JHK 2024

Soziale Ungleichheiten in Zeiten des Kalten Krieges

Sozialpolitik und (Anti-)Kommunismus in Deutschland seit 1945

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 73-86 | Metropol Verlag

Autor/in: Christoph Lorke

Sozialpolitik ist prädestiniert für die propagandistische Vermittlung gesellschaftlicher Normsysteme, Wunschprojektionen und Ordnungsvorstellungen. Das wussten bereits nicht nur führende nationalsozialistische Politiker.[1] Auch im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR lassen sich Fremd- und Selbstwahrnehmungen mittels sozialpolitischer Politiken, Praktiken und damit einhergehender Legitimationsmuster nachweisen. Im Rahmen der seit dem Beginn der Teilung erfolgten und sich im Laufe dieses Prozesses immer mehr zu einer Asymmetrie verschiebenden wechselseitigen Beobachtung (und Abwertung) nahm das Einbeziehen und Sprechen über »das Soziale« bzw. die »soziale Frage« als zentraler Schauplatz der Systemauseinandersetzung eine herausragende Rolle für das Selbstverständnis hier wie dort ein – denn an kaum einem anderen Aspekt konnten »Erfolge« des eigenen oder »Versäumnisse« des jeweils anderen Gesellschaftssystems besser hervorgehoben oder »bewiesen« werden, als auf dem Gebiet sozialer Politiken.[2]

Ausgehend von einer in vielerlei Hinsicht ähnlichen Ausgangssituation entwickelten sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus sehr unterschiedlichen Gründen, aber aus einer gemeinsamen historischen Traditionslinie heraus, zwei hochgradig differente Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. Im Kalten Krieg standen sich die Bundesrepublik und die DDR als unmittelbar benachbarte Systemrivalen gegenüber, die sich ebenso aufmerksam, argwöhnisch wie ablehnend im Auge behielten und ihre (gesellschafts-)politischen Anstrengungen nicht zuletzt darauf ausrichteten, ihre Überlegenheit auf diesem Gebiet nachdrücklich zu demonstrieren – und zwar sowohl gegenüber der eigenen als auch der Bevölkerung des anderen Teilstaates.[3] Dieses überaus spannungsreiche Vergleichs-, Abgrenzungs- und Konkurrenzverhältnis zwischen West- und Ostdeutschland mündete vor dem ideologisch-symbolpolitischen Hintergrund des (Anti-)Kommunismus in sehr unterschiedliche Sozialpolitiken, die Anerkennung verschaffen, Konsens generieren, Legitimität unterstreichen und Systemintegration herbeiführen sollten. All dies wurde entsprechend prononciert: Neben der affirmativen Propagierung von sozialen bzw. sozialpolitischen Erfolgen und »Errungenschaften« gehörte zu einem möglichst positiven und konsistenten Selbstbild immer auch das Bestreben der jeweiligen politischen Führungen, soziale Konfliktkonstellationen, Notlagen und Schwierigkeiten im eigenen Land möglichst zu marginalisieren, zu relativieren oder gar gänzlich auszublenden. Dazu wurde auf Missstände außerhalb eigener Grenzen hingewiesen, oder es kam zu einer gezielten De-Thematisierung negativer Umstände.[4] Abhängig von den verschiedenen Dynamiken des Kalten Krieges, den entsprechenden globalpolitischen Kontexten, diplomatischen Hintergründen und bilateralen Annäherungen oder Verwerfungen sowie den (sozio-)politischen Eigendynamiken in West- und Ostdeutschland ergaben sich bemerkenswerte zeitgenössische Wahrnehmungen, Zuschreibungen und Funktionalisierungen »des Sozialen«. Von ihnen handelt dieser Beitrag.

Der öffentliche, kommunikative und symbolpolitische Umgang mit Erscheinungen sozialer Ungleichheit und »Armut« war in beiden deutschen Staaten auf markante Weise durchaus ähnlich und verweist auf auffällige Parallelen bei den Lesarten des Sozialen.[5] Diese Ähnlichkeiten im Umgang mit sozialen Problemlagen deuten auf mentale, strukturelle und personelle Überhänge aus der Zeit des Nationalsozialismus und davor hin.[6] Sie historisch zu analysieren, ist nicht ohne weitere Vorbemerkungen möglich, da die strukturellen Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten zu groß erscheinen: So stehen mit der Bundesrepublik und der DDR auf der einen Seite Demokratie und soziale Marktwirtschaft, auf der anderen Seite die »Diktatur des Proletariats« und die Planwirtschaft im »Arbeiter-und-Bauern-Staat«. Auf der einen Seite stand ein prophylaktischer, präventiv und interventiv agierender Wohlfahrtsstaat westlichen Typs, fußend auf einem kapitalistischen Wirtschaftssystem und dem Leitgedanken der sozialen Marktwirtschaft. Das bedeutete gleichzeitig eine Absage an den totalen Versorgungsstaat und unterstrich das Bemühen um sozialen Ausgleich. Das Ergebnis war eine staatlich geförderte kollektive Daseinsvorsorge, die stets die Verantwortung des Einzelnen als zentral erachtete. Auf der anderen Seite kann die DDR als paternalistisches, autoritäres Wohlfahrtsregime bezeichnet werden, rigide kontrolliert und reguliert von staatlichen Instanzen. Gleiches gilt für die Mechanismen der Meinungsbildung und somit auch für das öffentliche Diagnostizieren des Sozialen: Offerierten im Westen Wissenschaft, Massenmedien, Politik und Gewerkschaften alternative und konkurrierende Interpretationen zur Beschreibung der sozialen Wirklichkeit, verschmolzen im Osten jegliche Stimmen in einer streng durchherrschten und disziplinierten Gesellschaft zu einem mehr oder weniger einheitlich vortragenden Chor, der gebetsmühlenartig das Hohelied auf die »Annäherung der Klassen und Schichten« anstimmte.

Trotz dieser gewichtigen strukturellen Unterschiede scheint es geboten, solche übergreifenden Modi der sozialen Selbstdeutung zu reflektieren, zu historisieren und in die Strukturen des Systemwettbewerbes einzuordnen. Denn die DDR aus solchen Betrachtungen auszuklammern, würde nicht nur zu einer unvollendeten deutschen Zeitgeschichte führen.[7] Zwangsläufig würden darüber auch eben jene zeitgenössischen Lesarten einer weitgehenden sozialen Nivellierung nolens volens reproduziert, wie sie etwa im Urteil einer »nach unten nivellierten Gesellschaft« zum Ausdruck kommt,[8] wodurch gerade kulturgeschichtliche Erkenntnisse zur doppelten Sozialstaatsgeschichte begrenzt blieben. Anknüpfend an die vorangegangenen konzeptionellen Überlegungen zu einer integrativen deutschen Zeitgeschichte wird davon ausgegangen, dass ein innerdeutscher Vergleich hinsichtlich der Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates und der Logiken gesellschaftlicher Selbstbeschreibungsformen sowie ein Blick auf den Umgang mit sozialer Unterprivilegierung in Ost und West ein lohnendes Untersuchungsfeld darstellen: Ausgehend von den gemeinsamen Traditionen des Wohlfahrtsstaates eignen sich Fragen der Sozialpolitik in besonderer Weise für einen Vergleich, da sich beide Länder mit sehr ähnlichen Aufgaben konfrontiert sahen. Das Ergebnis waren (Sozial-)Politiken und Legitimationsmuster, die sich aus systemischen Gründen voneinander unterschieden und dennoch zahlreiche Parallelen aufwiesen.[9] Folglich spricht einiges dafür, die doppelte Nachkriegsgeschichte als eine vergleichende Problemgeschichte anhand ausgewählter thematischer Ausschnitte zu konzipieren.[10]

Eine vergleichende und asymmetrisch aufeinander bezogene Parallelgeschichte könnte vor allem dann weiterführende analytische Befunde generieren,[11] wenn weniger »harte« Gegebenheiten wie Einkommen oder Geld miteinander verglichen würden. Denn dabei würde beispielsweise nicht berücksichtigt, dass diese Faktoren aufgrund der Verstaatlichung des Produktionssystems nicht annähernd eine so starke Rolle spielten wie in westlichen Marktgesellschaften.[12] Für eine Annäherung an die hier im Mittelpunkt stehende symbolpolitische Seite des Themas scheint es stattdessen gewinnbringender, sich mit der Konstituierung, Vermittlung und Stabilisierung sozialer Sinndeutungen zu beschäftigen.[13] Ausgehend von einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von »Armut« als einer Kategorie, die als Ergebnis öffentlicher Wahrnehmung, sozialer Reaktionen und Definitionen, dominanter Sprach- und Darstellungsformen sowie hegemonialer Kategoriensysteme zu verstehen ist,[14] lassen sich Formen zeitgenössischer Konstruktion und Kategorisierung, Zuschreibung, Ausdeutung und Charakterisierung von »Armen« bzw. sozial »Unterprivilegierten« und somit die sozialsymbolische Ordnung beider deutscher Gesellschaften herausarbeiten. Die folgende historische Skizze der Deutungsformen, aus Platzgründen schlaglichtartig verdichtet,[15] zeigt, welche Erwartungen, Zukunftsprojektionen, Befürchtungen und Ängste mit den nach unten abweichenden gesellschaftlichen Lebensformen im geteilten Deutschland verbunden waren, und legt nahe, dass der Umstand sozialer Ungleichheit in der eigenen Gesellschaft für die politischen Machthaber sowohl Fluch als auch Segen sein konnte.

I. Neuanfänge und Pfadabhängigkeiten in den Nachkriegsordnungen

Die unmittelbaren Folgen des Zweiten Weltkriegs wie Hunger, Wohnraummangel, Arbeits- und Obdachlosigkeit, die Flüchtlings- und Vertriebenenströme und andere soziale Probleme führten in beiden deutschen Staaten zunächst zu einem weitgehenden, von Pragmatismus und Handlungsdruck geprägten Konsens über den Handlungsbedarf im Bereich der Sozialpolitik.[16] In Westdeutschland war diese Situation sozialer Not Ausgangspunkt und wesentlicher Kern verschiedener Sicherheitsversprechen, wie dies auch in zahlreichen anderen europäischen Staaten nach 1945 der Fall war.[17] Der sozialstaatliche Anspruch wurde durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen pragmatischer Sozialpolitik (Lastenausgleich, sozialer Wohnungsbau, Institutionalisierung des »Warenkorbs«, Rentenreform) flankiert und ebnete so den Weg für die rasche Transformation der »Zusammenbruchsgesellschaft« (Christoph Kleßmann) hin zu wachsendem sozialen Wohlstand. Einzelne Maßnahmen, wie die Dynamisierung der Altersrente seit 1957, waren dabei unverkennbar auch an den Osten Deutschlands adressiert und sollten entsprechend Attraktivität ausstrahlen.[18] Eingängige Postulate und Selbstbeschreibungen verwiesen in jenen Jahren mehr auf sozialstaatliche Zielvorstellungen, denn auf soziale Wirklichkeiten, wie die der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky) oder der »Bolte-Zwiebel«.[19] Die 1961/62 erfolgte Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes sorgte vor dem Hintergrund der im westlich-kapitalistischen Selbstverständnis verankerten wie weitgehend unhinterfragten »Überflussgesellschaft« (John Kenneth Galbraith) dafür, dass Armut und soziale Ungleichheit im öffentlichen Raum als etwas Überwundenes oder prinzipiell Überwindbares angesehen wurden.[20]

Mit der Errichtung einer sozialistischen Diktatur und dem damit verbundenen Ende des kapitalistischen »Ausbeutungs- und Unterdrückungssystems« gingen die politisch Verantwortlichen in SBZ bzw. DDR sogar noch etwas früher davon aus, dass das gesellschaftlich bedingte Phänomen sozialer Not grundsätzlich beherrscht bzw. in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören würde. Sozialpolitische Maßnahmen zielten allein auf die Beseitigung sozialer Ungleichheit und reflektierten weniger deren bloße Existenz, da sie allenfalls eine Zwischenstufe auf dem Weg zu einer »klassenlosen Gesellschaft« sei.[21] Dieser Leitgedanke verstellte anfangs den Blick auf weiterhin bestehende Notlagen, wobei die unermüdliche Inszenierung der (angestrebten) gesellschaftlichen Egalität im politisch-öffentlichen Diskurs keineswegs allein typisch für die DDR, sondern vielmehr auch in anderen Ländern des »Ostblocks« üblich war. In der konkreten Umsetzung griff die SED-Parteiführung auf Vorbilder aus der Arbeiterbewegung zurück, indem sie umfassende sozialpolitische Maßnahmen mit autoritären Traditionen staatlicher Regulierung samt rigider Fürsorge- und Rentenpolitik zu verbinden suchte. Dazu gehörte beispielsweise die grundsätzliche Skepsis gegenüber potenziellen Empfängern staatlicher Zuwendungen.[22] Dieser Ansatz, der zwar zu einer schrittweisen Verringerung der Zahl der Sozialfürsorgeempfänger führte, aber keineswegs die soziale Ungleichheit gänzlich zu überwinden vermochte, muss ebenfalls vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz interpretiert werden, waren doch im Rahmen des Gleichheitswettbewerbs fürsorgepolitische Entwicklungen auf beiden Seiten der Mauer ebenso wichtige Elemente sozialstaatlicher Legitimation wie die Erhöhung von Löhnen, Gehältern oder Renten.[23]

Umgekehrt blieben Themen wie soziale Ausgrenzung, Ungleichheit, Armut und Elend in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten völlig unvereinbar mit wohlfahrtsstaatlichen bzw. staatssozialistischen Selbstentwürfen – auch dies spiegelt einen bemerkenswerten doppelten Konsens. Getragen von der vorherrschenden Befürchtung, die sozialen Sicherungsversprechen des eigenen Sozialmodells könnten auf diese Weise an Glaubwürdigkeit einbüßen und somit die Anziehungskraft auf potenzielle Arbeitskräfte hemmen, lässt sich hier wie dort eine progressive Vermeidung sozial unerwünschter bzw. unbrauchbarer, da kontraproduktiver Kategorien wie »Armut« erkennen. Diese auffällige Strategie der Externalisierung sozialer Probleme war übrigens nicht nur Element der frühen Jahre des Systemwettbewerbs. Vielmehr war es auch in den Folgejahren ein populäres Substitut, um sich mittels Verweisen auf schlimmere, unerträglichere Not jenseits der eigenen Grenzen des eigenen Wohlstands gewiss zu sein.

Ungeachtet dieser zeit- und systemimmanenten Besonderheiten rückten Formen individueller Sozialisationsdefizite durchaus in das Visier west- und ostdeutscher Gesellschaftskommentatoren, wenn auch weniger im Rahmen einer breiten Öffentlichkeit, sondern eher im Zusammenhang mit sozial- und wohlfahrtspolitischen Maßnahmen in Expertenkreisen. So lässt sich als Effekt des angedeuteten Konsenses in beiden Nachkriegsgesellschaften schon früh eine Wiederherstellung überkommener sozialer Vorstellungswelten feststellen. Dies ist vor allem auf persönliche und mentale Kontinuitäten bei wichtigen Entscheidungsträgern zurückzuführen.[24] Standen auf der einen Seite die »verschämten Armen«, ist auf der anderen Seite die Verwendung altbewährter Beschreibungsformeln und abwertender Sozialklischees augenfällig. Eine solche tendenzielle Dichotomisierung des Sozialen förderte in beiden Wiederaufbau-Gesellschaften beizeiten eine erneute Individualisierung bei der Zuschreibung und Einordnung sozialer Not. Bestimmte deskriptive, generalisierende Konstanten wie ein »gestörtes« Verhältnis zur Arbeit, psychische Labilität, ein Mangel an Bildung, Kultur und Moral und normative Definitionen in puncto Regelmäßigkeit (Arbeit), Stabilität (Ehe, Familie), Ordnung (Moral, Sitte) sowie Leistung (bezogen auf Arbeit und gegenüber der Gesellschaft) und eine strikte Abgrenzung von »guten«, »würdigen« bzw. »verschämten« Armen wie Rentnern oder Kindern (Unschuld, Würde, Schicksal) zeigen, wie sehr sich Kategorisierungen sozialer Probleme an überkommenen bürgerlichen Werten orientierten. Zudem zementierte die zeitweilige (Bundesrepublik) oder letztlich dauerhafte (DDR) Renaissance eugenischer und sozialhygienischer Deutungsmuster im Rahmen eines überkommenen »Asozialen«-Diskurses jene scharfe Trennung beim Sprechen über soziale Nöte;[25] ein Diskurs, der seine volle Wirkung in der DDR ab den 1970er-Jahren entfalten sollte. Diese Art der sozialen Hierarchisierung unter Fürsorgepolitikern und -praktikern, Bürokraten und Medienvertretern spiegelt in den beiden Nachkriegsgesellschaften ein Grundbedürfnis nach sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Normalität, nach Stabilisierung, Harmonisierung und Ausgleich der sozialen Ordnung.

II. Diagnosen sozialer Widersprüche im Lichte wirtschaftlicher Erfolge und sozialstaatlicher Expansion

Steigende Löhne, Wirtschaftswachstum und »Vollbeschäftigung«: Die ökonomischen Entwicklungen bestätigten einerseits jene frühen, sozial-euphorischen Selbstvergewisserungsmodi der Bundesrepublik. Andererseits lässt sich in dieser Phase des »Wirtschaftswunders« und des rapiden Ausbaus des Wohlfahrtsstaates auch feststellen, inwieweit sich die Logiken sozialer Diagnosen im Lichte soziokultureller Wandlungen ebenfalls veränderten. Wurde das Schicksal sozial Benachteiligter, vor allem Obdachloser oder kinderreicher Familien, von unterschiedlichen Beobachtern bis dato zumeist mit individuellem Fehlverhalten erklärt, stellten sich mit den 1960er-Jahren markante Verschiebungen ein, insbesondere in der massenmedialen Kommentierung des Sozialen. Die verstärkte Konzentration auf gesellschafts- und regierungskritische Themen beförderte einen Trend zum Perspektivwechsel. Der Fokus vieler Medien verlagerte sich weg von Faktoren des vermeintlichen persönlichen Versagens und betonte deutlich strukturelle Defizite oder (sozial-)politische Versäumnisse, gerade auf den Gebieten des Wohnungsbaus oder der Förderung von sozial schwächer gestellten Familien mit vielen Kindern. Darüber hinaus gelangten im Zuge soziokultureller Umbrüche Schlüsselbegriffe wie »Teilhabe« und »Chancengleichheit« auf die gesellschaftspolitische Agenda. Damit verbunden war die weit verbreitete, auf Zukunftsoptimismus und Machbarkeitsglauben basierende Vorstellung vieler in der westdeutschen Gesellschaft, dass sozial prekäre Gesellschaftsformen durch eine umfassende Steuerung positiv beeinflusst werden könnten. Die nun verstärkt nachweisbaren differenzierten Deutungsmuster insbesondere linksliberaler Kommentatoren und die allgemein abnehmende Kraft des bürgerlichen Modells als allein bindende Bewertungsschablone förderten daher eine spürbare öffentliche Solidarität mit den Angehörigen des sozialen »Unten«. Aber nicht nur die Regeln der Sagbarkeit erfuhren in diesem Zusammenhang eine deutliche Erweiterung: Konnte man bis Anfang der 1960er-Jahre von einer weitgehend fehlenden deutsch-deutschen Sichtbarkeit sozialer Probleme im öffentlichen Raum sprechen, führte die sich ausbreitende Medialisierung und Sensibilisierung auch zu einer zunehmenden Visualisierung sozialer Randlagen.

Trotz dieser um Verständnis und Toleranz bemühten Lesarten war für den kommunikativen Umgang mit sozialer Unterprivilegierung nach wie vor eine Hierarchisierung nach imaginierter sozialer Respektabilität entscheidend. Besonders augenfällig wird diese Beobachtung, wenn man die unterschiedlichen diskursiven Konstruktionen von Altersrentnern und den neu »entdeckten« gesellschaftlichen »Randgruppen« an der städtischen Peripherie betrachtet. Während Erstere eine unumstrittene, oft wohlwollende Anerkennung erfuhren und ihre (meist als unverschuldet interpretierte) soziale Not in erster Linie mit entmaterialisierten Problemen wie Einsamkeit und Tristesse im Alter in Verbindung gebracht wurde,[26] waren nicht wenige mediale Sozialnarrative über Menschen an Rändern bundesdeutscher (Groß-)Städte von beinahe voyeuristischen und damit demütigenden Formen der Inszenierung geprägt.[27] Diese symbolischen Raumlogiken hatten durchaus einen realen sozialgeschichtlichen Kern und rekurrieren auf Modi von Exklusion und Inklusion,[28] wobei laut dieser auf Ungleichheiten verweisenden Topografie des Wohnens zunehmend Nichtdeutsche zu den Betroffenen zählten, was die intersektionale Dimension der Thematik unterstreicht.[29]

Obwohl folglich eine grundsätzliche Tendenz zur Entdiskriminierung von »Armut« erkennbar ist, weisen die immer wieder zu beobachtenden herablassenden Argumentationsweisen und Visualisierungen über Lebensstile und das (vermeintliche) Wertesystem von Obdachlosen und »Nichtsesshaften« ganz klar auf mentale Überhänge mit tendenziell autoritärer bzw. illiberaler Orientierung gerade auch mit Blick auf moralisch-sittliche Fragen des Sozialen hin. Aufgrund des pluralistischen Charakters der westdeutschen (Medien-)Öffentlichkeit mündeten diese Interpretationsformen schließlich in ein komplexes Geflecht sozialer Kommentare, das durch den Willen zur Verbesserung sozialer Missstände, die Sorge um die intergenerationelle Weitergabe »schädlicher« Verhaltensweisen, aber auch durch den Wunsch nach verstärkter sozialer, mitunter krimineller Disziplinierung geprägt war. Der zentrale Befund – die Existenz eines soziokulturellen Spannungsverhältnisses zwischen den so imaginierten »unteren« Bevölkerungsschichten und der »normalen Gesellschaft« – wurde auf diese Weise, intendiert oder nicht, unweigerlich reproduziert; ein Sachverhalt, der den Beobachtern in der DDR nicht verborgen blieb.

Die in Westdeutschland weit verbreitete Überzeugung, soziale Probleme seien beherrschbar, korrelierte zumindest auf der Planungsebene mit den zeitgleichen Entwicklungen im Staatssozialismus. Wirtschaftliche Konsolidierung und außenpolitische Erfolge steigerten das Selbstbewusstsein der ostdeutschen Staats- und Parteiführung, die im Hinblick auf die sozialtechnologische Einflussnahme kaum Grenzen der Realisierbarkeit zu kennen schien. Der Dominanz propagandistischer Schlagworte wie »soziale Sicherheit« und »Geborgenheit« als »Wesensmerkmale« der sozialistischen Gesellschaftsordnung müssen indes die zeitgenössischen wissenschaftlich fundierten Diagnosen des Sozialen gegenübergestellt werden. Die verstärkte Fokussierung auf innen- und somit sozialpolitische Entwicklungen im eigenen Land, insbesondere nach dem Mauerbau, führte dazu, dass zahlreiche empirische Studien angefertigt wurden, die vielfältige Formen sozialer Marginalisierung zum Thema ihrer Forschungen machten. Vor allem für Altersrentner, kinderreiche Familien oder Alleinerziehende offenbarten die meist unter Verschluss gehaltenen Studien erhebliche Abstände zur Durchschnittsbevölkerung sowie durchaus gravierende materielle Schwierigkeiten. Beunruhigt waren die Autorinnen und Autoren nicht zuletzt aufgrund vermeintlicher kultureller und sozialer Defizite, wie fehlende Bildung und Kultur, »falsches« Wirtschaften, »leerer« Konsum und politisches Desinteresse, insbesondere bei ungelernten und angelernten Arbeiterfamilien und/oder kinderreichen Familien. Die auch von der Staatsführung geteilte Befürchtung, diese Defizite könnten den Weg zu einer »entwickelten sozialistischen Persönlichkeit« behindern, führte schließlich im Kontext einer zunehmenden Politisierung des Sozialen zu einer Dominanz sozial-konservativer Ordnungs- und Orientierungsmuster bei der Bewertung »abgehängter« Bevölkerungsgruppen, vor allem in den Bezeichnungen »Dissozialität« und, seit 1968 auch strafrechtlich verankert, »Asozialität«. Neben der Charakterisierung eines sozial »entkoppelten« Milieus schwang in diesen Studien immer – mal mehr, mal weniger explizit artikuliert – die Sorge mit, »unangemessene« Eigenschaften könnten an die nächste Generation weitergegeben werden. Die Befürchtungen richteten sich also vor allem auf das Verhalten der Eltern, das durch Nachahmung oder Identifikation auf die Kinder weiterwirken könnte.[30] Das Besondere daran ist die unverkennbare Nähe zu zeitgleich nachzuweisenden westlichen Interpretamenten (u. a. Oscar Lewisʼ »Kultur der Armut«), was die These der permanenten Beobachtung des Sozialen stützt.

Im Gegensatz zur Bundesrepublik allerdings blieben jene Befunde der breiten DDR-Bevölkerung in der Regel verborgen, kontrastierten diese doch auf das Schärfste mit den offiziell transportierten Gesellschaftsnarrativen, die allein dazu dienten, die Erfolge und die sozialpolitische Überlegenheit des Regimes unter den Vorzeichen des Kalten Krieges zu markieren. Populäre soziale Symbolfiguren, die bis zum Ende der DDR weitgehend stabil blieben, waren zum einen die »rüstigen« Rentner, die bis ins hohe Alter aktiv waren und denen die Gesellschaft aufgrund ihrer erworbenen Verdienste Dankbarkeit entgegenbringen musste. Zum anderen erfuhren kinderreiche Familien, die sich von Natur aus als »anständig«, »ordentlich«, politisch angepasst und aktiv präsentierten, symbolische Anerkennung. Diese stark pädagogisierten Positiv- und Negativbilder dienten der Legitimation des patriarchalen (Sozial-)Staates und hatten zum Ziel, auf diese Weise stark regulative Lebensnormen zu transportieren, die Werte wie Tugend und Verzicht, Verlässlichkeit und Fleiß sowie die Bedeutung regelmäßiger, geordneter und berechenbarer Arbeit vermitteln sollten. Dies war ein bemerkenswerter Zusatz des verfassungsmäßig verankerten Anspruchs eines »Rechts auf Arbeit«, das es in der Bundesrepublik nicht gab und das gemeinsam mit der »Pflicht zur Arbeit […] eine Einheit« bildete (Verfassung der DDR 1974, Art. 24, Abs. 2). Die auf diese Weise konstitutionell wie medial und anderweitig etablierten Verhaltensregeln verstärkten die erwünschte Gesellschaftsvision von einem gesellschaftlich respektablen »Werktätigen«, der als Gegenstück zu der aus der Arbeiterbewegung stammenden Kategorie des »Lumpenproletariats« konzipiert wurde.[31] Zugleich unterstreicht jene Festsetzung und Stabilisierung symbolisch-sozialer Sinnwelten die Bedeutung eines fürsorglichen, aber immer auch misstrauisch beobachtenden und agierenden sozialistischen Staates, dessen Loyalitätsangebote sich vordergründig an »Normalbiografien« richteten. Dieser Zugriff auf das Soziale implizierte zugleich ein Versprechen auf soziale Sicherheit in der Zukunft. Abweichungen – tatsächliche oder vermeintliche – konnten von der Politik oder dem Strafrecht mit Stigmatisierung und Kriminalisierung geahndet werden, womit zugleich ein Instrument zur sozialen Disziplinierung geschaffen wurde. Diese Beobachtung verweist – bei allen Gemeinsamkeiten in den Bewertungen und dem verstärkten Interesse an sozialen »Randgruppen« in den »langen« 1960er-Jahren – auf eine eklatante Auseinanderentwicklung von Bundesrepublik und DDR hinsichtlich der Definition und Durchsetzung gesellschaftlich verbindlicher Verhaltensnormen.

III. Verstetigungen und Modifizierungen in Zeiten von Krisen und Umbrüchen

Die beiden Ölkrisen von 1973 und 1979/80 markieren das Ende der »Blütezeit des Sozialstaats« (Hartmut Kaelble).[32] Diese globalen Wirtschaftseinbrüche hatten unmittelbare Auswirkungen auf Westdeutschland und mit Verzögerung auch auf Ostdeutschland.[33] In der Bundesrepublik führte das plötzliche Ende der Wohlstandsillusion zu Krisendiskursen über eine »neue soziale Frage« oder zu Debatten um eine »Zweidrittelgesellschaft«. Zweifelloser Höhepunkt in der Berichterstattung war die »Neue Armut« Mitte der 1980er-Jahre. Der (den Tatsachen entsprechende, aber zeitgenössisch gnadenlos überzeichnete) horrende Anstieg der Sozialhilfeempfänger- und Obdachlosenzahlen im Westen galt den Beobachtern östlich des Eisernen Vorhangs als Beweis einer menschenverachtenden »kapitalistischen Ellenbogengesellschaft« – dass bezeichnenderweise gleichzeitig die Aufnahme von Milliardenkrediten aus der Bundesrepublik erfolgte, was nicht zuletzt der Aufrechterhaltung sozialpolitischer Maßnahmen diente, soll nicht unerwähnt bleiben.[34] Diese systemkritischen Betrachtungen ostdeutscher Beobachter jedenfalls blieben mitnichten nur auf Westdeutschland beschränkt, sondern bezogen sich in sehr ähnlicher Manier insbesondere auf Großbritannien und die USA, wobei die Stichworte »Thatcherism« und »Reaganomics« symptomatisch für eine konservative Kehrtwende standen, die sich mit Befürchtungen um ein Ende bis dato bekannter Sozialstaatlichkeit bei gleichzeitiger Deregulierung der Wirtschaft, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Privatisierung bzw. Individualisierung sozialer Risiken verquickten.[35] War die Arbeitslosigkeit in Zeiten der »Vollbeschäftigung« als Bedingungsfaktor zwischenzeitlich nahezu irrelevant geworden, avancierte sie nun zu einem ständigen Begleiter der wirtschaftlichen Entwicklung und fortan zu einem wesentlichen strukturierenden Element zeitgenössischer Sozialdiagnosen, wie die mitunter hitzigen Debatten über den Umfang sozialstaatlicher Interventions- und Präventionsmechanismen zeigen.[36] Darüber hinaus nahm zeitgleich auch die Verwendung individualistischer Erklärungsansätze für die Deutung sozialer Ungleichheit wieder zu. Vor allem konservative Beobachter beklagten mangelnde Lebensplanung und Sparverhalten, unzureichende Einstellungen zur Arbeit und moralische Schwächen. Teile der Medien und sogar Politiker im Bundestag polemisierten plakativ und mit Verweis auf Einzelfälle gegen jene Bezieher staatlicher Leistungen, die das vorherrschende Arbeits- und Leistungsethos angeblich ablehnten.[37] Solche Selbstbeschuldigungsdebatten über vermeintliche »Drückeberger«, das Betonen mutmaßlichen »Müßiggangs« und eine angebliche »Hängematten«-Mentalität als Akte ritueller Kommunikation förderten die Wiederbelebung früherer sozialskeptischer Deutungsgewohnheiten. Durch eine solche hochgradig moralisierende und auf Aspekte der Arbeitsethik abhebende Berichterstattung erschien der Sozialstaat im Lichte krisenhafter Zeiten als überlastet, dysfunktional und letztendlich reformbedürftig, was sich dann in der Verwendung jener personalisierten Berichterstattung und dämonisierten Individuen niederschlug. Die mit Verve verhandelte Frage nach der Verantwortung von Teilen der sozial Benachteiligten kann als Versuch der Selbstverständigung und als Reaktion auf die Schroffheit der sozioökonomischen Verwerfungen gedeutet werden. Zugleich legte die Kombination aus Krisendiskursen, der weiteren Politisierung und Ausdifferenzierung der Massenmedien als Arenen sozialer Konflikte und der zunehmenden Selbstreferenzialität des Sozialen den Grundstein für ein stabiles, breites Panorama sozialer Kommentare, das wir auch heute vorfinden. Dies führte zu der übergreifenden Erkenntnis, dass der Armut als sozialer Kategorie in Zeiten »neuer Unübersichtlichkeit« (Jürgen Habermas, 1985) bzw. einer »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck, 1986) wieder mehr Bedeutung beigemessen werden muss.[38]

In der DDR begann mit der 1971 proklamierten und nicht zuletzt von einer Sorge um eine politische Destabilisierung forcierten »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« die Phase des »entfalteten« bzw. »entwickelten« Sozialismus. Der damit einhergehende weitere Ausbau des sozialpolitischen Maßnahmenkatalogs diente zunächst der Beruhigung der politischen Führung, und zwar vorrangig wegen der pazifistischen Stoßrichtung, waren doch die Ereignisse von Prag (1968) eine Mahnung gewesen. Die sich daraufhin einstellenden unstrittigen soziopolitischen Erfolge – genannt sei nur der Rückgang der Arbeiter- und Angestelltenhaushalte im Bereich einer empirisch ermittelten Armutsgrenze von 30 (1970) auf 10 Prozent (1988)[39] – hatten allerdings einen hohen Preis.[40] Ungeachtet dessen kollidierte die soziale Situation vieler Rentner, Altersheimbewohner, kinderreicher Familien, Alleinerziehender, ehemaliger Straftäter oder »Vertragsarbeiter« regelmäßig mit den von der Einheitspartei bis zum Ende der DDR hartnäckig verkündeten Gleichheitsparolen. Die Individualisierung blieb die dominierende Strategie im Umgang mit sozialen Problemen, wie zum Beispiel das rigide Vorgehen gegen »asoziales Verhalten« in der Ära Honecker zeigte.[41] Und doch begann in den 1980er-Jahren der Glaube an die offiziell proklamierte Gleichheitsdoktrin zumindest unterschwellig zu schwinden, etwa in den Sozial- und Rechtswissenschaften, in Kunst und Literatur. Verglichen mit der Entwicklung in Westdeutschland deutet dies auf eine markante Phasenverschiebung hin, zum einen im Hinblick auf eine kritische, selbstreflexive Infragestellung sozialer Sicherheitspostulate, zum anderen in Bezug auf die wachsende zeitdiagnostische Einsicht, dass ein gewisser »Kernbestand« an sozial »Abgehängten« kaum aufzulösen ist. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie sehr die Interpretation des sozialen »Unten« blockübergreifenden Logiken zuwiderlaufen konnte.

IV. Spuren des Kalten Krieges im sozialpolitischen und sozialsymbolischen Handeln seit 1989/90

Sozialpolitik war während des Kalten Krieges ein stark umkämpftes ideologisches Feld. Sie diente dazu, sich als die bessere Alternative zum Gegenüber zu profilieren. Das damit verbundene Konkurrenzverhältnis führte zu einer markanten Ausweitung sozialstaatlicher Leistungen in Ost wie West, wobei der Kostendruck immens werden und sich bald eine Überforderung der Möglichkeiten und Machbarkeiten einstellen sollte. Davon blieb das Reden über Fragen sozialer Ungleichheit nicht unberührt: Öffentlich verhandelte Erkenntnisse über den unteren sozialen Rand waren in beiden deutschen Staaten sinnstiftende Konstrukte. Die hier nur angedeuteten Ähnlichkeiten hinsichtlich sozialer Kategorisierung, gemeinsamer Bewertungsrichtlinien oder der Etablierung bestimmter kultureller Figuren verweisen auf Nähe und Distanz, Berührungspunkte und Abweichungen in diskursiven und symbolischen Konstruktionsprozessen sozialer Wirklichkeiten. Die Beobachtung und Interpretation dieser Selbstdeutungsnarrative lässt Rückschlüsse auf gesellschaftlich akzeptierte Erwartungen der Normkonformität zu, die sich einerseits mit den Kontexten des Kalten Krieges, andererseits mit den jeweiligen sozialpolitischen Eigenlogiken erklären lassen. Zugleich legen sie Kontinuitäten in Visualisierungs- und Sprachmustern nahe.[42]

Die gesellschaftlichen Debatten der letzten Jahre in Deutschland über Menschen am unteren Rand der Gesellschaft haben Bezeichnungen wie die »neue Unterschicht« oder das »abgehängte Prekariat« hervorgebracht. In diesem Zusammenhang war auch von »Sozialadel«, »Selbstbedienungsmentalität« und »mühelosem Wohlstand« die Rede, der mitunter gar als »asoziales« Verhalten diagnostiziert wurde. Die oft verallgemeinernde und stereotype Darstellung komplexer Lebensverhältnisse förderte zumindest in Teilen der Öffentlichkeit die Entstehung eines monolithischen Bildes sozial unterprivilegierter Menschen. Die Betroffenen wurden als faul und schmutzig, passiv-lethargisch und von affektiven Trieben animiert, oft kinderreich und kriminell sozialisiert dargestellt, die als soziokulturelle Schnittmenge ein vermeintlich identisches Moral- und Wertesystem aufwiesen. Prominent waren etwa die Diskussionen und Szenarien des Betrügerischen im Vorfeld der Implementierung der »Hartz-IV«-Reformen.[43] Solche Versuche, das Phänomen »Armut« in einer der wohlhabendsten Industriegesellschaften der Welt, zumal in einer wohlfahrtsstaatlichen, greifbar zu machen, lassen sich heute mit verlässlicher, ja zyklischer Regelmäßigkeit beobachten.[44]

Weniger beachtet werden in diesen aktuellen Verhandlungen die (zeit-)historischen Dimensionen solcher Zuschreibungsmuster, wobei die obigen Ausführungen hoffentlich zeigen konnten, warum eine kulturgeschichtliche Erweiterung der Sozialstaatsgeschichte durchaus gewinnbringend ist. Die genannten Beispiele unterstreichen nicht nur die Relevanz und Dauerhaftigkeit des Themas,[45] sie transportieren indirekt auch eine Reihe offener Fragen: Viel zu wenig wissen wir erstens über die Stimme der Betroffenen, die es gilt, künftig stärker als bisher einzubeziehen.[46] Zweitens dürfte es sinnvoll sein, die emotional-sinnliche Ebene bei der Rekonstruktion zeittypischer Sozialdiagnosen im Sinne einer moralischen Ökonomie des Sozialen fundierter zu untersuchen.[47] Drittens scheint es geboten, intensiver darüber nachzudenken, welche geschlechtergeschichtlichen Implikationen dies mit sich bringt[48] – und wie diese zeitgenössisch und vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der unterschiedlichen Frauen- bzw. Familienleitbilder wahrgenommen worden sind. Das Aushandeln von Sozialprestige und Sozialverachtung sowie bestimmte, von der politischen und/oder ökonomischen Gesamtsituation abhängige Ressentiments, diffamierende Sozialklischees und eine damit verbundene symbolische Auf- bzw. Abwertung einzelner sozialer Gruppen sind offensichtlich seit Jahrzehnten praktizierte soziale Klassifikations- und Kommunikationsmodi. Die Existenz von Analogien über Grenzen und Systeme hinweg verwischt viertens die Bedeutung der »harten« Zäsur von 1989/90, zumindest was die gesellschaftlichen Wahrnehmungsmodi »des Sozialen« betrifft.

 


[1] Siehe Lukas Grawe: Sozialpolitik als nationalsozialistisches Propagandamittel während des Zweiten Weltkrieges, in: Geschichte und Gesellschaft 47 (2021), H. 3, S. 380–411.

[2] Siehe Klaus Petersen/Michele Mioni/Herbert Obinger: The Cold War and the Welfare State in Western Europe, in: Frank Nullmeier/Delia González de Reufels/Herbert Obinger (Hg.): International Impacts on Social Policy: Short Histories in Global Perspective, Cham 2022, S. 47–59; Bernd Stöver: Der Kalte Krieg 1947–1991: Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2017, S. 305.

[3] Siehe Hartmut Kaelble: Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945–1989, München 2011.

[4] Siehe Lutz Leisering: Zwischen Verdrängung und Dramatisierung. Zur Wissenssoziologie der Armut in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, in: Soziale Welt 44 (1993), S. 486–511.

[5] Siehe Christoph Lorke: Armut im geteilten Deutschland: Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt a. M. 2015; siehe auch Meike Haunschild: »Elend im Wunderland«. Armutsvorstellungen und Soziale Arbeit in der Bundesrepublik 1955–1975, Marburg 2017.

[6] Siehe Hans Günter Hockerts (Hg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998.

[7] Siehe Christoph Kleßmann: Verflechtung und Abgrenzung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993), H. 29/30, S. 30–41.

[8] Heinz-Herbert Noll/Friedrich Schuster: Soziale Schichtung und Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten im Ost-West-Vergleich, in: Wolfgang Glatzer/Heinz-Herbert Noll (Hg.): Lebensverhältnisse in Deutschland. Ungleichheit und Angleichung, Frankfurt a. M. 1992, S. 210–230, hier S. 210. Siehe auch die Überlegungen von Jens Gieseke: Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus. Eine Skizze, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), H. 2, S. 171–198; Thomas Mergel: Gleichheit und Ungleichheit als zeithistorisches und soziologisches Problem, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), H. 2, S. 307–320.

[9] Siehe Andreas Wirsching: Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 57 (2007), H. 1/2, S. 13–18, hier S. 16.

[10] Siehe Konrad H. Jarausch: Geschichte der Deutschen »diesseits der Katastrophe«. Anmerkungen zu einem großen Werk, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien (2001), H. 23/24, S. 16–18.

[11] Siehe Konrad H. Jarausch: »Die Teile als Ganzes erkennen«. Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), H. 1, S. 10–30.

[12] Siehe Jens Gieseke: Ungleichheit in der Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschungen (2009), S. 48–57.

[13] Siehe Ralph Jessen: Alles schon erforscht? Beobachtungen zur zeithistorischen DDR-Forschung der letzten 20 Jahre, in: Deutschland Archiv 43 (2010), H. 6, S. 1052–1064.

[14] Siehe Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908.

[15] Siehe Lorke: Armut (Anm. 5) sowie ders. An den Rändern der Gesellschaft: Armut und soziale Ausgrenzung im geteilten Deutschland, Berlin 2021.

[16] Siehe Hans Günter Hockerts: West und Ost – Vergleich der Sozialpolitik in den beiden deutschen Staaten, in: Zeitschrift für Sozialreform 55 (2009), H. 1, S. 41–56, hier S. 42. Zur Geschichte von Hunger und Lebensmittelknappheit siehe Alice Weinreb: Modern Hungers. Food and Power in Twentieth-century Germany, New York 2017.

[17] Siehe Winfried Süß: Armut im Wohlfahrtsstaat, in: Hans Günter Hockerts/ders. (Hg.): Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, München 2010, S. 19–42, hier S. 21.

[18] Siehe Cornelius Torp: Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat: Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015.

[19] Dagmar Hilpert: Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten? Sozialpolitik und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1975), Göttingen 2012.

[20] Leisering: Verdrängung (Anm. 4), S. 508.

[21] Heike Solga: Klassenlagen und soziale Ungleichheit in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1996), B. 46, S. 18–27, hier S. 18.

[22] Siehe Marcel Boldorf: Sozialfürsorge in der SBZ/DDR 1945–1953. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut, Stuttgart 1998; Matthias Willing: »Sozialistische Wohlfahrt«. Die staatliche Sozialfürsorge in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR (1945–1990), Tübingen 2008.

[23] Siehe Beatrix Bouvier: Die DDR, ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker, Bonn 2002; Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hg.): Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49–1989, München 2005.

[24] Siehe Friederike Föcking: Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München 2007.

[25] Siehe Thomas Lindenberger: »Asoziale Lebensweise«. Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines »negativen Milieus« in der SED-Diktatur, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), H. 2, S. 227–254; Sven Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln 2005, S. 617.

[26] Siehe Dorothee Lürbke: Armut und Armutspolitik in der Stadt: Castrop-Rauxel, Freiburg und Schwerin im innerdeutschen Vergleich, 1955 bis 1975, Freiburg 2014.

[27] Siehe Christiane Reinecke: Die Ungleichheit der Städte: Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik, Göttingen 2021.

[28] Siehe Lutz Raphael: Grenzen von Inklusion und Exklusion. Sozialräumliche Regulierung von Armut und Fremdheit im Europa der Neuzeit, in: Journal of Modern European History 11 (2013), H. 2, S. 147–167, hier S. 166.

[29] Siehe Maria Alexopoulou: Deutschland und die Migration: Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Ditzingen 2020, S. 136–152.

[30] Siehe hierzu auch die Beispiele in: Christoph Lorke: Von der Biografie- und Wissensgeschichte zur Analyse sozialer Ungleichheiten: John Lekschas, Hans Szewczyk und die Pathologisierung des Sozialen in der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), H. 5, S. 437–457.

[31] Lindenberger: Herrschaftslegitimation (Anm. 25), S. 251.

[32] Zu den Entwicklungen der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaft seit den frühen 1970er-Jahren Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Frankfurt a. M. 2019.

[33] Siehe Christoph Boyer: Zwischen Pfadabhängigkeit und Zäsur. Ost- und Westeuropäische Sozialstaaten seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht. Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 103–119.

[34] Siehe neben der sehr breiten medialen Berichterstattung Georg Grasnick: Alter Kapitalismus – »neue Armut«, Berlin 1985.

[35] Siehe Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität. Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970–1990, München 2019.

[36] Siehe z. B. Anton Kovacic: Suppe genug, aber Seele kaputt: Die neue Armut in der Bundesrepublik, München 1986.

[37] Siehe Ilona Kickbusch: Problembereich Armut und Sozialhilfe, in: Bernhard Badura/Peter Gross (Hg.): Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in Grundlagen und Probleme sozialer Dienstleistungen, München 1985, S. 185–215, hier S. 185.

[38] Stephan Leibfried/Lutz Leisering: Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt a. M. 1995.

[39] Siehe Günter Manz: Armut in der DDR-Bevölkerung, in: Ludwig Elm (Hg.): Ansichten zur Geschichte der DDR, Eggersdorf 1997, S. 166–184, hier S. 183.

[40] Siehe Christoph Boyer: Einleitung, in: ders (Hg.): Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich, Frankfurt a. M. 2002, S. IX–XLII.

[41] Siehe Korzilius: »Asoziale« (Anm. 25), S. 617.

[42] Siehe Maja Malik: Armut in den Medien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), H. 51/52, S. 40–45.

[43] Siehe Bernhard Rieger: »Florida-Rolf« lässt grüßen. Soziale Dämonen, Auslandssozialhilfe und die Debatte um den Wohlfahrtsstaat in der Ära Schröder, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 70 (2022), H. 2, S. 361–389.

[44] Siehe Karl August Chassé: Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte, Wiesbaden 2010; Heinz Bude/Andreas Willisch (Hg.): Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«, Frankfurt a. M. 2008.

[45] Siehe Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013; Robert Castel/Klaus Dörre: Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2009.

[46] Siehe Christoph Kühberger: »Voices of the poor« hören. Ein möglicher geschichtswissenschaftlicher Beitrag zur lösungsorientierten Armutsforschung, in: Michael C. Bauer/Alexander Endreß (Hg.): Armut. Aspekte sozialer und ökonomischer Unterprivilegierung, Aschaffenburg 2009, S. 126–144.

[47] Anregend könnten etwa Gefühle und Emotionen wie Scham, Ekel oder Neid sein: Ute Frevert (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. 2011.

[48] Siehe Hildegard Mogge-Grotjahn: Geschlecht: Wege in die und aus der Armut, in: Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeckh/dies. (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, 3. Aufl. Wiesbaden 2018, S. 523–538.

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