Kontrollen waren im »real existierenden Sozialismus« allgegenwärtig. Das korrekte Verhalten der »Volksmassen« wurde ebenso kontrolliert wie die Qualität von Konsumprodukten, Gleiches galt für die Umsetzung von Direktiven und Beschlüssen. Sogar die Kontrolleure selbst sahen sich zahllosen Formen der Überprüfung und Überwachung ausgesetzt. All dies verschlang erhebliche Ressourcen und machte den Unterhalt stetig wachsender Kontrollapparate erforderlich, die potenziell alle Bereiche der Gesellschaft in den Blick nehmen sollten. Aus Sicht der Führer war dieser Aufwand nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig. Denn: Wer Kontrolle ausübt, vermag Regeln zu setzen und Disziplin einzufordern. Wer überwacht, entscheidet über Strafmaß und -form. Vor allem aber ermöglichen regelmäßige Kontrollen die Etablierung (scheinbar) stabiler Verhältnisse.
Doch selbst umfassendste Kontrollmechanismen sind nicht in der Lage, die größte Sorge jeder autoritären Herrschaft zu zerstreuen: dass ihr trotz allem die Kontrolle entgleiten, ihre Macht brüchig werden und schließlich zerfallen könnte. Was aber können Herrscher tun, um diesem Problem der authoritarian control zu begegnen? Grundsätzlich haben sie immer die Wahl zwischen Zuckerbrot und Peitsche.[1] Niemals aber verlassen sich autoritäre Herrscher ausschließlich auf eine dieser beiden Strategien, sondern agieren stets mit einer Kombination unterschiedlicher Praktiken.[2] Außerdem können autoritäre Ordnungen auf Dauer nur dann Stabilität aufrechterhalten und Legitimation erzeugen, wenn sie begrenzte Formen von Partizipation zulassen: Stimmungen und Meinungen lassen sich nicht vollständig ignorieren.[3] Aber solche Zugeständnisse verlangen geradezu nach einer Ausweitung, Professionalisierung und Verfeinerung von Kontrollmechanismen und -praktiken, um Grenzen des Sagbaren zu ziehen und dafür zu sorgen, dass aus Stimmungen und Meinungen kein Widerstand erwächst.
Ausgehend von diesen Beobachtungen fragen die Beiträge im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2023 nach dem Zusammenhang von Kontrolle, Repressionen und Stabilitätserwartungen in staatssozialistischen Regimen. Im Zentrum stehen die Zeit des Poststalinismus und die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts. In dieser Phase der Herrschaftskonsolidierung und der relativen gesellschaftlichen Stabilisierung nahmen Repressions- und Kontrollpraktiken neue Formen an. Die Mechanismen und Methoden, derer sich die einzelnen Regime bedienten, unterschieden sich erheblich voneinander, und sie veränderten sich im Laufe der Zeit: Setzten die meisten Diktaturen anfangs auf Terror, physische Gewalt und Willkür, wurden Repressionen im Laufe der Zeit zunehmend »verregelt«. Sie wurden gezielt eingesetzt und damit für die Bevölkerung zu einem – wenigstens teilweise – kalkulierbaren Risiko. Zugleich blieben die Erfahrungen des Stalinismus in den Köpfen von Tätern wie Opfern dauerhaft präsent. In allen Gesellschaften des sozialistischen Lagers beeinflussten sie Gegenwartshandeln und Zukunftserwartungen.[4] Drei Entwicklungen fallen besonders ins Gewicht: Die Technisierung und Professionalisierung des Überwachungsapparates, die Konzentration auf Prävention (profilaktika) sowie die Einrichtung komplexer Systeme der wechselseitigen Sozialkontrolle. Von niemandem wurde verlangt, sich zur Sache des Sozialismus zu bekennen, es genügte, sich nicht offen gegen das System zu stellen. Der Chef der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei János Kádár brachte einmal prägnant auf den Punkt, was er für den Kern eines solchen poststalinistischen »Gesellschaftsvertrages« hielt: »Wer nicht gegen uns ist, ist für uns.«[5]
Der Unterschied zum Stalinismus, in dem Machterhalt und Herrschaftsdurchsetzung vor allem auf Zwang, Gewalt und Terror basierten, war offenkundig. Wo Willkür, der nur schwer kalkulierbare Wille des Diktators und Erwartungsunsicherheit das Leben bestimmten, war jede Form der Kontrolle stets auch eine potenzielle Bedrohung. Unter Stalin gingen Kontrolle und Repression ineinander über. Schließlich bemaß sich der Erfolg von Kontrollregimen nicht allein danach, dass Missstände entdeckt und behoben wurden, sondern auch danach, inwieweit es gelang, Abweichler und »Feinde« zu identifizieren und zu bestrafen.
Wer nicht durchsetzen kann, was er sich vorgenommen hat, hat immer noch die Wahl, Gewalt anzuwenden, um jenen Angst zu machen, die gehorchen sollen. Sporadische Macht ist auf Wiederholung angewiesen. Erst wenn sich ins Gedächtnis eingebrannt hat, wozu der Gewaltherrscher imstande ist, wird aus sporadischer dauerhafte Macht, die den Tag übersteht, an dem sie angewendet wird.[6] Das ist die Situation des inszenierten Bürgerkrieges und des Ausnahmezustandes, wie ihn Stalin und seine Helfer repräsentierten und exekutierten. Die Diktatur kann sich allem Terror zum Trotz aber nicht auf die Selbstkontrolle und Verinnerlichung der Macht verlassen und muss deshalb auf Kontrollmechanismen zurückgreifen. Die allgegenwärtigen offenen und verdeckten Techniken der Kontrolle hatten gravierende Konsequenzen: Sozialer Zusammenhalt erodierte, während das Misstrauen gegenüber Staat und Mitmenschen zunahm. »Totalitäre Herrschaft«, schreibt Hannah Arendt, »beraubt Menschen nicht nur ihrer Fähigkeit zu handeln, sondern macht sie im Gegenteil, gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch, mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen aller von dem totalitären Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen.«[7]
Aus der Perspektive des Regimes war der allgegenwärtige Terror eine erfolgreiche Strategie, weil sie einerseits die Durchsetzung von Direktiven zu garantieren schien und andererseits Sündenböcke für staatliches Versagen produzierte. Nur stieß die permanente Erzeugung von Unruhe und Angst an Grenzen. Auf diese Weise ließ sich die Folgsamkeit der Untertanen zwar erzwingen, ihre Loyalität blieb hingegen ungewiss. Und bestand nicht weiter die Gefahr, dass sich trotz allem »echte« Feinde in der Bevölkerung verbargen? Der Massenterror des Jahres 1937 war Stalins Antwort auf diese Frage. Seither lag die Drohung in der Luft, Ähnliches könne jederzeit erneut geschehen.
Bis zum Tod des Diktators im März 1953 änderte sich wenig an dieser Grundkonstellation, obgleich selbst der Geheimdienstchef Lavrentij Berija längst verstanden hatte, dass die Infrastrukturen des willkürlichen Terrors erhebliche Kosten verursachten, ohne dass es gelungen wäre, das Sicherheitsempfinden des Diktators zu steigern oder das Dilemma »autoritärer Kontrolle« aufzulösen. Letztlich war Berija das letzte Opfer des institutionalisierten Verfolgungswahns. Dennoch war die Hinrichtung des einst gefürchteten Geheimdienstchefs auch der Beginn einer Zeitenwende. Stalins Gefährten stritten miteinander, aber die Unterlegenen wurden nicht mehr verhaftet oder hingerichtet, sondern verloren allenfalls Posten und Privilegien. Der willkürliche Terror verschwand aus dem alltäglichen Leben. Die Stabilität der politischen Verhältnisse produzierte für die meisten Menschen Erwartungssicherheit: Wer sich unauffällig verhielt, musste sich in der Regel vor staatlichen Repressionen nicht mehr fürchten. Wer mit der Staatsgewalt in einen Konflikt geriet, den erwartete gewöhnlich ein Verfahren, dessen Verlauf weniger vom Gutdünken einzelner Personen abhängig war, sondern sich weitgehend an Gesetzen und berechenbaren Verfahren orientierte. Zwar verschwanden die »harten« Repressionen nicht vollständig aus dem Methodenarsenal des Staates, trafen aber nur noch diejenigen, die als Gegner und Feinde der sozialistischen Ordnung ausgemacht worden waren.[8] Der stalinsche Maßnahmenstaat, so Stefan Plaggenborg, habe sich nach 1953 in einen Normenstaat verwandelt, dessen Repressionen sich auf Recht und Gesetz beriefen, wenngleich sich die Machthaber auch nach 1953 vorbehielten, jederzeit auf die Willkür des Maßnahmenstaates zurückzugreifen.[9]
Die Entstalinisierung stieß dennoch einen fundamentalen Wandel an, der sich nicht nur in der Sowjetunion, sondern in allen sozialistischen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas vollzog. So hatte etwa Władysław Gomułka in Polen die Zeichen der Zeit klar erkannt, als er im Oktober 1956 angesichts der Unruhen in Teilen des Landes erklärte: »Man kann ein Volk beherrschen, wenn man dessen Vertrauen verloren hat, indem man sich auf die Bajonette stützt, aber wer eine solche Richtung einschlägt, der wird am Ende alles verlieren.«[10] Gerade weil kommunistische Regime ihre Herrschaft nicht länger ausschließlich auf Zwang und Gewalt gründeten, waren sie darauf angewiesen, effiziente Kontrollsysteme einzuführen, die Gehorsam erzwangen, ohne auf Terror zurückzugreifen.
Es mag paradox erscheinen, aber: Die Intensität der Kontrolle steigt mit dem Verzicht auf Gewalt, weil Menschen nun überwacht, abgehört, gegeneinander ausgespielt werden müssen. Die Staatsmacht benötigt Informationen über das Leben der Untertanen, sie muss in Erfahrung bringen, was sie denken und welche Wünsche sie haben, um ihr Kontrollsystem danach auszurichten. Das mag auch einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die Zahl der Geheimpolizisten wuchs, obgleich der Einsatz roher Gewalt nicht mehr auf der Tagesordnung stand. Die Liberalisierung der Verhältnisse produzierte Widerspruch, die Kritik verursachte überhaupt erst die Krisen, auf die das Kontrollsystem eine Antwort geben musste. Alexis de Tocqueville schrieb über die Jahre, die der Französischen Revolution vorausgingen, dass die Franzosen ihre Lage umso unerträglicher empfunden hätten, je besser sie geworden sei. »Das Übel ist geringer geworden, aber die Empfindlichkeit ist lebhafter.«[11] So stand es auch um das Leben in den poststalinistischen Gesellschaften, in denen Widerspruch und Widerstand nun ein Zuhause fanden, Dissidenten den allmächtigen Staat herausforderten, nicht weil die Verhältnisse sich verhärtet, sondern weil sie sich entspannt hatten.[12]
Die Liberalisierung (halb-)öffentlicher Debatten und die Entstehung privater Räume, zu denen sich die Staatsmacht keinen Zugang mehr verschaffen konnte, stellten die Machthaber vor die schwierige Frage, wie denn die Grenzen des Sagbaren überhaupt noch zu überwachen seien. Nicht einmal durch utopische Verheißungen ließen sich nach dem Ende der stalinistischen Mobilisierungsdiktatur noch Leidenschaften entfachen oder Loyalität erzeugen, auch wenn Chruščëv versuchte, das kommunistische Experiment mit neuem Inhalt zu füllen. Trotz aller Bemühungen gelang es in den folgenden Jahrzehnten nicht, die Massen für die Sache des Sozialismus zu begeistern, auch deshalb, weil die Kommunistischen Parteien im Spätsozialismus selbst nur noch Karrieristen und Technokraten anzogen, die das Leben ordnen, aber nicht verändern wollten. Stattdessen gewannen die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung an Bedeutung, seit sich Menschen ins Private zurückziehen und sich auf diese Weise von den Ansprüchen des Staates emanzipieren konnten. Die öffentlichen Loyalitätsbekundungen für Partei und Staat waren nur mehr Lippenbekenntnisse, die man abgab, weil sich die Lebensumstände verbessert hatten.
Aus der Perspektive der staatssozialistischen Regime war diese Entwicklung ambivalent. Zwar verzichteten die Bürger auf Widerspruch und Widerstand, solange ihr Bedürfnis nach bescheidenem Wohlstand und sozialer Sicherheit mehr oder weniger befriedigt wurde. Das Regime aber würde künftig daran gemessen werden, ob es seine sozialen Versprechungen einhielt. Der paternalistische Staat erfüllt Konsumerwartungen und die Bürger verzichten auf Widerspruch und Opposition – so lautete die Abmachung, die dem sozialistischen System in den 1960er- und 1970er-Jahren Stabilität und innere Sicherheit gab.[13] Aus einem Dilemma aber gab es keinen Ausweg: Der sozialistische Staat war nicht imstande, seine sozialen Versprechungen einzulösen. Damit erzeugte er Unzufriedenheit und delegitimierte den Vertrag, auf den sich seine Herrschaft gründete.
Unter diesen Bedingungen wurde »Kontrolle« zum eigentlichen Herrschaftsinstrument staatssozialistischer Ordnungen. Es kam darauf an, um jeden Preis zu verhindern, dass Unmut sich in Protest, Widerspruch in dauerhaften Dissens verwandelte. Die Steuerung politischer Kommunikation und ausgefeilte Techniken der Sozialkontrolle und Prävention durchströmten nun alle Bereiche des Alltagslebens. Bei der profilaktika ging es nicht allein darum, Personen zu verwarnen, in denen der KGB oder seine osteuropäischen »Bruderorgane« potenzielle Gefährder sahen, wie der Historiker Edward Cohn gezeigt hat. Vielmehr sollte sich die disziplinierende Wirkung dieser Strategie auf die Gesellschaft insgesamt erstrecken.[14]
All diese Maßnahmen waren Teile eines Systems gegenseitiger sozialer Kontrolle, die der Selbstdisziplinierung und -abrichtung ebenso dienten wie der Ausgrenzung von unangepassten Minderheiten. Sozialkontrolle wurde einerseits institutionalisiert, etwa in Form der sowjetischen Nachbarschaftsgerichte, deren Einrichtung von vielen Menschen durchaus begrüßt wurde.[15] Andererseits war sie – wie in jeder Gesellschaft – fester Bestandteil unzähliger Alltagspraktiken, die das spezifische Zusammenspiel von Normvorgaben und kollektiven Bedürfnissen hervorbrachte: In der »entwickelten sozialistischen Gesellschaft« sollte niemand aus der Reihe tanzen. Die sozialistischen Regime inszenierten sich als Garanten sozialer Stabilität und »Normalität«, von Recht und Ordnung. Es waren die Verheißungen von Ordnung und Sicherheit, die in der Bevölkerung auf Zustimmung stießen, weil sie sich mit Wünschen und Werten verbinden ließen, die von Bürgern und Funktionären geteilt wurden.[16] Dennoch konnte in den sozialistischen Gesellschaften nicht jeder sprechen, wie es ihm gefiel. Ohne die Kontrolle politischer Kommunikation hätte sich die Herrschaft ihrer eigentlichen Grundlage beraubt. Wer den Sprachgebrauch kontrolliert, konditioniert Menschen, auf eine bestimmte Weise zu sprechen – und über manches gar nicht mehr. Im eigentlichen Sinne »politische« Themen konnten nicht mehr Gegenstand öffentlicher Kommunikation sein, jegliches Sprechen darüber wurde strikt kontrolliert und zensiert. Innerhalb festgelegter Grenzen eröffnete sich aber immerhin die Möglichkeit, Kritik auch öffentlich vorzutragen, besonders dann, wenn sich Unzufriedenheit im Jargon und Sprachgerüst des Systems zu erkennen gab oder das System an seinen eigenen Verheißungen gemessen wurde.[17]
Die Komplexität und Ausdifferenzierung spätsozialistischer Gesellschaften stellten staatliche Kontrollansprüche vor immer größere Herausforderungen. Die Geheimdienste des Warschauer Pakts versuchten diesem Dilemma mit einer Mischung aus Akademisierung, zunehmendem Technikeinsatz und intensiverer internationaler Kooperation zu begegnen.[18] Solche Professionalisierungsbemühungen stießen jedoch an Grenzen; denn die Verbesserung der Überwachungstechnik führte nicht zwangsläufig dazu, dass die Überwacher Herren der Lage blieben. Ungeachtet des gewaltigen Aufwandes gelang es ihnen nicht, die Zentrifugalkräfte einzuhegen, die sich innerhalb und zwischen den sozialistischen Staaten entwickelten.[19]
Geradezu obsessiv sprachen die Sachwalter des Staatssozialismus von Kontrolle. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Allgegenwart des Begriffs nur kaschieren sollte, wie sehr es den Machthabern an Souveränität fehlte. Eine statistische Auswertung des sowjetischen Zentralorgans Prawda zeigt die Allgegenwart des Begriffs kontrol [Kontrolle]. Zwischen 1917 und 1991 tauchte er dort mehr als 46 000-mal in allen möglichen Zusammenhängen auf. Die eigentliche Karriere des Begriffs begann gegen Ende der 1960er-Jahre, als das Regime sich nur mehr »sanfter« Methoden der Repression bediente und rohe Gewalt nur noch ausnahmsweise ins Spiel kam.[20] In den letzten beiden sowjetischen Jahrzehnten gewann der Begriff der »Kontrolle« in der verordneten Sprache an Prominenz, und niemals lasen die Leser der Prawda das Wort häufiger als in den Jahren der Perestroika, als die politischen Verhältnisse, die eben noch »ewig« schienen, ins Wanken gerieten.[21] Man könnte sagen: Je mehr der Führung von Staat und Partei die Kontrolle entglitt, desto größer war ihr Bedürfnis, Kontrolle zu behaupten – und sei es nur in der Presse. Doch die Zweifel an der Effizienz der Überwachungs- und Kontrollapparate ließen sich so vielleicht noch für eine kurze Zeit betäuben, aber nicht mehr auf Dauer vertreiben.
Zu den Beiträgen
Die Beiträge des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung 2023 setzen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Problem der Kontrolle im Staatssozialismus auseinander. Dabei geht es einerseits um Formen staatlicher Intervention und den Aufbau von Institutionen der Kontrolle, andererseits behandeln mehrere Texte das Problem, wie Individuen und Kollektive sich dem Kontrollanspruch unterwarfen oder geschickt entzogen. Die Texte verbindet die übergeordnete Frage, auf welche Weise in staatssozialistischen Gesellschaften Ordnungen implementiert und langfristig stabilisiert wurden.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs exportierten Stalin und seine Helfer ihr Modell des strafenden Kontroll- und Überwachungsstaates. In der sowjetischen Besatzungszone sowie in den Staaten Ost- und Ostmitteleuropas etablierten sie Regime sowjetischen Typs. Von Anbeginn war dieses Projekt mit allerlei Widrigkeiten verbunden, weil die Kommunisten nicht nur auf Widerstand und Gegenwehr stießen, sondern sich auch untereinander in erbittert geführte Machtkämpfe verstrickten. In diesen unübersichtlichen Situationen kam es darauf an, die Kontrolle über den politischen Prozess zu gewinnen und vor allem zu behalten. Möglich war dies nur mit verlässlichen Genossen. In der sowjetischen Besatzungszone waren das insbesondere die »Moskauer«; also jene Kommunisten, die nach dem Ende des Krieges aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland zurückkehrten. Im Beitrag von Andreas Petersen geht es um die Erfahrungen dieser »Davongekommenen«, die Terror und Krieg in der Sowjetunion überlebt hatten und nun die stalinsche Politik in Deutschland exekutierten. Wie der Terror die Täter selbst prägte und welchen Einfluss dies auf den Aufbau kommunistischer Regime in Ostmitteleuropa hatte, beschreibt Molly Pucci. Sie zeigt, dass sowjetische »Sicherheitsberater« ihre Gewalterfahrungen auch jenseits der sowjetischen Grenzen zum Maßstab ihres Handelns machten und dazu nutzten, die tschechoslowakischen Kommunisten in ihrem Sinn zu kontrollieren.
Oksana Nagornaia und Tatjana Raeva befassen sich mit sowjetischen Schriftstellern unterschiedlicher Generationen, die, sorgfältig ausgewählt, in der Nachkriegszeit als Kulturdiplomaten die Sowjetunion im Ausland zu vertreten hatten. Sie fragen nach dem Preis, der für solche exklusiven Privilegien zu entrichten war. Viele Autoren empfanden es als bedrückend, immer wieder für Repräsentationsaufgaben zur Verfügung stehen zu müssen. Gleichwohl wagten sie es nicht, sich dem mächtigen Staatsapparat zu widersetzen. In dieser Hinsicht hätten, so die beiden Autorinnen, allenfalls geringe Unterschiede zwischen dem Spätstalinismus und dem Poststalinismus bestanden.
Aus einer anderen Perspektive zeigt Jörg Ganzenmüller, dass die lange vorherrschende Annahme, der Herrschaftsantritt Chruščëvs habe einen abrupten Bruch mit der stalinistischen Vergangenheit bedeutet, differenziert betrachtet werden muss. Am Beispiel der KPdSU beschreibt sein Text, was Entstalinisierung konkret bedeutete und wie Funktionäre auf der regionalen und lokalen Ebene auf die Initiativen Chruščëvs reagierten, die ihnen mehr Einfluss übertrugen, ihnen aber auch mehr Engagement abverlangten. Als einige dieser Reformen zurückgenommen werden sollten, zeigte sich, dass Chruščëv den Apparat nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Dies habe, so Ganzenmüller, schließlich entscheidend zu seinem Sturz beigetragen.
Wie aber deuteten chinesische Kommunisten die sowjetische Abrechnung mit Stalin? Diese Frage steht im Zentrum von Martin Wagners Aufsatz, der eine in der Literatur bisher kaum beachtete Zusammenkunft sowjetischer und chinesischer Spitzenfunktionäre im Sommer 1963 detailliert untersucht. Er kann zeigen, dass dieses Treffen von entscheidender Bedeutung für den kurz darauf folgenden Bruch beider Staaten war. Auch Douglas Selvage beschreibt die oft spannungsreichen Beziehungen sozialistischer Staaten untereinander. Ihn interessiert die Kooperation zwischen MfS und osteuropäischen Geheimdiensten mit ihren kubanischen Kollegen. Dabei oszillierte das komplexe Verhältnis der Abwehrspezialisten untereinander beständig zwischen dem Wunsch nach engerer Zusammenarbeit einerseits und dem – auch professionell bedingten – gegenseitigen Misstrauen anderseits.
Die Legitimation und Autorität staatlicher Ordnungen nach dem Ende des Terrors stehen im Mittelpunkt der Aufsätze von Pavel Kolář, Jens Boysen und Muriel Blaive. Pavel Kolář geht am Beispiel der Todesstrafe der Frage nach, wie sich die Anwendung dieser härtesten aller Strafen auf das Verhältnis von staatlicher Legitimität und Souveränität auswirkte. Jens Boysen zeigt, dass die Armee in der polnischen Gesellschaft eine lagerübergreifende Autorität besaß, die andere Institutionen für sich nicht beanspruchen konnten und die auch durch den Einsatz von Gewalt gegen die Bevölkerung nicht erschüttert wurde. Muriel Blaive befasst sich am Beispiel einer Prager Familie mit der Reichweite staatssozialistischer Kontrollorgane. Ihre Fallstudie fragt nach individuellen Handlungsoptionen und den Grenzen staatlicher Zugriffsmöglichkeiten im Spätsozialismus.
Die Beiträge von Roger Engelmann und Daniela Münkel, Sebastian Stude, Jens Gieseke und Christian Booß befassen sich mit der Dynamik und Praxis der Staatssicherheit bzw. der politischen Justiz in der DDR. Roger Engelmann und Daniela Münkel fragen in ihrem Aufsatz danach, inwieweit sich die Entwicklung der MfS-Verfolgungspraxis mit dem Begriff der »Verrechtlichung« fassen lässt. Der Prozess der Verrechtlichung sei jedoch nicht ohne Verwerfungen verlaufen, eine Dynamik, die Engelmann und Münkel als einen Konflikt zwischen den Prinzipien von »Parteilichkeit« und »Gesetzlichkeit« beschreiben. In diesem Sinne charakterisiert Sebastian Stude die Staatssicherheit als »lernfähige Institution«, deren Repressionspraxis sich im Laufe weniger Jahrzehnte professionalisierte und bürokratisierte. Wie aber sahen sich die Angehörigen des MfS selbst und welche Organisationskultur herrschte im Inneren der Staatssicherheit? Jens Gieseke entwirft mit Blick auf das MfS in der späten DDR das Bild einer spezifischen »tschekistischen« Identität, in der sich Elemente der offiziellen Inszenierung der Geheimpolizei mit informellen Gewohnheiten und Praktiken verbanden. Christian Booß stellt schließlich die These infrage, das MfS habe in politischen Strafverfahren eine dominante Rolle gespielt. Damit verweist er zugleich auf die Bedeutung anderer Akteure im Bereich der politischen Repression, die angesichts der in der Forschung noch immer vorherrschenden Fixierung auf die Staatssicherheit aus dem Blick gerieten.
Die Grenzen des Sagbaren und die Kontrolle über Diskurse in der Diktatur sind Gegenstand der Texte von Udo Grashoff und Anna Schor-Tschudnowskaja. Udo Grashoff diskutiert am Beispiel von Suiziden in der DDR die Funktion politischer Tabus in autoritären Gesellschaften. Politische Tabus, schreibt er, seien »eine geeignete Sonde, um Sozialkontrolle und Handlungsspielräume in poststalinistischen Staaten genauer zu analysieren«. Auch Anna Schor-Tschudnowskaja interessiert sich für Sprechverbote und ihre Funktion. Sie untersucht die individuellen Versuche ausgewählter sowjetischer Schriftsteller, Erinnerungen an den Stalinismus zu artikulieren und ins Verhältnis zu anderen Formen politischer Repression zu setzen.
Eine Miszelle von Hendrik Berth, Elmar Brähler, Peter Förster, Markus Zenger und Yve Stöbel-Richter beschließt das Jahrbuch: Sie werten Daten der »Sächsischen Längsschnittstudie« aus, um in Erfahrung zu bringen, welche Art von Diktaturerfahrungen sich bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Studie nachweisen lassen.
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Die meisten Texte, die in dieser Ausgabe des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung 2023 enthalten sind, basieren auf Beiträgen, die im Rahmen der »3. Hermann-Weber-Konferenz zur Historischen Kommunismusforschung« im Mai 2021 diskutiert wurden. Die jährliche Konferenzserie soll Forschung zur Kommunismusgeschichte vernetzen und anstoßen. Gefördert von der Gerda-und-Hermann-Weber-Stiftung, erinnert sie an den Mannheimer Historiker Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Weber (1928–2014), der das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1993 begründete. Die Konferenz mit dem Titel »Nach dem Terror. Formen der Herrschaft und Repression im Spätsozialismus« wurde als gemeinsame Veranstaltung vom Lehrstuhl Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, dem BMBF-Forschungsverbund »Landschaften der Verfolgung« sowie dem Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung durchgeführt.[22] Aufgrund der damals herrschenden Kontaktbeschränkungen konnte die Konferenz lediglich online stattfinden. Dennoch kam ein überaus produktiver Austausch zustande, dessen Resultate nun in schriftlicher Form vorliegen. Wir sind allen Beiträgerinnen und Beiträgern ausgesprochen dankbar für die konstruktive und anregende Zusammenarbeit.
Berlin, im Dezember 2022 Jörg Baberowski und Robert Kindler
[1] Siehe Milan Svolik: The Politics of Authoritarian Rule, Cambridge 2012, S. 124.
[2] Siehe Johannes Gerschewski: Persistenz – Kontinuität – Adaptivität: Konzeptionen politischer Stabilität in der vergleichenden Autokratieforschung, in: Eva M. Hausteiner/Grit Straßenberger/Felix Wassermann (Hg.): Politische Stabilität: Ordnungsversprechen, Demokratiegefährdung, Kampfbegriff, Baden-Baden 2020, S. 39–55. Zum Problem politischer Legitimation: Marcin Zaremba: Im nationalen Gewande. Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen, 1944–1980, Osnabrück 2011.
[3] Siehe Jörg Baberowski/Martin Wagner: Crises in Authoritarian Regimes. An Introduction, in: dies. (Hg.): Crises in Authoritarian Regimes. Fragile Orders and Contested Power, Frankfurt a. M. 2022, S. 11–26, hier S. 20.
[4] Zum grundlegenden Zusammenhang siehe Reinhart Koselleck: Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Zwei historische Kategorien, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375.
[5] Thomas Ekman Jørgensen: Friedliches Auseinanderwachsen. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der Entspannung, 1960–1980, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), H. 3, S. 363–380, hier S. 369.
[6] Siehe Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 236–239. Zur stalinistischen Repression siehe Paul Gregory: Terror by Quota. State Security from Lenin to Stalin, New Haven/CT 2009, S. 219–250; Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012; Stephen Kotkin: Stalin: Waiting for Hitler 1929–1941, New York 2017.
[7] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 19. Aufl. München 2016, S. 975.
[8] Siehe William Taubman: Khrushchev. The Man and his Era, New York 2003, S. 270–324; Pavel Kolar: Der Poststalinismus. Ideologie und Utopie einer Epoche, Köln 2016, S. 91–142.
[9] Stefan Plaggenborg: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt a. M. 2006, S. 212–215. Plaggenborg bedient sich der Begriffe des Juristen Ernst Fraenkel, der mit dem Blick auf den Nationalsozialismus vom »Doppelstaat« gesprochen hat. Siehe dazu Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im »Dritten Reich«, Frankfurt a. M. 1974.
[10] Zit. nach: Zaremba: Im nationalen Gewande (Anm. 2), S. 26.
[11] Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, München 1978, S. 176. Zum Topos von Kritik und Krise siehe Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973.
[12] Siehe Vladislav Zubok: Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia, Cambridge/Mass. 2009, S. 60–87.
[13] Siehe James Millar: The Little Deal. Brezhnev’s Contribution to Acquisitive Socialism, in: Terry L. Tompson/Richard Sheldon (Hg.): Soviet Society and Culture. Essays in Honor of Vera S. Dunham, Boulder 1988, S. 3–19.
[14] Siehe Edward D. Cohn: A Soviet Theory of Broken Windows: Prophylactic Policing and the KGB’s Struggle with Political Unrest in the Baltic Republics, in: Kritika: Explorations in Russian & Eurasian History 19 (2018), H. 4, S. 769–792.
[15] Siehe Susanne Schattenberg: Nach Stalin: Das Funktionieren der UdSSR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 71 (2021), H. 16, S. 25–31, hier S. 26.
[16] Siehe Thomas Lindenberger: Öffentliche Sicherheit, Ordnung und normale Abläufe. Überlegungen zum zeitweiligen Gelingen kommunistischer Herrschaft in der DDR, in: Volker Zimmermann/Michal Pullmann (Hg.): Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität im Staatssozialismus. Tschechoslowakei und DDR 1948/49–1989. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 3. bis 6. November 2011, Göttingen 2014, S. 15–38, hier S. 37 f.
[17] Siehe Stefan Merl: Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen 2012, S. 14.
[18] Zum Wandel des Selbstverständnisses sozialistischer Geheimdienste: Jens Gieseke: The post‑Stalinist mode of Chekism: communist secret police forces and regime change after mass terror, in: Securitas Imperii 37 (2020), H. 2, S. 16–37. Beispiele für Geheimdienstkooperation: Stefano Bottoni: »Freundschaftliche Zusammenarbeit«. Die Beziehungen der Staatssicherheitsdienste Ungarns und Rumäniens 1945 bis 1982, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 21 (2012), H. 1/2, S. 5–28; Tytus Jaskułowski: Von einer Freundschaft, die es nicht gab. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR und das polnische Innenministerium 1974–1990, Göttingen 2021. Zu Möglichkeiten und Grenzen der Technisierung sozialistischer Geheimdienste am Beispiel der Staatssicherheit: Rüdiger Bergien: »Big Data« als Vision. Computereinführung und Organisationswandel in BKA und Staatssicherheit (1967–1989), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 14 (2017), H. 2, S. 258–285; Christian Booß: Vom Scheitern der kybernetischen Utopie. Die Entwicklung von Überwachung und Informationsverarbeitung im MfS, Göttingen 2021.
[19] Ein Beispiel für das Misstrauen der Geheimdienste untereinander ist etwa das Protokoll einer Besprechung zwischen MfS-Chef Erich Mielke und dem stellvertretenden KGB-Vorsitzenden Leonid Šerbašin vom 7.4.1989. Notiz über die Besprechung zwischen Minister Mielke mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des KfS, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (im Folgenden: BStU), MfS, ZAIG, Nr. 5198, Bl. 100–140, www.stasi-mediathek.de/medien/notiz-ueber-die-besprechung-zwischen-minister-mielke-mit-dem-stellvertretenden-vorsitzenden-des-kfs/blatt/100/ (ges. am 15. November 2022).
[20] Die Angaben basieren auf einer Auswertung des »Pravda Digital Archive«, https://gpa.eastview.com/pra (ges. am 15. November 2022). Für den Zeitraum 1917–1991 ergibt die Suche nach dem Begriff »kontrol« insgesamt 46 858 Treffer. Auf die Jahre 1965–1982 (Amtszeit Leonid Brežnevs) entfallen dabei ca. 15 400 Treffer (ca. 32,8 Prozent). Für die Jahre 1983–1991 (Amtszeiten Andropovs, Černenkos und Gorbačёvs) sind es 10 106 Einträge (21,56 Prozent). Die besondere Häufung in den 1980er-Jahren hängt sicher auch mit der intensiven Berichterstattung über die Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR zur Abrüstungskontrolle zusammen.
[21] Alexei Yurchak: Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006.
[22] Zu Verlauf und Programm der Konferenz siehe Samuel Kunze: Tagungsbericht. Nach dem Terror. Formen der Herrschaft und Repression im Spätsozialismus, in: H-Soz-Kult, 23.06.2021, www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127541 (ges. am 15. November 2022). Nähere Informationen zum BMBF-Forschungsverbund »Landschaften der Verfolgung« sowie zu den in diesem Rahmen durchgeführten Forschungsvorhaben finden sich unter: www.landschaften-verfolgung.de (ges. am 15. November 2022).