[1] »Schließlich endet das Spiel mit Ihrem Sieg und Sie erhalten einen Preis. Dieser Preis ist ein Gutschein für einen Monatsvorrat an Wodka oder Zigaretten. Während des ganzen Spiels lag er hier auf dem Tisch und hat Ihre Fantasie angeregt. Und jetzt gehört er Ihnen. Anschließend spielen alle anderen Teilnehmer die ›Internationale‹ oder ›Široka strana moja rodnaja‹ (der Gewinner kann wählen), indem sie durch ihre Lippen trompeten oder Kämme benutzen.«[2] Das ist das glückliche Ende (das fast nie eintrat) einer anstrengenden, mehrstündigen spielerischen Reise durch die sowjetische Geschichte, die am Vorabend des Jahres 1984 entworfen wurde und deshalb den Namen »Orwelliana« erhielt.
Seit den 1970er-Jahren wurden handgefertigte Brettspiele zunehmend Teil des inoffiziellen kulturellen Lebens von Studentinnen, Studenten, Schülerinnen, Schülern und einigen älteren Menschen in der Sowjetunion. Beginnend mit dem Nachbau von »Monopoly« wurde das unabhängige Spieldesign Mitte der 1980er-Jahre immer stärker politisch. Mit der Herstellung dieser Spiele brachten die Autorinnen und Autoren ihre Haltung gegenüber dem sozialistischen Regime, der offiziellen Geschichtsschreibung der Sowjetunion oder politischen Problemen zum Ausdruck. Diese Spiele zu spielen bedeutete auch, die Werte der Autorinnen und Autoren zu teilen.[3]
In diesem Artikel werden drei handgefertigte Brettspiele aus dem Archiv der Organisation Memorial International im Mittelpunkt stehen.[4] Auf der Basis von Interviews mit den Autorinnen und Autoren sowie den Spielerinnen und Spielern werden außerdem unterschiedliche Spielpraktiken beschrieben.[5] Bei den Interviewten handelt es sich zumeist um Personen, die dem ehemaligen Dissidentenmilieu und den künstlerischen Kreisen Moskaus und damit auch Memorial International nahestehen. Die hier untersuchten Spiele waren also nicht landesweit verbreitet, und die Menschen, die sie spielten, bildeten ein recht spezifisches Milieu.
Sowjetische Brettspiele – Forschung und Bewahrung
Handgefertigte Brettspiele entwickelten sich innerhalb der letzten sowjetischen Generation, d. h. unter Menschen der Geburtsjahrgänge 1950 bis 1970 zu einem Massenphänomen. Es hat verschiedene Versuche gegeben, diese Generation aus der Perspektive der Sozialanthropologie und -soziologie,[6] der Alltagsgeschichte[7] oder durch Fokussierung auf verschiedene soziale Praktiken darzustellen. Die meisten Autorinnen und Autoren erwähnen, dass Brettspiele und Kartenspiele unter den Sowjetbürgerinnen und -bürgern weitverbreitet waren, aber bisher gibt es nur einige wenige Untersuchungen, die die Spielpraktiken thematisieren. Marina Kostjuchinas Studie über die Geschichte der Brettspiele konzentriert sich auf die Zeit vom 19. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre.[8] Sie folgt jedoch einem kulturhistorischen Ansatz und konzentriert sich auf die Geschichte und Semantik von Brettspielen, weniger auf die methodologischen und soziologischen Aspekte des Spielens. Hunderte von Spielen, die sie in ihrer Monografie untersucht, sind nach Genre (»Militärisches Brettspiel«), Inhalt (»Spiele mit russischen Klassikern« [Literatur], »Sowjetische Transportreisen«) oder politischer bzw. pädagogischer Umsetzung (»Politische Erziehung im Spiel«) gruppiert. Während ihre Studie Detski orakul (Orakel der Kindheit) auf Archiv- und Pressematerial basiert, können Studien, die später ansetzen, auf Zeitzeugen und private Archive zurückgreifen.[9]
Derzeit gibt es mehrere Museen, die sich sowjetischen Brettspielen widmen: Das Spielzeugmuseum in Sergijew Possad (gegründet 1931), das Museum für sowjetische Spielautomaten in Moskau (2007) und das Brettspiel-Museum in St. Petersburg (2018). Die beiden Letzten sind in erster Linie unterhaltender und kommerzieller Natur – das Sammeln und Bewahren des kulturellen Erbes steht für sie nicht im Vordergrund. Darum bemühen sich die Nationalbibliotheken (die Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg und die Russische Staatsbibliothek in Moskau). Hier werden Brettspiele ebenso wie Bücher, Manuskripte oder Plakate als Teil des gedruckten kulturellen Erbes betrachtet. Das bedeutet, dass die Katalogisierung und der Erhalt sowjetischer Brettspiele immer noch in den Händen von Einzelpersonen liegen, die kaum institutionelle Unterstützung erhalten.[10]
In den letzten Jahren hat das Thema aufgrund der zunehmenden Sowjet-Nostalgie an Popularität gewonnen.[11] Somit werden Brettspiele mittlerweile in den meisten sowjetischen Alltagsmuseen präsentiert, die in den letzten 20 Jahren in ganz Russland entstanden sind, wie z. B. in Kasan (eröffnet 2011),[12] Moskau (2012),[13] Ufa (2016), Jekaterinburg (eröffnet 2017)[14] und Perm (2019).[15] Diese Museen – und mehrere kleinere Ausstellungen an anderen Orten –[16] präsentieren Brettspiele als Teil einer »glücklichen sowjetischen Kindheit«. Die Spiele werden als reine Ausstellungsstücke oder als spielbare Exponate gezeigt. Die Kuratorinnen und Kuratoren der Ausstellungen verzichten auf eine ideologische Analyse, eine Untersuchung der Spielpraktiken oder des kulturellen Einflusses – Ausstellungen dieser Art sind bei Erwachsenen und Kindern beliebt. Auf den Websites der Museen werden sowohl Museumsführungen als auch das Spielen von Brettspielen als Reise in die UdSSR präsentiert, die den Vergleich zwischen Damals und Heute ermöglicht.[17]
Der gleiche Ansatz ist typisch für Dutzende von Internet-Publikationen, die meist anonym erscheinen. Stellvertretend dafür steht der Beitrag des Benutzers Bogemnii2.0 mit dem Titel »20 Brettspiele aus der UdSSR, von denen alle sowjetischen Kinder geträumt haben«.[18] Die Bilder darin scheinen von verschiedenen Websites zu stammen, die Beschreibungen sind sehr speziell und erklären nur die Spielregeln. Der Autor vergleicht »moderne« Spiele, bei denen Glück das Hauptelement des Erfolgs ist, mit älteren sowjetischen Spielen: »Aber in den Tagen unserer Jugend in der Sowjetunion gab es eine viel größere Auswahl an Brettspielen. Bei vielen von ihnen war nicht nur Glück gefragt, sondern auch Geschicklichkeit, Reaktionsfähigkeit und logisches Denken.« Der Beitrag verzeichnet mehr als 400 Kommentare, bei denen viele der Kommentatorinnen und Kommentatoren Fotos ihrer Spiele mit kurzen Beschreibungen ergänzt haben. Mehrere von ihnen sehen den Vergleich moderner und sowjetischer Spiele jedoch kritisch und fühlen sich scheinbar aufgrund der Geringschätzung moderner Spiele beleidigt.
Brettspiele in der Sowjetunion – ihre Geschichte und Eigenschaften
Das Hauptmerkmal der sowjetischen Brettspielpraxis ist die Trennung zwischen öffentlichen und privaten Spielpraktiken. Sie vollzog sich vor allem in den späten 1920er-Jahren bis hinein in die frühen 1930er-Jahre. 1929 wurden Spielkasinos in der ganzen Sowjetunion verboten, 1934 untersagte der Komsomol Kartenspiele. Die Verbote hatten jedoch keinen Einfluss auf die Popularität der Spiele, sondern machten Karten- und Glücksspiele fortan zu einer nicht öffentlichen Angelegenheit.[19]
Zwar verbot die sowjetische Regierung Glücksspiele, führte gleichzeitig jedoch mehrere Spielarten ein, die sie für vereinbar mit den sozialistischen Ideen und der sozialistischen Lebensweise hielt, darunter auch Igroteki. Eine Igroteka war eine Art Spielklub, die an das örtliche Kulturhaus, den Pionierpalast oder die Schule angeschlossen war. Jede Igroteka verfügte neben einer Betreuerin oder einem Betreuer über eine Sammlung von Spielen (Brettspiele, Puzzles, Ausrüstung für Mannschaftsspiele im Freien) und gedruckten Spielkatalogen sowie einen festen Raum (sofern das Haus der Pioniere, das Haus der Kulturen, die lokale Schule oder Bibliothek sich dies als gastgebende Organisation leisten konnte). Das Hauptziel einer Igroteka war es, jungen Menschen einen Platz zum Spielen zu bieten, während die Betreiber auf diesem Weg selbst Informationen über neue Spiele verbreiteten, lokale Pionierorganisationen und Institute der öffentlichen Bildung methodisch unterstützten und selbst Erfahrungen für ihre erzieherische Arbeit sammelten. Die erste Igroteka wurde 1934 in Sagorsk (heute Sergijew Possad) als Teil des Spielzeugmuseums gegründet, danach wurden weitere in anderen größeren Städten der UdSSR (Moskau, Leningrad, Rostow usw.) institutionalisiert. Seit Mitte der 1930er-Jahre breitete sich das Netzwerk der Igroteki über das ganze Land aus.[20]
Die Schaffung eines Netzwerks lokaler Igroteki sicherte die staatliche Kontrolle über die Spielpraktiken auf zwei Ebenen: der Spielinhalte und der allgemeinen Auslegung des Spiels. Die Spiele und Spielkataloge wurden zentralisiert verbreitet, was bedeutete, dass der Bestand der lokalen Klubs nahezu überall der gleiche war. Auf diese Weise machten staatliche Bildungseinrichtungen Spiele zugänglich, die den Jugendlichen neue politische und soziale Konventionen nahebringen sollten. Durch die Bereitstellung eines Klubraums konnte der Staat auch die allgemeine Interpretation des Spielverlaufs kontrollieren. Wie in dem Gedicht von Ágnija Bartó »In einem Klub« (1926) angedeutet, konnte sogar der Brettspielklassiker »Dame« in einem Klub ein ideologisch »richtiges« Spiel sein:
In einem Klub
Ein großer Arbeiter in blauer Jacke
Spielt Dame mit seinem Kumpel.
Il’ič [Lenin, N. L.] beobachtet sie von seinem Bilderrahmen aus
mit freundlichem und zärtlichem Blick.
Hier sind sie als Porträts an den Wänden
Lenin zusammen mit Krupskaja.[21]
V klube
Vysoki raboči v sinej rubaške
Igraet s tovariščem v šaški.
Smotrit iz ram Il’ič na nich
Dobrym i laskovym vzgljadom.
Vot – na bol’šich portretach stennych
On i Krupskaja rjadom.
Die 1920er- bis 1930er-Jahre waren eine der kreativsten Perioden in der Geschichte der sowjetischen Brettspiele. Die Idee, einen neuen Lebensstil von globaler Bedeutung zu schaffen, beeinflusste auch die Spieleproduktion. Brettspiele erklärten den Unterschied zwischen sozialistischer und kapitalistischer Lebensweise, lobten die Schaffung einer neuen Wirtschaft und die Erforschung neuer Gebiete, stellten Kämpfe zwischen »guten« revolutionären Kräften und »bösen« Imperialisten nach.[22] In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre begann sich die Haltung des Staates gegenüber der Praxis, Spiele zu Bildungszwecken bereitzustellen, zu ändern.[23] Ab 1936 wurden politische Brettspiele vom Komsomol verboten. Die Idee, dass Spiele »politisch« wirken könnten, wurde für unseriös und irreführend erklärt. Dagegen zeigte sich ein Trend zur Entpolitisierung von Spielen. Dessen treibende Kraft war Efim Minskin, der Leiter des Spielklubs im Moskauer Pionierpalast. Von den 1950er- bis hinein in die 1980er-Jahre veröffentlichte er mehrere Bücher über Spielpraktiken und Anleitungen zur Anfertigung von Brettspielen.[24] Diese Bücher wurden von der Regierung an alle Igroteki im Land verteilt. Die von Efim Minskin entwickelten Modelle und Spiele basierten auf traditionellen vorrevolutionären Spielen und ignorierten das Erbe der 1920er- bis 1930er-Jahre. Minskin betonte die Schulung der sozialen Disziplin durch das Spielen und schloss gleichzeitig einen politischen Zweck aus. In seinem 1958 erschienenen Buch Vsegda vsem veselo [Alle haben ständig Spaß] erläutert Minskin die Rolle von Spielen in der Bildung: »Ein gutes Spiel verlangt von den Spielern (...), die im Spiel auftretenden Hindernisse zu überwinden. Das Spiel gewöhnt sie an koordinierte Aktionen, an Genauigkeit und Pünktlichkeit bei der Lösung von Spielaufgaben und an die Verantwortung gegenüber der Mannschaft oder Gruppe, in der sie spielen. Mit der freiwilligen Unterwerfung unter die Spielregeln (...) wird die bewusste Disziplin der Spieler bestätigt und gestärkt. Schließlich werden im Spiel (...) viele Eigenschaften angesprochen, die der Spieler bewusst steuern kann: Unabhängigkeit, Ausdauer, Selbstbeherrschung, Durchhaltevermögen, Wille – ohne die ein Erfolg undenkbar ist.«[25]
Eines der wichtigsten Ziele von Igroteki war es, Spielaktivitäten aus Familien und inoffiziellen Kreisen in einen kontrollierteren Raum zu verlagern. Dieser Versuch war jedoch nur teilweise erfolgreich. Die Kultur des Brettspiels im Familienkreis blieb erhalten. Die Menschen spielten Spiele, die innerhalb der Familie weitergegeben wurden, handgefertigte Brettspiele oder auch Spiele, die in Kinderzeitschriften, wie z. B. Vesëlye kartinki (ab 1956) oder Murzilka (1924) veröffentlicht wurden. In den 1970er- und 1980er-Jahren veröffentlichte jede dieser Zeitschriften ein oder zwei Brettspiele pro Jahr. Die meisten davon waren herkömmliche »Reisespiele«: Die Spieler mussten ihren Spielstein mit Würfeln (mit Zahlen oder Farben) von Punkt A nach Punkt B bewegen. Es konnte eine Reise quer durch die Welt sein, quer durch die Sowjetunion, eine Reise von Stadt zu Stadt oder ein Parcours mit Militärübungen.[26] Die Einführungen zu diesen Spielen vermochten es häufig, eine überraschende Verbindung zwischen dem Spiel und dem tatsächlichen Ereignis des kommunistischen Kalenders herzustellen: »Du konntest nicht mit deinen Eltern an der Novemberdemonstration teilnehmen? Sei nicht traurig, spiel einfach das Spiel, bei dem du den Weg in deinen Kindergarten finden musst.«[27] Aber in den meisten Fällen waren die Situation und der Schauplatz des Spiels sehr abstrakt, ohne Erwähnung politischer Realitäten und historischer Ereignisse, die in einer sehr allgemeinen Weise dargestellt wurden. Die Massenbrettspiele der 1970er- bis 1980er-Jahre waren längst nicht so politisch engagiert wie ihre Vorgänger aus den 1920er-Jahren. Damals wurden Spiele genutzt, um politische Haltungen zum Ausdruck zu bringen, in der späten sozialistischen UdSSR zielten die »politisch engagiertesten« Spiele höchstens darauf ab, ohne besondere Aussage an sozialistische Feste und Rituale zu erinnern.[28]
In der spätsozialistischen Periode waren Spiele, die nicht von einer Zeitschrift gedruckt, aber dennoch offiziell vertrieben wurden, schwer zu finden, und das Repertoire war sehr begrenzt. Die beliebtesten waren Lottos (russische oder thematische Lottos sowie aus der DDR importierte Vogel- und Tierpark-Lottos), Quizspiele oder Reisespiele, die fast jede Familie besaß. Andere Spiele waren weitaus seltener: Tischkegeln, Flipper, Tischhockey oder sogar Roulette (»Disc-Lotto«) waren in der Sowjetunion sehr wertvoll und erzielen unter Sammlern heute immer noch hohe Preise. Der Mangel an Brettspielen wurde auch im populärsten Inventar der Igroteki deutlich: den Büchern von Efim Miskin – seine für Igroteki empfohlenen Spiele konnten von den Spielerinnen und Spielern selbst gefertigt werden.
Der Mangel an Brettspielen gepaart mit einer gewissen staatlichen Kontrolle führte in der späten UdSSR zur Blüte handgefertigter Brettspiele. Die meisten von ihnen basierten auf sowjetischen oder westlichen Vorbildern, Beispiele für von Grund auf neu entwickelte Spiele sind selten.[29] Die genaue Anzahl handgefertigter Brettspiele im Land einzuschätzen ist unmöglich, aber die meisten der Befragten erinnerten sich an mehrere Spiele, die in ihren Datschen aufbewahrt wurden. Kopien von »Monopoly« waren demnach am beliebtesten.[30] Die ersten bekannten Beispiele für handgefertigte Versionen von »Monopoly« entstanden in den frühen 1970er-Jahren (das früheste mir bekannte Beispiel stammt vermutlich aus der Zeit zwischen den Jahren 1971 bis 1973 von Sergej Šechov). In den frühen 1980er-Jahren war die Neugestaltung von »Monopoly«-Spielen dann ein weitverbreitetes Hobby. »Scrabble« und »Lotto« wurden ebenfalls häufig kopiert.
Das Herstellen und Vertreiben von selbst angefertigten Spielen störte den sowjetischen Geheimdienst KGB nicht. Daher fühlten sich selbst die Autorinnen und Autoren antisowjetischer Spiele sicher.[31]
»Monopoly« von Nikita Sokolov und Pavel Ševjakov
1979 fertigten Nikita Sokolov (heute ein berühmter russischer Historiker) und Pavel Ševjakov, damals beide noch Schüler, zusammen ihre erste »Monopoly«-Kopie an. Diese befindet sich bis heute im Familienbesitz der Sokolovs, eine Kopie wird im Archiv von Memorial International aufbewahrt.
Die Entstehungsgeschichte dieser handgefertigten Kopie ist typisch für die Sowjetunion. Wie Sokolov berichtet, hatten Ševjakov und er das Original-»Monopoly« gespielt, als sie einen Freund besuchten, dessen Vater ein sowjetischer Diplomat war. Da dieser viel Zeit im Ausland verbrachte und so verschiedene Aspekte der westlichen Kultur kennenlernte, kam er vermutlich auch mit Brettspielen in Berührung.[32]
Das »Monopoly« von Sokolov und Ševjakov ist keine exakte Kopie des Originals. Die Autoren beschlossen, den Schauplatz des Spiels zu ändern und die Topografie des damaligen Moskau mit dem Fokus auf Trinkhallen, Hotels und Ausnüchterungsanstalten zu verwenden. Auch neutralere Orte sind vorhanden, wie z. B. Objekte der städtischen Infrastruktur und (illegale) Taxidienste. Die Spielerinnen und Spieler müssen Bars und Restaurants kaufen, sie durch Investitionen in die Einrichtung aufwerten (die Tische waren aus Streichhölzern gemacht), Steuern zahlen und ihr Heil im Ziehen von Glückskarten finden. Alle Ereigniskarten sind kontextualisiert: »Lösche ein Feuer in deiner Seele, indem du ›Žiguli‹ besuchst.«[33] »Du kommst zu spät zu einem Termin. Suche einen privaten Taxifahrer. Wenn du am Bankschalter vorbeikommst, nimm 200.« »Du hast die Karten für das Taganka-Theater weiterverkauft. Jeder Spieler gibt dir 50.«[34] »Die Kollegen haben die Kaution hinterlegt. Du kannst die Ausnüchterungsanstalt verlassen. Behalte diese Genehmigung oder verkaufe sie weiter.« Das Spielbrett ist mit dem Motiv eines Cognacglases verziert. [[Abb. 1: Spielbrett der »Monopoly«-Kopie von Nikita Sokolov und Pavel Ševjakov, 1979]]
Alle im Spiel erwähnten Orte und Gegebenheiten zeichnen ein sehr realistisches Bild vom Moskau der späten 1970er-Jahre. Interessant ist, dass jedoch keine politischen oder ideologischen Klischees im Spiel abgebildet werden, nicht einmal scherzhaft. Außerdem gibt es keine Geheimpolizei oder staatliche Einrichtungen, wie z. B. Behörden oder Ämter. Die Spielerinnen und Spieler bewegen sich in einer Welt, in der der Staat kaum präsent ist.[35] In dieser Hinsicht kann »Monopoly« ein ideales Beispiel für Aleksej Jurčaks und Michail Bachtins Begriff der Deterritorialisierung sein, der sich darauf bezieht, wie ein Paralleluniversum und ein Paralleldiskurs konstruiert werden können, in denen eine Person existieren und sich ausdrücken kann, ohne dem offiziellen Diskurs zu widersprechen, oder indem sie ihn nicht beachtet.[36]
Wie einige der Forschungen zeigen, ist die »Monopoly«-Kopie von Sokolov und Ševjakov ein typisches Beispiel für das Kopieren des Spiels. Einige Jahre nach ihnen entwickelten Schülerinnen und Schüler der Stadt Pensa, 550 km südöstlich von Moskau, ebenfalls ihr eigenes »Monopoly«.[37] Das erste Exemplar stellten sie im Jahr 1982 her, es war ein reines Duplikat des Originals. Spielerinnen und Spieler kaufen und verkaufen amerikanische Staaten für Dollar. Mit jeder neuen Ausgabe wurden die Regeln jedoch komplizierter, und der Rahmen fiktiver. Die letzte Version bietet den Spielerinnen und Spielern die Möglichkeit, imaginäre Länder und viele verschiedene »Aktionsfelder« zu kaufen.
Das »Monopoly« von Sokolov und Ševjakov wurde zu einer Art Familienspiel. Nach der ersten Version entstanden weitere, alle mit dem gleichen Setting. Sokolov geht davon aus, dass niemand »ihre« Version des Spiels kopiert hat.
1984 oder: »Orwelliana« von Boris Belenkin
Der Titel dieses Spiels, »Orwelliana«, wurde durch sein Entstehungsdatum bestimmt. Es wurde von Boris Belenkin, 30-jähriger Kurator des Kinderfilmprogramms in einem kleinen Moskauer Kino, als Neujahrs-Partyspiel am Vorabend des Jahres 1984 entworfen. Die ursprüngliche Version des Spiels ging irgendwann verloren, weshalb sich Belenkin 1995 an einer Neuauflage versuchte, ohne diese jedoch je fertigzustellen. Dennoch erhielt das Spiel aufgrund dieser zweiten Version den Namen »Geschichte der Kommunistischen Allunions-Partei (Bolschewiki): Kurzlehrgang«. Die Einführung wurde neu geschrieben, ansonsten wurden jedoch keine wesentlichen Änderungen vorgenommen wie der Autor erklärte. Die Originalentwürfe der zweiten Version befinden sich in Belenkins Privatarchiv, eine Kopie wird im Archiv von Memorial International aufbewahrt.
Das Spiel ist in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Die ursprüngliche Spieltechnik wurde von anderen Reisespielen übernommen. Das Spiel beginnt im Jahr 1917. Würfeln, Aussetzen oder zusätzliche Runden bestimmen den Spielverlauf. Bei jedem Zug müssen die Spielerinnen und Spieler eine Aufgabe erfüllen, die mit dem Jahr, in dem sie sich laut Spielbrett gerade befinden, in Zusammenhang steht. Das heißt, sie müssen trinken, singen, deklamieren, bezahlen oder Unsinn machen, um im Spiel zu bleiben. Andernfalls kann es passieren, dass sie bis zu 80 Runden aussetzen müssen – ein Spiel konnte Stunden dauern und alles andere als einen ruhigen Verlauf nehmen. Nach den Regeln aus dem Jahr 1995 werden Anfang und Ende des Spiels von theatralischen Effekten begleitet. Am Anfang werden alle Requisiten vorgestellt. Am Ende intonieren alle Spielerinnen und Spieler die »Internationale« mit ihren Lippen auf einem Kamm. All dies machte »Orwelliana« zu einem gesellschaftlichen Ereignis. [[Abb. 2: Aktionskarten zum Spiel »Orwelliana« von Boris Belenkin mit Aufgabenstellungen, 1995 (Entwurfsfassung – die Originalversion von 1983 ging verloren)]]
Der Kern des Spiels ist eine satirische Darstellung der sowjetischen Geschichte. Wie der Autor in der Einleitung zu den Regeln (1995) erwähnt, »hat das ethisch Perverse [unserer Geschichte] Furcht hervorgerufen (...). Der beste Weg, mit dieser Angst umzugehen, ist zu lachen«. Das Spiel beginnt 1917 (Revolution) und endet mit der farbenfrohen Inschrift »1984«, die eine Assoziation mit dem Roman von George Orwell hervorrufen sollte. Jedes Jahr der sowjetischen Geschichte wird von einem Kommentar und einer Aufgabe begleitet – jeweils sarkastischer Natur. 1926: »Der böswillige Mord an Genosse Nette trifft dich nicht. Trage Majakovskis aus diesem Anlass verfasstes Gedicht auswendig vor. Wenn du das nicht kannst, nimm dir etwas Zeit und lerne es. Du kannst weitermachen, wenn die Aufgabe erfüllt ist.« 1939: »Herzlichen Glückwunsch zur Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes, Genosse! Es wird keinen Krieg geben, Genosse! Singe ›Deutschland, Deutschland über alles‹ mit der Melodie der Internationalen und ziehe nach 1941.« 1962: »Die Kubakrise überraschte dich, als du mit den sowjetischen Raketen auf der Insel Kuba warst. Iss einen Zuckerwürfel. Fühlst du dich besser? Singe danach laut von Anfang bis Ende ›Kuba, Ljubovʼ moja‹.[38] Wenn du den Text nicht kennst oder dein Bart nicht lang genug sein sollte [Referenz an Fidel Castro, N. L.], setze einmal aus.« Es gibt keine »guten« Jahre in diesem Spiel. Im besten Fall erhält man die Gelegenheit, etwas zu trinken und eine neue Runde zu spielen.
Die Spielerinnen und Spieler erhalten während des Spiels einige Symbole des sowjetischen Alltags. Das kann ein Abzeichen des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten NKWD sein, ein Mitgliedsausweis der Partei oder ein »Abzeichen für verdienstvolle Arbeit«. Spielerinnen oder Spieler, die der Partei oder der Geheimpolizei aufgrund des entsprechenden Abzeichens oder Ausweises nahestehen, haben keine Möglichkeit, bis zum Ende mitzuspielen, es sei denn, sie verwerfen ihren Status, was nicht leicht ist. Im Gegensatz dazu erhalten Spielerinnen und Spieler mit einem »Abzeichen für verdienstvolle Arbeit« zusätzliches Geld aus der gemeinsamen Kasse. Am schlechtesten ergeht es jedoch den Spielerinnen und Spielern, deren sowjetischer Pass im Feld »Nationalität« den Eintrag »Jude« enthält. Der staatliche Antisemitismus war in den 1980er-Jahren nicht so ausgeprägt wie in den frühen 1950er-Jahren, zeigte sich z. B. aber immer noch in einem begrenzten Anteil von Juden an den Universitäten.[39] Durch scharfe Seitenhiebe und Spiegelung des staatlichen Antisemitismus lässt der Autor jüdische Spielerinnen und Spieler die grausamsten »Strafen« und Verbote des Spiels erleiden. Ein weiteres Zeichen der Zeit ist die Tatsache, dass das Wort »Jude« selbst im Spiel nicht vorkommt, der Autor Euphemismen verwendet oder den Begriff einfach nur stillschweigend vermeidet: z. B. 1949: »Du bist derjenige [der Jude]. Und ein Genetiker.[40] Du musst eine Fliege fangen, um sie auf grausamste Weise zu zerlegen. Dann setze 80 Runden aus.«
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unternahm Belenkin den Versuch, die Originalversion des Spiels zu veröffentlichen, leider ohne Erfolg. Dennoch hat die Abschaffung der Zensur gezeigt, dass Belenkin nicht der einzige Autor sarkastischer Reisespiele über die sowjetische Geschichte war. 1991 veröffentlichte die Comic-Zeitschrift Večerni komsomolec das Brettspiel »Put k kommunizmu« (Weg zum Kommunismus) des Journalisten Lev Novožënov und seiner Koautoren. Dieses Spiel jedoch war weitaus klassischer (es war eine Parodie auf Spiele aus Jugendzeitschriften), für das Spiel in kleineren Gruppen gedacht und wesentlich weniger sarkastisch als »Orwelliana«. Belenkin war jedoch über die Veröffentlichung dieses Gegenstücks zu seinem Spiel schockiert. Erstens ruinierte die Veröffentlichung in Večerni komsomolec seine eigenen Pläne, »Orwelliana« zu veröffentlichen. Zweitens nahm er an, dass die Autoren von seinem Spiel wussten oder zumindest davon gehört hatten,[41] womit die Einzigartigkeit von Orwelliana in Frage gestellt war. [[Abb. 3+4: Spielfeld des Spiels »Put k kommunizmu« (Weg zum Kommunismus), veröffentlicht 1991 in der Zeitschrift »Večerni komsomolec«]]
Spiel ohne Titel von einem unbekannten Autor
Der Name dieses im Folgenden beschriebenen Spiels, seine ursprünglichen Regeln und auch der Name des Autors oder der Autorin sind nicht bekannt. Das einzige noch existierende Teil ist das Spielbrett. Es wurde dem Archiv von Memorial International Anfang der 2000er-Jahre mit der kurzen Anmerkung gestiftet, dass das Spielbrett von jemandem aus dem Kreis der Schriftstellerin Ljubovʼ Kabo entworfen wurde. Leider konnten darüber hinaus keine Informationen dazu gefunden werden, sodass alle weiteren Angaben aus der Analyse des Spielbretts selbst resultieren. Einigen Merkmalen des Spielbretts zufolge wurde das Spiel wahrscheinlich in den frühen 1980er-Jahren entworfen, höchstwahrscheinlich 1983 oder 1984. Im Jahr 2018 wurde das Spiel von Memorial International neu gestaltet und unter dem Titel »74. Nastolʼnaja igra po sovetskoj istorii« (74. Brettspiel zur sowjetischen Geschichte) veröffentlicht.
Die Grundidee des Spiels ist klassisch und ähnelt den Reisespielen des Magazins Vesëlye kartinki. Spielerinnen und Spieler reisen durch die sowjetische Geschichte. Die Reise beginnt 1917 und endet im Jahr 2000. Mehrere Merkmale machen das Spieldesign jedoch einzigartig.
Erstens bewegen die Spielerinnen und Spieler ihre Spielsteine parallel auf zwei getrennten Wegen. Einer davon beschreibt eine historische Linie, jedes Feld ist einem Jahr von 1917 bis 2000 zugeordnet. Die Felder unterscheiden sich farblich, historische Ereignisse werden auf dem Spielbrett nicht ausgewiesen. Je nach Feld müssen die Spielerinnen und Spieler eine Runde aussetzen, eine zusätzliche Runde drehen oder ihren Spielstein zurücksetzen. Bei der Entscheidung, die Ereignisse nicht schriftlich festzuhalten, setzten die Autoren wohl auf eine selbstverständliche Kenntnis der Ereignisse in den jeweiligen Jahren. Der zweite Weg beschreibt Ereignisse und Zustände im Verlauf eines Lebens, wie z. B. Angst, Unfall, Trinkgelage – die meisten davon eher negativ. Höchstwahrscheinlich sollten die Spielerinnen und Spieler ein Tagebuch über ihre »Reise« führen, um Zusammenhänge zwischen den Ereignissen auf beiden Wegen herzustellen. [[Abb. 5: Spielbrett des Spiels ohne Namen, Anfang der 1980er-Jahre]]
Ungewöhnlich ist auch die Möglichkeit, die Reiseroute zu ändern. Die Spielerinnen und Spieler können aus dem Land auswandern, sich den Herausforderungen der Auswanderung stellen und sich dann auf eine alternative historische Route begeben. Sie können 1941 in die Armee eintreten und an die Front gehen, wo sie höchstwahrscheinlich getötet werden. Die letzte Möglichkeit besteht darin, in den Gulag geschickt und in eines der Gefängnisse verlegt zu werden. Diese Merkmale zeigen, dass die Autoren in Bezug auf das Spieldesign von »Monopoly« oder »Spiel des Lebens« inspiriert gewesen sein könnten.
Das Leben in der Sowjetunion wird als ein Überlebenskampf dargestellt. Die Spieler können von elf Feldern aus im Gefängnis landen (13 Prozent der Felder auf der historischen Linie). Sechs Felder auf der historischen Linie bringen der Spielfigur den Tod (7 Prozent). Die meisten dieser Felder sind im ersten Teil des Spiels angesiedelt: Bis zu Stalins Tod (1953) kann man sechs Mal verhaftet (1929, 1934, 1937, 1946, 1949, 1952) und auch sechs Mal getötet werden (1918–1920 während des Bürgerkrieges, 1931/1932 infolge von Hunger und 1941). Der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei (1956), auf dem Chruščëv mit dem Personenkult um Stalin brach, markiert den Beginn einer neuen, »weniger brutalen« Spielhälfte. Die Spielregeln ändern sich leicht. Nach 1956 gibt es keine »Todesopfer«, wohl aber fast die gleiche Anzahl von Gefängnisfeldern (1957, 1960, 1970, 1974 und 1980). Einige der »Gefängnisjahre« sind leicht zu erklären (1929: Kollektivierung, 1934: Mord an Kirov usw.), andere schwieriger (z. B. 1960).
Die Spielerinnen und Spieler können den grausamen Realitäten der sowjetischen Geschichte, wie gesagt, auch entfliehen und auswandern. Im Jahr 1918 eröffnet sich mit der Emigration eine kurze zusätzliche Geschichtslinie, die durch einen »Auswandererkreis« fortgesetzt wird. Dieser Kreis umfasst Realitäten der imaginären westlichen Welt: Spielerinnen und Spieler können z. B. eine große Geldsumme erben, drogenabhängig werden oder eine Zusammenarbeit mit der CIA eingehen. Der Ausweg aus dem Kreis ist das Jahr 1946, in dem sich die Spielerinnen und Spieler wieder in einem der Ostblockländer niederlassen können. Andere Auswanderungsfelder lassen sich mit dem Kriegsende (1945) und dem Beginn der Repatriierung der Juden in den 1970er-Jahren (1972, 1977) erklären.
Im Gegensatz zu »Orwelliana« gibt es in diesem Spiel nicht nur »negative« Ereignisse: »gute« Jahre (mit einem zusätzlichen Zug) sind z. B. 1943 (Ende der Schlacht von Stalingrad?), 1945, 1956 (der XX. Parteitag der KPdSU) und 1961 (Juri Gagarins Weltraumflug). Die Wahl von »guten« und »schlechten« Jahren wirft ein Licht auf den sozialen und kulturellen Hintergrund der Autoren. Offensichtlich kamen sie aus dem Dissidenten-Milieu. Dafür spricht auch, dass sie Ljubovʼ Kabo nahestanden.
Das Spielbrett ist übersichtlich gestaltet, aber es enthält scheinbar auch Fehler und fragliche Felder, die sich nicht durch die Spielregeln erklären lassen. Dies und die Tatsache, dass niemand im Umfeld von Ljubovʼ Kabo je das Spiel gespielt zu haben scheint, lassen vermuten, dass das Spiel nie gespielt wurde bzw. gar nicht gespielt werden sollte. Höchstwahrscheinlich entstand es in einer Gemeinschaftsaktion und stand symbolisch für die gemeinsamen Überzeugungen innerhalb der Gruppe. Vielleicht war es auch einfach ein besonderes Geburtstagsgeschenk.
Nach allem, was über »Orwelliana« oder »Weg zum Kommunismus« bekannt ist, wird deutlich, dass diese Art der Darstellung der sowjetischen Geschichte nicht ungewöhnlich war. Aber selbst wenn alle in diesem Spiel ohne Titel erwähnten Ereignisse offen erklärt werden, gleicht es eher einem Rätsel für »svoi«[42], d. h. für einen Kreis enger Freunde oder Angehöriger, die die Schlüsseldaten dieser Darstellung der sowjetischen Geschichte verstehen.
Subversives Spielen – Spielwissen und Spielpraktiken
Existenz und Verbreitung handgefertigter Spiele wurden durch zwei Faktoren beeinflusst: durch die Konzeption der Urheberschaft des Spiels und das Fehlen stabiler Brettspielgemeinschaften in der Sowjetunion.
In Bezug auf die Urheberschaft muss zwischen der sowjetischen Massenproduktion und der Herstellung von handgefertigten Spielen unterschieden werden. Im ersten Fall gab es kein Konzept der Urheberschaft.[43] Den meisten Spielen, die als Massenprodukt erschienen, lag die gleiche Spielidee zugrunde, Variationen der Kulisse änderten nichts an der Spieltechnik. Brettspiele, die in Jugendmagazinen wie Vesëlye kartinki oder Murzilka veröffentlicht wurden, wurden mit dem Namen des Spielbrett-Designers, nicht aber des Entwicklers versehen. Auch wenn Efim Minskin in seinen Büchern Hunderte von Spielbeschreibungen veröffentlichte, ist offensichtlich, dass, selbst wenn diese Beschreibungen auf Minskin zurückgeführt werden können, die Spiele selbst zumindest auf ein Autorenkollektiv zurückgehen. Aber Minskin hatte scheinbar nicht die Absicht, die Namen der Autorinnen und Autoren zu überliefern. Spiele sind nicht generell das Eigentum von jemandem, nur durch ihre offizielle Publikation können sie als ein autorisiertes Werk betrachtet werden.
Im Gegensatz dazu konnten selbst gemachte Brettspiele der Autorin oder dem Autor nicht »weggenommen« werden. In den drei beschriebenen Beispielen haben die Autoren ihre Spiele nicht signiert, aber das war auch nicht nötig. Fast alle potenziellen Spielerinnen und Spieler wussten wohl genau, wer die Autoren waren. Sogar heute noch nennen die Interviewpartnerinnen und -partner sie beim Namen des Autors: »Belenkins Spiel« oder »Sokolovs Monopoly«. Stets bestand eine enge Verbindung zwischen dem Autor und seinem Spiel: Wenn das Spiel kein Geschenk war, war es höchstwahrscheinlich der Autor selbst, der den Spielerinnen und Spielern das Spiel vorstellte und an den meisten Spielen auch selbst teilnahm. Sowohl Sokolov als auch Belenkin erwähnten in den Interviews, dass sie ihre Spiele im Laufe der Jahrzehnte nur wenige Male an jemanden ausgeliehen hätten.
Die Spiele waren für Familie und Freunde gemacht. Sie waren voll von verbotenem Humor und riskanten Aussagen und basierten auf gemeinsamen Werten, Meinungen und Wahrnehmungen. Die weite Verbreitung so eines handgefertigten Spiels hätte Schwierigkeiten für die Autoren bedeuten können. Es gab auch keine inoffiziellen Spiele-Gemeinschaften, die die Botschaft eines neuen Spiels an verschiedene soziale Gruppen hätten weitergeben können. Jahre nach der Entwicklung eines Spiels wussten in der Regel immer noch nur wenige Menschen von seiner Existenz.
Fazit
Die handgefertigten Brettspiele der 1970er- bis 1980er-Jahre haben die Tradition der Spiele aus den 1920er-Jahren fortgesetzt. Spiele beider Perioden waren auf die eine oder andere Art politisch aussagekräftig und keinem »hypernormalisierten« offiziellen Diskurs unterworfen.[44] Dieser existierte in den 1920er-Jahren auch noch gar nicht und wurde in den 1970er- bis 1980er-Jahren aktiv vermieden (oder verhindert). Dadurch unterscheiden sich handgefertigte Spiele deutlich von offiziell veröffentlichten Brettspielen: Das Szenario und die Botschaft offiziell genehmigter Spiele waren zumeist entpolitisiert und abstrakt. Das »Monopoly«-Spiel von Sokolov bildet das soziale und kulturelle Leben im Moskau der 1970er-Jahre ab, wobei die staatlichen Institutionen keine Erwähnung finden. »Orwelliana« und das zuletzt beschriebene Spiel ohne wirklichen Namen waren als satirische Reisen durch die sowjetische Geschichte konzipiert. Sie prangerten das totalitäre Regime und seine Praktiken an.
Die Verbreitung von handgefertigten Brettspielen in den 1970er- bis 1980er-Jahren ist schwer nachzuvollziehen. Alle wurden innerhalb von Familien aufbewahrt, in Datschen versteckt oder sind einfach verschwunden, wurden im Verlauf der Jahre oder bei Kinderspielen zerstört. Vergleicht man jedoch den sozialen Hintergrund der Spieleautorinnen und -autoren, lässt sich erahnen, in welchen Milieus diese Spiele verbreitet waren. Es wurden Schülerinnen und Schüler erwähnt, die »Monopoly« in Moskau und Pensa (und höchstwahrscheinlich nicht nur in diesen Städten) kopiert und neu erfunden haben. Das erste Design eines »sowjetischen Monopoly« geht auf einen Studenten des Moskauer Polygraphischen Instituts zurück. Der Autor von »Orwelliana« war ein Außenseiter der sowjetischen Gesellschaft. Als Jude und Sohn eines »Staatsfeindes« gehörte er zur Moskauer Boheme ohne festen Arbeitsplatz. Die Autoren des dritten Spiels stammten vermutlich aus literarischen Kreisen. Diese Vielfalt der sozialen Milieus zeigt, dass handgefertigte Brettspiele in den 1980er-Jahren in sehr unterschiedlichen Familien und Kreisen zu finden waren. Vielleicht trägt die »sowjetische Nostalgie« eines Tages dazu bei, noch mehr Spiele ausfindig zu machen. Aus heutiger Sicht können handgefertigte Spiele als Teil des kulturellen Erbes der späten Sowjetunion betrachtet werden, die die Struktur der sozialen Verbindungen aufzeigen und das Leben in den Kommunen sowie die Geschwindigkeit und Qualität des kulturellen Austauschs zwischen Städten verstehen helfen.
Dass bisher nur wenige handgefertigte Spiele bekannt sind, hängt mit den Besonderheiten der Verbreitung der Spiele in der späten Sowjetzeit zusammen. Im Gegensatz zu offiziell genehmigten und in Millionen Exemplaren gedruckten Brettspielen waren selbst gefertigte Spiele außerhalb des sozialen Umfeldes der Autorin oder des Autors weitgehend unbekannt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens durften sie nicht öffentlich gespielt werden – weder auf der Straße noch in öffentlichen Einrichtungen. Zweitens begrenzte die politische Aussage, die hinter dem Spiel steckte, seine Verbreitung auf die Kreise, in denen diese Haltung verstanden und geteilt wurde. Ein weiterer Grund ist die Qualität der Brettspiele. Wie geschildert, hat keiner der Autoren mehr als ein Spiel produziert. Sie waren keine Profis. Für sie waren die Aussage oder der Schauplatz viel wichtiger als ästhetische Schönheit oder Gameplay-Features. Folglich wusste in den 1970er- bis 1980er-Jahren nur eine sehr begrenzte Anzahl von Menschen über diese speziellen Spiele Bescheid, und noch weniger Menschen können heute etwas darüber erzählen.
Tatsächlich war jedes Brettspiel, insbesondere wenn es eine klare antisowjetische Botschaft enthielt, für die Gemeinschaft der Spielerinnen und Spieler sehr wichtig. Das Spielen von Spielen im Untergrund war eine Möglichkeit, Werte und politische Ansichten zu teilen (oder die Missachtung jeglicher politischer Vorgaben). Deshalb konnte ein Spiel wesentlich zur gemeinsamen Identität einer Gruppe beitragen. Das wurde auch in den geführten Interviews deutlich. Die Interviewten hatten im Allgemeinen keine Kenntnis von irgendeinem anderen »besonderen« Spiel außer dem, das in ihrer Gruppe gespielt wurde.
Die Perestroika und der Zusammenbruch der Sowjetunion hatten enorme Auswirkungen auf diese Spiel-Gemeinschaften. Sie wurden stark durch die Abschaffung der Zensur und die Öffnung des Marktes für übersetzte Spiele beeinflusst. Die originale »Monopoly«-Ausgabe und seine Abwandlungen trugen den Sieg über die handgefertigten Brettspielen davon. Mit der Einführung der Meinungsfreiheit verloren auch politische Spiele ihren Reiz. Unvollendete Versuche, 1995 ein Remake von »Orwelliana« zu schaffen, und das Vergessen des Spiels aus dem Kreise Kabos zeigen, dass das Umfeld, in dem die Spiele existierten, mit dem Ende der Sowjetunion zerfiel. Im Laufe der Jahre verschwanden die Spiele und gerieten gänzlich in Vergessenheit.
[1] Diese Arbeit wird von der Russischen Wissenschaftsstiftung unter der Nr. 19-78-10076 gefördert.
[2] 1995 verfasste Spielregeln zum Spiel »Orwelliana« (ein kurzer Überblick über die Geschichte des Spiels folgt weiter unten).
[3] Die Rolle von Gruppen von Freunden und Gleichgesinnten in der späten UdSSR ist eines der Schlüsselthemen in der antropologischen und soziologischen Forschung über die späte Sowjetunion: Alexandr Genis/Pëtr Vajlʼ: 60-e, mir sovetskogo čeloveka [1960er-Jahre. Die Welt des Sowjetbürgers], Moskau 1996; Stanislav Savitski: Andegraund. Istorija i mify leningradskoj neoficialʼnoj literatury [Untergrund: Geschichte und Mythen der inoffiziellen Leningrader Literatur], Moskau 2002; Alexander Daniel: Istoki i smysl sovetskogo samizdata [Ursprung und Bedeutung des sowjetischen Samisdat], in: Antologija samizdata. Nepodcenzurnaja literatura v SSSR [Samisdat-Anthologie. Unzensierte Literatur in der UdSSR], Bd. 1, Moskau 2005, S. 17–33; Catriona Kelly: Children’s World: Growing Up in Russia, 1890–1991, New Haven, London 2007; Aleksej Jurčak: Éto bylo navsegda, poka ne končilosʼ. Poslednee sovetskoe pokolenie [Alles war für immer, bis es nicht mehr war: Die letzte Sowjetgeneration], Moskau 2014.
[4] Memorial International (Moskau) ist eine NGO, die sich mit der Geschichte der politischen Repressionen in der UdSSR befasst. Seit 1989 gehören auch eine Bibliothek, ein Archiv und ein Museum dazu.
[5] Die in der Arbeit erwähnten Informationen über die Geschichte der handgefertigten Brettspiele und Spielpraktiken basieren auf einer Reihe von Interviews, darunter auch Interviews mit den Autoren der erwähnten Spiele: Nikita Sokolov (Oktober 2019), Boris Belenkin (September 2019, April 2020), Lev Novožënov (Mai 2020). Im Rahmen der Gespräche wurden die Autoren nach den Ursprüngen des Spiels, seiner Entwicklung, den Spielpraktiken und nach anderen handgefertigten Brettspielen gefragt. Die zweite Gruppe der Interviewten waren Spielerinnen und Spieler der 1970er- bis 1980er-Jahre: Tatʼjana Safronova (Oktober 2019), Aleksej Makarov (Oktober 2019), Ekaterina Belenkina (März 2020), Irina Šerbakova (April 2020), Ekaterina Šklovskaja (April 2020). Diese Interviews konzentrierten sich auf die Fragen nach der Wahrnehmung von Spielen und der Rolle der Spiele in der Gemeinschaft.
[6] Boris Dubin/Juri Levada: Sovetski prostoj čelovek. Opyt socialʼnogo portreta na rubeže 1990-ch [Der gewöhnliche Sowjetbürger. Versuch eines Gesellschaftsporträts zur Wendezeit der 1990er-Jahre], Moskau 1993; Genis/Vajlʼ: 60-e (Anm. 3); Ilʼja Utechin: Očerki kommunalʼnogo byta [Essays über das Leben in der Gemeinschaft], Moskau 2004; Jurčak: Éto bylo navsegda (Anm. 3).
[7] Igorʼ Orlov: Sovetskaja povsednevnostʼ: istoričeski i sociologičeski aspekty stanovlenija [Alltagsleben in der Sowjetunion: historische und soziologische Aspekte seines Entstehens], Moskau 2010; Natalʼja Lebina: Passažiry kolbasnogo poezda. Étjudy k kartine byta rossiskogo goroda 1917–1991 [Passagiere des Wurstzuges. Essays zum Alltag in einer russischen Stadt: 1917–1991], Moskau 2019.
[8] Marina Kostjuchina: Detski orakul. Po stranicam nastolʼno-pečatnych igr [Orakel der Kindheit. Durch die Seiten der gedruckten Brettspiele], Moskau 2013.
[9] Auch hier ist das Forschungsgebiet überschaubar. Bisher gibt es nur wenige Artikeln, die sich mit dem Thema beschäftigen: Roman Abramov/Ekaterina Rise: Šachmatisty i vollejbolisty: étnografija soobščestv parka Caricyno [Schach- und Volleyballspieler: Ethnografie der Gemeinschaften vom Zarizyno-Park], in: Caricyno. Attrakcyon s istoriej [Zarizyno: Ein Spielplatz mit Geschichte], Moskau 2014; Roman Abramov: Nastolʼnye ékonomičeskie igry v pozdnem SSSR i osvoenie praktik delovoj aktivnosti sovetskimi školnikami [Business-Brettspiele in der späten UdSSR und die Entwicklung von Geschäftspraktiken unter sowjetischen Schulkindern], in: Labirint (2016), H. 6, S. 22–32.
[10] Darunter »Spiele unserer Kindheit. Restaurierung« (vk.com/nastolnye_igry_nashego_detstva [ges. am 29. April 2020]) sowie die Web-Community um Tesera (tesera.ru [ges. am 29. April 2020]).
[11] Olena Nikolayenko: Contextual Effects on Historical Memory: Soviet Nostalgia Among Post-Soviet Adolescents, in: Communist and Post-Communist Studies (2008), H. 41, S. 243–259; Maria Todorova/Zsuzsa Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, New York 2010; Jekaterina Kalinina: Mediated Post-Soviet Nostalgia, Stockholm 2014; Otto Boele/Boris Noordenbos/Ksenia. Robbe (Hg.): Post-Soviet nostalgia: Confronting the Empire’s Legacies, New York, London 2020.
[12] Muzej socialističeskogo Byta [Museum der sozialistischen Lebensweise] (muzeisb.ru [ges. am 29. April 2020]).
[13] Das erste war das Museum der UdSSR im Allrussischen Ausstellungszentrum (vor Kurzem geschlossen). Siehe Muzei SSSR na VVC [Museum der UdSSR im Allrussischen Ausstellungszentrum], in: moscowwalks.ru/2013/01/24/muzei-sssr-vvc-moskva/ (ges. am 29. April 2020).
[14] Muzej sovetskogo Byta »Sdelano v SSSR« [Museum des sowjetischen Alltags »Made in USSR«] (ural-madeinussr.ru [ges. am 29. April 2020]).
[15] Für eine Analyse der sowjetischen Nostalgie-Museen siehe Roman Abramov: Grani neformalʼnoj muzeefikacii »realʼnogo socializma«: materializacija nostalʼgičeskogo affecta [Aspekte der informellen Musealisierung des »realen Sozialismus«: Verkörperung des nostalgischen Affekts], in: Politika affekta. Muzej kak prostranstvo publičnoj istorii [Politik des Affekts: Museum als öffentlicher Geschichtsraum], Moskau 2019, S. 89–110. Erwähnenswert ist auch die Eröffnung eines Museums für sowjetische Nostalgie in Krasnojarsk (Museum »Ploshad Mira«) im Jahr 2017.
[16] Zur Wanderausstellung »Po puti geroev« [Auf den Spuren der Helden] des Spielzeugmuseums in Sergijew Possad (2011) siehe Vystavka Sovetskih Nasolnykh Igr [Ausstellung sowjetischer Brettspiele], in: boardgamer.ru/vystavka-sovetskix-nastolnyx-igr (ges. am 29. April 2020); »Sovetskaya igroteka« organisierte das Museum des Lachens »Trickster« in St. Petersburg (2012, 2019), in: (ges. am 29. April 2020).
[17] Stanislava Smagina, Direktorin des Museums »Trickster« in St. Petersburg, beschreibt ihre Ausstellung als »sowjetischen Spielplatz«: »Zunächst einmal ist die Igroteka für Erwachsene oder Familien konzipiert. Die Spiele sind in mehrere Blöcke unterteilt. Die ersten sind Logik- und Ratespiele aus verschiedenen Jahren. Es gibt Ratespiele sowohl aus den Jahren 1936 als auch aus den 1950er-Jahren. (...) Es gibt ein Ratespiel aus dem Jahr 1959, ›Wie gut Sie sich mit Kunst auskennen‹. Es ist interessant, die heutige Bildung mit der von 1959 zu vergleichen (...). Es gibt sogar Reisespiele. Aber in den 1960er-Jahren würfelte man nicht einfach und zog los, die Regeln verlangten nach Logik.« Ljudmila Levitina: V muzee smecha vsë leto možno igratʼ v sovetskie nastolʼnye igry [Im Museum des Lachens kann man den ganzen Sommer lang sowjetische Brettspiele spielen], 15. Juli 2012, in: The Village, www.the-village.ru/village/weekend/events/114231-v-muzee-smeha-vse-leto-mozhno-igrat-v-sovetskie-nastolnye-igry (ges. am 29. April 2020).
[18] Bogemnii2.0: 20 nastolʼnych igr vremën SSSR: o nich mečtali vse sovetskie deti [20 Brettspiele aus der UdSSR, von denen alle sowjetischen Kinder geträumt haben], in: pikabu.ru/story/20_nastolnyikh_igr_vremen_sssr_o_nikh_mechtali_vse_sovetskie_deti_7366656 (ges. am 29. April 2020).
[19] Siehe Lebina: Passažiry kolbasnogo poezda (Anm. 7), S. 206–223.
[20] Sergej Luparenko: Detskaja igroteka v sisteme neformalʼnogo obrazovanija v SSSR [Die Igroteka für Kinder im System der außerschulischen Bildung in der UdSSR], in: Gumanitarnye issledovanija (2014), H. 3, S. 114–118.
[21] Siehe Kostjuchina: Detski orakul (Anm. 8), S. 384 f. Siehe auch: Roman Ljubavski: »V klub raboči ot stanka metallist šagaet«: dejatelʼnostʼ klubov dlja rabočich v Charʼkove v 1920-e gody [»Hüttenarbeiter geht nach der Arbeit zum Club«: Clubs für Werktätige in Charkiw in den 1920er-Jahren], in: Bulletin des Deutschen Historischen Instituts Moskau (2012), H. 7, S. 41–54. Übersetzung durch Übersetzer.
[22] Kostjuchina: Detski orakul (Anm. 8), S. 383–416.
[23] Gleichzeitig wuchsen die Autorität und der Einfluss der wichtigsten Institution für Pressezensur »Glavlit« [Generaldirektion für den Schutz von Staatsgeheimnissen in der Presse]. Siehe Arlen Blum: Sovetskaja cenzura v epochu totalʼnogo terrora, 1929–1953 [Sowjetische Zensur in den Jahren des totalen Terrors, 1929–1953], Moskau 2000.
[24] Efim Minskin: Pionerskaja igroteka, Moskau 1962 (2. Aufl. 1968, 3. Aufl. 1987) [dt. Fassung: Spielmagazin, Berlin 1965].
[25] Ders.: Vsegda vsem veselo. Sbornik igr dlya pionerov i shkolnikov [Alle haben ständig Spaß. Eine Sammlung von Spielen für Pioniere und Schulkinder], Moskau 1958.
[26] Zu Reisespielen siehe auch den Beitrag von Juliane Brauer in diesem Band.
[27] Vesëlye kartinki (1974), H. 11.
[28] Jurčak: Éto bylo navsegda (Anm. 3), S. 154–164.
[29] Ein seltenes Beispiel ist ein handgefertigtes Tischfußball-Spiel des Linguisten Andrej Zaliznjak, beschrieben in: Marija Buras: Istina suščestvuet. Žiznʼ Andreja Zaliznjaka v rasskazach eë očevidcev [Die Wahrheit existiert. Das Leben von Andrej Zaliznjak, wie es von seinen Zeitzeugen erzählt wird], Moskau 2019.
[30] Siehe dazu den Beitrag von Martin Thiele-Schwez in diesem Band.
[31] Parallelen zum Fall des ostdeutschen »Bürokratopoly« sind aus der Sowjetunion nicht bekannt. Martin Böttger: Doppeltes Gesellschaftsspiel, in: Michael Geithner/Martin Thiele (Hg.): Nachgemacht. Spielekopien aus der DDR, Berlin 2013, S. 19–23; zu »Bürokratopoly« siehe auch den Beitrag von Martin Thiele-Schwez in diesem Band.
[32] Für die meisten Sowjetbürger war der Westen eine Traumwelt mit guter Kleidung, RockʼnʼRoll und Jazz. Wie Igorʼ Orlov, Aleksej Popov und Dmitrij Vasilʼev gezeigt haben, können weder Touristen noch illegale Händler in diesem Sinne als Kulturträger betrachtet werden. Igorʼ Orlov/Aleksej Popov: Skvozʼ železnyj zanaves. Russo turisto: sovetski vyezdnoj turizm, 1955–1991 [Durch den Eisernen Vorhang. Russo turisto: Sowjetischer Auslandstourismus, 1955–1991], Moskau 2016; Dmitrij Vasilʼev: Farcovščiki. Kak delalisʼ sostojanija. Ispovedʼ ljudej »iz teni« [Fartsovshiki. Wie ein Vermögen gemacht wurde. Bekenntnisse aus der »Schattenwelt«], Sankt Petersburg 2007.
[33] »Žiguli« ist der Name eines beliebten sowjetischen Bieres und einer Bierstube in der Arbat-Straße im Zentrum Moskaus.
[34] Unter der Leitung des berühmten Regisseurs Juri Ljubimov und mit Schauspielern wie Vladimir Vysotski, Inna Ulʼjanova, Leonid Filatov und anderen in den Hauptrollen war das Taganka-Theater eines der angesagtesten Theater der 1960er- und 1970er-Jahre in Moskau.
[35] Der Staat wird als Betreiber des Ausnüchterungszentrums und der »Specmedizina« – eines speziellen medizinischen Dienstes für Menschen, die an Alkoholvergiftung leiden – präsentiert.
[36] Jurčak: Éto bylo navsegda (Anm. 3), S. 255–258. Zur Veranschaulichung seiner Überlegungen zitiert Jurčak die von einem anderen Autor, Sergej Dovlatov, verfasste Beschreibung der Lebensweise des Dichters Iósif Bródckij: »Bródckij schuf ein beispielloses Verhaltensmodell. Er lebte nicht in einem proletarischen Staat, sondern in einem Kloster seines eigenen Geistes. Er haderte nicht mit dem Regime. Er beachtete es einfach nicht. Er war sich dessen Existenz nicht wirklich bewusst. Seine Unkenntnis in der Sphäre des sowjetischen Lebens könnte vorgetäuscht erscheinen. Zum Beispiel war er sicher, dass Dėeržinckij am Leben war. Und dass Komintern der Name einer Musikgruppe war. Er konnte die Mitglieder des ZK-Politbüros nicht nennen. Als die Fassade des Gebäudes, in dem er lebte, mit einem sechs Meter langen Porträt von Mžavanadze geschmückt wurde, fragte Bródckij: »Wer ist das? Er sieht aus wie William Blake.«
[37] Abramov: Nastolʼnye ékonomičeskie igry (Anm. 9).
[38] »Kuba, Ljubovʼ moja« [Kuba, meine Liebe], interpretiert von Muslim Magomaev, ist ein sowjetischer Schlager aus den 1960er-Jahren. Ironischerweise wurde der Song im Jahr der Kubakrise 1962 geschrieben.
[39] Zum staatlichen Antisemitismus siehe Zvi Gitelman: A Century of Ambivalence: The Jews of Russia and the Soviet Union. 1881 to the present, Bloomington 2001; Boris Belenkin/Irina Šerbakova (Hg.): Brombergʼs Violin. Anti-Jewish Campaigns in the USSR, Moskau 2020.
[40] Die Genetik als Zweig der sowjetischen Wissenschaft wurde aufgrund der Repressionen Ende der 1930er-/Anfang der 1940er-Jahre buchstäblich zerschlagen.
[41] Dies ist unwahrscheinlich. Wie Lev Novožënov, einer der Autoren des Spiels, feststellte, wurde das Spiel als bloße Parodie auf sowjetische Reisespiele entworfen und veröffentlicht (siehe auch Anm. 6).
[42] Russisch »svoi« bedeutet wörtlich »unser« – es kann sich auf die Familie, den Kreis enger Freunde und zuverlässiger Menschen beziehen, die die gleichen Werte und Interessen teilen.
[43] Wie Cynthia Schönfeld gezeigt hat, gilt dies auch für die Spieleindustrie in der DDR. Cynthia Schönfeld: Spiele und Spieleherstellung in der DDR, in: Geithner/Thiele (Hg.): Nachgemacht (Anm. 31), S. 55–58.
[44] Nach Jurčak ist die Hypernormalisierung die letzte Stufe in der Entwicklung des ideologischen Diskurses. In diesem Stadium sind die formale Struktur des Satzes und die Verwendung von »ideologisch korrekten« Wörtern wichtiger als die Idee dahinter (Jurčak: Éto bylo navsegda [Anm. 3], S. 119).