Die zeithistorischen Umbrüche seit den 1970er-Jahren sind zuletzt aus verschiedenen Blickwinkeln heraus neu ausgeleuchtet worden.[1] Unter anderem haben sich aktuelle Forschungen verstärkt den Zukunftshorizonten der Zeitgenossen zugewendet.[2] So hat sich Christina Morina mit Demokratievorstellungen und -hoffnungen in der Transformationszeit vor und nach 1989/90 beschäftigt.[3] Der folgende Beitrag lenkt den Blick speziell auf (sozial-)politische Erwartungen am Ende des Kommunismus. Er präsentiert semantische Befunde zum Verhältnis von Systemtransformation und Sozialpolitik, die dazu beitragen, zentrale Gegenwartsbegriffe historisch zu situieren und zugleich block- wie zäsurübergreifende Perspektiven auf die jüngste Zeitgeschichte zu stärken. Dazu befasst sich der Beitrag erstens mit den Transformationserwartungen westdeutscher Akteure auf der politischen Linken ab Anfang der 1980er-Jahre. Ein Schwerpunkt der Betrachtung liegt dabei auf dem Begriff »friedliche Revolution«, der gleichsam als Sonde dient: In ihm verdichteten sich während des Systemumbruchs Erwartungen, die in Anbetracht seines heutigen Stellenwerts von besonderem Interesse sind. Zweitens verdeutlicht der Beitrag an der Geschichte des ebenfalls tief in der Gegenwartssprache verankerten deutschen Neologismus »Zivilgesellschaft«, wie dieser ab den frühen 1980er-Jahren sukzessive einen fundamentalen Wandel erlebte – von einem zunächst sozialistisch konnotierten Erwartungsbegriff hin zu einem Leitbegriff im Kontext marktorientierter Sozialstaatsreformen um das Jahr 2000 –, zugleich aber eine Distanzierung vom Staat als zentralem Adressaten (sozial-)politischer Hoffnungen von Beginn an in sich trug. Abschließend resümiert der Beitrag knapp den Erkenntnisgewinn, der sich hinsichtlich der jüngsten Zeitgeschichte aus der Analyse vergangener Erwartungen ergibt, insbesondere bezüglich einer historischen Perspektivierung der Gegenwartssprache.
I. Transformationserwartungen auf der westdeutschen politischen Linken ab Anfang der 1980er-Jahre
Gelten die 1980er-Jahre in der Rückschau vielfach als Phase der finalen Erosion des »real existierenden Sozialismus«,[4] stellten sie sich den Zeitgenossen teilweise ganz anders dar. Schon die Entstehung der polnischen unabhängigen Gewerkschaftsbewegung Solidarność am Beginn des Jahrzehnts schien westdeutschen Beobachtern nicht zwangsläufig von einem Ende des Sozialismus zu künden. Vielmehr meinten Teile der westdeutschen Linken in der weltanschaulich höchst pluralen Solidarność-Bewegung, die neben katholischen und konservativen auch sozialdemokratische und sozialistische Ideale integrierte,[5] wie zuvor schon im Prager Frühling erneut einen Versuch zu erkennen, Sozialismus und Demokratie miteinander zu verbinden – mit Impulsen auch für die westlichen Gesellschaften. So erklärte die Initiative »Solidarität mit Solidarność«, zu der sich ein heterogenes linkes Spektrum zusammengefunden hatte: »Viele Rechte, die Solidarnosc heute wahrnimmt, wie Kontrollrechte in den Betrieben und gegenüber Verwaltung und Wirtschaftsplanung, aber auch uneingeschränktes Streikrecht und Schutz vor Aussperrung, sind in den kapitalistischen Ländern des ›freien Westens‹ keineswegs selbstverständlich. Solidarnosc ist für uns auch ein Beispiel sozialistischer Demokratie. Daher: Solidarität mit Solidarnosc!«[6]
Wie der Aufruf verdeutlicht, ging es »Solidarität mit Solidarność« um grundlegende Veränderungen in Ost und West, denen die unabhängige polnische Gewerkschaftsbewegung einen Weg aufzuzeigen schien. Einen tiefgreifenden Wandel erhofften die Aktivisten nicht nur in den Staaten des »realen Sozialismus« – womit sie ins Visier der DDR-Staatssicherheit rückten –,[7] sondern auch in den westlichen Gesellschaften. Als Fluchtpunkt der Erwartungen lässt sich dabei ein unbestimmtes Drittes erkennen, das sowohl eine Alternative zur kommunistischen Herrschaft im Osten als auch zu als kapitalistisch verstandenen Gesellschaften im Westen darstellen sollte.[8]
Wurden solche Hoffnungen mit der gewaltsamen Niederschlagung der Solidarność in Polen jäh enttäuscht, war es wenige Jahre später der neue sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbačёv, der bei vielen Westdeutschen Transformationserwartungen weckte. Teile der bundesrepublikanischen Linken deuteten auch Gorbačёv vor dem Hintergrund des Prager Frühlings von 1968: Bei ihnen fand insbesondere der Exil-Tschechoslowake Zdeněk Mlynář Gehör, der in zahlreichen Presseartikeln und internen Gesprächen die Ansicht vertrat, mit dem neuen Staats- und Parteichef eröffne sich erneut die Chance, Demokratie und Sozialismus endlich erfolgreich zu verbinden. Mlynářs Rolle lässt sich als die eines einflussreichen »Erwartungsmanagers« lesen, der es dank seines exklusiven biografischen Kapitals als früherer Kommilitone Gorbačёvs und späterer Mitarbeiter Alexander Dubčeks vermochte, die sowjetische Reformpolitik mit den politischen Erwartungen gerade westeuropäischer Linker zu verschränken.[9]
Dies betraf gerade auch die Zukunft des Sozialstaats in Westeuropa. Iring Fetscher – Mitglied der SPD-Grundwertekommission und früherer Unterstützer von »Solidarität mit Solidarność« – brachte dies 1987 wie folgt zum Ausdruck: »Bisher haben viele Angehörige ›westlicher‹ kapitalistischer Gesellschaften durchaus schon Vorteile von der kommunistischen Konkurrenz gehabt: der Ausbau des Wohlfahrtsstaats war die intelligente Antwort liberaler und sogar konservativer bürgerlicher Parteien, vor allem aber sozialdemokratischer Regierungen – wie in Skandinavien – auf die kommunistische Herausforderung. Wenn in jüngster Zeit sich einflußreiche Eliten im Westen vom Wohlfahrtsstaat lösten, dann hat das u. a. auch mit der verringerten Attraktivität der kommunistischen Alternative zu tun. Es liegt daher in unserem ureigensten Interesse, wenn wir uns wünschen, daß die Länder des ›real existierenden Sozialismus‹ Fortschritte in Richtung auf mehr Freiheit, Freizügigkeit, Meinungsfreiheit usw. machen und daß es ihnen gelingt, den Lebensstandard der Bevölkerung erheblich anzuheben. Der damit verbundene Ansporn für die Verbesserung der Lebensbedingungen in unseren Gesellschaften wäre eine nicht zu unterschätzende Hilfe für die Verwirklichung der Ziele der Sozialdemokratie.«[10]
Das Motiv der Abhängigkeit westlicher Sozialpolitik von den Bedingungen der Systemkonkurrenz, die etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Ludwig Preller in den 1950er-Jahren konstatiert hatte,[11] lässt sich somit auch in den – rückblickend gesprochen – letzten Jahren des »real existierenden Sozialismus« noch finden, als nicht nur die Gesellschaften des »Ostblocks« spürbar an Strahlkraft, wo je vorhanden, verloren hatten, sondern teils gehegte Hoffnungen auf einen schwedischen oder französischen Weg zu einem demokratischen Sozialismus zerstoben waren.
Im Umbruch der Jahre 1989/90 lässt sich auf der politischen Linken die Erwartung, nun fänden Sozialismus und Demokratie zueinander, erneut beobachten. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht insbesondere der Begriff »friedliche Revolution«, der im heutigen Sprechen über die Ereignisse so hohe Relevanz hat. Waren DDR-Oppositionelle zunächst vergleichsweise zurückhaltend, von einer Revolution zu sprechen,[12] nahm die Karriere des Revolutionsbegriffs als Bezeichnung für den DDR-Umbruch vor allem auf bundesrepublikanischen Bühnen ihren Lauf.[13] Eine »gewaltfreie demokratische Revolution erleben wir gerade in diesen Tagen und gerade in diesen Stunden«,[14] erklärte die Fraktionssprecherin der Grünen Antje Vollmer am Tag vor dem Mauerfall in der öffentlichkeitswirksamen Bundestagsdebatte zum »Bericht zur Lage der Nation«. Zwei Tage später, am Tag nach dem Fall der Mauer, gebrauchte dann der sozialdemokratische Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper, am Rathaus Schöneberg vor laufenden Fernsehkameras als Erster den Begriff der »friedlichen und demokratischen Revolution«.[15]
Bedeutsam ist dies, weil sich mithilfe des Revolutionsbegriffs weitreichende Erwartungen formulieren ließen – mit Blick auf die DDR, aber auch auf die westdeutsche Gesellschaft. Zahlreiche Sozialdemokraten, aber auch viele Grüne machten sich erneut Hoffnungen auf einen »dritten Weg« jenseits der bestehenden Gesellschaften in Ost und West.[16] Walter Momper etwa hatte schon im September 1989 erklärt, der Umbruch meine »nicht zwangsläufig, dass die DDR zu einem kapitalistischen Staat wird. Die Diskussionen in Polen und Ungarn zeigen, daß man sehr wohl einen dritten Weg suchen kann, der die Effektivität des westlichen Wirtschaftssystems und die liberalen Freiheitsrechte mit den gesellschaftlichen und den sozialen Zielsetzungen des Sozialismus in Einklang bringen will.«[17] Durch die »Revolution« erlangte der ostdeutsche Staat in den Augen mancher einen »Vorbildcharakter«[18] – umso mehr, als das Aussperrungsverbot, das Abtreibungsrecht und die Rechtsstellung Homosexueller in der DDR einigen fortschrittlicher zu sein schienen als im eigenen Land.[19] Entsprechend musste eine am westdeutschen Modell orientierte »Wiedervereinigung« als Rückschritt erscheinen, ließ sich doch von der DDR, so der Eindruck bei Teilen der Linken, »vieles lernen«.[20]
Diese Erwartungen helfen zu erklären, warum das Ende des »real existierenden Sozialismus« tiefgreifende Folgen auch in der (alten) Bundesrepublik haben sollte, denen sich die zeithistorische Forschung in jüngster Zeit verstärkt zuwendet.[21] Nachdem Jürgen Kocka schon 1995 von einer »Vereinigungskrise« geschrieben hatte, die rasch Enttäuschung angesichts der ökonomischen und sozialen Auswirkungen der deutschen Einheit hervorrief,[22] ist wiederholt auf die vereinigungsbedingten Lasten für den gesamtdeutschen Sozialstaat verwiesen worden.[23] Zuletzt sind Überlegungen und Analysen zu mehreren Teilbereichen und -fragen erschienen, die dazu beitragen, Veränderungen in Ost und West noch stärker aufeinander zu beziehen.[24] Die Transformationsvorstellungen und -enttäuschungen auf der westdeutschen politischen Linken geben in diesem Zusammenhang Aufschluss über spezifische Wechselwirkungen: Nach hochgesteckten Erwartungen an eine »friedliche Revolution« in der DDR, die in den dortigen Umbruch durchaus eingingen, erlebte das linke Spektrum den Ausgang der ersten freien Volkskammerwahl, den Weg zur deutschen Einheit und das Ergebnis der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl weithin als ernüchternden Rückschlag.[25] Zahlreiche linke Organisationen gerieten in den 1990er-Jahren in die Krise, lösten sich auf oder orientierten sich neu.[26] Damit ging ein tiefgreifender Wandel politischer Erwartungen und Semantiken einher, dessen Anfänge jedoch teilweise weiter zurückreichten. Dies lässt sich etwa am Bedeutungsverlust des Sozialismusbegriffs bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs des Zivilgesellschaftsbegriffs zeigen und soll im zweiten Teil dieses Beitrags weiterverfolgt werden.
II. (Sozial-)Staatsvorstellungen und »Zivilgesellschaft«
Wenn »Zivilgesellschaft« heute in Feuilleton und Publizistik fast schon selbstverständlich als wesentlicher Bestandteil einer offenen Gesellschaft verstanden wird, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese verbreitete Rede vergleichsweise jung ist. Zwar lassen sich die Idee und Praktiken, die üblicherweise mit dem Begriff bezeichnet werden, historisch weit zurückverfolgen. Doch ist die Konjunktur des heutigen Zivilgesellschaftsdiskurses erst auf jene Umbrüche zurückzuführen, die Europa und die Welt in den letzten gut vier Dekaden tiefgreifend verändert haben. Wie schon an den Transformationserwartungen auf der westdeutschen politischen Linken lassen sich auch hieran ausgeprägte Wechselwirkungen zwischen Ost und West aufzeigen.
Dies soll im Folgenden geschehen, indem den Anfängen des heutigen deutschen Zivilgesellschaftsbegriffs genauer nachgegangen wird. Denn woher dieser stammt und wodurch er in der politisch-sozialen Sprache Relevanz gewann, lag trotz seiner nachgerade ubiquitären Verwendung bislang weitgehend im Dunkeln. Mit Mitteln der historischen Semantik lässt sich ein genaueres Bild zeichnen.[27] Ein wichtiger Ausgangspunkt der heutigen deutschen Begriffsverwendung ist in der bereits angesprochenen Solidarność-Solidarität westdeutscher Linker auszumachen, die teils auch mit Dissidenten im und insbesondere mit Exilanten aus dem östlichen Europa in Kontakt standen. Dies passt zu jüngeren Forschungsergebnissen, die den heutigen Zivilgesellschaftsdiskurs als Produkt blockübergreifender Austauschprozesse in der Spätphase der Systemauseinandersetzung gedeutet haben, im Rahmen derer entscheidende Impulse insbesondere von der Westseite, konkret von westlichen Beobachtern der mittelosteuropäischen Dissidenz ausgegangen seien.[28]
Insofern überrascht es nicht, dass man auf der Suche nach Anfängen des heutigen deutschen Zivilgesellschaftsbegriffs gerade in der Solidarność-Solidarität der frühen 1980er-Jahre fündig wird: Die begriffliche Neuprägung verortete Andrew Arato, späterer Verfasser der ersten großen, bis heute als Standardwerk fungierenden Monografie zur Zivilgesellschaft, früh in einem Zeitschriftenbeitrag der linken Autoren Reinhard Fenchel und Hans-Willi Weis, in dem diese die Vorgänge in Polen behandelten. Fenchel wiederum kann als Mitunterzeichner des oben zitierten Aufrufs von »Solidarität mit Solidarność« nachgewiesen werden.[29] Die Begriffsprägung lässt sich damit zum einen aus der Auseinandersetzung westdeutscher Linker mit der polnischen Gewerkschaftsbewegung heraus verstehen. Zum anderen spiegelt sich in dem neuen Begriffsgebrauch auch der Wandel von Teilen der westdeutschen (insbesondere Neuen) Linken selbst, wie er im Ausgang des »roten Jahrzehnt[s]« zu Beginn der 1980er-Jahre zu beobachten ist.[30] Zum Ausdruck kommt ein gewandeltes Verständnis vom Staat, aber auch von Demokratie, das eines neuen sprachlichen Instruments bedurfte. So schrieben Fenchel und Weis: »Der englische Begriff der ›civil society‹ war ursprünglich identisch mit dem deutschen Begriff ›bürgerliche Gesellschaft‹ und meinte die sich im Laufe der bürgerlichen Revolutionen an der gesellschaftlichen Basis herausbildenden demokratischen Strukturen und Kultur. Da heute, wenn von bürgerlicher Gesellschaft, vor allem im Zusammenhang mit ihrer Transformation in eine sozialistische die Rede ist, so wird darunter in erster Linie die ökonomische Struktur und die dieser entsprechende staatliche Verfaßtheit des kapitalistischen Systems verstanden – im Englischen ›bourgeois society‹ [sic]. Wir meinen, daß es sinnvoll ist[,] diese begriffliche Trennung auch in die deutsche Diskussion zu übernehmen, um mit dem Begriff der ›civil society‹ oder ›Zivilgesellschaft‹ jene gesellschaftlichen Beziehungen zu kennzeichnen, die mit der Überwindung des Kapitalismus keineswegs abzuschaffen, sondern positiv in einer sozialistischen ›civil society‹ aufzuheben sind.«[31]
Die hier verfolgte Spur zu Anfängen des heutigen deutschen Zivilgesellschaftsbegriffs führt somit zu westdeutschen Akteuren, die sich mit der mittelosteuropäischen Dissidenz auseinandersetzten und verbunden fühlten. Mit ihrer Begriffsprägung positionierten sie sich nicht nur in kritischer Distanz zur Herrschaftspraxis im »real existierenden Sozialismus«, sondern setzten sich auch von dogmatisch-linken ebenso wie von sozialdemokratischen Vorstellungen ab, die auf eine Eroberung beziehungsweise einen Umbau oder eine Expansion des Staates zielten. An sozialistischen Hoffnungen auf eine Überwindung ihrer als kapitalistisch verstandenen Gegenwart hielten sie dabei zwar fest und konzeptionierten Zivilgesellschaft als Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft. Doch drückten sie im Zivilgesellschaftsbegriff zugleich aus, dass in einer zukünftigen sozialistischen civil society Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen wie gesellschaftliche Autonomie und Freiheiten erhalten bleiben sollten. Die Rede von »Zivilgesellschaft« stand dabei zum einen für die Suche nach Alternativen zu den bestehenden Gesellschaften in Ost und West. Zum anderen äußerte sich in ihr eine Verlagerung politischer Erwartungen weg vom Staat, der nicht mehr als das zentrale Instrument zur Veränderung der Gesellschaft erschien.
Der mithin zunächst sozialistisch konnotierte deutsche Zivilgesellschaftsbegriff – als weiterer früher Bezugspunkt der Verwendung im Deutschen ist Antonio Gramsci zu nennen[32] – begann sich allerdings bereits im Laufe der 1980er-Jahre vom Begriff des Sozialismus zu lösen, wie sich etwa an Texten des linken Theoretikers Claus Offe verfolgen lässt.[33] Hierdurch schien er nach dem Ende des »Ostblocks« umso mehr eine Formel zu liefern, die bei der Reformulierung linker Erwartungen helfen mochte. Anfang der 1990er-Jahre, in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit und neuer sozialer Problemlagen, in der um sozialpolitische Fragen besonders heftig gestritten wurde,[34] rief dies auf der einen Seite zwar Kritik hervor. Ein Beispiel hierfür liefert Wolf-Dieter Narr vom Sozialistischen Büro, einer jener linken Organisationen, die sich damals auflösten. Narr machte eine »politische Moral der Entmachtung« für die Konjunktur des Zivilgesellschaftsbegriffs verantwortlich – und sah die Gefahr, im Zuge linker Neuorientierung »die Kapitalismus-Kritik gleich mitzuerledigen«.[35] Auf der anderen Seite ist jedoch insbesondere Jürgen Habermas zu nennen, der den Zivilgesellschaftsbegriff 1990 prominent in die Neuauflage seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit und wenig später auch in sein Buch Faktizität und Geltung aufnahm – und der im Umbruch 1989/90 linken »Revisionsbedarf« zwar von der Hand wies, von der Suche nach einer grundlegenden Systemalternative jedoch für die Zukunft abriet.[36] Je populärer die Rede von Zivilgesellschaft im Deutschen wurde, desto stärker nahm der Begriff außerdem neben linken auch – zumal im englischsprachigen Gebrauch ohnehin vorhandene – konservative, liberale und kommunitaristische Einflüsse in sich auf.
Um 1999 schließlich erhielt der Zivilgesellschaftsbegriff im Kontext marktorientierter Sozialstaatsreformen, die Philipp Ther als Teil einer »Kotransformation« auch im Westen interpretiert hat,[37] weiteren Auftrieb – und wandelte sich dabei erneut. In jenem Jahr beschloss der Bundestag die Einrichtung einer Enquetekommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements«, die im Jahr darauf mit der Arbeit begann. Die Kommission führte eine Bestandsaufnahme zu »Bürgergesellschaft« und – synonym verwendet – »Zivilgesellschaft« durch und plädierte schlussendlich dafür, »zivilgesellschaftlichen Organisationen mehr Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen«.[38] Für die Sozialdemokraten, die inzwischen Regierungspartei waren und den Kommissionsvorsitzenden stellten, fügte sich dies in ein größeres, insbesondere arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Programm. Sie verkündeten eine »zivilgesellschaftliche Reformpolitik«, aus der ein »neues Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft« hervorgehen solle. Ein »neuer Gesellschaftsvertrag« war dabei das hochgesteckte Ziel, wobei »Zivilgesellschaft und Drittem Sektor eine besondere Bedeutung« zugewiesen wurde.[39]
Auch wenn es der rot-grünen Bundesregierung weniger darum gegangen sein mag, »den Staat aus seiner Gesamtverantwortung zu entlassen«, als darum, »zu einer neuen Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft zu kommen«,[40] war an eine Entlastung des Staates – bei Stärkung der Eigenverantwortung des Einzelnen – durchaus gedacht.[41] Hierbei spielten die vereinigungsbedingten Belastungen der gesamtdeutschen Sozialsysteme ebenso eine Rolle wie wohl eine Reihe weiterer Faktoren. So hat Benno Nietzel kürzlich am Beispiel der beruflichen Weiterbildung argumentiert, dass der Misserfolg originär westdeutscher Qualifizierungsansätze in der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft »dem Übergang von einer ›aktiven‹ zu einer ›aktivierenden‹ Arbeitsmarktpolitik nach der Jahrtausendwende diskursiv den Weg bereitete«, indem er zur Verlagerung von Weiterbildungspflichten vom Staat auf die Individuen beigetragen habe.[42] Elke Seefried wiederum hat am Begriff der »Wettbewerbsfähigkeit« verdeutlicht, dass sich »neoliberale« Denkmuster auch in der SPD durchaus weit – in diesem Fall bis 1989 – zurückverfolgen lassen.[43] Die Karriere des deutschen Zivilgesellschaftsbegriffs liefert vor diesem Hintergrund einen weiteren Baustein zur Erklärung, weil auch sie Zusammenhänge zwischen politischer Semantik und sozialpolitischen Maßnahmen erkennen lässt: Einstmals sozialistisch konnotiert, fand der Zivilgesellschaftsbegriff, von dem des Sozialismus gelöst, ab dem Übergang zu den 2000er-Jahren parteiübergreifend Verwendung und wurde darüber hinaus zur Begründung eines Regierungshandelns herangezogen, das Zeitgenossen wahlweise als überfällige Erneuerung des Sozialstaats oder aber als »Sozialabbau« galt.[44]
III. Schluss
Ist die Karriere des deutschen Zivilgesellschaftsbegriffs mithin von einem raschen Aufstieg und gleichzeitigem Bedeutungswandel innerhalb weniger Jahrzehnte geprägt – erst Verknüpfung mit dem Sozialismusbegriff, dann erneute Loslösung von diesem –, lässt sich ein Aspekt trotz allen Wandels schon von Anfang an beobachten: die Distanzierung vom (Wohlfahrts-)Staat als Fluchtpunkt politischer Fortschrittserwartungen, gerade auch auf der politischen Linken. Betrachtet man das Verhältnis von Kommunismus und (westlichem) Sozialstaat durch diese Linse, zeigen sich auch in der politisch-sozialen Sprache Verflechtungen, die wiederum mit wirtschafts- und sozialhistorischen Veränderungen eng zusammenhängen. Wie an den Transformationserwartungen auf der politischen Linken und am heute so zentralen Begriff der »friedlichen Revolution« zeigt sich damit auch an der Karriere des deutschen Zivilgesellschaftsbegriffs: Vergangene (sozial-)politische Erwartungen zu beleuchten, lohnt gerade auch dann, wenn diese rasch obsolet wurden. Denn sie hinterließen gleichwohl Spuren in politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie insbesondere auch in der Gegenwartssprache, in die sie mit teils unerwarteten Ergebnissen einflossen. [45]
[1] Siehe etwa Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Frankfurt a. M. 2019; Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019; Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. Über die große Transformation, Berlin 2019; Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2021.
[2] Siehe etwa das kurz vor Abschluss stehende Forschungsprojekt »Zukünfte am Ende des Kalten Krieges« am Berliner Kolleg Kalter Krieg, www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/zukuenfte-am-ende-des-kalten-krieges (ges. am 9. November 2023).
[3] Siehe Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren, München 2023.
[4] Siehe etwa Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 35 f.
[5] Siehe Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 365. Siehe auch zeitgenössisch Timothy Garton Ash: Solidarity. The Polish Revolution, New York 1984, S. 231.
[6] Aufruf: »Solidarität mit Solidarnosc«, zit. nach: Peter Bartelheimer (Hg.): Gewerkschafter fordern: Solidarität mit Solidarność. Reiseberichte, Interviews, Dokumente, Frankfurt a. M. 1981, S. 5 f., hier S. 6.
[7] Siehe Małgorzata Świder: Niemiecka Federacja Związków Zawodowych wobec wydarzeń w Polsce w latach 1980–1983 [Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Ereignisse in Polen während der Jahre 1980–1983], Katowice/Warszawa 2020, S. 77.
[8] Siehe hierzu ausführlicher Konrad Sziedat: Erwartungen im Umbruch. Die westdeutsche Linke und das Ende des »real existierenden Sozialismus«, Berlin/Boston 2019, S. 23–51.
[9] Ebd., S. 79–100.
[10] Iring Fetscher: Für realistische Formen des Wettbewerbs der Ideen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 32 (1987), H. 11, S. 1481–1485, hier S. 1485.
[11] Siehe die Ankündigung der 4. Hermann-Weber-Konferenz, aus der der vorliegende Band hervorging: Im Kalten Krieg entscheiden die Bataillone der besseren Sozialleistungen – Das Verhältnis von Kommunismus und Sozialpolitik von 1945 bis in die Gegenwart, in: H-Soz-Kult, 2. Juni 2022, hsozkult.de/event/id/event-118311 (ges. am 3. Februar 2023).
[12] Siehe Bernd Lindner: Wir bleiben … das Volk! Losungen und Begriffe der Friedlichen Revolution 1989, Erfurt 2019, S. 61–77.
[13] Ebd. Siehe auch Sziedat: Erwartungen im Umbruch (Anm. 8), S. 120–130.
[14] Rede von Antje Vollmer, in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 11/173, S. 13030.
[15] Lindner: Wir bleiben (Anm. 12), S. 74; Ralph Jessen: »Revolution« und »Wende«, »Anschluss« und »Volk«. Begriffsgeschichtliche Annäherungen an 1989/90, in: Jörg Ganzenmüller (Hg.): Die revolutionären Umbrüche in Europa 1989/91. Deutungen und Repräsentationen, Köln 2021, S. 31–55, hier S. 37 f.
[16] Siehe Dietmar Süß: Linke Sinnsuche. Die Sozialdemokratie nach dem »Sieg des Westens«, in: Marcus Böick/Constantin Goschler/Ralph Jessen (Hg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2022, Berlin 2022, S. 131–148, hier S. 136; Regina Wick: Die Mauer muss weg – die DDR soll bleiben. Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1979 bis 1990, Stuttgart 2012, S. 94–96.
[17] Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 11/13, S. 475 D.
[18] VSP [Vereinigte Sozialistische Partei]: Thesen zur politischen Lage nach der DDR-»Novemberrevolution«, in: Gesammelte Beiträge zur Diskussion der Linken, Nr. 4 (28.12.1989), S. 1–6, hier S. 1.
[19] Siehe Sziedat: Erwartungen im Umbruch (Anm. 8), S. 160 f.
[20] Forum der Parteien. Für die Grünen: Gerald Häfner, MdB, in: Augsburger Allgemeine vom 1. Dezember 1989 (Hervorhebung im Original).
[21] Siehe Böick/Goschler/Jessen: Editorial, in: dies.: Jahrbuch Deutsche Einheit 2022 (Anm. 16), S. 7–14.
[22] Jürgen Kocka: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995. Siehe auch Edgar Wolfrum: Der Aufsteiger. Eine Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute, Stuttgart 2020, S. 33.
[23] Siehe Gerhard A. Ritter: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2007; Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, München 2015, S. 62; Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt a. M. 2014, S. 290–293.
[24] Siehe die Böick/Goschler/Jessen: Editorial (Anm. 21); Philipp Ther: Kotransformation – Reichweite und Grenzen eines Konzepts, in: Böick/Goschler/Jessen: Jahrbuch Deutsche Einheit 2022 (Anm. 16), S. 15–36.
[25] Siehe dazu auch Peter Brandt: Sozialismus am Ende? Metamorphosen der deutschen Linken seit den 1980er Jahren, in: Martin Sabrow/Tilmann Siebeneichner/Peter Ulrich Weiß (Hg.): 1989 – eine Epochenzäsur?, Göttingen 2021, S. 184–208, hier S. 194.
[26] Siehe Jan Gerber: Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus«, Freiburg 2012; Werner Plumpe: Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019, bes. S. 513.
[27] Siehe dazu auch ausführlicher Konrad Sziedat: Die lange Geschichte verflochtener Transformationen. Umbrüche in Ost und West ca. 1979–1999 und der Aufstieg der »Zivilgesellschaft«, in: Marcus Böick/Constantin Goschler/Ralph Jessen (Hg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2021, Berlin 2021, S. 177–196; ders.: Erwartungen im Umbruch (Anm. 8), S. 196–208.
[28] Siehe Lisa Bonn: Begriffskonjunktur Zivilgesellschaft. Zur missverständlichen Interpretation dissidentischer Bewegungen in Osteuropa, in: Lino Klevesath/Holger Zapf (Hg.): Demokratie – Kultur – Moderne. Perspektiven der politischen Theorie, München 2011, S. 121–131, hier S. 122 u. 129; Agnes Arndt: Intellektuelle in der Opposition. Diskurse zur Zivilgesellschaft in der Volksrepublik Polen, Frankfurt a. M./New York 2007, bes. S. 71.
[29] Siehe Sziedat: Erwartungen im Umbruch (wie Anm. 8), S. 199.
[30] Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967–1977, Frankfurt a. M. 2001.
[31] Andrew Arato: »Civil Society« gegen den Staat. Der Fall Polen 1980/81, zit. nach: Reinhard Fenchel/Anna Jutta Pietsch (Hg.): Polen 1980–82. Gesellschaft gegen den Staat, Hannover 1982, S. 46–87, Anm. 0 (Anm. der Herausgeber), S. 82.
[32] Siehe Agnes Arndt: Zivilgesellschaft als Treiber der Kotransformation? Ein intellektuelles Konzept und seine politischen Implikationen, in: Böick/Goschler/Jessen: Jahrbuch Deutsche Einheit 2022 (Anm. 16), S. 37–51, hier S. 41. Siehe auch Daniel Kremers/Shunsuke Izuta: Bedeutungswandel der Zivilgesellschaft oder das Elend der Ideengeschichte. Eine kommentierte Übersetzung von Hirata Kiyoakis Aufsatz zum Begriff »shimin shakai« bei Antonio Gramsci (Teil 1), in: Asiatische Studien – Études Asiatiques 71 (2017), H. 2, S. 713–739, hier S. 717.
[33] Siehe Sziedat: Die lange Geschichte (Anm. 27), S. 187.
[34] Siehe Christoph Lorke: Gleichheitsversprechen und ihr Erinnern im geteilten und vereinten Deutschland, in: Stefan Berger/Wolfgang Jäger/Ulf Teichmann (Hg.): Gewerkschaften im Gedächtnis der Demokratie. Welche Rolle spielen soziale Kämpfe in der Erinnerungskultur?, Bielefeld 2022, S. 101–122, hier S. 115.
[35] Wolf-Dieter Narr: Vom Liberalismus der Erschöpften, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 36 (1991), H. 2, S. 216–227, hier S. 220 f. u. 227.
[36] Siehe Jürgen Habermas: Vorwort, in: ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 11–50, hier S. 45–47; ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, S. 399–467; ders: Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf. Was heißt Sozialismus heute?, in: ders.: Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt a. M. 1990, S. 179–204, hier S. 203.
[37] Ther: Die neue Ordnung (Anm. 23), S. 290–293; ders.: Kotransformation (Anm. 24).
[38] Bericht der Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements«, Deutscher Bundestag, Drs. 14/8900, S. 8.
[39] Ebd., S. 59.
[40] Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013, S. 141.
[41] Siehe Ther: Kotransformation (Anm. 24), S. 23.
[42] Benno Nietzel: Von Kurzarbeit zu Hartz IV. Arbeitsmarktregime, berufliche Weiterbildung und Kotransformation nach der Wiedervereinigung, in: Böick/Goschler/Jessen: Jahrbuch Deutsche Einheit 2022 (Anm. 16), S. 197–212, hier S. 209.
[43] Siehe Elke Seefried: Zukunft in der Transformation. Sozialdemokratie seit 1959, in: dies. (Hg.): Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert. Parteien, Bewegungen, Umbrüche, Frankfurt a. M. 2022, S. 267–300, hier S. 287, 289.
[44] Siehe Benedikt Bender: Politisch-ökonomische Konfliktlinien im sich wandelnden Wohlfahrtsstaat. Positionierung deutscher Interessenverbände 2000–2014, Wiesbaden 2020, S. 179.
[45] Zum Mehrwert einer Erforschung vergangener Erwartungen und Zukunftsvorstellungen allgemein siehe Elke Seefried: Einleitung, in: dies.: Politische Zukünfte (Anm. 43), S. 7–39, hier bes. S. 8 f.