JHK 2024

Sozialpolitik als Selbstverpflichtung

»Komplexvereinbarungen« in der Altenfürsorge der DDR

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 99-116 | Metropol Verlag

Autor/in: Maren Hachmeister

I. Zum Sprachgebrauch des Komplexen in der DDR

Ein »Komplex« oder etwas »Komplexes« bezeichnet im alltäglichen Sprachgebrauch ein geschlossenes Ganzes, das sich aus mehreren Teilen oder Dingen zusammensetzt, die vielfältig miteinander verknüpft sein können. Sachverhalte, die als »komplex« beschrieben werden, sind umfassend und erfordern nicht zuletzt deswegen besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Etwas als komplex zu bezeichnen impliziert zudem, dass es sich nicht »auf die Schnelle« oder mit einfachen Worten erklären lässt, dass verschiedene Blickwinkel und Herangehensweisen nötig sind (oder erst noch gefunden werden müssen), um es zu verstehen oder zu bewältigen, und dass dies wahrscheinlich nicht im Alleingang möglich sein wird. In diesem Sinne steht das Schlagwort »komplex« am Beginn eines gemeinsamen Denkens und Handelns, das darauf abzielt, Komplexität zu reduzieren oder zumindest Wege für einen Umgang mit ihr zu ermitteln.

Im Zusammenhang mit der Geschichte der DDR haben Titel wie der Baader-Meinhof-Komplex (ein Buch des ehemaligen Spiegel-Chefredakteurs Stefan Aust über die Rote Armee Fraktion),[1] der Treuhand-Komplex (ein Buch des Spiegel-Redakteurs Norbert F. Pötzl über die finanzielle Abwicklung der DDR durch die Treuhandanstalt)[2] sowie der Kurras-Komplex (eine Tatortbegehung des Dokumentartheaters »Historikerlabor« zum Tod des 1967 in Berlin erschossenen Studenten Benno Ohnesorg durch den Inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter Karl-Heinz Kurras)[3] auf solche »Komplexe« hingewiesen.

In diesem Beitrag wird es um sogenannte Komplexvereinbarungen in der DDR gehen, die (soweit bisher bekannt) ein einzigartiges Kooperationsformat darstellten, das es so in anderen Staaten des sozialistischen Ostblocks nicht gegeben hat. Am Beispiel von Komplexvereinbarungen im Gesundheitswesen wird dieser Beitrag beleuchten, wie sich verschiedene Akteurinnen und Akteure auf die Pflegebedürfnisse älterer Menschen einstellten und sich Aufgaben zu ihrer Pflege untereinander aufteilten. Die Bezeichnung als Komplexvereinbarung spiegelt dabei einen für die DDR typischen Sprachgebrauch wider, der hier einleitend erläutert werden soll.

Neben der lateinischen Wortherkunft von complexus (das Umfassen, die Verknüpfung) und complexum (Partizip von complecti, umfassen, zusammenfassen) nennt der aktuelle Duden auch eine Lehnübersetzung aus dem Russischen kompleksnyj. In Hinblick auf den Sprachgebrauch führt der Duden dazu noch den knappen Zusatz »besonders DDR« an.[4] In ihrem Wörterbuch Sprache in der DDR (2000) thematisierte auch die Sprachwissenschaftlerin Birgit Wolf die besondere Aufladung des Wortes komplex mit dem von Walter Ulbricht vertretenen »Systemgedanken« der 1960er-Jahre, der die gesamte Gesellschaft als funktionierende Einheit selbstregulierender Einzelsysteme behandelte. Das Schlagwort »komplex« stand »im offiziellen Sprachgebrauch [...] für das Prinzip, durch den miteinander verbundenen, d. h. komplexen Einsatz von Technik und geistigem Handeln zu effektivsten Ergebnissen zu gelangen. Auf diese Weise sollte die nur im Sozialismus mögliche planmäßige, vielseitige und strukturierte Entwicklung v. a. der Volkswirtschaft im Ausgleich wirtschaftlicher wie auch gesellschaftlicher Interessen bewirkt werden.«[5]

Darüber hinaus sollten Menschen in der DDR »im Komplex« zusammenarbeiten, was laut Wolf bedeutete, »daß man Menschen aus den unterschiedlichsten Berufsgruppen mit einer Aufgabe betraute, die sie von der Planung bis zur Produktion dann gemeinsam bewältigen sollten«.[6] Abgesehen davon etablierten sich in der DDR Formulierungen, in denen »komplex« als Attribut im Sinne von umfassend oder übergreifend verwendet wurde, wie etwa komplexe Planung oder komplexe Entwicklung der Volkswirtschaft, sowie die Komposita Komplexannahmestelle, Komplexbrigade oder Komplexprogramm.[7] Vor diesem Hintergrund sind auch Komplexvereinbarungen zu verstehen, die einen umfassenden Zweck verfolgten, dem in diesem Kompositum schon rein sprachlich mit dem Determinans »Komplex-« Ausdruck verliehen wurde. Die Aussagen darüber, wie häufig, verbreitet und sogar typisch das Komplexe in der Sprache der DDR war, entstanden natürlich retrospektiv.

Ein zeitgenössischer Eintrag aus dem Philosophischen Wörterbuch (1970) rückte eher den Begriff der Komplexität in den Fokus. Diese sei eine »Eigenschaft von Systemen, die durch die Anzahl der Elemente des Systems und der zwischen den Elementen bestehenden Relationen bestimmt wird.« Dabei gelte, dass »je größer die Zahl der Elemente und der zwischen ihnen bestehenden Relationen ist, desto höher ist der Grad der Komplexität des Systems«.[8]

Wie weiter unten ausgeführt werden wird, hatten Komplexvereinbarungen stets mehrere Unterzeichnende, die die Vereinbarung nutzten, um Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten untereinander aufzuteilen. Auf diese Weise gestalteten sie zugleich ihre gegenseitigen Beziehungen, d. h. ob sie bei der Ausübung ihrer konkreten Hilfeleistung auf die direkte Zuarbeit von oder Zusammenarbeit mit anderen Unterzeichnenden angewiesen waren, ob sie selbst Vorarbeiten oder Unterstützung für andere leisteten oder ob sie autonom vorgehen konnten.

Die Pflegebedürfnisse älterer Menschen können sich individuell stark unterscheiden, sodass auch soziale Praktiken zu ihrer Erfüllung individuell angepasst werden müssen. Dass solche komplexen Situationen nur schwer begrifflich zu fassen sind, deutete auch schon das Philosophische Wörterbuch an. In dem oben zitierten Eintrag hieß es folglich: »Von der Komplexität unterschieden werden muß die Kompliziertheit des Systems, die sich auf die Zahl qualitativ unterschiedlicher Elemente bezieht. [...] Die Termini ›Komplexität‹ und ›Kompliziertheit‹ werden heute noch nicht einheitlich benutzt. Eine Reihe von Autoren verwendet diese Termini in der umgekehrten Bedeutung.«[9]

Das Ministerium für Gesundheitswesen (MfG) wählte regelmäßig die Bezeichnung komplex, um Aufgaben zu benennen, die umfassend und zugleich qualitativ unterschiedlich waren. So war etwa die Rede von komplexer medizinischer Betreuung,[10] komplexer Therapie,[11] komplexer Produktion von Arzneimitteln,[12] einer komplexen Krankenstandsbeeinflussung,[13] von komplexem Wohnungsbau,[14] komplexer Betreuung älterer Bürger in den Wohngebieten[15] oder auch allgemeiner von der komplexen Betreuung älterer Menschen.[16] Dieser Beitrag untersucht das Komplexe also in doppelter Weise, nämlich in Komplexvereinbarungen zur komplexen Betreuung.

Komplexvereinbarungen sind bisher nicht erschlossene Quellen, die zu einem besseren Verständnis von Sozialpolitik in der DDR beitragen können, weil sie über die Gesellschaft, ihren Alltag und ihre soziale Organisation Auskunft geben. Sowohl Bestände des Bundesarchivs als auch der staatlichen ostdeutschen Archive enthalten Hinweise auf Komplexvereinbarungen, beispielsweise in Beständen der öffentlichen Verwaltung, der Ministerien oder der Massenorganisationen. Außerdem fanden sie zwischen 1960 und 1989 regelmäßig in der DDR-Presse Erwähnung. Aufgrund ihrer lokal begrenzten Reichweite und der entsprechend fragmentierten Quellenlage wurden Komplexvereinbarungen bisher jedoch nicht systematisch und als ein überregionales Phänomen untersucht. Auch dieser Beitrag geht auf einen zufälligen Fund im Staatsarchiv Chemnitz zurück, der mich erstmalig auf Komplexvereinbarungen aufmerksam machte. Um zugleich den Blick auf die in der Forschung oft marginalisierte Gruppe der Care-Arbeitenden zu richten, fokussiert dieser Beitrag Komplexvereinbarungen aus dem Bereich der Altenfürsorge. Dabei werden folgende Fragen untersucht: Wer kümmerte sich um die Älteren? Welche Bedeutung hatten schriftliche Vereinbarungen für die Organisation von Care-Arbeit? Und: Verschriftlichten Komplexvereinbarungen nur bereits existierende Praktiken oder waren sie wirksame sozialpolitische Instrumente? Wenn ja, wessen und für wen? Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Entstehung von Komplexvereinbarungen im Allgemeinen gegeben, bevor ein konkretes Beispiel aus dem Bereich der Altenfürsorge im Mittelpunkt steht.

II. Komplexvereinbarungen als sozialpolitische Wunderwaffen

Komplexvereinbarungen können auch als die sozialpolitischen Wunderwaffen der DDR bezeichnet werden. Es handelte sich um schriftliche Vereinbarungen, die Betriebe und Organisationen mit den Institutionen der kommunalen Verwaltung, d. h. mit den Räten der Städte, Bezirke oder Gemeinden, trafen, wenn sie Probleme nicht allein bewältigen konnten. Probleme wurden in den Vereinbarungen allerdings selten explizit benannt, sondern vielmehr in Vorhaben für eine künftig bessere Zusammenarbeit übersetzt. Die ersten derartigen Vereinbarungen entstanden schon Mitte der 1960er-Jahre, als einige Betriebe ihre sogenannten Planziele nur teilweise erreichten und deshalb nach Strategien suchten, um ihre Leistungsfähigkeit in Zukunft sicherzustellen. Lösungen sahen sie vor allem in der besseren Versorgung der »Werktätigen« in den Betrieben, beispielsweise über einen Gesundheitsschutz für Schichtarbeitende, Angebote der Kinderbetreuung für berufstätige Mütter,[17] bessere Pausenversorgung und Werkküchenessen,[18] oder auch in besseren Verkehrsanbindungen der Arbeitsstellen durch neue Straßenbahnhaltestellen.[19]

Die Beteiligung der öffentlichen Verwaltung an Komplexvereinbarungen wurde grundsätzlich durch einen Erlass des Staatsrates vom 2. Juli 1965 ermöglicht, in dem es hieß: »Die örtlichen Organe der Staatsmacht sind dafür verantwortlich, daß die Durchführung der zentral festgelegten Aufgaben, besonders der führenden Zweige, durch die Abteilungen und Einrichtungen der örtlichen Organe gut unterstützt werden und eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen und den zentral gelenkten Einrichtungen und Betrieben hergestellt wird. Das betrifft besonders die Arbeiterversorgung, den Berufsverkehr, die soziale, gesundheitliche und kulturelle Betreuung der Werktätigen und die Einflußnahme auf die Sicherung der Nachwuchslenkung und Berufsausbildung.«[20]

Das Format der Komplexvereinbarungen wurde in dem Erlass an keiner Stelle vorgegeben. Vielmehr etablierten sich die Vereinbarungen durch den Erfahrungsaustausch zwischen den Stadtverwaltungen, was gewissermaßen dem von Walter Ulbricht formulierten »Grundgedanken« entsprach, »zentrale staatliche Planung [...] organisch zu verbinden mit der eigenverantwortlichen [...] Regelung des gesellschaftlichen Lebens im Territorium durch die örtlichen Organe der Staatsmacht«.[21] Dieses Maß an Eigenverantwortlichkeit konnte laut Ulbricht »nur gesichert werden bei strengster Disziplin und konsequenter Durchsetzung der Regelungen, auf die sich die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems begründet[e]«.[22] Vermutlich sind die Komplexvereinbarungen also auch auf die Erwartung zurückzuführen, dass eigenverantwortliches Handeln nur geduldet werden würde, wenn es mit Formalität einherging. Einerseits bedeutete dies einen erheblichen Arbeitsaufwand für die lokalen Akteurinnen und Akteure, denn die schriftlichen Vereinbarungen wurden bis ins Detail ausformuliert. Andererseits erhöhte dies für alle Beteiligten sicherlich auch die Verbindlichkeit und Wertigkeit des gemeinsam Vereinbarten.

Nachdem sich die ersten Komplexvereinbarungen der 1960er-Jahre typischerweise mit den Arbeitsbedingungen in den Betrieben befasst hatten, ging es später vor allem um eine »engere Verflechtung zwischen Rathaus, Stadtgebiet und Betrieb«.[23] In den Vereinbarungen der 1970er-Jahre rückten somit die Lebensbedingungen außerhalb der Betriebe in den Fokus. An Komplexvereinbarungen beteiligten sich neben Betrieben und der Stadtverwaltung nun auch Wohnbezirksausschüsse, Massenorganisationen oder Polikliniken.[24] Wichtige Themen waren etwa die medizinische Versorgung im Wohngebiet, Renovierungsarbeiten, Nachbarschaftshilfe, die Instandhaltung von Grünanlagen und Sportstätten sowie Probleme der Luft- und Umweltverschmutzung.[25]

Das große Interesse an den Themen Gesundheit, Naherholung und Umwelt Mitte der 1970er-Jahre stand vermutlich auch im Zusammenhang mit den Ölkrisen, die in der DDR zur verstärkten Förderung von Braunkohle führten und somit zu neuen Umweltbelastungen.[26] Vorrangig sind diese Schwerpunkte jedoch vor dem Hintergrund der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« Erich Honeckers zu sehen, die das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung« Walter Ulbrichts ablöste. Gemäß dieser Leitlinie sollte sich eine leistungsfähigere Wirtschaft entwickeln, sobald die Lebensstandards und die Versorgung der Bevölkerung verbessert worden waren. Heute gilt dieser Kurs als »Anfang vom Ende der DDR-Wirtschaftsgeschichte«,[27] der schließlich zum Staatsbankrott führte. Damals nahmen Komplexvereinbarungen durchaus Bezug auf diese staatliche Rhetorik, wie etwa ein Vertreter der Betriebsgewerkschaftsleitung eines Berliner VEB im September 1974 schrieb: »Es kommt für die Partei und die Gewerkschaftsorganisation sowie für die staatliche Leitung und für alle gesellschaftlichen Kräfte im Betrieb darauf an, immer wieder Bedingungen zu schaffen, unter denen der einzelne den Sozialismus tagtäglich mit seinen Erfahrungen erlebt und zugleich erkennt, daß von seinem Handeln auch das Wohl des kleinen und großen Kollektivs abhängt. Diese Haltung nehmen wir auch in der Zusammenarbeit mit dem Wohngebiet [...] ein. Eine solide Grundlage dieser Zusammenarbeit ist die Komplexvereinbarung 1974 zur Lösung gemeinsamer Aufgaben bei der allseitigen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen des Betriebes und der Bevölkerung im Territorium des Stadtbezirks [...].«[28]

Wie dieses Zitat veranschaulicht, griffen Komplexvereinbarungen die damalige Vorstellung von Betrieben als den sozialen Mittelpunkten der Gesellschaft auf, von denen ausgehend »Haltungen« ins Privatleben der Menschen getragen werden sollten. Auch wenn der Gewerkschaftsvertreter in diesem Beispiel eine gewisse Richtung vorgab, nämlich vom Betrieb aus in das Wohngebiet, sprach er doch auch explizit von der »Zusammenarbeit« des »kleinen und großen Kollektivs«, womit er auf die notwendige Gegenseitigkeit und Reziprozität hinwies, die zur »Lösung gemeinsamer Aufgaben« notwendig sei.[29] In der Praxis war dies mit der Zuschreibung von Rollen und Zuständigkeiten im jeweiligen Stadtbezirk verbunden.

In den 1980er-Jahren wurden Komplexvereinbarungen schließlich noch als Instrument für die Zusammenarbeit von Industrie und Wissenschaft entdeckt. Forschung und Lehre galten als praxisfern, weswegen sich zahlreiche Hochschulen und Industriekombinate (z. B. in Dresden, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Magdeburg) um eine engere Kooperation bemühten.[30] Zugleich waren Betriebe beim Umgang mit neuen Spezialgeräten überfordert und verlangten mehr Anleitung von den Forschungsinstituten. Im Rahmen von Komplexvereinbarungen verpflichteten sich beispielsweise Leipziger Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften dazu, »Betriebe der bezirksgeleiteten Industrie beim Anwenden der Mikroelektronik zur Erhöhung des Automatisierungsgrades zu unterstützen«,[31] und die Technische Hochschule in Karl-Marx-Stadt vereinbarte »ein enges Zusammenwirken zwischen der Hochschule und dem Ministeriumsbereich bei der flexiblen Automatisierung der Produktion«.[32]

Komplexvereinbarungen blieben aber auch in den 1980er-Jahren ein Format, das vor allem mit den sozialistischen Massenorganisationen assoziiert wurde. In einer Veröffentlichung des Staatsverlags der DDR beschrieben Margarete Bickner u. a. dies folgendermaßen: »Die staatlichen Organe und gesellschaftlichen Organisationen schließen eine Vielzahl von Vereinbarungen ab mit dem Ziel, bei der Erfüllung bestimmter Aufgaben zusammenzuwirken. Dabei handelt es sich sowohl um zweiseitige Vereinbarungen als auch um Komplexvereinbarungen mit mehreren Beteiligten.«[33] Statt auf die allseitigen Inhalte von Komplexvereinbarungen hinzuweisen (wie zuvor üblich), fand Bickner es hier besonders erwähnenswert, dass es sich um Vereinbarungen mit mehr als zwei beteiligten Parteien handelte.

Gemeinsam war allen Komplexvereinbarungen, dass sie auf bestimmte Ziele ausgerichtet waren. Es wurden konkrete Schritte definiert, die von den Beteiligten unternommen werden konnten, um diese zu erreichen. Im Gegensatz zu Beschlüssen oder Rahmenvereinbarungen, die vom Staatsrat oder Ministerrat (also »von ganz oben«) getroffen wurden, erforderten Komplexvereinbarungen die gemeinsame Initiative »von unten«, d. h. die Zusammenarbeit der lokalen Verwaltung mit Betrieben, Einrichtungen und Massenorganisationen vor Ort. Auch wenn Komplexvereinbarungen auf Ebene der Gemeinden möglich gewesen wären, scheinen sie dennoch eher ein Phänomen gewesen zu sein, das vorwiegend in den Städten bzw. in den dazugehörigen Bezirken verwirklicht wurde. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass sich in den Städten eine größere Anzahl und Vielfalt von Mitwirkenden zusammenfand, die dementsprechend mehr formelle Kommunikation einforderten, während Vereinbarungen im kleineren lokalen Rahmen auch informell bleiben konnten.

Darüber hinaus waren die Vereinbarungen in der Regel zeitlich eingegrenzt, wie etwa die »Komplexvereinbarung VEB ›Fritz Heckert‹ mit dem Rat der Stadt Karl-Marx-Stadt für den Zeitraum 1971–1975«,[34] die »Komplexvereinbarung zur Sicherung der territorialen Aufgaben und Entwicklung der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt für den Zeitraum 1977–1980«[35] oder die »Komplexvereinbarung zwischen der Technischen Hochschule und dem Industriemaschinenbau für den Zeitraum bis 1990« belegen.[36] Ob Vereinbarungen nach Ablauf eines veranschlagten Zeitraums verlängert oder erneuert wurden, ist anhand der vorliegenden Quellen kaum nachvollziehbar. Verschiedene Varianten scheinen daher möglich: Vereinbarungen könnten entweder formal verlängert oder ihre Inhalte auch ohne eine weitere Verschriftlichung fortgeführt worden sein. Ebenso könnten Vereinbarungen ausgelaufen sein, sodass sich anschließend die Möglichkeit zum Abschließen neuer Kooperationen ergab. Denkbar wäre auch, dass sich Beteiligte einer Vereinbarung uneinig darüber waren, ob sie fortgeführt werden sollte, und daraufhin Beteiligte ausstiegen bzw. neue hinzukamen.

Berichtet wurde über Komplexvereinbarungen in der Regel nur, um bekanntzugeben, dass sie unterzeichnet wurden, oder um besondere Leistungen zu würdigen, die mit ihnen erreicht werden konnten. Wie ein Blick in die DDR-Presse zeigt, war die Berichterstattung nicht frei von sozialistischer Rhetorik. Die Berliner Zeitung schrieb beispielsweise über eine Komplexvereinbarung, die zwischen dem Rat des Stadtbezirks Lichtenberg und dem VEB Elektrokohle beschlossen wurde. Sie würdigte die Vereinbarung im Frühjahr 1966 wie folgt: »Durch solche Form sozialistischer Gemeinschaftsarbeit verpflichten sich die örtlichen Organe der Staatsmacht, die Betriebe der führenden Zweige der Volkswirtschaft zu unterstützten. […] Die Komplexvereinbarung sieht u. a. Maßnahmen für eine bessere Arbeiterversorgung […] vor. […] So wurde vereinbart, daß die Abteilung örtliche Versorgungswirtschaft des Rates des Stadtbezirks im Werk einen Damenfriseursalon durch die PGH [Produktionsgenossenschaft des Handwerks] Karlshorst einrichtet.«[37]

Auch die Zeitung Neues Deutschland sah Komplexvereinbarungen als Errungenschaft für die »sozialistische Gemeinschaftsarbeit«. Über eine Vereinbarung in Berlin-Friedrichshain schrieb sie im Frühjahr 1978: »Und alles ist schriftlich verbrieft – in einer Komplexvereinbarung mit dem Rat des Stadtbezirks […]. Seit nunmehr 13 Jahren gibt es ein solches Zusammenwirken zwischen dem Rat und den Großbetrieben – zehn sind es jetzt. Das Anliegen liegt auf der Hand: Gemeinsam tut man viel für eine schöne Wohnumwelt und bringt in den Betrieben die Rationalisierung weiter voran, schafft bessere Arbeitsbedingungen. […] Das nützt nicht nur den unmittelbaren Partnern.«[38] An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Komplexvereinbarungen nicht nur auf die Zusammenarbeit der Beteiligten, sondern auch auf Zusammenhalt, Inklusion und Integration in der Umgebung auswirkten bzw. auswirken sollten. Den Unterzeichnern einer Komplexvereinbarung kam auf diese Weise die Rolle von Multiplikatoren zu, die im Rahmen ihrer jeweiligen Reichweite die Lebenswelten der Menschen mitgestalteten.

Solche Ausschnitte lassen vermuten, dass Komplexvereinbarungen in der DDR mehr als eine reine Formalität darstellten. Waren sie also wirtschaftlich und sozialpolitisch relevant? Konnten sie dazu beitragen, dass wirtschaftliche Planziele pünktlich erreicht wurden? Waren sie ein Instrument, mit dem die Bevölkerung zur gesellschaftlich nützlichen, aber unbezahlten Arbeit mobilisiert werden konnte?

Am Beispiel einer Komplexvereinbarung aus der Altenfürsorge wird im Folgenden der These nachgegangen, dass Komplexvereinbarungen vielmehr ein Experimentierfeld waren, in dem das Verhältnis von staatlicher Steuerung und Eigenverantwortlichkeit neu bestimmt wurde.

III. Selbstverpflichtungen für die »komplexe Betreuung«. Das Beispiel Karl-Marx Stadt

Der Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) beschloss am 7. August 1986 eine »Komplexvereinbarung zur aktiven Einbeziehung, gesellschaftlichen Fürsorge und komplexen Betreuung der Bürger im höheren Lebensalter im Bezirk Karl-Marx-Stadt für den Zeitraum 1986–1990«.[39] Die Vereinbarung wurde gemeinsam mit der Nationalen Front, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), der Volkssolidarität (VS), dem Deutschen Roten Kreuz (DRK der DDR), dem Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB), der URANIA, den Pionierorganisationen, dem Kulturbund und der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) ausgearbeitet.

Im Titel dieser Komplexvereinbarung fällt zunächst einmal die doppelte Verwendung des Wortes komplex auf. Die Komplexvereinbarung, wie bereits erläutert, bezog sich auf Probleme, die vielgestaltig, umfassend, also gewissermaßen komplex waren. Es waren Akteure aus unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern beteiligt, sodass auch hier das Attribut komplex naheliegt.

Was unter komplexer Betreuung verstanden wurde, muss hingegen kurz erklärt werden. Seit Anfang der 1970er-Jahre wurde die Bezeichnung in der DDR für differenzierte und koordinierte Dienstleistungen in der Altenfürsorge verwendet, die vor allem eines fördern sollten: ein aktives Altern.[40] Wer aktiv alterte, konnte über den Renteneintritt hinaus »produktiv« sein, sich vielleicht weiter im Betrieb oder für die Gesellschaft nützlich machen. Statt in den Ruhestand zu gehen, sollte eine »tätige Ruhe« angestrebt werden, wie beispielsweise der Fotograf Gerhard Weber 1983 mit einem Porträt zweier älterer Frauen in Erlln (Sachsen) dokumentierte, die zwar eine Gehhilfe benötigten, aber im Sitzen weiter Gemüse für die Gemeinschaft putzten.[41] Eine andere Fotografie aus seiner Reihe »Wurzener Gruppenfotos« zeigt vier ältere Frauen beim Zubereiten und Aufteilen von Essensportionen für die Volkssolidarität, die sich auf ähnliche Weise aktiv und gemeinschaftlich einbrachten.[42]

Die Volkssolidarität war die Massenorganisation in der DDR, die sich auf die Versorgung älterer Menschen einerseits und auf ihre Teilnahme am sozialen Leben andererseits spezialisierte. Das Narrativ eines aktiven Alterns findet sich vor allem bei dieser Organisation wieder, weil in ihr vorwiegend jüngere Ältere etwas für alte Menschen anboten, womit sie vorbildlich für das aktive Hilfeleisten und zugleich das Aktivbleiben im Alter standen.

In der Zeitschrift Ansporn schrieb dazu im September 1981 Renate Kirschnek, damals Mitglied des Zentralausschusses der VS, dass ältere Menschen »nach Maßgabe ihrer Kräfte und Möglichkeiten an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft teilnehmen – nicht als besonders hilfsbedürftige, fürsorgebedürftige Gruppe von Menschen, sondern als gleichberechtigte Werktätige, die sich auch im höheren Lebensalter als Persönlichkeit bewähren und bestätigen wollen«.[43] Des Weiteren sei ihnen »durch das langfristig geplante, auf weite Sicht angelegte und miteinander abgestimmte Vorgehen aller auf kulturellem Gebiet tätigen Kräfte, der staatlichen Organe, der gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen [...] die sozialistische Kultur und Kunst in ihrer ganzen Vielfalt zu vermitteln und zu einem Erlebnis werden zu lassen. Die eigene Mitwirkung ist ihnen dabei in jeder Weise zu ermöglichen und ihre Teilnahme am kulturvollen sozialistischen Gemeinschaftsleben in den Städten, Dörfern und Erholungsgebieten zu sichern.«[44] Wie Kirschnek in diesem Zitat am Beispiel von Kunst und Kultur bestätigt, umfasste die komplexe Betreuung nicht nur präventive, medizinische oder pflegerische Aspekte, sondern auch die aktive Gestaltung von Alltag und Freizeit. Angebote zu schaffen, die ältere Menschen zu einem aktiven Leben ermutigten, hielt sie für eine notwendige Aufgabe, die staatliche Einrichtungen und Organisationen gemeinsam erbringen sollten.

Die Annahme, dass sich ältere Menschen von der Gesellschaft entfremden (und umgekehrt), falls dem nicht entgegengewirkt wird, war seit den 1960er-Jahren auch im Westen verbreitet.[45] Konzepte für ein productive ageing führten in vielen Ländern Europas und in den USA bis in die 1980er-Jahre zur Einführung früherer Renteneintritte: zum einen, um hoher Jugendarbeitslosigkeit entgegenzuwirken, zum anderen, weil der letzte Lebensabschnitt als ein von Abhängigkeit charakterisierter Leistungsverlust betrachtet wurde.[46] In der auf Produktivität und Arbeit ausgerichteten Gesellschaft der DDR hingegen wurde das Arbeiten über den Renteneintritt hinaus propagiert. Entgegen der naheliegenden Schlussfolgerung, dass wer aktiv lebt, im Alter auch weniger Sozialleistungen in Anspruch nehmen müsse, argumentierte Kirschnek, dass aktives Altern sogar (materiell) belohnt werden müsse. Sie betonte: »Aktive Teilnahme am Leben schließt geistige und körperliche Aktivitäten zugleich ein, und gesunde Lebensweise erschöpft sich nicht im Anhören eines Vortrages. Natürlich darf es an Informationen über gesunde Lebensweise nicht mangeln, und solche Informationen müssen unsere Klubs und Treffpunkte [der VS] auch künftig bieten. Noch wichtiger ist es aber, [eine] gesunde Lebensweise zu praktizieren. [...] Und da zu einer gesunden Lebensweise auch regelmäßige Mahlzeiten gehören, ist es ein legitimes Anliegen unserer Klubs und Treffpunkte, an ältere Bürger ein Mittagessen auszugeben.«[47]

Ein solches ganzheitliches Verständnis des Altwerdens und Altseins befasste sich mit körperlicher und geistiger Gesundheit des Individuums, mit der Interaktion von Individuum und Umwelt sowie dem subjektiven Wohlbefinden im Alter. Ganz in diesem Sinne umfasste komplexe Betreuung auch diverse präventive Maßnahmen, die einer Pflegebedürftigkeit im Alter vorbeugen sollten.

Die Komplexvereinbarung aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt setzte genau hier an. Hauptanliegen der Vereinbarung war es, Erfahrungen im Bereich der komplexen Betreuung auszutauschen und möglichst zu verbreiten. Wie auch anderswo in der DDR spielten Organisationen wie die VS oder das DRK der DDR mit ihren ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern dabei eine zentrale Rolle. Gleich zu Beginn hielt die Vereinbarung fest: »Der Rat des Bezirkes gewährleistet mit allen Ratsbereichen eine weitere Qualifizierung der gesellschaftlichen Fürsorge und niveauvollen komplexen Betreuung der Bürger im höheren Lebensalter durch [...] enge Zusammenarbeit und Abstimmung notwendiger Betreuungsmaßnahmen mit den gesellschaftlichen Organisationen.«[48] Anstatt nebeneinanderher, also ohne Beziehung zueinander zu arbeiten, erklärten sich der Rat des Bezirkes und die Organisationen vor Ort in dieser Vereinbarung zur »Zusammenarbeit und Abstimmung« bereit. Diese Wortwahl kann als ein zielgerichtetes Aufeinanderzugehen gedeutet werden, das im Gegensatz zum Zuweisen und Übertragen von Verantwortung »von oben« stand. Anhand des Textes der Komplexvereinbarung allein lässt sich nicht nachvollziehen, ob es ein Wunsch nach mehr Zusammenarbeit oder doch die Notwendigkeit war, die den Rat des Bezirks zu diesem Schritt motivierte. Bemerkenswert ist jedoch, dass Lösungen für die Altenfürsorge mit dieser Komplexvereinbarung offenbar auf lokaler Ebene gesucht und mit lokalen Akteurinnen und Akteuren ausgehandelt wurden. Statt einer reinen Verpflichtung, Fürsorge zu leisten, begründete die Vereinbarung also eine schriftliche Selbstverpflichtung dazu, Fürsorge zu übernehmen.

Dennoch bewegten sich die Beteiligten in einem sensiblen Spannungsfeld aus staatlichem Fürsorgeanspruch einerseits und lokaler Selbstorganisation andererseits. Der Komplexvereinbarung in Karl-Marx-Stadt war im März 1986 ein Ministerratsbeschluss »zum Bericht des Rates der Stadt Schwerin über den Stand der komplexen medizinischen, sozialen, und kulturellen Betreuung der Bürger im höheren Lebensalter« vorausgegangen (kurz Schweriner Beschluss).[49] Darin würdigte der Ministerrat die Stadt Schwerin als Modell für eine erfolgreiche Organisation von Altenfürsorge, die so anschließend auch in anderen Städten angestrebt werden sollte. Die Komplexvereinbarung in Karl-Marx-Stadt verwies in der Einleitung explizit auf diesen Schweriner Beschluss und signalisierte so die Vereinbarkeit mit den sozialpolitischen Zielen der SED, bevor sie auf die individuellen lokalen Ziele einging.

In der Praxis war der vermeintliche Vorzeigestandort Schwerin mit seinen etwa 15 000 Rentnerinnen und Rentnern, die einen Anteil von 11,7 Prozent der Bevölkerung ausmachten, kaum vergleichbar mit Karl-Marx-Stadt.[50] Der Bezirk Karl-Marx-Stadt rechnete damals mit über 370 000 Personen im Rentenalter (über 70 000 davon über 80 Jahre), womit sie einen Anteil von fast 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung ausmachten. Nach eigenen Angaben hatte Karl-Marx-Stadt damit »den höchsten Rentneranteil« in der DDR.[51]

In der Darstellung der SED entsprach in Schwerin »der Rat der Stadt [...] durch eine komplexe Leitungstätigkeit seinem gesellschaftlichen Auftrag und [brachte] die großen Leistungen und Errungenschaften der erfolgreichen Sozialpolitik der Partei [...] für die Schweriner Bürger im höheren Lebensalter immer besser zur Wirkung«. Des Weiteren werde »ausgehend von der regelmäßigen Beratung [...] zunehmend komplex darauf Einfluß genommen, alle Möglichkeiten zu nutzen, um die älteren Mitbürger noch liebevoller zu betreuen. [...] [Die] verschiedenen Aktivitäten [seien] für den Rat zugleich eine wichtige Quelle, die aktuellen Probleme der älteren Bürger zu kennen, ihre Hinweise und Anliegen aufzugreifen, bestehende Mängel und Schwächen in der Arbeit schnell zu überwinden.«[52] Mit dieser Formulierung griff der Schweriner Beschluss die sprachliche Kennzeichnung der Altenfürsorge sowie damit verbundener organisatorischer Leistungen als »komplex« auf. Obwohl diese Kennzeichnung zunächst einen Lenkungsanspruch »von oben« andeutete, mit dem Altenfürsorge an die staatliche Sozialpolitik gekoppelt wurde, lieferte sie zugleich die Legitimation für ein arbeitsteiliges Vorgehen auf niedrigeren Ebenen.

Der damalige Gesundheitsminister Max Sefrin äußerte sich zum Schweriner Beschluss wie folgt: »Sowohl in der Zentrale als auch in den Territorien wird das organisierte Zusammenwirken darauf gerichtet, die komplexe Betreuung älterer Bürger zu gewährleisten und entsprechend den Erfordernissen zu verbessern. Diese Zusammenarbeit, die auf der Grundlage von konkreten Vereinbarungen beruht, [...] soll [...] konsequent mit höherer Wirksamkeit in allen Kreisen, Städten und Stadtbezirken fortgesetzt werden. Im Bericht des Rates der Stadt Schwerin wird überzeugend sichtbar gemacht, wie die auf das Wohl des Volkes gerichtete Politik der SED, deren untrennbarer Bestandteil die Fürsorge für die Arbeiterveteranen und alle älteren Bürger ist, verwirklicht wird.«[53] Vor diesem Hintergrund beabsichtigte ab August 1986 auch die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, den »bewährte[n] Weg des gemeinsamen Handelns der staatlichen Organe, der Nationalen Front der DDR, der gesellschaftlichen Organisationen, Betriebe und Einrichtungen auf der Grundlage von konkreten Vereinbarungen weiter zu beschreiten«.[54]

Diese Formulierung versprach zwar explizit ein gemeinsames Handeln. Jedoch diente sie in der Praxis eher der Verteilung von Aufgaben, die anschließend einzeln und mit größtmöglicher Eigenständigkeit von den Beteiligten in Karl-Marx-Stadt ausgeführt werden konnten. Während Mitglieder des Rates beispielsweise für altersgerechten Wohnraum und die Einhaltung arbeitsrechtlicher Bestimmungen für Personen im Rentenalter zuständig waren, bemühte sich der Bezirksausschuss der Nationalen Front um das »sozialistische Zusammenleben in den Wohngebieten [...] [und] die weitere Bildung von Hausgemeinschaften, um betreuungsbedürftigen Bürgern Hilfe und Unterstützung durch die Mitbewohner zu geben«.[55] Der FDGB verpflichtete sich zu einem Kulturangebot für Ältere in den Kulturhäusern »Klement Gottwald« in Karl-Marx-Stadt und »Sachsenring« in Zwickau, der DFD organisierte Sport- und Gymnastikgruppen für die »älteren Freundinnen«, während die URANIA Veteranenakademien für die Älteren und gleichzeitig Veranstaltungen für die Jüngeren organisierte, um »Achtung und Wertschätzung der älteren Bürger und deren Leistung zu vertiefen […] und mitzuhelfen, die junge Generation zu motivieren, sich die Erfahrungen der älteren Generation zu eigen zu machen«.[56] Die eigentlichen pflegerischen Aufgaben teilten sich die VS und das Rote Kreuz. Alle nicht medizinischen Aufgaben, wie z. B. Haushaltshilfe oder Mittagessenversorgung übernahm die VS, während das Rote Kreuz gezielt Personen für die häusliche Krankenpflege ausbildete.[57]

Eine Vertreterin der Nationalen Front hielt Komplexvereinbarungen bereits 1975 für den besten Weg zu einer guten Altenfürsorge. In einer Stellungnahme schrieb sie, dass »es nach wie vor noch Bürger gibt, die im persönlichen Verhalten die gebotene Achtung und Hilfsbereitschaft gegenüber älteren Menschen vermissen lassen, – daß es auch noch Auffassungen gibt, die Betreuung der Bürger im höheren Lebensalter wäre ausschließlich Sache der zuständigen staatlichen Stellen oder dazu besonders engagierten Kräften wie der Volkssolidarität oder des DFD und nicht Sache jedes Bürgers«.[58] Für Komplexvereinbarungen spreche hingegen, dass »die größten Erfolge dort erreicht [wurden], wo die staatlichen, gesellschaftlichen und betrieblichen Kräfte über die konsequente Einhaltung der Vereinbarungen wachen, [wo] eine enge kameradschaftliche Zusammenarbeit der Ausschüsse der Nationalen Front mit den Ausschüssen der Volkssolidarität entwickelt wurde und wo vor allem Hausgemeinschaften ein aktives Leben führen, das die allseitige Einbeziehung der Bürger im höheren Lebensalter einschließt«.[59]

Komplexvereinbarungen wie die aus dem Beispiel Karl-Marx-Stadt trugen also dazu bei, Altenfürsorge nicht nur als Aufgabe des sogenannten Fürsorgestaates zu verstehen, sondern sie als »gesamtgesellschaftliches Anliegen« auf lokale Akteurinnen und Akteure zu verteilen. Auf die Frage, wer sich in der sozialistischen Gesellschaft um ältere Menschen kümmerte, konnte in Form der Vereinbarungen eine schriftliche Antwort gegeben werden, die an lokale Ressourcen, Bedürfnisse, Angebote und Netzwerke angepasst war.

Doch welchen praktischen Nutzen hatte nun die Komplexvereinbarung für alle Beteiligten in Karl-Marx-Stadt? Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass die beteiligten Organisationen einen Vorteil davon hatten, wenn sie die Vereinbarung unterzeichneten, in der erstmals die Aufgaben festgeschrieben wurden, die sie in der Praxis sowieso schon übernahmen. Eine Komplexvereinbarung ermöglichte es ihnen, Aufgabenbereiche formal abzustecken, sich dabei den Ist-Zustand als Einflusssphäre zu sichern und Potenziale für die eigenständige oder kooperative Gestaltung der Fürsorge aufzuzeigen. Allein beim Ausarbeiten des Dokuments ergaben sich schon Gelegenheiten zur Vernetzung und zum Erfahrungsaustausch mit lokalen Akteurinnen und Akteuren. Im geschilderten Fall einigten sich die Beteiligten sogar darauf, regelmäßig jährlich bis zum 15. März zu einem solchen Erfahrungsaustausch zusammenzukommen.[60] Andererseits war es natürlich auch möglich, die zum Teil politisch gewünschten Profile der einzelnen Organisationen in den Komplexvereinbarungen aufzuweichen (oder zu schärfen), neue Aufgaben zu erschließen (oder diese gezielt abzugeben). Kurzum: Es ergaben sich Gestaltungsspielräume, die nicht nur »von oben« bestimmt wurden, sondern in denen die vor Ort aktiven Helferinnen und Helfer sehr praxisnah und mit konkretem Zeithorizont Absprachen für die Altenfürsorge treffen konnten. Dabei zu sein hieß in diesem Fall, mitbestimmen zu können, etwas zu unternehmen und sichtbar zu sein. Komplexvereinbarungen nahmen die Beteiligten deshalb als wichtige Form der sozialpolitischen Selbstverpflichtung wahr.

Natürlich profitierten auch die Rentnerinnen und Rentner selbst von der Komplexvereinbarung. Für diejenigen, die nach dem Eintritt in das Rentenalter weiter arbeiteten, versprachen die Ämter für Arbeit laut der Vereinbarung, »verstärkt auf die Einhaltung aller arbeitsrechtlichen Bestimmungen für Werktätige im höheren Lebensalter hinzuweisen«.[61] Alle anderen verpflichtete die Vereinbarung dazu, ein ärztliches Sprechstundenangebot einzuführen, insbesondere »in speziellen Wohnhäusern mit einem hohen Anteil betagter Bürger [...], [sowie] zur Sicherung der notwendigen häuslichen Fürsorge [...] Hauswirtschaftspflegerinnen der Volkssolidarität einzusetzen«.[62] Die VS versicherte ihrerseits, »die alleinstehenden, betreuungsbedürftigen Rentner innerhalb von 2 Tagen mit Hauswirtschaftspflege und in 24 Stunden mit Mittagessen zu versorgen«.[63] Zu dem Zeitpunkt überstieg dieses Versprechen offenbar noch die Kapazitäten der VS, sodass die Komplexvereinbarung zugleich als eine Art Absichtserklärung formuliert wurde, jährlich 2000 neue Hauswirtschaftspflegerinnen zu rekrutieren und die Transportkapazitäten für die Auslieferung warmer Mahlzeiten auszubauen. Anders als die Räte der Stadt und des Bezirks sah die VS auch Familienangehörige und in der Nachbarschaft Wohnende in der Verantwortung. Dazu schrieb sie in der Vereinbarung: »Durch ein engeres Zusammenwirken der gesellschaftlichen Organisationen, beginnend in den Familien und den Hausgemeinschaften, ist überzeugend das Gemeinschaftsgefühl und die Verantwortung für die Veteranen zu erhöhen. Das muß sich jeweils in konkreten Verpflichtungen zur Übernahme von Nachbarschaftshilfe ausdrücken.«[64] Indem sie alte Menschen als eine Gruppe beschrieb, die versorgt werden und für die Verantwortung übernommen werden musste, zeichnete die VS hier ein ungewöhnlich negatives Bild des Alters, das dem Ideal der »tätigen Ruhe« widersprach. Das Rote Kreuz schloss sich dieser Einschätzung an und nannte in der Komplexvereinbarung »die Gewinnung und Befähigung von Bürgern zur Betreuung und Pflege älterer pflegebedürftiger Bürger, insbesondere im Familienverband und in der Nachbarschaftshilfe«, als seine wesentliche Aufgabe.[65] Zugleich wies es darauf hin, dass »die Leistungen seines Pflege- und Sozialdienstes im häuslichen Bereich [...] durch die Intensivierung der Pflege, der Kommunikation und der bewußten Förderung der Selbständigkeit älterer und pflegebedürftiger Bürger zu aktivieren [seien]«.[66] Auch hier blieben alte Menschen also auf die Rolle von Pflegebedürftigen reduziert, von denen sich das Rote Kreuz (und nicht zuletzt auch das MfG) ein aktiveres, selbstbestimmteres Leben wünschte.

Dass ausgerechnet die beiden Organisationen, die älteren Menschen in der häuslichen Pflege tatsächlich persönlich begegneten, hier ein so negatives Bild des Alterns vertraten, hatte mehrere Gründe. Zum einen bauten beide Organisationen auf der Hilfsbereitschaft und Solidarität ihrer freiwilligen Helferinnen und Helfer auf, die sich vor allem in Momenten der Not und Dringlichkeit mobilisieren ließen. Für die Rekrutierung weiterer Freiwilliger war es also strategisch von Vorteil, die Situation ungeschönt darzustellen. Zum anderen war die Komplexvereinbarung ein Format, das es erlaubte, dramatische Zustände anzusprechen, weil die Beteiligten gleich im Anschluss erklärten, dass (und wie) sie dagegen vorgehen wollten. Eine Verantwortung anzunehmen führte also auch dazu, dass Probleme und Defizite der Altenfürsorge offengelegt werden konnten, anstatt verschleiert zu werden.

Darüber hinaus stehen die Darstellungen von VS und Rotem Kreuz auch im Zusammenhang mit der offiziellen Rhetorik des MfG, das damals unter dem Vorwand der komplexen Betreuung versuchte, ein sozialistisches Gemeinschaftsgefühl wiederzubeleben. In einem Referat des Gesundheitsministers Ludwig Mecklinger im November 1985 hieß es dazu wie folgt: »Wenn wir von sozialer und von komplexer Betreuung im System der Sozialpolitik sprechen, dann sehen wir diese als eine elementare Verpflichtung der Gesellschaft an. Das ist eine Frage der Haltung zum älteren Bürger, zu seiner Stellung in der Gesellschaft. Entsprechend setzen wir die Maßstäbe. Vielleicht sollten wir mitunter noch mehr daran denken, daß davon, wie die älteren Menschen, ihre Angehörigen, u. a. die Fürsorge der Gesellschaft spüren, auch nicht unerheblich eine stimulierende Wirkung zu guten Leistungen in der Produktion ausgeht. Auch hier zeigt sich die Wechselwirkung in der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. In der komplexen Betreuung der älteren Bürger hat die Sozialpolitik unseres Staates, unserer sozialistischen Gesellschaft ein ganz konkretes Gesicht, eine konkrete Adresse. Hier stellt sie sich vor allem als individualisierte Sozialpolitik dar. Es geht konkret um diesen oder jenen Bürger mit seinen besonderen Bedürfnissen, seiner besonderen Lebenssituation.«[67]

Diejenigen, die sich täglich darum bemühten, diesen individuellen Bedürfnissen und besonderen Lebenssituationen mit mehr als Worten gerecht zu werden, wurden durch das Format der Komplexvereinbarungen meines Erachtens bestärkt. Im Rahmen der Komplexvereinbarungen lernten sie, sich selbst zu organisieren, sich zu vernetzen und sich mit ihren Leistungen gegenüber anderen durchzusetzen. Das ist eine Erfahrung, die sich in der Transformation nach 1989/90 noch bewähren sollte, als auch in der Altenfürsorge umfassendes wirtschaftliches Denken einsetzte. Zumindest auf lokaler Ebene können Formen der Selbstverpflichtung, wie wir sie mit den Komplexvereinbarungen kennengelernt haben, schon als ein Schritt in Richtung zu mehr Eigenverantwortung gewertet werden. Komplexvereinbarungen kamen deshalb auch gut an – ganz im Gegensatz zu sogenannten Rahmenvereinbarungen, die der Ministerrat »von oben« durchsetzen wollte. Diese Art der Verpflichtung »von oben« kommentierte der Kreisausschuss der Nationalen Front in Bad Doberan (Rostock) 1972 einmal folgendermaßen: »Trotz [der] Bemühungen [...] setzt sich der Abschluß dieser Vereinbarungen in den Städten und Gemeinden nur zögernd durch. Die Ursachen dafür liegen in der Mehrheit in ideologischen Unklarheiten der örtlichen Funktionäre. [...] Ein Bürgermeister wurde gebeten vor der Arbeitsgruppe zu berichten, worin die Schwierigkeiten des Abschlusses der [Rahmen-]Vereinbarungen liegen. Sinngemäß sagte er: Wir haben schon genug Pläne und Verträge in der Gemeinde, wozu noch eine neue Vereinbarung? Das wir uns alle um die älteren Bürger kümmern, ist selbstverständlich!«[68]

Anspruch und Wirklichkeit von Rahmenvereinbarungen lagen demzufolge weit auseinander. Wie das Beispiel aus Karl-Marx-Stadt belegt, schufen Komplexvereinbarungen hier gewissermaßen Abhilfe, weil sie ein Format darstellten, das lokale Akteurinnen und Akteure aktiv mitgestalten konnten. Dies erhöhte entscheidend ihre Akzeptanz und die Bereitschaft, Vereinbartes auch wirklich umzusetzen.

Inwiefern das in Art. 36 der DDR-Verfassung formal verankerte Versprechen auf Fürsorge im Alter eingelöst werden konnte, bescherte der sozialistischen Sozialpolitik insgesamt entscheidenden Aufwind. Komplexvereinbarungen auf lokaler Ebene trugen somit nicht nur zur lokalen Fürsorge bei, sondern stützten auch das System. Gleichzeitig spielten die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Bedürfnisse älterer Menschen in der Öffentlichkeit jedoch kaum eine Rolle. Das Bild des Alterns war vielmehr geprägt von einer Propaganda, die Rentnerinnen und Rentner als Pflegebedürftige stigmatisierte. In einem weiteren Referat Ludwig Mecklingers hieß es dementsprechend nur: »Hier wird der krasse Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus besonders sichtbar. Während in der Deutschen Demokratischen Republik soziale Sicherheit selbstverständlich geworden ist, wird unter kapitalistischen Verhältnissen die soziale Unsicherheit zur Aufrechterhaltung des auf Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung gegründeten gesellschaftlichen Systems benutzt. Das trifft in den imperialistischen Staaten die jungen Menschen, die keinen Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz finden und die älteren Menschen, deren medizinische und soziale Betreuung einen dicken Geldbeutel erfordert, besonders hart.«[69] Altenfürsorge wurde in der DDR somit zu einer »gesamtgesellschaftlichen« Aufgabe erklärt, bei der jede und jeder Einzelne nicht nur einen Beitrag zur Versorgung alter Menschen leistete, sondern zugleich die Überlegenheit des sozialistischen Systems bewies.

Alte Menschen, die nach dem Renteneintritt weder »werktätig« noch in »tätiger Ruhe« blieben, reduzierte dieses System auf ihre Pflegebedürftigkeit. Da sie ihre wichtigsten Gelegenheiten zur sozialen (und politischen) Teilhabe nun über Organisationen wie die Volkssolidarität erhielten, war es für sie von Vorteil, wenn deren lokale Akteurinnen und Akteure an Komplexvereinbarungen für die Altenfürsorge mitwirkten.

IV. Fazit

Komplexvereinbarungen waren in der DDR ein schriftliches Kooperationsformat, das vor allem Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung, Betriebe und Massenorganisationen nutzten, um untereinander Aufgaben, Zuständigkeitsbereiche und Lösungswege abzustimmen. Sie wurden von den Räten der Bezirke und Städte vor allem im sozialen Bereich initiiert, wenn sich Leistungserwartungen veränderten oder nicht im Alleingang einzelner lokaler Akteurinnen und Akteure erfüllt werden konnten. Die Hauptthese dieses Beitrags war es, dass Komplexvereinbarungen nicht nur bereits etablierte alltägliche Praktiken verschriftlichten, sondern darüber hinaus ermöglichten, das Verhältnis von staatlicher Steuerung und Eigenverantwortlichkeit neu zu bestimmen. Wie sich am beschriebenen Beispiel aus Karl-Marx-Stadt aus dem Bereich der Altenfürsorge bestätigte, boten sich für die Beteiligten einer Komplexvereinbarung durchaus neue Handlungsoptionen, sowohl für eigenverantwortliches als auch für mehr kollaboratives Handeln. Da alle Beteiligten buchstäblich an einen Tisch geholt wurden, um über die Situation vor Ort zu beraten, entstanden zunächst neue bzw. engere professionelle Netzwerke. Eine Beteiligung daran war gleichbedeutend mit der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, weshalb Probleme offen angesprochen (statt verschwiegen) werden konnten. In dieser Atmosphäre lernten die Beteiligten, ihre jeweiligen Aufgabenbereiche formal abzustecken, sich Einflusssphären zu sichern und Potenziale für die eigenständige oder kooperative Gestaltung der Fürsorge aufzuzeigen.

Die Komplexvereinbarung aus dem Beispiel Karl-Marx-Stadt hatte für die lokalen Fürsorgenden den Vorteil, dass sie sich an den lokalen Anforderungen und Ressourcen orientierte und so maßgeschneiderte Maßnahmen hervorbrachte. Anders als in Rahmenvereinbarungen, die der Ministerrat »von oben« beschloss, hatten die lokalen Akteurinnen und Akteure an ihrer Komplexvereinbarung selbst mitgewirkt. Völlig autonom waren sie dennoch nicht, wie mit dem Verweis aus Karl-Marx-Stadt auf den »Schweriner Beschluss« gezeigt werden konnte, der als eine formale Orientierung »von oben« fungierte.

Komplexvereinbarungen waren gewissermaßen sozialpolitische Wunderwaffen, weil mit ihnen einerseits die Autorität des »Fürsorgestaates« gewahrt werden konnte und andererseits Verantwortung an die lokale Ebene abgegeben wurde. Insbesondere im Zuge der sogenannten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik Erich Honeckers, die neben den Arbeitsbedingungen auch den Alltag der Gesellschaft in den Blick nahm, gewannen Komplexvereinbarungen an Bedeutung. Die Vorstellung, dass soziale Probleme als »gesamtgesellschaftliche Anliegen« bewältigt werden können, war eine wichtige Voraussetzung der sozialistischen Sozialpolitik. Das Format der Komplexvereinbarung war ein Versuch, diese gesamtgesellschaftlichen Anliegen praktisch handhabbar zu machen.

Auch wenn die Vereinbarungen lokalen Akteurinnen und Akteuren in der Altenfürsorge offenbar zu mehr Eigenverantwortlichkeit verhalfen, bauten sie doch auf einem Bild des Alterns auf, das alte Menschen auf ihre Pflegebedürftigkeit reduzierte. Einen sozialpolitischen Leitbildwandel, hin zum aktivierenden Sozialstaat, bereiteten die Komplexvereinbarungen somit nur für die Fürsorgeleistenden vor, nicht jedoch für die eigentliche Zielgruppe ihrer »komplexen Betreuung«. Konzepte eines aktiven Alterns, die wie in Westdeutschland auch in Ostdeutschland diskutiert wurden, führten daher nicht automatisch zu einem positiven Bild des Alters. Vielmehr verstetigte sich mit den Komplexvereinbarungen noch die Vorstellung, dass es sich beim Älterwerden und Altsein um negative Erfahrungen handele, die mit Leistungsverlust und Pflegebedürftigkeit verbunden sind, d. h. die »komplex« sind und ein entsprechendes Eingreifen von außen erfordern. Alte Menschen wurden so bis zur »Wende« zum Gegenstand einer Propaganda, die das sozialistische Gemeinschaftsgefühl noch einmal wiederzubeleben versuchte. Komplexvereinbarungen zeichneten hier ein diverseres Bild der Altenfürsorge. Lokale Akteurinnen und Akteure erkannten in ihnen die Vielfältigkeit der Lebenssituationen älterer Menschen an und bemühten sich um klare Zuständigkeiten, um den unterschiedlichen Pflegebedürfnissen gerecht zu werden.

 


[1] Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, München 1998.

[2] Norbert F. Pötzl: Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen, Hamburg 2019.

[3] Historikerlabor e. V.: Der Kurras-Komplex. Ein Live-Audiowalk zum Tod von Benno Ohnesorg, Berlin 2022, www.kurraskomplex.de/projekt (ges. am 30. September 2022).

[4] Duden: Eintrag »komplex«, www.duden.de/rechtschreibung/komplex (ges. am 30. September 2022).

[5] Birgit Wolf: Sprache in der DDR: Ein Wörterbuch, Berlin/New York 2000, S. 126.

[6] Ebd.

[7] Ebd., S. 127.

[8] VEB Bibliographisches Institut Leipzig: Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1970, S. 587 f.

[9] Ebd., S. 588.

[10] Information des ZMD [Zentraler Medizinischer Dienst] zur komplexen medizinischen Betreuung der MfS-Angehörigen, 1969–1989, Bundesarchiv (im Folgenden: BArch), MfS SED-Kreisleitung/94 (alte Signatur: SED-KL 94).

[11] Komplexe Therapie der akuten Strahlenkrankheit (Schreiben von Herrn Morczek vom 3. Juni 1966), 1963–1971, BArch, DF 10/257, Bd. 4.

[12] Beschlußentwurf über Maßnahmen zur Sicherung der komplexen Planung und Leitung der Produktion und des Absatzes von Arzneimitteln, Erzeugnissen der Medizin- und Krankenhaustechnik sowie von Rationalisierungsmitteln für das Gesundheitswesen, 1966, BArch, DC 20-I/4/1453, Bd. 203.

[13] Materielle Betreuungsbedingungen und komplexe Krankenstandsbeeinflussung (März–Mai 1982), BArch, DA 1/15345, Bd. 3.

[14] Anlage Q: Beschluß über die Bestätigung des Stellvertreters des Ministers für den Bereich Komplexer Wohnungsbau und örtliche Bauwirtschaft (einschließlich Materialien), 1965, BArch, DC 20-I/4/1135, Bd. 66.

[15] Komplexe Betreuung älterer Bürger in den Wohngebieten, Information Nr. 3/88 (1988), BArch, DC 20/11253, Bd. 3.

[16] Maßnahmeplan zur komplexen Betreuung älterer und schwer- und schwerstgeschädigter Bürger des Rates des Stadtbezirkes Süd 1980–1981, BArch, MfS BV Lpz KD Lpz-Stadt/322, Bd. 1; Bericht zu einigen Aspekten und Problemen bei der Sicherung der komplexen Betreuung der Bürger im höheren Lebensalter in der DDR, Mai 1985, BArch, DC 20/20254.

[17] Siehe »Kindergarten eingeweiht«, Berliner Zeitung (im Folgenden: BZ) vom 18. Mai 1966, S. 8; »Unterricht im Werk. Vereinbarung zwischen Betrieben und Friedrichshain«, BZ vom 12. Februar 1966, S. 12.

[18] Siehe »Rat unterstützt VEB. Vereinbarung des Stadtbezirks mit Elektrokohle«, BZ vom 23. Februar 1966, S. 4.

[19] Siehe »Neue Straßenbahnlinie«, BZ vom 27. Januar 1967, S. 12.

[20] Gesetzblatt Teil I Nr. 12 vom 15. Juli 1965, Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über Aufgaben und Arbeitsweise der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe unter den Bedingungen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft vom 2. Juli 1965, S. 161.

[21] Walter Ulbricht: Zum ökonomischen System des Sozialismus in der DDR, Bd. 2, Berlin 1968, S. 250.

[22] Ebd., S. 251.

[23] »Wichtige Direktionssitzungen mit Abgeordneten«, Neues Deutschland (im Folgenden: ND) vom 2. Oktober 1971, S. 3.

[24] Siehe »So helfen wir Rentnern und jungen Eheleuten. Veteranen-AGL macht Werktätigen Vorschläge«, BZ vom 21. Juli 1975, S. 3.

[25] Siehe »Nicht nur zehn haben den Nutzen«, ND vom 28. März 1978, S. 8; »Veteranen im Betrieb umsorgt. Arbeitsgruppe ›Bürger im höheren Lebensalter‹ tagte«, Neue Zeit (im Folgenden: NZ) vom 2. März 1974, S. 6; »Komplexvereinbarung bringt Sauna für Betriebspoliklinik«, BZ vom 15./16. Februar 1975, S. 8.

[26] Siehe Bernd Martens: »Die Wirtschaft der DDR«, bpb.de vom 17. September 2020, www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47076/die-wirtschaft-in-der-ddr/ (ges. am 30. September 2022).

[27] Ebd.

[28] »Gute Partnerschaft bringt viele Vorteile. Zusammenarbeit zwischen Betrieb und Wohngebiet bewährt sich«, BZ vom 11. September 1974, S. 3.

[29] Ebd.

[30] Siehe »Gemeinsam für den Leistungszuwachs. Vertrag der TH Karl-Marx-Stadt mit sechs Industriekombinaten«, ND vom 22. Januar 1981, Titelseite; »Hochschulen arbeiten enger mit Kombinaten zusammen. Konzile berieten an hohen Bildungsstätten der DDR«, ND vom 26. Juni 1980, S. 4; »Jugendobjekt für die praxisnahe Forschung«, ND vom 9./10. August 1980, S. 10.

[31] »Institute unterstützen Vorhaben im Territorium«, ND vom 8. März 1982, S. 2.

[32] »Vortragszyklus an der TH in Karl-Marx-Stadt eröffnet. Teilnahme von 1200 Fachleuten aus dem In- und Ausland«, ND vom 17. Oktober 1984, S. 2.

[33] Margarete Bickner u. a.: Die gesellschaftlichen Organisationen in der DDR. Stellung, Wirkungsrichtungen und Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Staat, Berlin 1980, S. 51.

[34] Siehe Komplexvereinbarung 1971–1975, BArch, DY 79/1237, Bd. 1.

[35] Siehe Jahresplan der Zusammenarbeit zwischen der Leitung der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt und dem Rat der Stadt im Studienjahr 1979/80 und Planjahr 1980 auf der Grundlage der »Komplexvereinbarung zur Sicherung der territorialen Aufgaben und Entwicklung der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt für den Zeitraum 1977–1980«, Universitätsarchiv (im Folgenden: UniversitätsA) Chemnitz, 511/1195.

[36] Siehe 10. Tage der Wissenschaft und Technik – Unterzeichnung einer Komplexvereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der TH und dem Industriemaschinenbau für den Zeitraum bis 1990, UniversitätsA Chemnitz, 502/7626.

[37] »Rat unterstützt VEB. Vereinbarung des Stadtbezirks mit Elektrokohle«, BZ vom 23. Februar 1966, S. 4.

[38] »Nicht nur zehn haben den Nutzen«, ND vom 28. März 1978, S. 8.

[39] Komplexvereinbarung (Beschluß des Rates des Bezirkes 0273) vom 7. August 1986, Staatsarchiv (im Folgenden: StA) Chemnitz, 304020/ 119172.

[40] Siehe Hans-Joachim von Kondratowitz: »Zumindest organisatorisch erfasst ... Die Älteren in der DDR zwischen Veteranenpathos und Geborgenheitsbeschwörung«, in: Gert-Joachim Glaeßner: Die DDR in der Ära Honecker – Politik, Kultur und Gesellschaft, Opladen 1988, S. 525; Prue Chamberlayne: »Focus on Volkssolidarität (VS)«, in: Community Development Journal 27 (1992), H. 2, S. 149–155, hier S. 152.

[41] Gerhard Weber: »Tätige Ruhe«, 1983/1985, SLUB (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden)/Deutsche Fotothek, www.deutschefotothek.de/documents/obj/71517707 (ges. am 30. September 2022).

[42] Gerhard Weber: »Wirtschaftspflege der Volkssolidarität«, 1974/1978, in: SLUB/Deutsche Fotothek. www.deutschefotothek.de/documents/obj/71518284 (ges. am 30. September 2022).

[43] Renate Kirschnek: »Für ein aktives kulturelles Leben der älteren Mitbürger – Ergebnisse und Aufgaben«, in: Ansporn (September 1981), hrsg. vom Sekretariat des Zentralausschusses der Volkssolidarität, S. 5–18, hier S. 6.

[44] Ebd., S. 7.

[45] Siehe Elaine Cumming/William E. Henry: Growing Old: The Process of Disengagement, New York 1963.

[46] Siehe Kim Boudiny: »›Active ageing‹: from empty rhetoric to effective policy tool«, in: Ageing and Society 33 (2013), H. 6, S. 1077–1098, hier S. 1078.

[47] Kirschnek: »Für ein aktives kulturelles Leben der älteren Mitbürger« (Anm. 43), S. 13.

[48] Komplexvereinbarung vom 7. August 1986, StA Chemnitz, 304020/119172, S. 2.

[49] Beschluß zum Bericht des Rates der Stadt Schwerin über den Stand der komplexen medizinischen, sozialen, und kulturellen Betreuung der Bürger im höheren Lebensalter vom 27. März 1986, 141. Sitzung des MR vom 27. März 1986, BArch, DC 20-I/3/2286, Bd. 2.

[50] Ebd., Anlage 1, S. 6.

[51] Komplexvereinbarung vom 7. August 1986, StA Chemnitz, 304020/119172, S. 1.

[52] »Beschluß zum Bericht des Rates der Stadt Schwerin über den Stand der komplexen medizinischen, sozialen, und kulturellen Betreuung der Bürger im höheren Lebensalter vom 27. März 1986«, 141. Sitzung des MR vom 27. März 1986, BArch, DC 20-I/3/2286, Bd. 2, Anlage 1, S. 7, Bl. 59.

[53] Ebd., Anlage 2, S. 22 f., Bl. 74 f. 141. Sitzung des MR vom 27. März 1986, BArch, DC 20-I/3/2286, Bd. 2, Anlage 1, S. 7.

[54] Siehe Komplexvereinbarung vom 7. August 1986, StA Chemnitz, 304020/119172, S. 1.

[55] Ebd., S. 8.

[56] Ebd., S. 16.

[57] Ebd., S. 13.

[58] Zuarbeit des Nationalrates der Nationalen Front an das Gesundheitsministerium im Mai 1975, BArch, DY 6/2467, S. 4.

[59] Ebd.

[60] Siehe Komplexvereinbarung vom 7. August 1986, StA Chemnitz, 304020/119172, S. 2.

[61] Ebd., S. 3.

[62] Ebd., S. 4.

[63] Ebd., S. 11.

[64] Ebd.

[65] Ebd., S. 13.

[66] Ebd.

[67] Gemeinsamer Erfahrungsaustausch des Sekretariats des Nationalrats der Nationalen Front der DDR und des Ministeriums für Gesundheitswesen über die komplexe Betreuung älterer Bürger und ihre aktive Einbeziehung in das gesellschaftliche Leben in den Wohngebieten am 13. November 1985 in Berlin, BArch, DY 6/3688, S. 35.

[68] Bericht über die Durchsetzung der vom Ministerrat am 30. Mai 1969 beschlossenen »Grundsätze und Maßnahmen zur Verbesserung der medizinischen, sozialen und kulturellen Betreuung der Bürger im höheren Lebensalter und zur Förderung ihrer stärkeren Teilnahme am gesellschaftlichen Leben« und der zu ihrer Verwirklichung vom Ministerium für Gesundheitswesen herausgegebenen Rahmenvereinbarungen vom 24. Juli 1969, vom Kreisausschuss der Nationalen Front der DDR in Bad Doberan am 3. März 1972, BArch, DY 6/3489, S. 3.

[69] Gemeinsamer Erfahrungsaustausch (Anm. 67), BArch, DY 6/3688, S. 5 f.

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