skarbnica gier [Schatzkammer der Spiele], Warschau 1981.

[28] Lech Pijanowski: Kącik gier umysłowych [Gedankenspielecke], in: Ekran z bratkiem, Telewizji Polskiej [Bildschirm mit Stiefmütterchen, Polnisches Fernsehen], 5. Oktober 1967 bis 15. Juni 1977; Angabe nach Emilia Padoł: Jak »Ekran z bratkiem« wychowywał dzieciary [Wie »Bildschirm mit Stiefmütterchen« Kinder erzog], in: kultura.onet.pl/film/wywiady-i-artykuly/jak-ekran-z-bratkiem-wychowywal-dzieciary/7mwn2ll (ges. am 26. Mai 2020).

[29] Siehe Interview Pijanowski, Privatarchiv M. R. (Anm. 22).

[30] Die Reste des Spika-Archivs liegen bei einer Privatperson. Leider konnte ich diese Bestände aufgrund der Corona-Pandemie nicht mehr einsehen.

[31] Siehe Kobbert: Kulturgut (Anm. 8), S. 95. Deutschland hat bereits seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine starke Spielzeugindustrie.

[32] Siehe Thomas Ahbe: Ostalgie. Zu ostdeutschen Erfahrungen und Reaktionen nach dem Umbruch, Erfurt 2016.

[33] Die bekannte »Deutschlandreise« verlegte der Ravensburger Verlag etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Siehe Andreas Molitor: Ein Spiel ohne Grenzen, in: Berliner Zeitung Nr. 299 vom 21./22. Dezember 1996, S. 48.

[34] Zum Verlag siehe Rühle: Lexikon (Anm. 10), S. 89.

[35] Spielanleitung, »Europa Rundreise«, Werner Ludwig Verlag, 1954, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 8193.

[36] Um die deutsche Teilung zu umschiffen, erschien der Longseller in der Bundesrepublik zwischen 1962 und 1977 mit dem Untertitel »Wir fahren durch West- und Mitteldeutschland«. Die Karte spiegelte den Verlust des historischen Ostdeutschlands, ließ aber das Territorium der DDR bereisbar. Eine Grenzmarkierung weist das Spielbrett mit topografischer Deutschlandkarte nicht auf, sodass die Spielenden mit ihren Figuren problemlos auf das Territorium der DDR konnten, das nie benannt wurde – und auch ohne die mitunter sehr zeitintensiven Grenzübertrittsprozeduren, die in der Realität zu beklagen waren, nachvollziehen zu müssen. Einen kurzen Abstecher von Hof nach Plauen sah etwa eine der Aktionskarten vor. Das Spielbrett manifestiert Wunschdenken. Auch in der Spielanleitung ist die deutsche Teilung, ja, der komplette politische Kontext, eigentümlich abwesend. Rund um die topografische Deutschlandkarte gruppierte der Verlag Aufnahmen von zentralen deutschen Städten – in Westdeutschland gelegene wie der Kölner Dom ebenso wie den Römer in Frankfurt am Main. Deutschlandreise, Ravensburger Spieleverlag GmbH, 1962, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 3060. Siehe beispielhaft das Spiel »Italien-Reise«, in dem es heißt: »Sicher wünscht sich jeder von uns, einmal das herrliche Reiseland Italien mit seinem ewig blauen Himmel, seinen schönen Seen, Küsten und Gebirgen zu besuchen.« Italien-Reise, C. Abel-Klinger KG, 1955, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 7128; siehe auch »Quer durch 15 Länder«, Klee-Spiele GmbH, 1953, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 16307. Das Ziel dieses Spiels ist das Erreichen Roms.

[37] »Unsere Lufthansa«, VEB Kartonagen und Bürobedarf Karl-Marx-Stadt, 1956, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 11467. In der kurzen Erläuterung zum Spiel wird stolz kommentiert: »Im Jahr 1955 hat unsere Regierung beschlossen, die weltbekannte traditionsreiche deutsche Lufthansa wieder ins Leben zu rufen.«

[38] »Drushba-Reise«, Spika, 1977, in: Rühle: Lexikon (Anm. 10), S. 128. – »Mit der ›Ukraina‹ durch die UdSSR«, Junge Welt, 1957, Deutsches SPIELEmuseum e. V. Chemnitz, Inv.-Nr. 17721;

»Mit der ›Ukraina‹ durch die UdSSR«, Junge Welt, 1957, in: Rühle: Lexikon (Anm. 10), S. 75.

[39] Siehe Lemcke: Spiel (Anm. 11), S. 106.

[40] Anleitung von »Kennst du die Sowjetunion?«, Rudolf Forkel KG, 1968, Deutsches SPIELEmuseum e. V. Chemnitz, Inv.-Nr. 1146, S. 3.

[41] Siehe Die Spieleproduktion in der DDR 1949–1990, in: Rühle: Lexikon (Anm. 10), S. 12.

[42] »Kurs Süd-Ost«, Si-Si Spiele, 1962, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 15853.

[43] »Darem Pomorza dookoła świata«, Spółdzielnia Pracy Poligraficzno-Papiernicza »Drukator«, 1970 [»Mit der Dar Pomorza um die Welt«, Druck- und Papierdruckgenossenschaft »Drukator«], in: http://archiwumalle.pl/stara+gra+planszowa+darem+pomorza+dooko%C5%82a+%C5%9Bwiata-9_5099806507.html (ges. am 18. Mai 2020).

[44] Krugoswetnoe puteschestwie [Weltreise], in: Vesëlye kartinki (1988), H. 6. Ansonsten führten die bislang bekannten Reisen durchweg durch das Territorium der UdSSR, etwa »Putešestvie na samolëte« [Reise mit dem Flugzeug], Poligrafičeskaja Fabrika, Leningrad 1956.

[45] Angabe aus einem Telefongespräch von Kateřina Goroškov, PR-Beauftragte des Efko-Verlages, mit Michal Korhel am 10. April 2018. Ich danke Michal Korhel herzlich für seine Unterstützung. Erst 1997 erschien das Spiel in einem Verlag. Zum Spiel siehe Marketa Spiritova: »Genosse ärgere dich nicht!« Brettspiele als Zugang zur populären Erinnerungskultur im östlichen Europa, in: Karl Braun/Claus-Marco Dieterich/Angela Treiber (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse, Dinge, Praktiken. 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Nürnberg vom 25.–28.09.2013, Münster 2015, S. 551–560.

[46] Erwähnt wird im Spiel auch die Praxis, unliebsame Dissidenten in geschlossenen psychiatrischen Anstalten wegzusperren.

[47] Siehe Beitrag von Juliane Brauer in diesem Band.

[48] In Anlehnung an Christian Lotz: Die anspruchsvollen Karten. Polnische, ost- und westdeutsche Auslandsrepräsentationen und der Streit um die Oder-Neiße-Grenze (1945–1972), Magdeburg u. a. 2011.

[49] Nastolʼnaja igra »Putešestvie k gorodam-gerojam« [Brettspiel »Reise zu den Heldenstädten«], 29. Oktober 2017, in: https://arc.violity.com/nastolnaya-igra-puteshestvie-po-gorodam-geroyam-dlya-oktyabryat-i-pionerov-sssr-s-1-grn-28810765 (ges. am 24. Mai 2020).

[50]Wędrówki autostopem [Trampen], Wosi Wspólna Sprawa, 1981, in: https://archiwum.allegro.pl/oferta/gra-planszowa-z-prl-wedrowki-autostopem-1981-i7190773152.html (ges. am 24. Mai 2020).

[51] »Kreuz und quer durch den grünen Harz«, VEB (K) Druck und Verpackung Dresden, 1956, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 8805.

[52] »Eine Wanderung im Harz«, Büchlein zum Spiel, Eintrag Nordhausen, VEB Famos Leipzig, 1964, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 9593.

[53] Ebd., Eintrag Stolberg. Siehe ähnlich »Eine Reise durch Sachsen« (1955). Dort hieß es: »Von den Höhen grüßen Burgen und Schlösser, welche einst als Herrensitze in harter Fronarbeit von den Arbeitern und Bauern erbaut wurden und heute als Erholungsstätten für die Werktätigen dienen oder als Heimatmuseum das Studium alter Kulturgüter fördern. Es werden auch die fruchtbaren Gaue Nordsachsens berührt, in denen werktätige Bauern mit ihren Produktionsgenossenschaften von Jahr zu Jahr größere Erfolge und ertragreichere Ernten erzielen. In den Industrieorten lernen wir die volkseigenen Betriebe mit ihren Arbeitern und Neuerern, bessere Arbeitsmethoden kennen, welche die verschiedensten Erzeugnisse produzieren und in alle Länder der Erde liefern. Die Bergstädte des Erzgebirges sehen wir durch die Erfolge unserer Kumpel neu aufblühen.« Erläuterungen zum Spiel »Eine Reise durch Sachsen«, VEB (K) Kartonagen und Bürobedarf Karl-Marx-Stadt, 1955, Deutsches Spielearchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 9788.

[54] Dieser Befund trifft interessanterweise nur auf die Weltraumspiele zu. Im Zahlenlotto »Was wollt ihr lernen?« (o. V. 1953) werden – entsprechend der geschlechterpolitischen Linie – Traktoristinnen und Fräserinnen gezeigt. Siehe Deutsches SPIELEmuseum e. V. Chemnitz, Inv.-Nr. 7757. Ich danke der Archivarin Iren Friedrich für die Übersendung einiger Materialien, die ich aufgrund der Archivschließung im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht vor Ort einsehen konnte.

[55] Rühle: Lexikon (Anm. 10), S. 83.

[56] Ebd., S. 123.

[57] Der Spielautor war A. A. Gurschtejn, der Künstler I. G. Snegur.

[58] V Kosmos [In den Kosmos], 1973, in: https://tesera.ru/game/v-kosmos/ (ges. am 24. Mai 2020).

[59] Siehe etwa »Putešestvie v Kosmos« [Reise in den Kosmos], Verlag Weselka, 1984.

[60]»Priključenija na Lune« [Abenteuer auf dem Mond], Malysh, 1980, in: https://tesera.ru/game/priklyucheniya-na-lune/ (ges. am 24. Mai 2020).

[61] Siehe zu diesem Argument Greiner/Röger: Den Kalten Krieg spielen (Anm. 4), S. 4 f. u. S. 10. Der Kampf um die Vorherrschaft im All war häufiges Setting in den Brett- und später auch Computerspielen sowohl in den Staaten der NATO als auch denen des Warschauer Paktes, wobei Spielziele und Anlagen ganz unterschiedlich waren. Es reichte von schlichten Lernspielen der Planeten bis zu überdrehten Kalte-Kriegs-Fantasien (USA). Beim Vergleich der Spiele fällt auf, dass die Konzeption der Spiele im östlichen Europa nicht einem kompetitiven Start-Ziel-Setting folgte, das die USA und UdSSR offen einen Wettlauf austragen ließ – was schließlich hätte bedeuten können, dass in Wohnzimmern der Warschauer-Pakt-Staaten wiederholt die USA gewonnen hätten und umgekehrt.

[62] Einzeln trat man in »Ziel Mars« an. »Kosmonaut ärgere dich nicht«, das 1964 als Beilage zu dem Kinderbuch »Kosmonauten-Fibel« von Horst Hoffmann erschien, forderte zur Bildung einer Kosmonautenmannschaft auf, mit der – im Wettkampf mit anderen Kosmonautenmannschaften – am schnellsten der Mars erreicht werden sollte. Siehe »Kosmonaut ärgere dich nicht«, 1964, Deutsches SPIELEmuseum e. V. Chemnitz, ohne Inventarnummer.

[63] Siehe auch die einschlägigen Kartenspiele, die memorieren helfen sollten, wer die »Ersten im Kosmos« waren. Weltraumspiele, in: http://www.wirtschaftswundermuseum.de/weltraumspiele.html (ges. am 24. Mai 2020).

[64] Anleitung »Ziel Mars«, Si-Si Spiele, 1963, Deutsches Spielarchiv Nürnberg, Inv.-Nr. 2893.

[65] Hammer: Nem kellett (Anm. 23), S. 43.

[66] Siehe dazu die Beiträge von Alexandra Evdokimova und Juliane Brauer in diesem Band.

[67] Siehe etwa Hannes Adomeit/Hans-Hermann Höhmann/Günther Waggenlehner (Hg.): Die Sowjetunion als Militärmacht, Stuttgart 1987; zur DDR Matthias Rogg: Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR (= Militärgeschichte der DDR, Bd. 15), Berlin 2008.

[68] Siehe Bestände des Deutschen Spielemuseums e. V. in Chemnitz, die ich wegen der Pandemieprävention im März 2020 nicht mehr persönlich einsehen konnte. Frau Iren Friedrich danke ich dafür, dass sie mir einige Überblickslisten zur Verfügung gestellt hat.

[69] Es gab also keine kompetitiven Spiele. Siehe etwa für die DDR Martin Thiele-Schwez: Spiel, Staat und Subversion. Nachgemachte Gesellschaftsspiele in der DDR, Diss. phil. Braunschweig 2017, S. 133–136.

[70] Siehe Lech Pijanowski: Podróże w krainie gier [Reisen im Land der Spiele], Warschau 1969, S. 295 f. Pijanowskis Sohn bezeichnet es als eines seiner absoluten Lieblingsspiele. Es scheint, als ob das Buch von Pijanowski senior stark auf seiner privat im Westen zusammengetragenen Spielesammlung basierte, die er dann – angepasst an antizipierte Vorgaben der Ideologie – mit abwertenden Kommentaren versah, aber dennoch publizierte.

[71] Zu sowjetischen Kriegsspielen vor dem Zweiten Weltkrieg siehe Larisa Kočubej: Reise nach Moskau. Politik und Propaganda in russisch-sowjetischen Spielen vor dem Zweiten Weltkrieg, in: Ernst Strouhal (Hg.): Agon und Ares: der Krieg und die Spiele, Frankfurt/New York 2016, 253–272. Siehe hierzu ebenso The State Russian Museum (Hg.): Play & Passion in Russian Fine Art, Formia 1999, S. 66 f. und S. 80 f.

[72] Siehe Igry o voennoj istorii. Istorija voennych igr. Svodnyj obzor voenno-istoričeskich igr, izdannych na russkom jazyke [Spiele zur Militärgeschichte. Geschichte der Kriegsspiele. Zusammenfassende Übersicht militärhistorischer Spiele, die in russischer Sprache veröffentlicht wurden], in: Freelance Reviewer of Military History Games (in russischer Sprache), am 23. Juli 2011, in: https://tesera.ru/article/russian_wargames (ges. am 24. Mai 2020).

[73] Siehe Marcin Zaremba: Im nationalen Gewande: Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen 1944–1980, Osnabrück 2011.

[74] »Bitwa Morska« [Seeschlacht], Spóldzielna Rzemieślnicza Centrum Warszawa, in: archiwum.allegro.pl/oferta/bitwa-morska-gra-planszowa-z-prl-u-i8356440616.html (ges. am 25. Mai 2020).

[75] O nich mečtali vse deti: obzor sovetskich nastol'nych igr 70-90ch godov [Alle Kinder träumten von ihnen: ein Überblick über die sowjetischen Brettspiele der 1970er–1990er-Jahre], in: http://www.gamer.ru/boardgames/o-nih-mechtali-vse-deti-sovetskie-nastolnye-igry-70h-90h-godov-foto-obzor (ges. am 24. Mai 2020).

[76] Siehe Hammer: Nem kellett (Anm. 23), S. 38–41.

[77] Ebd., S. 42.

[78] Zur Geschichte von »Monopoly« siehe Andreas Tönnesmann: Monopoly. Das Spiel, die Stadt und das Glück, Berlin 2011, sowie speziell zur Umkodierung des Spiels als »celebration of cutthroat capitalism« Tristan Donovan: It’s All a Game. The History of Board Games from Monopoly to Settlers of Catan, New York 2017, S. 71–88.

[79] Siehe zum Konsumsozialismus Paul Betts: The Politics of Plenty, in: Stephen Anthony Smith (Hg.): The Oxford Handbook of the History of Communism, Oxford 2014, S. 424–438.

[80] Auffällig ist bei »Bunul Gospodar«, wie in der Anleitung der rumänische Weg betont wurde. Das Spiel sollte die Schülerinnen und Schüler zu dem nationalkommunistischen Weg erziehen, den Rumänien unter Gheorghe Gheorghiu-Dej und vor allem Nicolae Ceaușescu eingeschlagen hatte. Zum rumänischen Nationalkommunismus siehe Katherine Verdery: National Ideology under Socialism. Identity and Cultural Politics in Ceauşescus Romania, Berkeley 1995.

[81] Siehe Hammer: Nem kellett (Anm. 23), S. 50.

[82] Siehe Sebastian Wenzel: Kampf ums Kapital, in: Geithner/Thiele: Nachgemacht (Anm. 16), S. 37–40, hier S. 39, und Thiele-Schwez: Spiel (Anm. 69), S. 146; Hammer: Nem kellett (Anm. 23), S. 50.

[83] Siehe Pijanowski: Podróże (Anm. 70), Kapitel »Jak zostać milionerem« [Wie man Millionär wird] sowie S. 200–211, Zitat S. 211, Übersetzung von M. R.

[84] Siehe Fortuna, Handwerksgenossenschaft »Żoliborz«, 1984, in: www.nostalgia.pl/fortuna (ges. am 24. Mai 2020).

[85] Siehe die Spielanleitung, in: https://c.allegroimg.com/s1024/0c31c1/633e080b4ee68e65cf8ec6bd0bac (ges. am 14. Mai 2020).

[86] Siehe die Spielanleitung unter Zasady gry w Eurobusiness [Eurobusiness-Spielregeln], in: www.zasadygry.pl/eurobiznes_32_1.htm (ges. am 3. November 2020).

[87] Siehe Bilder »Eurobusiness«-Spiel von einer Kleinanzeigenseite, in: https://archiwum.allegro.pl/oferta/gra-planszowa-eurobusiness-labo-1983-retro-prl-i8753494817.html (ges. am 14. Mai 2020).

[88]Siehe Tytus Jaskułowski: Das politische System der Volksrepublik Polen in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens, in: Uwe Backes/Günther Heydemann/Clemens Vollnhals (Hg.): Staatssozialismen im Vergleich. Staatspartei – Sozialpolitik – Opposition (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 64), Göttingen 2019, S. 87–98, hier S. 93.

[89] Siehe die spärlichen Angaben auf der Homepage der Firma Labo Market, in: http://www.labo-market.pl/ (ges. am 14. Mai 2020).

[90] Eurobusiness – Unboksing \m/ 19 - rozpakowanie i rozgrywka [Eurobusiness – Unboxing – Auspacken und Spielen], in: www.youtube.com/watch (ges. am 24. Mai 2020).

[91] Siehe O. V.: Russen gehen bald über Los, in: Frankfurter Rundschau vom 28. September 1988. Für weitere Belege siehe die Presseausschnittsammlung des Deutschen Spielearchivs Nürnberg.

[92] Auf einem russischsprachigen Portal wird entsprechend süffisant gefragt, ob die heutigen Oligarchen mit dem Spiel für ihren Erfolg geübt hätten. Siehe Nastolʼnye igry ėpochi perestrojki Istočnik [Brettspiele der Perestroika-Ära], in: http://propagandahistory.ru/105/Nastolnye-igry-epokhi-perestroyki (ges. am 24. Mai 2020).

[93] Siehe Stefan Wolle: Bei Grand spielste Ässe, wenn de keene hast, hälste die Fresse, in: Geithner/Thiele : Nachgemacht (Anm. 16), S. 123–126, hier S. 125.

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