Im Jahr 2000 erhielt Eric R. Kandel den Nobelpreis für Medizin für seine Forschungen zum Gedächtnis. Durch seine Studien mit der Seeschnecke Aplysia wurde bekannt, auf welcher neurowissenschaftlichen Basis menschliche Erinnerungen entstehen.[1] Doch viele Gedächtnisprozesse gelten immer noch als wenig erforscht. Persönlich bedeutsame Erinnerungen (»Mein erster Kuss«) bleiben häufig lebenslang abrufbar. Und wer nur alt genug ist, wird sich noch recht detailliert erinnern können, was sie oder er am Tag des Mauerfalls 1989 getan hat. »Relevantes« Schulwissen, wie etwa die Berechnung des Scheitelpunkts einer Parabel (Mathematik der 9./10. Klassenstufe), haben die meisten Menschen hingegen bereits kurz nach Schulabschluss vergessen.
Zudem gibt es Gedächtnisinhalte, die die meisten Menschen gerne vergessen würden, aber nicht können. Der Gedächtnisforscher Daniel L. Schacter bezeichnet es als »Sünde der Persistenz«, dass es aufdringliche und unerwünschte Erinnerungen gibt, die nicht verlorengehen.[2] Dazu können auch Erfahrungen von politischer Unterdrückung und Verfolgung in der Vergangenheit gehören.
Die Auseinandersetzung mit den langfristigen Folgen von Repressionen in der DDR steht in letzter Zeit immer stärker im Zentrum der Forschung.[3] Als gut untersucht können die psychischen Folgen von politischer Inhaftierung in der DDR, als eine Maximal-Form der staatlichen Repression, angesehen werden. Es wird angenommen, dass zwischen 1949 und 1990 zwischen 200 000 und 250 000 Personen aus politischen Gründen wie Wehrdienstverweigerung, versuchte Republikflucht oder offen geäußerte Kritik am Staatssozialismus inhaftiert waren. Die dazu vorliegenden Studien zeigen recht eindeutig ein erwartungskonformes Muster: Personen, die aus politischen Gründen in der DDR eingesperrt wurden, leiden psychisch vielfach auch nach Jahrzehnten noch an den Folgen: Sie haben häufig posttraumatische Belastungsstörungen, sie berichten über mehr Ängstlichkeit, Depressivität und körperliche Beschwerden und eine geringere Lebensqualität.[4]
Aber auch alle anderen denkbaren Formen staatlicher Unterdrückung, wie etwa die Bespitzelung und Überwachung, das Verbreiten von Gerüchten, Benachteiligungen in Ausbildung und Beruf, das Unterstellen beruflichen Fehlverhaltens oder der Entzug von Vermögen können bei den Betroffenen psychisches Leid als Langzeitfolge verursachen. Die von ihnen berichteten Beschwerden unterscheiden sich in Qualität und Quantität kaum von Personen, die inhaftiert waren.[5]
Eine Inhaftierung aus politischen Gründen durch die Staatssicherheit oder andere staatliche Organe der DDR stellte eine der massivsten Repressionsmaßnahmen dar. Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung musste diese Sanktionen nicht erleiden, dennoch waren sich die meisten DDR-Bürger darüber im Klaren, dass es solche Formen der politischen Repression gab. Subtilere Unterdrückungsmechanismen, wie etwa das Gefühl der Beobachtung durch andere oder das Denunzieren bei Behörden, sind schwieriger zu erfassen. Die erinnerten Erfahrungen von Repressionen in der damaligen DDR und deren Auswirkungen sollen daher an den Daten der Sächsischen Längsschnittstudie untersucht werden. Angenommen wird, dass sich auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Studie, die im letzten Jahr der DDR 16 Jahre alt waren, Diktaturerfahrungen nachweisen lassen. Unter Beachtung des noch relativ jungen Alters der Befragten wird jedoch weiterhin angenommen, dass die erinnerten negativen Erfahrungen zum einen geringer sind als bei älteren Personen, die einen größeren Teil ihres Lebens in der DDR verbrachten, und dass bei den Erfahrungen mit repressiven Maßnahmen in der DDR zum anderen auch die Unterdrückung des näheren familiären Umfelds mit bedacht wird.
I. Die Sächsische Längsschnittstudie
Die Sächsische Längsschnittstudie wurde 1987 durch das Zentralinstitut für Jugendforschung der DDR in Leipzig als eine von zahlreichen Forschungsarbeiten begonnen.[6] Anfangs wurden für diese Studie insgesamt 1407 Schülerinnen und Schüler aus 72 Klassen an 41 Schulen in den damaligen DDR-Bezirken Leipzig und Karl-Marx-Stadt während des Unterrichts befragt. Die Schülerinnen und Schüler waren repräsentativ für den DDR-Geburtsjahrgang 1973 ausgewählt. Alle besuchten zu diesem Zeitpunkt die 8. Klassenstufe einer Polytechnischen Oberschule (POS). In den Klassenstufen 9 (1988) und 10 (Frühjahr 1989) erfolgten weitere Befragungen derselben Kohorte. Nach Abschluss der 3. Welle im Frühjahr 1989 gaben 587 Personen ihr schriftliches Einverständnis, auch weiterhin an der Studie mitzuarbeiten. Auf dieser Gruppe baut die Studienpopulation der Sächsischen Längsschnittstudie bis heute auf. [7]
In den ersten drei Jahren der Studie bis zum Frühjahr 1989 beschäftigten sich die Studieninhalte hauptsächlich mit der Lernmotivation, dem Interesse an Politik, der Identifikation mit dem politischen System der DDR oder den Zielen und Plänen für das weitere Leben. Mit dem Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung 1990 wurden die Fragestellungen auf das Erleben der ostdeutschen Transformation ausgerichtet. Trotz der schwierigen Bedingungen infolge der Abwicklung vieler ehemaliger DDR-Institutionen, darunter auch das Zentralinstitut für Jugendforschung, konnte die Studie dennoch bis heute fortgesetzt werden.[8] Die 32. Untersuchungswelle fand im Frühjahr/Sommer 2021, die 33. Welle im Herbst 2022 statt.
Die hier vorgestellten Daten wurden im Rahmen der 31. Welle der Sächsischen Längsschnittstudie erhoben. Unter der Annahme, dass sich die erinnerten Repressionserfahrungen nicht verändern, wurden diese in den nachfolgenden Wellen 32 und 33 nicht erneut gemessen. Die 31. Erhebung fand von November 2019 bis März 2020 statt. Es nahmen insgesamt 323 Personen teil. Dies entspricht 55 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich im Frühjahr 1989 zur weiteren Mitarbeit bereit erklärt hatten. 56 Prozent der Befragten waren Frauen, das mittlere Alter betrug 47 Jahre. Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern lebten 2019/2020 22 Prozent (N = 71) in den alten Bundesländern und 2,5 Prozent (N = 8) im Ausland.
Die berufliche Stellung wurde in Welle 31 wie folgt angegeben:
- Arbeiter N = 60 (18,6 %)
- Angestellte N = 201 (62,4 %)
- Selbstständige N = 25 (7,6 %)
- Hausfrau/-mann, Elternzeit N = 4 (1,2 %)
- Beamte N = 20 (6,2 %)
- Arbeitslose N = 4 (1,2 %)
- Sonstiges N = 8 (2,5 %)
- Keine Angabe N = 1 (0,3 %)
254 Personen (81,4 Prozent) lebten 2019/2020 in einer Partnerschaft, 80,9 Prozent von ihnen haben Kinder. Der Familienstand stellte sich wie folgt dar:
- Verheiratet mit Ehepartnerin/Ehepartner zusammenlebend N = 178 (55,1 %)
- Verheiratet getrennt lebend N = 9 (2,8 %)
- Ledig N = 95 (29,4 %)
- Geschieden N = 34 (10,5 %)
- Verwitwet N = 6 (1,9 %)
- Keine Angabe N = 1 (0,3 %)
Weitere Merkmale der Teilnehmenden und detaillierte Ergebnisse zur Welle 31 sind im Projektbericht dargestellt.[9]
II. Instrumente
In Welle 31 der Sächsischen Längsschnittstudie kamen u. a. fünf Items zu den erinnerten Repressionserfahrungen in der DDR zum Einsatz. Die Fragen sind im Wortlaut in Tabelle 1 dargestellt.
Den Schwerpunkt der Erhebung bildeten zahlreiche Fragen zum Erleben der ostdeutschen Transformation, zur Einschätzung der Wiedervereinigung, zur Zufriedenheit mit vielen politischen und anderen Lebensbereichen, zur Identität, zu Persönlichkeitsmerkmalen, zu erlebter Arbeitslosigkeit und zur Gesundheit. Die exakten Fragen (für alle bislang durchgeführten Wellen der Studie) und Antworthäufigkeiten sind im GESIS-Datenarchiv des Leibniz Instituts für Sozialwissenschaften abrufbar.[10]
Weiterhin wurden mit erprobten psychologischen Messverfahren verschiedene Indikatoren der psychischen Gesundheit erhoben. Im Rahmen dieser Auswertung werden die Daten des Kurzfragebogens Patient-Health-Questionnaire 4 (PHQ-4) herangezogen. Der PHQ-4 misst mit jeweils zwei Items die Ausprägung von Ängstlichkeit und Depressivität einer Person. Der PHQ-4 hat sich in zahlreichen Studien als valides und reliables Screeninginstrument erwiesen.[11]
III. Ergebnisse
In der 31. Welle der Sächsischen Längsschnittstudie wurden fünf Fragen zur erinnerten Repression aufgenommen, die auch im Sozioökonomischen Panel (SOEP) in einer Zusatzerhebung »Leben in der ehemaligen DDR« vorgegeben wurden.[12]
Tabelle 1 zeigt die Fragen im Wortlaut, die möglichen Antwortoptionen und die Ergebnisse aus der 31. Welle der Längsschnittstudie.
Tabelle 1: Fragen und Antworten (N, %) zur erinnerten Repression in der 31. Welle der Sächsischen Längsschnittstudie[13]
Fragen | Antwortoptionen | |||
Wussten Sie oder hatten Sie das Gefühl, dass Sie während der Zeit in der DDR in Ihrem Alltag von anderen Personen beobachtet/überwacht/observiert wurden? | Ja, ich wusste es | Ja, ich hatte grundsätzlich das Gefühl | Ja, ich hatte in bestimmten Momenten das Gefühl | Nein |
Vermuten oder wissen Sie, dass jemand Sie bei den DDR-Behörden angeschwärzt/denunziert hat? | Ja, ich weiß es | Ja, ich vermute es | Nein |
|
Hatte das Ministerium für Staatssicherheit jemals in irgendeiner Form aktiv Kontakt zu Ihnen aufgenommen, z. B. in Form von Anwerbung, Befragung, Verhör, Androhung von Sanktionen etc.? (Berufliche und alltägliche Kontakte sind hier nicht gemeint.) | Ja, mehrmals | Ja, einmal | Nein |
|
Waren Sie oder Familienmitglieder in der Zeit vor der Wiedervereinigung jemals aus politischen Gründen inhaftiert? Bitte kreuzen Sie auch dann »trifft zu« an, wenn der Haftgrund offiziell ein anderer war, Sie jedoch politische Gründe vermuten. | ||||
Ja, ich selbst | Trifft zu 1 (0,3 %) | Trifft nicht zu 310 (99,7 %) |
|
|
Ja, Familienmitglieder | Trifft zu 28 (9 %) | Trifft nicht zu 286 (91 %) |
|
|
Die Mehrheit der Befragten (59 Prozent) hatte nicht das Gefühl, in ihrem Alltag von anderen Personen observiert worden zu sein. 77 Prozent der Befragten gaben an, dass sie nicht durch andere Personen bei Behörden angeschwärzt wurden. 90 Prozent gaben an, dass das Ministerium für Staatssicherheit niemals in irgendeiner Form aktiv Kontakt zu ihnen aufgenommen habe. Eine Person gab an, selbst aus politischen Gründen inhaftiert worden zu sein. 9 Prozent sagten, dass Familienmitglieder aus politischen Gründen eingesperrt gewesen seien.
Bei allen Items zu den erinnerten Repressionserfahrungen überwiegen somit die verneinenden Antworten. Die meiste Zustimmung erfährt mit 31 Prozent die Frage, ob man sich im Alltag durch andere Personen beobachtet gefühlt habe.
Die in Tabelle 1 dargestellten Einzelfragen wurden zu einem Index der erinnerten Repression zusammengefasst, wobei jeweils die Zustimmung zu einer Frage mit einem Punkt und die Ablehnung mit Null bewertet wurden. Die Summe des Index kann dann zwischen null und fünf Punkten liegen, wobei ein höherer Wert eine größere Anzahl an erinnerten Repressionen bedeutet. Tabelle 2 zeigt die deskriptiven Kennwerte des Index.
Tabelle 2: Deskriptive Ausprägung des Repressionsindex in der 31. Welle der Sächsischen Längsschnittstudie nach Geschlecht (N, %)
Wert | Gesamtgruppe (N = 298) N (%) | Männer (N = 132) N (%) | Frauen (N = 166) N (%) |
0 | 144 (48,2 %) | 52 (39,4 %) | 92 (55,4 %) |
1 | 86 (28,9 %) | 40 (30,3 %) | 46 (27,7 %) |
2 | 47 (15,8 %) | 29 (22,0 %) | 18 (10,8 %) |
3 | 19 (6,4 %) | 10 (7,6 %) | 9 (5,4 %) |
4 | 2 (0,7 %) | 1 (0,8 %) | 1 (0,6 %) |
5 | 0 (0,0 %) | 0 (0,0 %) | 0 (0,0 %) |
Gesamtwert (Mittelwert, Standardabweichung) | 0,82 (0,96 %) | 1,00 (0,99 %) | 0,68 (0,91 %) |
Niemand unter den Befragten erinnerte fünf Repressionsereignisse. 48,2 Prozent der Gesamtgruppe erinnerten gar kein Repressionsereignis. Ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (28,9 Prozent) berichtet über ein Repressionsereignis. Frauen berichten signifikant weniger Repressionsereignisse als Männer (Chi2 (df = 4) = 10,413, p = 0,034). Dies zeigte sich auch im statistischen Vergleich der Mittelwerte (hier nicht dargestellt). Der Mittelwert in der Gesamtgruppe beträgt 0,82, der Median beträgt 1,0.
Für die weiteren Berechnungen erfolgte eine Dichotomisierung des Repressionsindex, wobei jeweils die Personen, die keine Repression erinnerten (Wert 0), mit denen verglichen wurden, die mindestens eine Repressionserfahrung erinnerten (Werte 1 bis 4). Damit wird die Stichprobe in zwei nahezu gleich große Teilstichproben mit bzw. ohne erinnerte Repressionserfahrungen unterteilt. In Tabelle 3 werden ausgewählte soziodemografische Merkmale und das psychische Befinden der beiden Gruppen verglichen.
Tabelle 3: Erinnerte Repressionserfahrungen, soziodemografische Merkmale und psychische Belastung (N, % bzw. Mittelwert, Standardabweichung [M, SD])[14]
Merkmale | Keine Repressionserfahrungen | Repressionserfahrungen | Test |
Wohnort |
|
|
|
Ostdeutschland (N = 225) | 113 (50,2 %) | 112 (49,8 %) |
|
Westdeutschland (N = 65) | 30 (46,2 %) | 35 (53,8 %) |
|
Ausland (N = 8) | 1 (12,5 %) | 7 (87,5 %) | Chi2 (df = 2) = 4,559 p = 0,10 |
Bildung |
|
|
|
Niedriger als Abitur (N = 148) | 78 (52,7 %) | 70 (47,3 %) |
|
Abitur oder höher (N = 131) | 57 (43,5 %) | 74 (56,5 %) | Chi2 (df = 1) = 2,351 p = 0,125 |
Einkommen (Netto/Monat) |
|
|
|
Bis 1999 € (N = 142) | 80 (56,3 %) | 62 (43,7 %) |
|
Ab 2000 € (N = 154) | 63 (40,9 %) | 91 (59,1 %) | Chi2 (df = 1) = 7,043 p = 0,008 |
In einer Partnerschaft lebend |
|
|
|
Ja (N = 236) | 115 (48,7 %) | 121 (51,3 %) |
|
Nein (N = 54) | 24 (44,4 %) | 30 (55,6 %) | Chi2 (df = 1) = 0,323 p = 0,570 |
Kinder |
|
|
|
Ja (N = 235) | 110 (46,8 %) | 125 (53,2 %) |
|
Nein (N = 55) | 30 (54,5 %) | 25 (45,5 %) | Chi2 (df = 1) = 1,068 p = 0,301 |
Arbeitslosigkeitserfahrung |
|
|
|
Ja (N = 203) | 105 (51,7 %) | 98 (48,3 %) |
|
Nein (N = 93) | 38 (40,9 %) | 55 (59,1 %) | Chi2 (df = 1) = 3,015 p = 0,083 |
Psychisches Befinden |
|
|
|
PHQ-4 Ängstlichkeit (M, SD) | 2,94 (1,28 %) | 2,84 (1,09 %) | T (df = 291) = 0,679 p = 0,498 |
PHQ-4 Depressivität (M, SD) | 2,80 (1,14 %) | 2,85 (1,13 %) | T (df = 292) = -0,328 p = 0,743 |
Die Daten in Tabelle 3 belegen, dass der Wohnort, der Bildungsstand, der Partnerschaftsstatus, das Vorhandensein von Kindern und die erlebten Arbeitslosigkeitserfahrungen nicht in Zusammenhang mit den erinnerten Repressionserfahrungen stehen. Personen mit einem höheren Einkommen (> 2000 €/Monat persönliches Netto) erinnern mehr Repressionserfahrungen (59 Prozent) als Personen mit einem niedrigeren Einkommen (44 Prozent).
In den mittels Kurzfragebogen PHQ-4 ermittelten Maßen für Ängstlichkeit und Depressivität finden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen mit bzw. ohne erinnerte Repressionserfahrungen.
In Tabelle 4 werden zentrale Fragen zur Einschätzung von DDR und Wiedervereinigung in Bezug auf die erinnerten Repressionserfahrungen verglichen. Dargestellt ist zur besseren Übersichtlichkeit jeweils nur eine Auswahl der möglichen Antwortoptionen (zustimmende Antworten), sodass sich die Werte nicht zu 100 Prozent aufaddieren.
Tabelle 4: Erinnerte Repressionserfahrungen und Einstellungen zu DDR und Wiedervereinigung
Fragen | Keine Repressionserfahrungen | Repressionserfahrungen | Test |
Ich bin froh, dass es die DDR nicht mehr gibt (Zustimmung N, %) | 62 (43,1 %) | 85 (55,2 %) | Chi2 (df = 4) = 7,472 p = 0,113 |
Ich bin froh, die DDR noch erlebt zu haben (Zustimmung N, %) | 137 (95,1 %) | 130 (84,4 %) | Chi2 (df = 4) = 9,533 p = 0,049 |
Ich fühle mich als Gewinner der deutschen Einheit (Zustimmung N, %) | 97 (67,8 %) | 129 (83,8 %) | Chi2 (df = 3) = 11,19 p = 0,011 |
Wie zufrieden waren Sie insgesamt mit ihrem Leben in der DDR? (starke Zufriedenheit N, %) | 72 (50,0 %) | 63 (40,9 %) | Chi2 (df = 10) = 13,29 p = 0,208 |
Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie – alles in allem – mit dem neuen Gesellschaftssystem gemacht? (mehr positive N, %) | 40 (28,4 %) | 45 (29,2 %) | Chi2 (df = 4) = 2,348 p = 0,503 |
Die Zustimmung zur Aussage »Ich bin froh, dass es die DDR nicht mehr gibt« scheint bei den Personen mit Repressionserfahrungen mit 55 Prozent etwas höher zu sein, jedoch ist der Unterschied nicht signifikant. Ebenfalls keine statistisch bedeutsamen Unterschiede fanden sich bei den Fragen nach der Zufriedenheit mit dem Leben in der DDR und den (positiven) Erfahrungen im neuen Gesellschaftssystem.
Personen mit Repressionserfahrungen sind signifikant seltener froh, die DDR noch erlebt zu haben (84 Prozent Zustimmung vs. 95 Prozent Zustimmung bei Menschen ohne Repressionserfahrungen).
Personen, die über Repressionserfahrungen berichteten, fühlen sich häufiger als Gewinnerinnen und Gewinner der deutschen Einheit als Personen ohne Repressionserfahrungen. Abbildung 1 zeigt die Antworten auf diese Frage im Zeitverlauf von 2005 bis 2020. Das Ergebnis bleibt dabei für alle untersuchten Zeitpunkte identisch. Die Abbildung 1 zeigt aber, dass in der Stichprobe insgesamt das Gefühl, Gewinnerin oder Gewinner der deutschen Einheit zu sein, von 2005 bis 2020 deutlich zunimmt.
Abbildung 1: Zustimmung zur Aussage »Ich fühle mich als Gewinnerin/Gewinner der deutschen Einheit« nach erinnerter Repressionserfahrung 2005 bis 2020 (in %)
IV. Diskussion
Erstmals wurden 2019/2020 in der 31. Welle der Sächsischen Längsschnittstudie die erinnerten Repressionserfahrungen in der DDR bei den Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern erfasst. Knapp die Hälfte der Befragten (48 Prozent) berichtete keine Repressionserfahrungen. Am häufigsten wurde die Erfahrung genannt, sich beobachtet gefühlt zu haben (31 Prozent).
Frauen berichteten weniger erinnerte Repressionserfahrungen als Männer. Personen mit einem höheren Einkommen gaben mehr Repressionserfahrungen an als Personen mit einem niedrigen Einkommen. Die meisten der untersuchten soziodemografischen Merkmale standen jedoch nicht in Zusammenhang mit den Repressionserfahrungen.
Das psychische Befinden (Ängstlichkeit/Depressivität), das mit einem etablierten psychologischen Messinstrument untersucht wurde, unterschied sich ebenfalls nicht zwischen den beiden Gruppen mit bzw. ohne Erinnerungen an Repression in der DDR.
In den Fragen zur Einschätzung von DDR und Wiedervereinigung belegen die Zahlen erwartungsgemäß ein kritischeres Bild auf die DDR und eine positivere Sicht auf die Wiedervereinigung bei Personen, die Repressionserfahrungen erinnerten. Jedoch ist der Unterschied zwischen den untersuchten Gruppen nicht bei allen Fragen statistisch signifikant.
Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass es sich bei den Befragten der Studie um ein altershomogenes Sample aus Sachsen handelt (Geburtsjahrgang 1973). Detaillierte Kriterien zur Auswahl der damaligen Stichprobe sind nicht verfügbar. Die Aussagen können daher nur mit Bedacht auf andere ostdeutsche Altersgruppen übertragen werden. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls waren die Befragten etwa 16/17 Jahre alt und daher vermutlich allein aufgrund ihres Alters nicht primäre Zielgruppe für Repressionsmaßnahmen der staatlichen Organe der DDR. Dies kann auch eine Erklärung für den Befund sein, dass es in den vorliegenden Daten keine Zusammenhänge zwischen erinnerter Repression und psychischer Belastung gab.
Die im Rahmen der Sächsischen Längsschnittstudie erfassten Maßnahmen, die aus der Zusatzerhebung »Leben in der ehemaligen DDR« des Sozioökonomischen Panels (SOEP) übernommen wurden, enthielten keine Fragen, die eher den vorstellbaren Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern entsprechen könnten. Eine solche Frage wäre z. B., ob Bildungschancen (etwa der Zugang zum Abitur/Studium) verwehrt wurden. Bei der Auswahl von Schülerinnen und Schülern für höhere Bildungswege spielten in der DDR nicht nur Leistungsmerkmale, sondern häufig auch ideologische Aspekte (wie z. B. die Parteizugehörigkeit der Eltern, die Herkunft aus der Arbeiterklasse, der Berufswunsch Offizier der Nationalen Volksarmee oder die Nichtzugehörigkeit zu einer Kirche) eine große Rolle. Es ist auch vorstellbar, dass Schülerinnen und Schüler, die nicht Mitglied von Massenorganisationen wie der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ) oder der »Deutsch-Sowjetischen Freundschaft« (DSF) werden wollten, auch von anderen Aktivitäten ausgeschlossen oder anderweitig benachteiligt wurden. Ebenfalls vor dem Hintergrund des Alters der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Ende der DDR wären Fragen nach den wahrgenommenen Repressionserfahrungen der Eltern und ob diese im Rahmen der Familie thematisiert wurden, wichtig.
Die damalige Rekrutierung in den auch heute noch stark industriell geprägten Ballungsräumen Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und Leipzig erschwert die Verallgemeinerung auf andere ostdeutsche Regionen, wie etwa die strukturschwächeren Gebiete in Teilen Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns oder Sachsen-Anhalts. Auch wenn die Teilnahmequote nach mehr als 33 Jahren in der Sächsischen Längsschnittstudie immer noch sehr hoch ist, kann keine Aussage über die Dropouts getroffen werden. Bei Teilnahmezahlen von ca. 300 sind Subgruppenanalysen nicht immer statistisch zuverlässig möglich.
Das Bildungsniveau in der Sächsischen Längsschnittstudie ist relativ hoch, alle haben den Abschluss der 10. Klasse einer Polytechnischen Oberschule, der etwa einem heutigen Realschulabschluss entspricht. Mehr als ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat Abitur oder einen höheren Bildungsgrad erworben.
Eine zeitnähere Erhebung der Repressionserfahrungen, etwa zu Beginn der 1990er-Jahre, wäre eventuell reliabler gewesen. Die Fragen in der Sächsischen Längsschnittstudie waren jedoch in dieser Zeit eher auf die Verarbeitung des aktuellen ostdeutschen Transformationsprozesses ausgerichtet und weniger auf die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Im Zuge des 30-jährigen Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung wurden auch Aspekte des Lebens in der ehemaligen DDR stärker in den Fokus der Studie gerückt und in diesem Zusammenhang auch die Repressionserfahrungen. Es kann aufgrund der vergangenen Jahrzehnte auch nicht ausgeschlossen werden, dass es zu Erinnerungslücken bei den Befragten gekommen sein könnte.
[1] Siehe Larry R. Squire/Eric R. Kandel: Gedächtnis: Die Natur des Erinnerns, Heidelberg/Berlin/Oxford 1999.
[2] Daniel Schacter: The Seven Sins of Memory, Boston 2001.
[3] Siehe etwa die laufenden Vorhaben: »DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit«, ddr-studie.de/startseite.html (ges. am 3. August 2022). »SiSaP. Seelenarbeit im Sozialismus«, www.seelenarbeit-sozialismus.de/start.html (ges. am 3. August 2022).
[4] Siehe Andreas Maercker u. a.: Long-term trajectories of PTSD or resilience in former East German political prisoners, in: Torture 23 (2013), H. 1, S. 15–27; Gregor Weißflog u. a.: Erhöhte Ängstlichkeit und Depressivität als Spätfolgen bei Menschen nach politischer Inhaftierung in der DDR, in: Psychiatrische Praxis 37 (2010), H. 6, S. 297–299; ders. u. a.: Körperbeschwerden nach politischer Inhaftierung und deren Zusammenhang mit Ängstlichkeit und Depressivität, in: Verhaltenstherapie 22 (2012), H. 1, S. 37–46; Karl-Heinz Bomberg: Seelische Narben. Freiheit und Verantwortung in den Biografien politisch Traumatisierter der DDR, Gießen 2021.
[5] Siehe Carsten Spitzer u. a.: Beobachtet, verfolgt, zersetzt – psychische Erkrankungen bei Betroffenen nichtstrafrechtlicher Repressionen in der ehemaligen DDR, in: Psychiatrische Praxis 34 (2007), H. 2, S. 81–86. Siehe dazu auch das laufende Forschungsprojekt »Landschaften der Verfolgung, Teilprojekt: Körperliche und psychische Folgen politischer Haft«, landschaften-verfolgung.de/projekt/struktur/modul_IV/modul_IV_TP_A/ (ges. am 3. August 2022).
[6] Siehe www.wiedervereinigung.de/sls (ges. am 3. August 2022). Walter Friedrich/Peter Förster/Kurt Starke (Hg.): Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966–1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse, Berlin 1999.
[7] Siehe Peter Förster: Junge Ostdeutsche auf der Suche nach der Freiheit. Eine systemübergreifende Längsschnittstudie zum politischen Mentalitätswandel vor und nach der Wende, Opladen 2002.
[8] Siehe ders.: Über eine Studie, die schon mehrmals sterben sollte, noch immer lebt und weiterleben muss, in: Hendrik Berth u. a. (Hg.). 30 Jahre ostdeutsche Transformation. Sozialwissenschaftliche Ergebnisse und Perspektiven der Sächsischen Längsschnittstudie, Gießen 2020, S. 33–142; ders.: Einheitslust und Einheitsfrust. Junge Ostdeutsche auf dem Weg vom DDR- zum Bundesbürger. Eine sozialwissenschaftliche Längsschnittstudie von 1987–2006, Gießen 2007; ders. u. a. (Hg.): Innenansichten der Transformation. 25 Jahre Sächsische Längsschnittstudie (1987 bis 2012), Gießen 2012; ders. u. a. (Hg.): Gesichter der ostdeutschen Transformation. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sächsischen Längsschnittstudie im Porträt, Gießen 2015; ders. u. a. (Hg.): 30 Jahre ostdeutsche Transformation. Sozialwissenschaftliche Ergebnisse und Perspektiven der Sächsischen Längsschnittstudie, Gießen 2020.
[9] Siehe ders. u. a.: 30 Jahre Deutsche Einheit aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Ausgewählte Ergebnisse der 31. Welle der Sächsischen Längsschnittstudie 2020, Dresden 2020. Siehe Volltext unter https://wiedervereinigung.de/wp-content/uploads/2020/10/30_Jahre_Deutsche_Einheit.pdf (ges. am 15. August 2022).
[10] Siehe Peter Förster u. a.: Sächsische Längsschnittstudie – Welle 31, 2019. GESIS Datenarchiv, Köln 2020. ZA6249 Datenfile Version 1.0.0, doi.org/10.4232/1.13612.
[11] Siehe Kurt Kroenke u. a.: An ultra-brief screening scale for anxiety and depression: The PHQ–4, in: Psychosomatics 50 (2009), H. 6, S. 613–621; Bernd Löwe u. a.: A 4-item measure of depression and anxiety: Validation and standardization of the Patient Health Questionnaire-4 (PHQ-4) in the general population, in: Journal of Affective Disorders 122 (2010), H. 1/2, S. 86–95.
[12] Gert G. Wagner/Joachim R. Frick/Jürgen Schupp: The German Socio-Economic Panel Study (SOEP) – Scope, Evolution and Enhancements, in: Schmollers Jahrbuch 127 (2007), H. 1, S. 139–170; Kantar Public: SOEP-Core – 2018: Leben in der ehemaligen DDR, Stichproben A-L3 + N (= SOEP Survey Papers 676: Series A – Survey Instruments), Berlin 2019.
[13] An N = 323 fehlend haben keine Angaben gemacht. Die Prozentwerte beziehen sich jeweils auf die gültigen Antworten jeder Frage.
[14] An N = 323 fehlend haben keine Angaben gemacht. Die Prozentwerte beziehen sich jeweils auf die gültigen Antworten jeder Frage.