Vortrag

Die staatliche Geschichtspolitik Russlands und die russischen Historiker. Ein Leben im Gegenstrom der Zeit

Vortrag in der Potsdamer Gedenkstätte Leistikowstraße am 23. August 2022

| Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam

Nikita Sokolov

Im Zentrum des Fotos ist der Historiker Nikita Sokolov beim Vortrag zu sehen, rechts im Bild der Simultanübersetzer Andrej Steinke.

Vorgetragen am 23. August 2022 in der Potsdamer Gedenkstätte Leistikowstraße. Eine Veranstaltung des Vereins Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam. Ins Deutsche übersetzt von Andrej Steinke.

«En Russie, l'histoire fait partie du domaine de la couronne; c'est la propriété morale du prince comme les hommes et la terre y sont sa propriété matérielle; on la range dans les garde-meubles avec les trésors impériaux, et l'on n'en montre que ce qu'on en veut bien faire connaître. Le souvenir de ce qui s'est fait la veille est le bien de l'Empereur; il modifie selon son bon plaisir les annales du pays, et dispense chaque jour à son peuple les vérités historiques qui s'accordent avec la fiction du moment.»

Astolphe-Louis-Léonor, marquis de Custine. La Russie en 1839. Bruxelles, 1844. V.4. p.35

(In Russland ist die Geschichte Teil der Krone. Sie ist das moralische Eigentum des Prinzen, sowie die Menschen und die Erde ihr materielles Eigentum sind. Man räumt sie in die Möbel, wo sich die kaiserlichen Schätze befinden. Man zeigt nur diejenigen, die der Öffentlichkeit präsentiert werden sollen. Die Erinnerung, die sich am Vorabend ergeben hat, ist der Schatz des Kaisers. Er modifiziert nach seinem Ermessen die Annalen des Landes und verbreitet unter seinem Volk historische Wahrheiten, die sich der momentanen Fiktion anpassen.

Ins Deutsche übersetzt von Elisabeth Jansen)

 

Der Europäische Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus wird am 23. August begangen, dem Jahrestag der Unterzeichnung des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts im Jahre 1939. Nach Ansicht vieler Historiker ebnete dieses Abkommen, ergänzt durch ein Geheimprotokoll über die Aufteilung der Einflusssphären in Europa, den Weg in den Zweiten Weltkrieg. Die russischen Machthaber jedoch sind nicht einmal bereit, Hitlerismus und Stalinismus zu vergleichen, geschweige denn gleichzusetzen.

Es ist mir eine große Ehre und Freude, im Rahmen der Gedenkveranstaltung an diesem denkwürdigen Tag mit einem kurzen Essay über die Situation der Historiker und der Geschichte im heutigen Russland zu sprechen. Dieses Thema hat nicht nur für Russland unerwartet an Bedeutung gewonnen. Ganz besonders jedoch für Russland, dessen Historiker und dessen Machthaber offenbar in völlig entgegengesetzten Zeitströmungen existieren. Die Historiker bewegen sich in die Zukunft, die Machthaber in die Vergangenheit. Die Historiker sind sich sicher, dass die Koexistenz unterschiedlicher (politischer, genderspezifischer, interethnischer usw.) Narrative über die Vergangenheit und der Dialog zwischen diesen möglich und notwendig sind. Den Machthabern geht es dagegen um eine autoritäre Monopolisierung der öffentlichen Geschichte im Rahmen des einzig zulässigen, höchst eklektischen etatistischen Narrativs.

Die wissenschaftliche Geschichtsforschung in Russland entwickelt sich insgesamt, wenn auch mit einer gewissen nachvollziehbaren Verzögerung (bedingt durch die langjährige humanitäre Autarkie der Sowjetzeit), im Einklang mit den Trends der globalen Wissenschaft, als deren Teil sie sich begreift. Man kann sagen, dass die neuen Möglichkeiten und Einschränkungen, die die Sozialwissenschaften des späten 20. Jahrhunderts durch die zunehmende Komplexität der Forschungsparadigmen – gewöhnlich als "Wendungen" bezeichnet – erfahren haben, von der russischen akademischen Gemeinschaft der Geschichtswissenschaftler übernommen und verinnerlicht wurden. Die Liste dieser kognitiven Wendungen (anthropologisch, linguistisch, soziologisch, pragmatisch, räumlich, visuell, materiell, reflexiv u.v.m.) ist lang, jedoch hinreichend bekannt.

Insgesamt kann man sagen, dass die russische Gesellschaft auch die Nachfrage nach einer methodologisch modernen Geschichtswissenschaft äußert. Ein von Soziologen im Auftrag der Freien historischen Gesellschaft Russlands 2017 erstellter Bericht zeigt: In Russland gibt es zwei Gedächtnisse. Das erste ist staatlich: Es wird von den Medien verbreitet ("von oben nach unten") und erzählt in aller Regel von der heldenhaften Vergangenheit eines großen Staates, wodurch eine stark wertende und ideologisch widersprüchliche Färbung der Vergangenheit erzeugt wird. Das zweite Gedächtnis ist das "Gedächtnis des Volkes": Es wird dem Einzelnen von seiner Familie, seinen Vorfahren und seinem Heimatort verliehen. Es fließt "von unten nach oben" und speist sich vor allem aus familiären und lokalen Quellen. In dieser Version der Vergangenheit steht das Individuum im Mittelpunkt und nicht der Staat, der meistens als Peiniger und Zerstörer fungiert. Nichtsdestotrotz wirkt dieses Gedächtnis auf die Versöhnung der Zivilgesellschaft hin, nach dem Motto: "Anerkennung ja, Rache nein".

Beispielhaft hierfür sind die Aufsätze, eingereicht für den Wettbewerb "Der Mensch in der Geschichte. Das 20. Jahrhundert", welches 20 Jahre lang von MEMORIAL International veranstaltet wurde. Die Autoren der Aufsätze zeigen wenig Interesse für die heldenhaften Siege des Staates.

Der Kern des Familiengedächtnisses der Menschen sind die Erinnerungen an die Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts, und die schlimmste von ihnen ist nicht einmal der Krieg, sondern die bolschewistische Kollektivierung – die "Entbäuerung" Russlands.

Die Machthaber hingegen propagieren ein archaisches Geschichtsbild, charakteristisch eher für das 19. als für das 20. Jahrhundert. Dieses Bild zeichnet sich durch einen Eklektizismus der Großartigkeit aus: Die Geschichte Russlands ist immer und zu allen Zeiten großartig. Das Zarenreich, das Imperium und die UdSSR verschmelzen zu einer Einheit.

Symbolisch wurde dieser Weg bereits im Dezember 2000 eingeschlagen, als der Staatsrat den Beschluss über die russischen Staatssymbole fällte: Zu diesen wurden die demokratische, im Russischen Reich als "Handels-"oder "Volksflagge" bekannte "Trikolore" (die am 22. August 1991 zur Staatsflagge erklärt wurde), der zaristische Doppeladler als Wappen und die Melodie der sowjetischen Staatshymne. Letzteres war Putins erster wichtiger symbolischer Schritt hin zur Rückkehr nicht einfach nur zur sowjetischen Vergangenheit, sondern zum stalinistischen Heldenmythos: Kein neuer Text (damals gab es noch keinen) hätte über die Verherrlichung Lenins und Stalins hinweg täuschen können, die für immer mit dieser Melodie verbunden war.

Diese Symbolik offenbart die zentrale Fälschung des historischen Gedächtnisses, die von den neuen russischen Machthabern begangen wurde, nämlich die Auswechslung der historischen Grundlage des modernen Russlands. In der Anthropologie gibt es ein wichtiges Konzept: den Gründungsmythos der Nation, ein Ereignis, mit dem die politische Nation symbolisch den Beginn ihrer Existenz verbindet. Für Frankreich ist es die Erstürmung der Bastille, für die USA die Unabhängigkeitserklärung, und für die UdSSR – die Große sozialistische Oktoberrevolution. Für das neue Russland wäre es natürlich gewesen, einen demokratischen Mythos zu konstruieren, einfach und eindeutig zu begründen mit den Ereignissen vom August 1991, als das kommunistische Regime innerhalb weniger Tage von freien Bürgern gestürzt wurde. Doch die Werte der Augustrevolution – Freiheit und Demokratie, Menschenwürde und Menschenrechte – sind dem Putin-Regime völlig fremd. Und so wurde der "große Sieg" von 1945 zum Gründungsdatum der russischen politischen Gemeinschaft erklärt. In diesem Konstrukt steht dieser Sieg für sich allein, völlig losgelöst von der Erinnerung an den schrecklichen, blutigen Krieg. Legt man einen solchen Ausgangspunkt fest, schiebt sich die Figur von Stalin, dem "Generalissimus des Sieges" in schneeweißer Paradeuniform, völlig selbstverständlich in den Vordergrund. Gleichzeitig spaltet diese Figur die russische Gesellschaft zutiefst, denn die Erinnerung an die Repressionen und die Kollektivierung ist für sie ebenso wichtig und schmerzhaft wie die Erinnerung an den Krieg.

Der Kampf um das angestrebte Vergangenheitsbild wird im Bereich der "öffentlichen Geschichte" ausgetragen, die sich im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft nicht darauf beschränkt, korrekte Antworten auf bestimmte Fragen zu finden, sondern einen kohärenten und in sich stimmigen "nationalen Narrativ" erfordert. Ende der 1990er Jahre, als der Kampf um die Monopolstellung eines dieser Narrative beginnt, lassen sich mit relativer Genauigkeit fünf konkurrierende Narrative erkennen:

1. Die neue "staatliche Schule". Grundzüge des Konzepts: Die führende Rolle und die Verdienste der "Erbauer des Staates" werden hervorgehoben. Jegliche Kosten und Opfer sind gerechtfertigt, denn sie dienen dem Ziel, Russland als Großmacht zu etablieren. Die Großartigkeit des Staates wird an den einverleibten Territorien gemessen, die Expansion nach außen stets damit begründet, für Sicherheit zu sorgen und Zugang zu Ressourcen und Handelswegen zu erringen. Die Haupthelden dieser Erzählung sind Peter der Große, Stalin und Alexander III., die Antihelden sind sämtliche Revolutionäre und Dissidenten. Verschwiegen werden in erster Linie die negativen Errungenschaften der "Helden" (mit denen sich ihre "Erben" auseinandersetzen müssten, was sie als Nichtsnutze und Versager erscheinen ließe) und die Verbrechen des Staates (die Stärkung der Leibeigenschaft und das Leiden der Bauern unter Peter, der Gulag, die Repressionen und die Opfer der "Modernisierungen von oben").

2. Das liberale Konzept. Grundansatz: Die Geschichte Russlands ist eine Chronik des Kampfes der Gesellschaft gegen den Staat um das Recht, die Geschicke des Landes zu bestimmen. Es ist eine Geschichte der schrittweisen Entwicklung des Staatswesens in Richtung einer Demokratie nach europäischem Vorbild. Ihre Helden sind liberale Reformer wie Alexander I., Nikita Chruschtschow, Michail Gorbatschow, Boris Jelzin (mit einigen Vorbehalten), Vertreter der liberalen Intelligenzija, Führer der Konstitutionell-Demokratischen Partei zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Dissidenten der sowjetischen Menschenrechtsbewegung. Die Haltung zu Peter dem Großen ist zwiespältig: Er wird als "Westler" gelobt, jedoch für seine grausamen Reformmethoden verurteilt. Die Antihelden sind Iwan der Schreckliche und Stalin. Die Expansion nach außen wird in einigen Fällen gerechtfertigt (vor allem im Osten und Süden, da sie den dort lebenden "rückständigen Völkern den Fortschritt brachte"), im Westen (Polen, Baltikum) wird sie jedoch verurteilt, da sie höher entwickelten Völkern rückständige Staatsformen auferlegte. Vernachlässigt wird dabei das komplexe Verhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie.

Diese beiden Narrative sind sehr weit verbreitet und stehen in starkem Wettbewerb zueinander. Die drei nachfolgenden sind weit weniger beliebt.

3. Das nationalistische Konzept. Grundansatz: Russland ist ein "Staat des russischen Volkes", die Geschichte des Landes ist die schrittweise Erschließung des eurasischen Raums durch den russischen Ethnos. Ukrainer und Belorussen sind Teil des russischen Volkes. Die Helden sind Peter der Große, Alexander III., Kusma Minin und Dmitri Poscharski, Generalissimus Alexander Suworow, Marschall Georgij Schukow, sowie antisemitische Schriftsteller (allen voran Dostojewski und Solschenizyn). Die Antihelden sind polnische Rebellen, Bolschewiken mit jüdischen Wurzeln (Leo Trotzki, Grigorij Sinowjew, Lew Kamenjew, Wladimir Lenin, dessen Mutter mit Nachnamen Blank hieß). Die Essenz des historischen Prozesses ist der Kampf um Ressourcen zwischen Vertretern verschiedener ethnischer Gruppen, denen angeborene, unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Das moderne, konstruktivistische Konzept der Nationenbildung und die Bedeutung der Multinationalität für moderne Gesellschaften werden ausgeblendet.

4. Das zivilisatorische Konzept. Grundansatz: In der Weltgeschichte gab es mehrere rivalisierende Zivilisationen, eine davon war Russland, ebenso wie beispielsweise Europa. Die Zivilisationen gründen sich auf unterschiedliche religiöse Traditionen, die ihrerseits die verschiedenen Arten des Wirtschaftens und die Beziehungsformen zwischen Staat und Gesellschaft vorgeben. Die Helden sind die Schöpfer der russischen Kultur und des russischen Staates, die den "Sonderweg" Russlands zu begründen suchten. Die Antihelden sind die Westler, die das falsche Ziel verfolgten, nämlich den Rückstand auf Europa aufzuholen. Die Expansion nach außen im Rahmen des eigenen "zivilisatorischen Areals" ist etwas ganz natürliches. Verschwiegen werden fruchtbare Anleihen von Institutionen und die Bereiche, in denen Stadialität (technischer Fortschritt) unbestreitbar ist.

5. Das postkoloniale Konzept. Die gesamte Geschichte ist die Geschichte von unterdrückten Klassen und sozialen Gruppierungen. Die Helden sind "einfache Leute", Frauen, Vertreter unterworfener Völker sowie Anführer von Volksaufständen. Antihelden sind despotische Herrscher, deren Handeln für die unterdrückten Bevölkerungsgruppen verheerende Auswirkungen hatte: Peter der Große, Katharina die Große und Stalin. Die Anhänger dieses Ansatzes sind nicht immer bereit, die positive Rolle des Staates und der Eliten in der Entwicklung des Landes anzuerkennen.

"Der Kampf um die Vergangenheit" hat zahlreiche Formen angenommen. "Austragungsorte" dieses Kampfes ist der Lehrplan für den schulischen Geschichtsunterricht, sind Feiertage und Museumsausstellungen, und die Praktiken des Gedenkens sowie die Gesetze, die das Gedenken regeln. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, was ein kurzer Essay ohnehin nicht leisten kann, möchte ich hier nur die wichtigsten Etappen dieser Monopolisierung des historischen Diskurses durch die Machthaber aufzeigen.

Der erste Angriff der neuen staatlichen Schule galt den Schulbüchern. Die Machthaber, gewöhnt an die "einzig richtigen" monologischen Schulbücher der Sowjetzeit, erklärten neuen Schulbüchern, die Mitte der 1990er Jahre in Russland erschienen, den Kampf. Diese waren notwendigerweise der Geschichte des 20. Jahrhunderts gewidmet (die Neubeschreibung der vorangegangenen Epochen erschien damals weniger dringend).

Am 30. August 2001 beklagte sich Premierminister Michail Kasjanow in einer Kabinettssitzung darüber, dass die Behörden den Geschichtsbüchern wenig Aufmerksamkeit schenkten und dass die Geschichte der neuesten Zeit in einer Weise dargestellt werde, die keinen Anlass zum Stolz gebe. Gemeint war das Geschichtslehrbuch von Igor Dolutskij, das dem Premierminister gezeigt wurde. Das Bildungsministerium reagierte umgehend und ließ einen Wettbewerb um ein neues Lehrbuch zur neuesten russischen Geschichte ausrufen. Am 15. März 2002 gewann das Autorenkollektiv um Nikita Zagladin den Wettbewerb des Ministeriums. Am 2. Dezember 2003 ließ Bildungsminister Vladimir Filippov das Lehrbuch von Igor Dolutskij mit dem Titel "Russische Geschichte. Das 20. Jahrhundert" von der Liste der empfohlenen Schulbücher streichen, in die es 1993 aufgenommen wurde.

Ein Vergleich der beiden Texte (von Dolutskij und von Zagladin) demonstriert recht deutlich, welches Herangehen an den schulischen Geschichtsunterricht vom Regime erwünscht wurde.

Dabei geht es nicht einmal um die Unterschiede in den berüchtigten "Bewertungen" von historischen Figuren und Ereignissen, obwohl diese durchaus wesentlich sind. So sind bei Zagladin alle Werturteile anonym: Nikolaus II. war "sicherlich klug (in der Literatur wurde er oft zu Unrecht als ein "geistiges Nichts" bezeichnet), aber sein Horizont war begrenzt". Für das Verständnis solcher Bewertungen ist es von höchster Bedeutung, zu wissen, wer und auf welcher Grundlage die Bewertung abgibt. Dolutskij wesentlich korrekter vor, indem er sowohl Witte[1] zitiert, der behauptete, dass der Zar "die durchschnittliche Bildung eines Gardeobersts aus guter Familie" habe, als auch das Tagebuch des Zaren sprechen lässt, der am Tag der Februarrevolution "Tee trank und Domino spielte" (wichtigere Ereignisse, die eine Erwähnung im Tagebuch verdienten, hat es anscheinend nicht gegeben).

Das Problem ist, dass diese zwei Schulbücher völlig unterschiedliche Auffassungen von der Bedeutung der Geschichte und dem Zweck des schulischen Geschichtsunterrichts haben. In Zagladins Buch heißt es: "Geschichtskenntnis bedeutet nicht nur, eine bestimmte Anzahl von Fakten über die Vergangenheit zu kennen, sondern auch die Fähigkeit, sie in maßgeblich und nebensächlich eizuteilen, ihre Bedeutung für die Gegenwart und die Zukunft zu erklären und die wichtigsten Tendenzen in der Entwicklung unseres Landes in den jeweiligen Phasen seiner Existenz aufzuzeigen". Dabei wird die Einteilung der Ereignisse in "maßgeblich und nebensächlich" von den Autoren selbst vorgenommen. Wären diese mit einer anderen als der konventionell marxistischen Literatur zu diesem Thema vertraut gewesen, hätten sie die These gekannt, die in der modernen Wissenschaft als unumstößlich gilt: Unterschiedliche Konstruktionsweisen von Ursache-Wirkungs-Ketten schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich zu einem umfassenden Bild der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes.

Dolutskij ist sich dieses Problems gänzlich im Klaren, wenn er schreibt: "Wir haben endlich begriffen, dass weder die Wissenschaftler, noch die Lehrer die absolute Wahrheit besitzen. Durch das komplexe Geflecht von Mythen – Produkten der jahrelangen Fälschung der nationalen Geschichte – müssen wir uns mühsam zu ihr durchkämpfen. Die Grundlage dieses Lehrbuches bildet daher der Dialog mit den Lesern und die gemeinsame Suche. Wer endgültige Antworten erwartet, wird enttäuscht sein. Auch gibt es in diesem Buch nicht die einzig gültige Sichtweise. Die hier dargelegten Fakten lassen unterschiedliche Schlussfolgerungen zu".

Dolutskijs Lehrbuch ist ausgesprochen dialogisch angelegt. Hier prallen unterschiedliche Auslegungen historischer Ereignisse in Form von Dokumenten und Beschreibungen aufeinander, präsentiert als Argumente für unterschiedliche Interpretationsansätze, von denen keiner für eindeutig richtig befunden wird. Genau das missfiel dem Premierminister so sehr. Die Kinder wurden dazu aufgefordert, zu diskutieren und den derzeitigen Präsidenten eigenständig zu bewerten. Um Denkanstöße zu geben, wurden u.a. der Publizist Juri Burtin, der schrieb, dass in Russland seit der Wahl Putins ein autoritäres Regime errichtet werde, und Grigorij Jawlinski, Vorsitzender der Partei Jabloko, der Russland einen "Polizeistaat" nannte, zitiert.

Bei Zagladin ist der Dialog eindeutig fiktiv. Die mit der Standardüberschrift "Standpunkt" versehenen Kästchen enthalten drei oder vier anonyme Thesen, die mit dem Inhalt des nachfolgenden Textes in keinem Zusammenhang stehen. "Sekundäre" Informationen werden aus der Erzählung gestrichen, und die Liste der Streichungen spricht Bände. Der Bürgerkrieg wird in bester sowjetischer Tradition ausschließlich als Kampf zwischen den Roten und den Weißen präsentiert. Die "Grünen" werden nur am Rande erwähnt, da sie keine "einheitliche Ideologie" gehabt haben sollen. Inzwischen hat sich in der Wissenschaft längst eine wesentliche korrektere Sichtweise des Bürgerkriegs etabliert, die seit Kurzem den Weg in die Schulbücher findet, nämlich als Kampf zwischen drei, nicht zwei Lagern. Und so genügt es eben, wie Dolutskij es tut, die Proklamation der Rebellenführer Mahno und Mironov zu zitieren, um die Ideologie der "Grünen" – also der Bauernmassen – auch einem nicht besonders hellen Zehntklässler zu erklären.

In Zagladins Lehrbuch finden die "repressierten Völker" keinerlei Erwähnung, weder in Bezug auf die Deportationen der Stalinzeit, noch auf die teilweise Rehabilitierung unter Chruschtschow. Das "Entfachen des Nationalismus in den autonomen Republiken Russlands" in den Jahren 1990-91 und der spätere tschetschenische Separatismus springen damit völlig grundlos und ohne jegliche historische Einordnung wie der Teufel aus der Schachtel. Es fühlt sich seltsam an, daran erinnern zu müssen, dass es in der realen Geschichte Episoden gegeben hat, die nicht nur Stolz, sondern auch Scham hervorrufen. Mit Dolutskijs Lehrbuch bestand die Hoffnung, dass die russischen Kinder den heutigen Konfliktherd im Kaukasus etwas reflektierter betrachten würden, hätten sie doch erfahren, dass "eine 1956 einberufene Untersuchungskommission, die die Umstände der Vertreibung untersuchen sollte, in tschetschenischen Dörfern die Knochen von Frauen, Kindern und älteren Menschen fand, die bei lebendigem Leibe verbrannt worden waren".

In Zagladins Buch gibt es keinen Platz für Informationen über die Blockade von Leningrad, sie gar nicht erst erwähnt wird. Die pathetisch aufgeladenen Schlussfolgerungen ("Der Hauptakteur und der Sieger in diesem Krieg war das multinationale Volk der UdSSR") bleiben damit als typisch sowjetische Wortblasen in der Luft hängen. Die Menschen mit ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, ihrem Leiden und ihren Opfern, kommen bei Zagladin nicht vor. Stattdessen präsentiert er eine "historische Gesetzmäßigkeit" und den Staat als ihren bevollmächtigten Vertreter, den wir in jedem Zustand zu lieben verpflichtet sind.

Bei all seinen Unzulänglichkeiten war Dolutskijs Lehrbuch in der Tat das, was es zu sein vorgab, nämlich "ein Schritt zur Schaffung eines kombinierten Geschichtslehrbuchs der neuen Art, eines Lehrbuchs also, das das Denken lehrt und daher auf einer Synthese aus Lehrbuch (Texten), Lesebuch (einer Vielzahl von historischen Quellen) und Aufgabenbuch (problematische und lehrreiche Fragen und Aufgaben) basiert". Dagegen ist Zagladins Lehrbuch, das vom Ministerium genehmigt wurde, eine Art Katechismus, den es auswendig zu lernen und zu glauben gilt, "weil er absurd ist".

Erstmals in der postsowjetischen Zeit unternimmt Zagladin in seinem Lehrbuch den Versuch, die Verbrechen des stalinistischen Staates mit einer "historischen Gesetzmäßigkeit" zu rechtfertigen: "Die tiefliegende Voraussetzung für die Massenrepressionen der Jahre 1936-38 waren die Gegensätze, die im Zuge der sozialistischen Modernisierung entstanden sind". Bei Dolutskij ist der Protagonist jedoch ein Individuum, und der Kern der Erzählung ist dessen Widerstand gegen die Unterdrückung des Verbrecherstaates.

Zagladins eher fades Produkt konnte die Machthaber jedoch nicht völlig zufrieden stellen. Am 27. November 2003, bei einem Treffen mit Historikern in der Russischen Staatsbibliothek, formulierte Wladimir Putin die Aufgabe noch deutlicher: "Früher konzentrierten sich die Historiker auf das Negative, weil die Aufgabe darin bestand, das bestehende System zu zerstören. (...) Heute haben wir eine andere, nämlich schöpferische Aufgabe. Dabei ist es wichtig, all den Staub und Belag zu entfernen, der über die Jahre aufgetragen wurde", denn Lehrbücher "müssen bei den jungen Menschen den Stolz auf ihre Geschichte und ihr Land wecken".

Das neue "normative" Produkt wurde von der Kreml-Administration im Sommer 2007 der Öffentlichkeit vorgestellt. Der von einem Team von Polittechnologen unter der Leitung von Alexander Filippov erstellte Lehrerleitfaden zur Geschichte des 20. Jahrhunderts verwirft den liberalen Konsens der Perestroika gänzlich und zeichnet ein neues Modell der Vergangenheit, das die heute Regierenden der russischen Gesellschaft aufzwingen wollen. Seine wichtigsten Merkmale sind:

- Geschichte als Kampf von "Zivilisationen", von ungleichen sozialen Welten, die mit lebendigen Organismen vergleichbar sind.

- Russland wird wieder einmal als "belagerte Festung" dargestellt, umzingelt von Feinden, der größte und gefährlichste von denen die USA sind.

- Daraus ergibt sich die absolute Unabdingbarkeit und Notwendigkeit des "russischen Regierungsmodells", das mit periodischen "Mobilisierungen" der Bevölkerung und der Konzentration der Ressourcen in den Händen eines autoritären Staates einhergeht.

- Der Terror wird als Mittel zur Entwicklung einer leistungsfähigen gesellschaftlichen Elite gerechtfertigt – einer Klasse von Menschen nämlich, die "das Unmögliche vollbracht" haben.

- Die UdSSR verdankt ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg einem starken Staatswesen und dem weisen Stalin persönlich.

Die Tatsache, dass das Buch von Polittechnologen verfasst wurde, ist bezeichnend: Kein einziger professioneller Historiker war bereit, sich an diesem Projekt zu beteiligen.

Aber trotz intensiver behördlicher Werbung für das Buch weigern sich die Lehrer, es als Leitfaden zu nutzen.

Die 2013 verkündete Idee der Schaffung eines einheitlichen Geschichtslehrbuchs wurde von der akademischen und pädagogischen Gemeinschaft ebenfalls torpediert. Die Fachleute ließen die Schaffung einer neuen "kanonischen Erzählung" mit dem vermeintlich gleichen normativen Wert wie Stalins "Kurzer Kurs der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion" einfach nicht zu. Anstelle des einheitlichen Narrativs erschien der "Historisch-kulturelle Standard", ein Leitfaden, der aus Namen und Daten ohne jegliche Einordnung besteht und die wichtigsten Ereignisse und Akteure der russischen Geschichte auflistet.

In den traditionellen Bereichen des schulischen Geschichtsunterrichts hatte die staatliche Schule also nur wenig Erfolg. Nach diesen Misserfolgen scheint es den Managern der "Geschichtspolitik" klar geworden zu sein, dass ein Schulbuch in der gegenwärtigen Situation nicht das wichtigste Mittel ist, um das gewünschte Bild der Vergangenheit zu propagieren, und dass der Berufsstand der akademischen Historiker und Pädagogen sich ziemlich hartnäckig dagegen wehrt.

Den größten Umfang und einen gewissen Erfolg erreichte die Propagierung des neuen Geschichtskanons im visuellen Bereich. Seit 2013 wird in Russland ein System von multimedialen Geschichtsparks unter dem Titel "Russland: meine Geschichte" aufgebaut, die dazu berufen sind, die gesamte Geschichte Russlands von der Antike bis zur Gegenwart abzubilden. Die riesigen Pavillons enthalten keine materiellen Artefakte. Die Geschichte wird ausschließlich auf Multimedia-Bildschirmen präsentiert. Die Pavillons bestehen aus jeweils 4 Ausstellungen, die ursprünglich getrennt voneinander gezeigt wurden. Die erste Ausstellung mit dem Titel "Die Romanows", entstanden auf Initiative des Patriarchenrates für Kultur mit Unterstützung der Moskauer Regierung, wurde am 4. November 2013 in der Moskauer Manege eröffnet. Folgeausstellungen im Rahmen des Projekts wurden ebenfalls in der Manege gezeigt. 2015 wurde im Pavillon 57 der Ausstellung der wirtschaftlichen Errungenschaften in Moskau eine Dauerausstellung eröffnet. Diese konsolidierten Ausstellungen wurden in 24 russischen Städten nachgebaut und um kleine regionale Abschnitte ergänzt, die zur Ehre der Regionalhistoriker außerordentlich hochwertig und professionell gemacht sind. Der 25. historische Park soll nächstes Jahr im besetzten Lugansk in der Ostukraine eröffnet werden. Das Konzept der Parks ist völlig archaisch und erinnert an die Geschichtsdarstellung im 19. Jahrhundert: Die Geschichte wird "nach Zaren und Fürsten" erzählt, und jedem Herrscher ist ein eigener Bereich gewidmet. Der Erfolg einer Regierung wird ausschließlich am Gebietsgewinn gemessen. Alle Erfolge des Landes gehen auf das Konto der Herrschenden. Alles Böse kommt von äußeren Feinden und inneren Verrätern. Zu den Letzteren gehören alle Kräfte, die eine Liberalisierung des Systems anstrebten: Revolutionäre, liberale Theoretiker, Anführer von Kosakenaufständen usw.

Die Historiker haben die Schaffung der Parks scharf kritisiert, denn sie seien unwissenschaftlich und klerikal. Das Bildungsministerium riet den Universitätsrektoren dennoch, die Ausstellungen der Parks für den Geschichtsunterricht zu nutzen. Putin forderte, die Parks, die nun auch von Schulklassen besucht werden, ins nationale Bildungsprogramm aufzunehmen.

In der Ausstellung wird nahezu immer nur eine Seite gezeigt, die Stimmen von verschiedenen Menschen finden kein Gehör. Wird über die Dissidenten der Sowjzzeit berichtet, werden dabei ausschließlich Zitate von Filipp Bobkow, dem Leiter der 5. Abteilung des KGB, die gegen "ideologische Sabotage" kämpfte, verwendet. Der Gedanke an eine polyphone und variantenreiche Geschichte scheint den Organisatoren der "historischen Parks" gar nicht erst in den Sinn gekommen zu sein. Das größte Manko der Ausstellungen sind nicht einmal ganz konkrete Fehler, sondern der grundsätzliche starre Monologismus. Eines der Hauptthemen dieses Monologs ist die systematische Opposition Russlands gegenüber dem feindlichen "Westen". Die Geschichte der Zusammenarbeit Russlands mit "westlichen" Ländern, die Geschichte Russlands als eines europäischen Landes, wird dabei völlig ignoriert.

Der anfängliche Erfolg der historischen Parks war auf die Neuartigkeit der Form zurückzuführen, insbesondere in den Provinzstädten. Die Öffentlichkeit verlor jedoch schon bald das Interesse, nicht zuletzt wegen der inhaltlich extrem unprofessionellen Ausführung der Ausstellungen. So waren die Wände der einzelnen Abteilungen mit erfundenen negativen "Aussagen" über Russland geschmückt, die angeblich von Bismarck, Churchill, Thatcher und anderen europäischen Politikern stammten.

Überhaupt wird die historische Propaganda auf äußerst unprofessionelle Weise betrieben. Das mag daran liegen, dass die Berater, die Wladimir Putins Anschauungen und seine Geschichtspolitik maßgeblich prägen, für diese Arbeit nicht qualifiziert sind. Der ehemalige Kulturminister und jetzige Präsidentenberater Wladimir Medinskij (Gründer und Vorsitzender der Militärhistorischen Gesellschaft) ist Absolvent des Instituts für internationale Beziehungen und hat formal einen Doktortitel in Geschichte. Der Sachverständigenrat der Höheren Prüfungskommission für Geschichte befand seine Dissertation jedoch für unwissenschaftlich und sprach sich dafür aus, Medinskij den Doktortitel zu entziehen. Das Bildungsministerium folgte der Empfehlung jedoch nicht und verstieß damit grob gegen die Vorschriften. Metropolit Tichon (Georgi Schewkunow) von Pskow absolvierte die Drehbuchabteilung des Staatlichen Instituts für Filmkunst und debütierte im Januar 2008 mit dem Film "Der Untergang des Reiches. Die byzantinische Lektion". Dieser wurde von Experten als plumpe publizistische Agitation bezeichnet, die mit Geschichte nichts zu tun habe. Sergej Naryschkin – seit 2012 Vorsitzender der Russischen Historischen Gesellschaft und Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes – ist Radioingenieur von Beruf.

Als Vorsitzender der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft beaufsichtigt Medinsky alle Gedenkprojekte der Machthaber. Die Gesellschaft errichtete Dutzende von Denkmälern und Gedenkstätten (für Fürst Wladimir in Moskau, für Iwan III. in Kaluga, für den sowjetischen Soldaten in der Nähe von Rshev, für die "Söhne Russlands" in Slowenien, für den "Abschied der Slawin" und die "Helden des Ersten Weltkriegs" in Moskau, Kaliningrad und anderswo, für den 100. Jahrestag des Endes des Bürgerkriegs in Sewastopol, für Alexander III. in Gattschina). Besonders bemerkenswert ist das Denkmal für Iwan den Schrecklichen in Orjol, das erste in der Geschichte Russlands. Bezeichnenderweise ist Iwan der Schreckliche nicht Teil des Denkmals zum 1000-jährigen Bestehen Russlands in Nowgorod. 1862 hatte die Nowgoroder Gesellschaft dies nicht zugelassen.

Die Behörden täuschen eine öffentliche Unterstützung für den historischen Kurs vor, indem sie pseudo-zivilgesellschaftliche Organisationen einrichten. Die aktivste von ihnen ist die Russische militärhistorische Gesellschaft unter dem Vorsitz von Medinskij, gegründet gemäß Präsidialerlass Nr. 1710 vom 29. Dezember 2012, finanziert vom Kulturministerium und von privaten Spendern.

Als die Behörden erkannten, dass diese Maßnahmen unzureichend und wenig erfolgreich waren, gingen sie zu direkten Zensur- und Strafmaßnahmen über. Am 23. April 2014 ergänzte die russische Staatsduma das Strafgesetzbuch um den Artikel 3541 "Rehabilitierung des Nazismus". In diesem Artikel wird die "Rehabilitierung" oder Rechtfertigung des Nazismus auf die "Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die Aktivitäten der UdSSR während des Zweiten Weltkriegs", die "Verbreitung von Informationen über die Tage des Militärruhmes Russlands und denkwürdige Daten im Zusammenhang mit der Verteidigung des Vaterlandes, die eine eindeutige Missachtung der Gesellschaft zum Ausdruck bringen" sowie auf die "öffentlich begangene Schändung von Symbolen des russischen Militärruhmes" ausgedehnt. Dieser Ansatz verwischt den Begriff des "Nazismus" und verringert seine Ablehnung im öffentlichen Bewusstsein, indem er die Rechtfertigung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf eine Stufe mit Rowdytum stellt. Zu den denkwürdigen Daten in Russland im Zusammenhang mit der Verteidigung des Vaterlandes gehören die Ereignisse der "Eisschlacht", die Schlacht von Kulikowo und andere Siege der russischen Waffengewalt über viele Jahrhunderte hinweg, die in dem neuen Gesetz unerklärlicherweise auch mit dem Kampf gegen den Nazismus verbunden werden.

Die Geschichtswissenschaft ist eine Suche nach der Wahrheit, die notwendigerweise mit dem Stellen von kritischen wissenschaftlichen Fragen einhergeht. Nun müssen Historiker befürchten, dass eine solche Suche willkürlich zur "Verbreitung wissentlich falscher Tatsachen" und die Entdeckung neuer historischer Quellen zur "künstlichen Erzeugung von Belastungsmaterial" erklärt werden kann. Das Gesetz verbietet es, die vom Nürnberger Tribunal festgestellten "Tatsachen zu leugnen". Anstatt also bestimmte staatliche Praktiken grundsätzlich als kriminell zu verurteilen, schützt das neue Gesetz eine umfassende Liste von Fakten, die im Urteil des Nürnberger Tribunals enthalten sind, und verbietet gleichzeitig die Anwendung von dessen Grundsätzen auf die Untersuchung anderer Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Im Gegensatz zu europäischen Gedenkgesetzen, die die Erinnerung an die Opfer staatlicher Gewalt schützen, verbietet das russische Gesetz, über die Verbrechen eines repressiven Staates zu sprechen. Die Gefahr solcher Rechtsvorschriften liegt in ihrer Vagheit und der Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung einer politisch inkorrekten Sicht auf historische Ereignisse.

Zum Höhepunkt der legislativen Geschichtsregulierung wurden die Änderungen der russischen Verfassung im Jahre 2020. Die wichtigsten Änderungen im Hinblick auf die "Historisierung" des russischen Grundgesetzes finden sich im neuen Artikel 67 (1), der direkt auf Artikel 67 folgt, in dem das Staatsgebiet definiert wird. Geht es nach den Verfassern, so soll der neue Artikel die Zeit offenbar auf die gleiche Weise definieren, wie der vorhergehende Artikel den Raum definiert. Es ist zu beachten, dass der neue Artikel ins Kapitel 3, welches die "Die föderale Struktur" definiert, aufgenommen wurde, was die Logik des Kapitels zerstört und seinen Sinn untergräbt. Im ersten Absatz des Artikels heißt es: "Die Russische Föderation ist die Rechtsnachfolgerin der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken". Doch schon der zweite Absatz beginnt mit der Formulierung "die Russische Föderation, die durch eine tausendjährige Geschichte vereint ist". Warum "tausend Jahre"? Man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Formel an das ebenfalls nicht so gut klingende "Tausendjährige Reich" erinnert. Nimmt man die genannte Zeitspanne wörtlich, so gab es vor 1000 Jahren weder die Russische Föderation noch Russland, sondern ein Land, aus dem mehrere heutige Staaten hervorgegangen sind und dessen Hauptstadt Kiew war. Absatz 3: "Die Russische Föderation ehrt das Andenken an die Verteidiger des Vaterlandes und gewährleistet den Schutz der historischen Wahrheit". Unterschiedliche soziale Gruppen, unterschiedliche Generationen stellen unterschiedliche Fragen an die Vergangenheit und erhalten unterschiedliche Antworten. Ein staatliches Monopol, das in diesem Kontext jener von der russischen Verfassung verbotenen Ideologie gleichkommt, ist hier völlig fehl am Platz. Die Aufnahme des Begriffs der "historischen Wahrheit" in die Verfassung setzt voraus, dass der Staat über diese Wahrheit verfügt und sie beschützt. Das ist destruktiv für die Geschichtswissenschaft. Für das Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft hat das verheerende Folgen.

Gleichzeitig wird die geschichtswissenschaftliche Arbeit auch technisch erschwert. Der Zugang zu Archiven wird immer schwieriger. Am 12. November 2020 erließ Verteidigungsminister Sergej Schoigu zwei Anordnungen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die erst im März 2021 veröffentlicht wurden. Beide Anordnungen erschweren den Zugang zu den Archiven der Militärbehörde und damit die objektive Erforschung des Zweiten Weltkriegs außerordentlich. Das offensichtliche Ziel besteht darin, Forschern den Zugang zu Dokumenten des Verteidigungsministeriums zu verwehren, die Themen berühren, die für die derzeitige Führung der Militärbehörde und für die russische Regierung schmerzhaft sind, und nur solche Dokumente zu veröffentlichen, die die Rote Armee und die sowjetische Staatspolitik während des Zweiten Weltkriegs ausschließlich in einem positiven Licht darstellen.

Das ist nicht verwunderlich, denn die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges ist zu einer Art offiziellen Zivilreligion geworden, die in Russland heute ebenso wenig kritisiert werden kann wie die Orthodoxie im Russischen Reich.

Gleichzeitig werden unabhängige Fachinstitutionen angegriffen, insbesondere die Akademie der Wissenschaften. Der erste Versuch wurde 2008 unternommen, als die Präsidialverwaltung plante, Michail Kowaltschuk, einen Wladimir Putin nahestehenden Konservativen und Direktor des Kurtschatow-Instituts (eines Forschungszentrums für Kernenergie), zum Leiter der Akademie zu machen. Doch die störrischen Akademiker wählten ihn nicht zum ordentlichen Mitglied, der Plan scheiterte. Der zweite Versuch hatte mehr Erfolg. 2013 wurde die Akademie umstrukturiert. Den rechtlichen Rahmen für die Reform bildete das Gesetz Nr. 253-FS vom 27. September 2013 "Über die Russische Akademie der Wissenschaften, die Umstrukturierung der staatlichen Akademien der Wissenschaften und die Änderung einiger Gesetzgebungsakte der Russischen Föderation". Im Ergebnis wurden die Akademien der medizinischen und landwirtschaftlichen Wissenschaften, deren akademisches Ansehen weitaus geringer ist, in die "große Akademie" eingegliedert, die umgangssprachlich so genannt wird, um sie von weniger angesehenen Organisationen abzuheben, die ebenfalls als "Akademien" geführt werden. Die finanziellen und materiellen Ressourcen der Akademie wurden dem gewählten Präsidium der Akademie entzogen und der neu gegründeten bürokratischen Einrichtung, der Föderalen Agentur für wissenschaftliche Organisationen (FANO), übertragen. Damit hat die Akademie ihre Unabhängigkeit und zum Teil auch ihre fachliche Kompetenz verloren. Im Herbst 2019 wurde eine Umfrage unter Akademiemitgliedern, korrespondierenden Mitgliedern und Professoren der Akademie der Wissenschaften zu den Ergebnissen der Reform der staatlichen Akademien durchgeführt. 64 % der Befragten stellten fest, dass "die Situation der russischen Wissenschaft in den Jahren der Reform sich verschlechtert hat".

Auch die russischen Universitäten sind größtenteils unter bürokratische Kontrolle geraten und haben ihr fachliches Potential eingebüßt. Der Krieg gegen die Ukraine hat dem Freiheitsstreben der russischen Universitäten ein Ende gesetzt. Schon im Herbst 2022 werden sie nicht mehr in der Lage sein, eine Hochschulausbildung in den Sozial- und Geisteswissenschaften anzubieten, die außerhalb Russlands etwas wert ist. Auch mit der Freiheit der Forschung ist es vorbei. Schon seit 2005 übersteigt der Anteil der staatlichen Finanzierung der Hochschulen die Einnahmen aus den Studiengebühren. Die Staatskontrolle kam an die Universitäten, um "die Wirksamkeit der Verwendung öffentlicher Mittel zu beurteilen", und wirkte sich allmählich auch auf den Inhalt der Bildungs- und Forschungsaktivitäten aus: Der Staat, "der die Musik bestellt", war auf den Geschmack gekommen. Mit dem Erhalt der staatlichen Gelder haben die Universitäten den Rest ihrer Selbstverwaltung verloren. Bereits seit Anfang der 2000er Jahre wurde die Wahl von Dekanen und Lehrstuhlinhabern praktisch abgeschafft, und seit 2015 werden die Rektoren der meisten Hochschulen nicht gewählt, sondern ernannt. An reicheren Universitäten werden die Rektoren häufiger ernannt als gewählt. Die Rolle der Wissenschaftsräte an den Universitäten schwindet, heute sind es vor allem die vom Rektor ernannten Fachbereichsleiter, die sich dort einbringen dürfen. An den Universitäten hat sich die für andere staatlich finanzierte Einrichtungen typische vertikale Machtstruktur etabliert, die "akademische Freiheit" ist zu einer leeren Worthülse geworden. Die entschiedene Ablehnung der Einbindung Russlands in die weltweite Wissenschaft und die Stärkung der "einheimischen Wissenschaft", nämlich jener, die die "geistigen Grundlagen der Souveränität" erforschen soll, haben Form angenommen.

Folglich handelt es sich bei der russischen Geschichtspolitik im Grunde um eine ultrakonservative rechte Ideologie. Diese ist teilweise in den Verfassungsänderungen von 2020 verankert. Die dort festgeschriebenen so genannten traditionellen Werte sind frei erfunden, denn in einer modernisierten postindustriellen Gesellschaft kann es sie in formalisierter Form nicht geben, sie existieren nur in der nationalen historischen Folklore und in der Ethnographie. Die Gleichschaltung – die Unterordnung aller Gesellschaftsschichten unter den Staat und seine Ideologie – ist offenkundig.

Der russischen Zivilgesellschaft fehlen indes die Mittel, um dieser archaisierenden Offensive auf das historische Gedächtnis entgegenzuwirken. Die Oppositionsparteien wurden in die Bedeutungslosigkeit gedrängt. Die freie Presse wurde beseitigt. Die akademische Gesellschaft der Geschichtswissenschaftler ist geschwächt und zu einem großen Teil korrupt. Eine soziologische Umfrage, die 2019 im Auftrag der Freien historischen Gesellschaft durchgeführt wurde, hat ergeben, dass auch die Historiker die "geringe Professionalität eines Teils der wissenschaftlichen Gemeinschaft" (66 %), die "Krise der Organisations- und Finanzierungsmodelle der Wissenschaft" (64 %), die "schwache Vernetzung der Gemeinschaft" (44 %) und die "politische Befangenheit der Historiker" (43 %) als die größten Defekte ihres professionellen Milieus ansehen. Nur 2 % der Befragten waren der Ansicht, dass es "keine signifikanten Probleme" gebe.

Die "geringe Professionalität der Kollegen" ist zweifellos das größte Problem, das die Berufsgemeinschaft mit einer Kontrolle der Ausbildung und des Zugangs zum Beruf in Angriff nehmen sollte. Das System der Verleihung akademischer Titel wird jedoch nicht in vollem Umfang von Fachleuten kontrolliert, siehe den Fall Medinskij, der seinen Titel trotz Protests vonseiten der Historiker und trotz einer entsprechenden Empfehlung des Expertenrats der Obersten Prüfungskommission behalten durfte. Auch sinkt die Professionalität wegen des geringen Prestiges einer akademischen Laufbahn, die im Allgemeinen mit niedrigen Einkommenserwartungen und hohem bürokratischen Druck verbunden ist.

Die Geschichtspolitik des Staates bewerten die Forscher durchweg negativ: "Sie zielt darauf ab, eine Vorstellung von Russlands Sonderweg zu schaffen", meinen 61% von ihnen, während 56%" finden, "Sie zielt darauf ab, ein isolationistisches Bewusstsein zu etablieren".

Eine engagierte und solidarische Gemeinschaft der Historiker ist in Russland potenziell möglich, ihre Herausbildung ist jedoch nicht abgeschlossen. Diese Gemeinschaft verbindet das gemeinsame Engagement für wissenschaftliche Standards bei der Erforschung der Vergangenheit. Die meisten der befragten Historiker, unabhängig von Wohnort, Zugehörigkeit und gesellschaftlichen Idealen, sind sich einig: "Geschichte ist eine Wissenschaft und hat keine anderen Ziele als das der Wahrheitsfindung".

Ein großer Teil der Befragten betrachtet die Wissenschaft als ein einziges globales Phänomen und kann sich eine Existenz außerhalb von diesem nicht vorstellen. Ein kleiner Teil – vor allem Forscher auf dem Gebiet der russischen Geschichte – bekennt sich zu einem "akademischen Isolationismus", indem sie die russische Wissenschaft der globalen gegenüberstellt.

Die Historiker sind sich ihres schwachen Einflusses auf die Gestaltung des Geschichtsbewusstseins der Gesellschaft bewusst, halten die Situation für ungesund und korrekturbedürftig, denn Gesellschaft und Staat, so die Mehrheit der befragten Historiker, "berücksichtigen die Lehren der Geschichte in der Regel nicht hinreichend" und "ziehen aus den Lehren der Geschichte die falschen Schlüsse".

Die Lage des geschichtlichen Wissens in Russland ist düster. Die heutigen Zustände ähneln jenen, die Astolphe de Custine 1839 bei seinem Besuch in Russland schilderte (siehe Epigraph).

Ein russischer Bürger, der nur die "staatlich-heroische" Version der russischen Geschichte kennt – und das ist zweifellos die Mehrheit –, bekommt nicht nur ein völlig pervertiertes Bild vom Wesen der Geschichte – der freien menschlichen Tätigkeit –, sondern verliert auch die Teilhabe an der langen und inhaltsreichen Tradition der russischen "Volksherrschaft". Es überrascht nicht, dass liberale Ideen bei einer solchen Sicht der Vergangenheit mit Misstrauen betrachtet werden und mit der nationalen Tradition unvereinbar scheinen, denn "der natürliche Weg für uns ist die Autokratie", wie ein bekannter russischer Politiker es ausdrückte.

Das veraltete Bild der russischen Geschichte steht in klarem Widerspruch zu den demokratischen "Instinkten" der russischen Bürger (ein Zustand, der bereits als "historische Schizophrenie" bezeichnet wird) und blockiert die Bemühungen der liberalen Ideologen. Für eine erfolgreiche Entwicklung der Zivilgesellschaft wäre es sicherlich wünschenswert, ein Bild der russischen Geschichte zu fördern, das mehr im Einklang mit den von der modernen Wissenschaft entwickelten Vorstellungen ist.

In naher Zukunft ist ein solches Umdenken jedoch unwahrscheinlich, denn die russische Gemeinschaft der Geschichtswissenschaftler konnte sich nicht zu einem Expertenkreis entwickeln, der das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen würde. Dies ist eine der traurigen Folgen der Sowjetzeit, in der eine speziell präparierte Geschichte als Grundlage der Staatsideologie diente und professionelle Historiker von der Öffentlichkeit pauschal als Diener dieses Kults betrachtet wurden.

Die Gesellschaft selbst, die von der traditionellen Vorstellung von Geschichte als "Erinnerung an die ruhmreichen Taten der heldenhaften Vorfahren" beherrscht wird, ist nicht bereit, eine Nachfrage nach einem neuartigen historischen Narrativ zu äußern. Und sie ist ganz sicher nicht bereit, eine europäische Sichtweise zu akzeptieren, der zufolge es in Ordnung ist, der Opfer von Nazismus und Stalinismus am gleichen Tag zu gedenken und die Verbrechen beider Regimes in einem Atemzug zu verurteilen, was aus russischer Sicht der Gleichsetzung dieser zwei Verbrechenskomplexe gleichkäme.

 


[1] Sergei Juljewitsch Witte (1849-1915), russischer Unternehmer und Staatsmann. Er verfolgte die Idee einer modernisierten zaristischen Herrschaft. Durch geschickte Interventionen zugunsten des ökonomisch aktiven Bürgertums erreichte er eine Modernisierung der russischen Wirtschaft. Anm. d. Ü. Quelle: Wikipedia.

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